»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

SKYFLOWERS

Spät im Dunkeln, nach kurzer Fahrt durch das wunderschön sich präsentierende Land in Frankfurt angekommen. Kurz vor dem Untergang zeigte sich über niedersächsischem Weideland eine einzige Wolke, zeppelinförmig. Einfach so. Und auch hier, in meiner anderen Heimat, schien es so, als wollte diese Welt sich in all ihrem Heil mir präsentieren: so traf ich, wie es heißt, on cue gerade rechtzeitig vor unserer Haustüre ein, als dort die Mume und ihre Anverwandten tütenweise Fleischtomaten aus einem Kofferraum in den Hausflur schafften (die ich zunächst für Mandarinen hielt.) Kleines Hallo.

Nach unruhiger Nacht entfaltete, also wirklich auffaltend sich über der Pyramide des Messeturms: ein sonniger Tag ohne Ahnung vom Herbst, so als wäre hier der Sommer noch immer on. Es ist warm wie vorvorgestern noch in Berlin.

In Berlin nehme ich die Treppe, hier fahre ich mit dem Aufzug. In Berlin wird die höchste Stufe am Herdschalter links eingestellt auf der Skala, in Frankfurt drehe ich umstandslos nach rechts. All dies ist mir ins Instinktive übergegangen. Ich bin in zwei Haushalten heimisch, bin, wie es in meiner Kindheit am Rande der Autobahn hieß »zwei Öltanks.«

Lese die letzten Einträge von Fritz Raddatz aus dem Jahr 2011. Da verkauft er seine Kunstwerke, es geht gerade, während ich im prallen Sonnenschein lesend sitze, um eine Skulptur von Alfred Hrdlicka, die den Gehäuteten darstellt. Als sie abgeholt wird aus seinem Garten in Hamburg, geschieht das mit einem Kran und sie entschwebt an dessen Seil gehoben auf einem Schiff durch den Alsterkanal. La Dolce Vita—so müsste eine Verfilmung seines Lebens anfangen dürfen.

Biopic, ein dummes Wort.

DIE TIERE BEHALTEN DIE RUHE

Every morning stillness meets me. Sitting on the window ledge. It calls the day to wake up. And defuse the dew drops: … .

Auf einmal war der Himmel jetzt silbern, eintönig, und es lag ein angenehm scharfer Hauch von Feuchtigkeit in der Luft.  

Der Fotograph war zu Besuch gekommen. Ich hatte ihm von der Laubfärbung vorgeschwärmt, woraufhin er ganz begeistert geschrieben hatte: »Ich bringe Schwarzweißfilme mit.«

Dann raschelten wir durch den Wald, weil ich darauf hoffte, das Wespennest vom vergangenen Sommer vielleicht leer wiederfinden zu können. Am Ufer des Sees war zwischen den Weiden ein silbriger Dunst, darüber der Himmel und ein Schwan, einzeln, war auf uns zugeschwommen, zielstrebig, und hörte damit noch längst nicht auf, sondern kam auf uns zu, zu Fuß, über die silbrigen Kiesel, den hellgrauen Strand. 

Er präsentierte sich; machte mit seinem weißen Hals mal Fragezeichen, dann wieder streckte er den auf ganze Länge aus. Welch Tier. Was für eine Erfindung auch—warum ausgerechnet diese Geburt die Evolution überlebt hatte?

»Wo ist jetzt noch gleich das Haus der Wannsee-Konferenz«, fragte der Photograph, nachdem er des Schwanens müde geworden war (und dieser wiederum auf dem ihm eigenen Wege übers Wasser in Richtung der Pfaueninsel davon gezogen war.)

Ich zeigte zum gegenüberliegenden Ufer hin. 

Dort saßen wir dann noch bis zum Sonnenuntergang auf der Terrasse des Seehasen, während sie drinnen schon den Kamin befeuert hatten. Wir sprachen über die sechs, vielleicht waren es sogar sieben Silberreiher, die wir morgens am anderen Ufer des eingezäunten, weil chemisch verseuchten Teiches gesehen hatten, wie sie uns dort ihre weißen Brüste präsentiert hatten. Und wie wir danach am Easy Rider vorbeigekommen waren, gerade noch rechtzeitig, weil Andreas da gerade die Fensterläden zugenagelt hatte, um den Imbiß winterfest zu machen. 

A Strange Day. Im Wasser fuhren geschäftig die Blässhühner herum, brachten womöglich die Ernte ein. Bald würde die Sonne auch schon wieder untergehen.

Freundschaft—wenn es anfängt, wenn man es spürt, dass sich Verbindungen schlagen.

Am Abend kommt die Ruhe wieder. Dann wird es draußen schwarz, und auf den Fensterbrettern sammelt sich der Tau.

Während ich ruhe.

LEGE ARTIS

Wie mir Wolgang Ullrich gerne erklärt und sozusagen auseinandersetzt, ist das, was ich mir von einem Beisammensein mit Künstlern erhoffe, nie dagewesen; chimärenhaft hege ich da einen Wunsch nach dem Austausch, den es, seiner Vermutung nach, vielleicht nur einmal, ein einziges Mal in der Geschichte gegeben haben könnte. Und zwar am Hofe von Rudolf dem Zweiten, der zwar ein schlechter Kriegsherr gewesen sein soll, es gab Leute, die hielten ihn für irre, aber es war zu seinen Lebzeiten halt gut für die Kunst.

Lange her, zu lange für mich, obwohl ich selbst schon ganz schön alt geworden bin. Vermutlich gehe ich deshalb (aus beiderlei Gründen) nicht mehr viel aus.

Aber dann wurde, wie in jedem Jahr, der Michael-Althen-Preis verliehen. Und ich liebe bekanntlich diese Zeitung. Als ich, auf meine Begleiterin wartend, die wie es sich gehört, verspätet war, traf ich dort in Mitte so einige, die ich von früher noch  kannte. Am Strohhalm aus meinem Campari mit Orangensaft saugend, sagte ich Hallo. Moritz wiederum, der in Begleitung von, natürlich, DJ Hell dort an der Terrasse des Cafés vorbeikam, meinte, dass er ja leider erst viel zu spät dort bei der Preisverleihung würde erscheinen können. Komma aber: Es gäbe dort ja einen handfesten Skandal. Mehr wollte er nicht verraten, es hatte wohl mit der Preisträgerin zu tun, die ich kannte: Antje Stahl.

Im Saale dann selbst war alles wie immer. Wie in den vergangenen Jahren. Man, also ich, fragt sich zwar, warum dort die herrlichen Kronleuchter mit so seltsam von den Bouroulleq-Brüdern abgekupferten Balsaholz-Körben umfasst hängen müssen, aber ansonsten ist es dort schon festlich und dem Anlass angemessen, und gäbe es diese Balsakörbe nicht, oder die Leuchtwand dort, und keine Mikrophone, dann könnte ich mich ja tatsächlich beinahe schon fühlen, als wäre ich an den Hof zu Zeiten Rudolfs geladen. Wobei da natürlich keine Künstler saßen, sondern Journalisten, die ja irgendwie ein Mischwesen haben aus Künstlertum und Politik.

Nach den üblichen Ansprachen, bevor die ausgezeichnete Autorin selbst auf die Bühne durfte, erschien dort dann der Herausgeber des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, um eine Rede zu halten. Das war ungewöhnlich für den Ablauf der Veranstaltung, die ansonsten ja immer gleich, immer wie immer war. Aber die Sache war ja die gewesen, dass eben diese Autorin vor einiger Zeit in einem anderen, nicht in dem zur Auszeichnung vorgesehenen Text über ihn geschrieben hatte, er sei nicht ganz bei Trost. Und also sagte er:

»…Kunstfeindschaft sei noch nie so gut verpackt worden wie durch mich und meinesgleichen. Wobei meines gleichen im Unterschied zu mir von Antje Stahl gar nicht benannt worden sind. Aber vielleicht kommt es eines Tages noch. Frau Stahl hätte einen Kollegen von der NZZ noch erwähnen müssen, der ähnlich argumentiert hat wie ich. Weil es ging um Kritik. Es ging um die Sache, die wir hier verhandeln. Und nicht nur, um mit der Situation hier zurande zu kommen. Ich habe das gestern erst gemerkt, dass das alles so—: nicht ganz bei Trost ist ein scharfes Urteil. Sich durch die Einsendung eines Textes für den Preis eines Zeitungsfeuilletons zu bewerben, das man der Kunstfeindschaft für fähig hält, ist außergewöhnlich. Also entweder ist das alles nicht so ernst gemeint, und wir befinden uns hier in der journalistischen Spielwarenabteilung: Hauen also tagsüber ein bißchen auf die Trommel, stoßen ein paar Jagdschreie aus und gehen dann abends einen trinken, oder es ist doch ernst gemeint, aber dann: dann müssen wir herausfinden, was das soll. Worum ging es? Es gab in den letzten Jahren, vor ein, zwei Jahren, eine Reihe von Aktionen in Museen, durch die die Frage aufgeworfen wurde, was wer malen dürfe. Und ob nicht manche Kunst aus moralischem Zweifel heraus entfernt werden sollte. Sie erinnern sicher den einen oder anderen Fall, da sich eine weiße Malerin—was ist das, eine weiße Malerin?—sich eines Bildmotivs aus der afrikanischen Geschichte bedient hatte. Sind die sexuellen Blicke des Malers Balthus erträglich? Dürfen nicht eigentlich nur Dakota-Indianer das Leid der Dakota-Indianer in Form eines Kulturteppichs knüpfen? Sind auf einem Laufband rennende Hunde in einem Kunstvideo erlaubt? Diese Fragen sind allerdings, und das ist wichtig, nicht diskutiert worden. Vielmehr wurden sie in Form von Forderungen vorgetragen, die entsprechenden Kunstwerke aus den Ausstellungen zu entfernen, in die Depots zu schieben, oder sogar, in seltenen aber extremen Fällen: zu zerstören. Ende Januar hatte die Manchester City Art Gallery das dort vielleicht berühmteste Gemälde des Hauses, Hylas und die Nymphen von John William Waterhouse, demonstrativ abgehängt. Die Abhängung geschah im Rahmen einer künstlerischen Intervention. Angeblich, um eine Diskussion über den weiblichen Körper in der Kunst und über kuratorische Entscheidungen zu eröffnen. Tatsächlich aber, das war meine Überlegung, wird durch die Abhängung hier, so wie auch in anderen Fällen, keine Diskussion eröffnet, sondern das Ergebnis einer solchen Diskussion symbolisch vorweggenommen: Das nicht so hätte gemalt werden sollen. Und das aus schlechten Gründen, nämlich so, der weibliche Körper gemalt worden ist. Jeder mag es für andere Künstler, oder vielleicht auch für die, selber durchdenken, ob das Nichtzeigen eines Werkes dazu geeignet ist, die Diskussion darüber intelligenter zu machen. Ästhetischer Streit, glaube ich, setzt die Gegenwart der Werke voraus. Und das Recht zum individuellen Ausdruck. Wer ein Bild auf Gesinnung hin prüft und nicht auf die ästhetische Qualität, scheint mir eine Komponente der Kunst zu verpassen. Ganz abgesehen davon ist die Vorstellung von der Victorian fantasy, die da gechallenged werden sollte, selbst von erheblicher Schlichtheit. Das hat nämlich dann, muß ich zugeben, mich ein bisschen geärgert an dem Urteil, unserem schönen Feuilleton fehle jeder Sachverstand. Noch sechs Tage bevor Antje Stahl uns das in der NZZ vorwarf, hatten wir einen längeren Beitrag zur Diskussion des Bildes von Waterhouse. Eine Diskussion, in der die amerikanische Kunsthistorikerin […] zuletzt davon gesprochen hatte, das Bild stelle den weiblichen Blick auf Männer dar, wie er 1893 beim Aktzeichnen an der Royal Academy, an der Waterhouse tätig war, thematisiert wurde. Dieser Beitrag blieb der einzige Beitrag im deutschsprachigen Feuilleton, der sich inhaltlich mit der viktorianischen Fantasie und deren Themen auseinandersetzte. 

Sehr geehrte Damen und Herren, das alles gehört zu diesem Abend, weil es um Maßstäbe für Kritik geht. In der Begründung des Preises heißt es, es werde ein Schreiben gelobt, das anlytische Schärfe mit einem Bewusstsein verbindet, dass man von der Kunst nicht sprechen kann, wenn man die Emotionen ausblendet. Vielleicht müsste man noch etwas Drittes hinzunehmen, um es, wenn es um Kriterien für Kunstkritik geht. Denn viele Leser einer Kritik haben die Bilder nicht vor Augen, haben das Buch noch nicht gelesen. Und das Theaterstück noch nicht gesehen, waren noch nicht in der besprochenen Ausstellung.

Und wir sagen noch.

Und wir wissen, dass wir damit eine erhebliche Hoffnung verbinden. 

Daraus erwächst dann eine erhebliche Verantwortung. Der Kritikerinnen und der Kritiker. Man könnte auch sagen, daraus erwächst eine erhebliche Verführung: Sie reden von etwas, das die anderen oft nur vom Hörensagen kennen. Zum Beispiel davon, wie Jaqueline Bisset auf einen zukommt. Neben Schärfe und Emotion ist auch ein gutes Kriterium für Kritik dass sie nicht versucht, ein Programm durchzuziehen, sondern bei den Sachen bleibt, die sie gesehen hat. Ganz egal, was zu sehen gewesen war. Ich hatte das schon bei unserem Empfang auf der Buchmesse ganz kurz zitiert. Wolfgang Herrndorf schreibt: »Wer von der Literatur etwas bestimmtes verlangt, soll es sich selbst schreiben«. Programmatische Anforderungen könne man nur an Gruppen richten, in der Literatur gäbe es keine. 

In diesem Sinne würde ich sagen, bin ich skeptisch, ob es Malerinnen und Maler gibt—als Geschlechtsgruppen. Ob es Alte und Junge gibt—als Altersgruppen. Ob es Weiße und Dunkle gibt—als Hautgruppen. Oder wie man das immer nennt. Ob es Arme und Reiche gibt als Klassengruppen in der Kunst. Ich bin sehr unsicher. Ich glaube, das gilt für alle Künste. Und man ist glaube ich kein Vertreter des L‘art pour l‘art wenn man so denkt. Und man hat, glaube ich, auch nicht den Verstand verloren. 

Es gibt eine Passage in dem Text, in dem sie etwas sagt am Schluss zu dem Unterschied, der dann dazu führt, dass bei gewisser emotionaler Aufreibung man sich wechselseitig vorwirft, »nicht ganz bei Trost zu sein«. Der Unterschied zwischen einer Auffassung von Kunst, die in ihr eigentlich Kräfte beherbergt, die selber nicht ästhetisch sind. Sie schreibt sinngemäß es gehe in der Kunst um Umverteilung in kulturellem Gewand. Sie werden jetzt gleich merken, das spielt auch in dem Text, der prämiert worden ist, eine Rolle: Es geht um Umverteilung in kulturellem Gewand. Eigentlich, glaube ich, denkt sie, es geht in der Kunst um eine Kampfsituation. 

Als ich diesen Satz las, dass es um Umverteilung in kulturellem Gewand eigentlich gehe, und dass jemand wie ich, der das nicht sieht, auf die Schiene von L‘art pour l‘art und entpolitisierter Kunst rutscht, bis hin zu solch albernen Dingen, dass ich mich für einen Maler, der 1893 Nymphen gemalt hat, interessiere—ich glaube, der Unterschied kommt daher, dass ich nicht ganz genau weiß, was da umverteilt wird in der Kunst. Das wäre eine Frage, die ich mit Frau Stahl gerne diskutieren würde: Ist es Aufmerksamkeit? Ist es Geschichtlichkeit, die umverteilt wird? Bewirkt denn die Kunst durch die Korrekturen, die sie vornimmt, oder die Programme, die sie verfolgt, in der Welt politische Veränderungen?

Das sehe ich nicht so. Ich habe einen vergleichsweise engen Begriff von Politik. Ich denke, da geht es um die Beschaffung von Mehrheiten. Um Stimmengewinne. Politik ist Entscheiden. 

Kunst richtet sich, glaube ich, oft zu sehr an die Individuen. Sowohl von den Produzenten aus, die extrem sein dürfen—das ist der Sinn des Begriffes Kunstfreiheit—als auch von den Rezipienten. Die nicht als Kollektiv angesprochen werden. 

Es wird keinem Indianer der Welt besser gehen, weil ein politisch korrektes Kunstwerk nur von den Indianern hergestellt werden kann.

Der Sinn der Kunst ist es, gute Kunst herzustellen.

Insofern sehe ich sie nicht so sehr in einer Kampfsituation. Wenn man damit nicht den Kampf um die Qualität der Kunst meint. Aber ich erkenne, dass das zwei Positionen sind, die man zu der Sachlage haben kann.

Und ich wollte Ihnen meine schildern. Und versuche im Anschluss, Frau Stahl zu überzeugen. 

Vielen Dank.«

IN BETWEEN PALAIS AND DAS LOCH

Back then, deep in the nineteennineties, when I was writing for real money—and so did almost everybody else—I had a stint working for the german leg of UFA Grundy, based in Bonn I think at that time. Or was it Cologne?

However we were four writers in one single room at that time. Storylining soap operas. And we had to show up every day to do what we had been hired to do: Master Joe Eszterhas had layed down the rules of the trade for us to bang your head against the typewriter until something materializes. And so we tried. Did our best. Whatever.

Headwriter was Julius Gruetzke, son of a famous german painter, Johannes, whom I adored, because he had done these fine drawings, portraits that were used in the last movie that had Rainer Werner Fassbinder as an actor himself. Fine title also: Kamikaze 2000. And there still was a restaurant by the banks of river Spree near the train station Friedrichstrasse where they had massive paintings of his. Paintings, both
thick with colour and paint, that displayed an excessive lifestyle of the german male, of their drunkenness and devouring that by that time seemed long way gone down the drain already.

Now Julius, son of a late artist, told me one lesson which I should always stick to (and I tended to almost did.) He went »See, I hold two apartements in Berlin. One I call Das Loch, the other one I dub as Palais.«

I did not get him in full in that time. Nowadays I seem to have understood. Whenever things got bad Julius rented out Palais and retrieved himself to the hole. 

But, as said, that was a very, very long tome ago.

LA CAPTIVE

Wie festgefroren in der Atmosphäre, was sie in Wirklichkeit auch sind, waren die Wolken in Form von Gespinsten, fadenscheinig von Beginn. An solchem Morgen greift mein Leben auf die hohe Saite um. Ich dachte: Nein, jetzt diese Stille, weihevoll, allein vom so gar nicht majestätischen Kieksen der Blässhühner akzentuiert, die störe ich nicht mit meinem Movielärm. Am offenen Fenster aber sitzen wollte ich dennoch. Und mußte sowieso noch Popcorn besorgen (Videokassetten zurückbringen gibt es nicht mehr.)

Am Olof-Palme-Ufer standen die Warnhütchen in einer Kurve quer über dem Weg aufgestellt. Dahinter gab es sogenannte Dreharbeiten, dort stand ein Cateringzelt des Unternehmens Donata (mit der gleichnamigen Ehefrau des Regisseurs Wim Wenders haben die aber nichts zu tun.) Man drehte dort irgendeinen Schmonzes fürs Fernsehen, aber der vordere Teil der Szenerie am Ufer, diesseits der Hütchen, war ja dadurch ebenfalls als abgesperrt zu betrachten, und in dieser Zone stand ich mittendrin. Mit mir zwei Männer mit Schallschutzpolstern auf den Stirnen wie Mickeymäuse (wahrscheinlich wegen der Dialogregie vom jenseitigen Teile, aus dem es ja durch Verstärker herüberschallte.) Zu beider Füße lagen dort Rohre, vorne angespitzt, die waren bestimmt mehrere Meter lang, jedes für sich, und ich sagte: »Was machen Sie denn da—Bodenproben entnehmen?« (Abb.: Emoji »Eyes Full of Love«.)

»Ja, genau.«

»Und, was kommt dort unten?«

»Wir sind jetzt erst bei zwei Meter sechzig. Bis dahin: Sand.«

»Ach schön. Haben Sie das von der Bodenverflüssigung gelesen, neulich?«

Hatten die freilich nicht. Mich hatten die Augenzeugenberichte von dem Tsunami in dieser Hinsicht mit Angstlust erfüllt: auf einer halben Seite hatte sie in der Zeitung berichtet von einem selbst für die Experten neuen Phänomen dergestalt, dass sich dort auf dieser betroffenen Insel der Boden unter der Einwirkung der Schockwellen des Unwetters wie eine Flüssigkeit gebärdet hatte. Er war in weichen Wellen an die Beobachter herangelappt mitsamt der Häuser und Palmen, hatte sämtliches in sich hinabgezogen, ohne danach noch eine Spur davon zu hinterlassen, wie unschuldig oder wie eine Sinnestäuschung und so fort. Die Erklärung der Experten, vorläufig, war, dass sich ein Boden aus Sand jederzeit auch verflüssigen kann. Weil die Reibung, die Sandkörner an sich beieinander fest hält, bei extremem Wasserdruck von tief unten her, reibungslos gemacht werden kann. Und dann gibt es zwischen denen kein Halten mehr.

Soviel zur Märkischen Streusandbüchse, der vielgerühmten. Später saß ich dann noch länger unter dem Weinlaub bei Mutter Fourage, wo mit blanken Scheren geernet wurde. Die Trauben waren genau so klein wie im vergangenen Jahr. Und wie in dem zuvor auch. Farblich schwarz. Und ich las in einem vorzüglich geschriebenen Buch aus der Tauschecke dort, das den herrlichen Titel hat Berlin, wie keiner es kennt.

Mensch Meier, schon wieder rundet sich ein Jahr.

THERE’S ALWAYS VANILLA

Wie habe ich mich bislang vor Filmen gefürchtet. Mittlerweile habe ich beinahe wirklich schon viereckige Augen. Das Format hat sich ja, gleich wovon man die abschaut, noch immer nicht geändert. Auch der Bildschirm des iPad hat, wie mein Hut, der Ecken vier. Wie das Filmbild, als es noch Streifen gab. Und in dem Gespräch von Bowie und Balthus gab es die eine Stelle, bei der ich lange überlegen wollte, wie man das anders übersetzen könnte, aber es ging gar nicht anders. Da waren sie beide kurz abgeschweift zu einem Menschen, der in einem gewissen Film eine wohl extrem kurze Rolle gespielt hatte, und in dem meiner Übersetzung zugrundeliegenden Text sagte Balthus »He is just one frame.«

Damit war also nur ein Auftauchen innert eines Filmstreifenbildes gemeint, das aber versteht ja kein Mensch, wenn ich das so hinschreiben würde; beziehungsweise, es klänge von fremder Hand eindringlich, so als wollte ich als Übersetzer noch extra darauf hinweisen, dass es den beiden um Film ginge—und da ich das die ganze andere Zeit nicht für nötig befunden hatte, dieser Art Eingriff, konnte das auch nicht die Lösung sein. So kam ich schließlich auf Er bleibt bloß für das Vierundzwanzigstel einer Sekunde. Vermutlich war das gemeint.

Um mich auf die neue Gesprächsreihe mit Oskar Roehler vorzubereiten, schaue ich endlos Filme an. Jeden Tag. Beim letzten Mal hatte mir die Zeit dafür gefehlt, da hatte ich andere Dinge zu tun gehabt, und ich dachte, dass ich die Filme, um die es damals, im vergangenen Frühjahr ging, auch so einigermaßen auswendig kannte. Jetzt aber, da denke ich das zwar irgendwie wieder, will ich besser präpariert in die Redeschlacht ziehen (obwohl es im Buche Bushidō heißen soll, dass es vor allem um den Anblick des eigenen Todes in der Schlacht geht; daraufhin hat alles bishin zur Farbe der Socken ausgerichtet zu sein.)

Wenn man viel Zeit hat, oder, wie ich, nicht mehr viel schläft, kann man guter Hoffnung sein, sich ein Filmwissen quasi literarisch reinzuschaufeln. Ich bin dann, Gaspar Noë hatte das ausgelöst (weil er in seinem so schön filmpädagogisch gebauten Film Climax zu Beginn minutenlang Interviews zeigt, die abgespielt gefilmt werden zwischen zwei Türmen aus VHS-Kassetten links, und rechterhand Büchern) bei Suspiria gelandet, wo ich dann erfahren habe, woher er das viele Rot in seinen Bildern hatte. Da hat mich aber vor allem die Musik von Goblin fasziniert, die auch ein Celeste eingesetzt hatten, das mich an den Tanz der Zuckerfee erinnert hat. Sogar von der Melodie her. Und deshalb mußte ich mir danach noch das Frühwerk von George Romero anschauen. Weil Dario Argento und Goblin dafür die Musik gemacht hatten. Und Argento wohl privat Geld zur Verfügung gestellt hatte. Dawn of the Dead hatte ich als Teenager schon einmal gesehen, aber damals nur auf einer matschigen VHS-Kopie in einem sogenannten Jugendzimmer. Jetzt war alles scharf—What a movie! Man muß den jetzt, genau jetzt noch einmal anschauen. Sich reinziehen. Gespenstisch! Durch und durch. Insbesondere diese Szene, wo sie in dem umstellten Einkaufszentrum die Schalter umlegen und die Einkaufsmusik wieder angeht, die Springbrunnen springen, und es gehen dort nur noch lauter Untote umher (und einer von denen, der bissige, ist ein ewiger Jünger von Hare Krishna!)

Wie dann der Helikopter am Schluß davonfliegt wie die Vögel in den Abendhimmel, und die Kamera bleibt zurück auf dem Dach Punktpunktpunkt

Der erste Film von Romero, Night of the Living Dead, hat noch keine Musik von Goblin. Und die Bilder sind in schwarzweiß.  Jetzt verstehe ich endlich, was Thurston Moore immer gemeint hat, mit seinem Style. Und worauf sich das Cover von Raymond Pettibon eigentlich bezogen haben sollte.

Und das Blau im Gesicht von Pierrot le fou.

KNIVES OUT, WICKED GAME

Die Gemüsehändlerin gegenüber, die eigentlich ja schon längst frei hätte für ein halbes Jahr—im vergangenen hat es derzeit schon geregnet und die Blätter waren so gut wie ˋrunter— sagt »Wer einen Ossi als Chef hat, kann sich auch erschiessen« (sie ist dort aufgewachsen.)

Die Birnen aber sind noch dieselben, Sorte Gute Louise, und sie sind einfach herrlich, reifen innert drei Tagen noch zur Gänze: die Sonne darin.

Lino indes, den ich auf dem Heimweg traf, kämpft an der anderen Front. Wie ich ihm erklären konnte: vergeblicherweise. Die Buchsbäume sterben ab. Das hatte mein Vater mir schon prophezeit, im Süden hat es wohl angefangen. Als wir im Sommer dort waren, verendete ein sehr großer, der letzte, vor unseren eigenen Augen. Das hat wohl mit einem winzig kleinen Käfer zu tun, oder einer Art Motte mit großen weißen Flügeln—auf jeden Fall unansehnlich—, deren ebenso winzige Raupen, sich exklusiv vom Wurzelwerk dieser ansonsten ja über Jahrhunderte als immergrün bekannten Hartlaubgewächse, die man zu allerlei geometrischen Gebilden stutzen kann, ernähren, um zwar nicht groß, dafür aber zahlreich zu werden.

Jetzt sind die hier. Und von den Buchsbäumen wird bald nichts mehr übrig sein. Was wohl kaum an deren hypertropher Bezeichnung liegen wird, sondern an dem exotischen Aroma ihrer Wurzelballen.

Lino hofft noch auf Gift, aber ich zitierte meinen Vater, der behauptete, dass es in ein paar Jahren keine Buchse mehr geben wird hierzulande. Und das, obwohl die ja früher noch von Mönchen europaweit rings um die Gemüsebeete angepflanzt worden waren, um die Schädlinge fern zu halten. Aber damals hatte man sich halt auch noch nicht die Schnittblumen und Gemüse aus Asien und anderswo herschiffen lassen. Für diese Schädlinge waren solche Distanzen unüberbrückbar gewesen. Das ist jetzt anders.

Hecken aus Lorbeer wären wohl eine Möglichkeit. Zumindest die Nächste.

Weil die Märkte sind riesig geworden. Es sind einfach zu viele Menschen inzwischen. Und, wie Chris Isaak singt (und Robert Smith übrigens auch) »No one really loves each other«.

Aber das Licht!

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