»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

MEIN TAG DES RUHENS UND DER ENTSPANNUNG

In dieser Nacht dann leider schon nicht mehr so ausgiebig und tief wie in der zuvor vergangenen, in der ich vierzehn Stunden lang ununterbrochen geschlafen habe; wobei das nicht ganz stimmt, denn nach der längsten Zeit bin ich schon ein paar Male, vielleicht drei insgesamt, wie beinahe erwacht, aber bei jedem dieser Mal war ich, in dem Moment, als sich das Bewußtsein meldete, gleichzeitig noch so schlaftrunken gewesen und fühlte mich schwarz, dass ich mich lieber wieder sinken ließ, um weiterzuschlafen. So ging das, bis sich draußen schon die Möwen stritten, weil es hell war. Und warm. Ich machte noch einmal Limonade wie im August. Und las erst die Erinnerung eines Mädchens zu Ende, dann gleich das Vermächtnis einer Jugend hinterher. Zwei ganz schöne Bücher, die mir zueinander passend erscheinen, wie Ergänzungen, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Kulturen Europas stammen. Vielleicht waren sich die beiden Frauen, die sie geschrieben haben ähnlich, ich weiß es nicht.

Vera Brittain jedenfalls schreibt in ihrem Vorwort zur Entstehungsgeschichte des Textes, dass sie zuerst einen Roman versucht hat, dann wollte sie ihre Tagebucheintragungen aus diesen Jahren fiktionalisieren, wie sie schreibt, indem sie den Erwähnten neue Namen gibt, was dann aber scheiterte in ihren Augen, weil sich dann alles so falsch anhörte.

Erst als sie, auch weil ihr nichts anderes mehr übrig bleibt, beschließt, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, wird daraus ein Buch.

WIE SIND SIE HIERHER GELANGT, UND WARUM HÄNGEN SIE HIER HERUM?

Dann war es so, als ob der Sommer einfach noch nicht gehen wollte. Wie der Letzte auf der Party, man selbst ist schon ganz müde und will ihn aus der Türe schieben, aber ihm fällt immer noch etwas ein.

Das Gespräch mit Bowie endet so. Bloß andersherum. Auf einmal, es gibt darin auch trockene Phasen, auch Wiederholungen, wollen Sie, Balthus und seine Ehefrau, dass er, DB, nicht weggeht. Und dann diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag lang zu Gast war. Biblisch in jedem Sinn und auch sonst noch mehr. Ich habe mir Notizen gemacht. Vor allem darüber, wie wenig es eigentlich braucht, um anderen Menschen etwas begreiflich zu machen. Es ist wie mit der Kindererziehung (ach nee!): Man lebt es vor; stellt es dar. Und hofft auf das Gelingen der Performance.

Ich habe richtige Schmerzen, genauer: es ist ein Weh, das ich habe, aber das wußte ich vorher, im vorhinein, dass ich es mir damit zuziehen würde wie einen Spreißel, und totzdem. Für immer und bis alle Ewigkeit wäre ich gerne in dieser Textwelt geblieben. Aber dann fällt der Schuß, dann ist Schluß, es wird taghell und ich musste bald raus aus meinem Paradies. Nun liegt es hinten. Ich schaue es gern an. Und frage mich, wie immer: Warum kann es das mitsamt der Vertreibung nicht noch viel öfter geben dürfen in meinem Leben?

Weil wenn ich erst Patti Smith übersetzen könnte, dann stünde Jeanne erst richtig am Marterpfahle, während auf dem Scheiterhaufen zu ihren Füßen der Walkman verglüht.

Am Schluß des Gespräches geht es schließlich um die eigene Kunst. Um die haben sie stundenlang herumgeredet, freilich auf die allerkultivierteste Art. Und Bowie erzählt von einem Bild, dass er für sein Problem in sich trägt, da fliegt er in einem Flugzeug, das in der Wüste zerschellt, und er geht einfach weiter. Und Balthus sagt »Ganz  genau so muß es sein.«, und dabei fiel mit George Condo ein, den ich, das war kurioserweise in einem anderen Teil dieses Hauses, in dem ich heute lebe, und wir saßen im Hochsommer draußen auf der Terrasse, und Condo hatte sich zum Essen Rouladen mit Rotkohl gewünscht. Ich zeigte ihm meine Tättowierung, nach einem seiner Gemälde, aber das interessierte ihn nicht so sehr wie dieser Film, den er gerade gesehen hatte. Es war irgendwas mit einem Piloten, ich kann mich auch nicht mehr gut genug daran erinnern, wer der Hauptdarsteller war — wahrscheinlich Will Smith?, aber er beschrieb uns diese eine Szene, wo der alkoholkranke Pilot von den Leuten der Luftfahrtsgesellschaft aus dem Hotelzimmer abgeholt wurde, ganz einfach, weil er für sie fliegen mußte. Ich glaube, sie hatten ihm sogar Kokain gegeben, gegen seinen Rausch. Und Condo sagte, mehr sagte er nicht mehr, soweit ich mich erinnerte: »I’ve got to land the painting. Land the painting.«

Daran mußte ich denken, heute. Dass es wirklich so ist.

A PROPOS

Um 18 Uhr, nach sechzehn Minuten war es soweit, da war ich sozusagen durch mit der Übersetzung. Drei ganze Tage. Ist das denn jetzt männlich, peinlich, dieses Wertlegen auf die Arbeitsstunden, auf den Arbeitsaufwand, sollte ich das vornehm verschweigen (Fragezeichen) Aber als ich aufblickte von meinem Monitor jedenfalls, da mußte ich tatsächlich aufstehen (Er saß, aß, las) und vor dem Spiegel im sogenannten Badezimmer mich anschauen, weil ich doch ganz vergessen hatte, wer ich eigentlich war. Versunken schien ich, doch war ich derselbe geblieben, gut, bißchen abgenommen vielleicht, aber das steht mir doch gut.

Eventuell. Also eigentlich wird es nach uns noch welche geben, die, am liebsten—oder so—alles, also sämtliches ganz anders gemacht hätten. Aber ich bleibe ganz ruhig. Mir kann keiner mehr etwas, was ich da übersetzt habe, das ist einmalig. Dazu hat doch keiner mehr einen Bezug. Das fahre ich denen wie eine Raumfähre rein. Und dann erst.

Draußen riecht es zwar feucht — unangenehm schoßig, aber es ist dort schön. Die Leute geben sich locker. Ich hatte ein wundervolles Gespräch mit meiner Mutter über Telephon, da unterhielten wir uns über meine Tiere, und davor hatte ich meinen Vater am Rohr, dem es ja, wie er findet, andauernd besser geht; er fragte mich nach der Technologie, das wurde ihm bald zu anstrengend, und das kann ich nun wirklich sehr gut verstehen.

HUCH, EIGENTLICH HOPPLA

Wie plötzlich war es jetzt so, als ob die Blattfärbung eingetreten war wie über Nacht und in vollem Ornat. War das gestern, war es nicht vorgestern erst noch so gewesen, dass ich durch das grünste Laub zwischen den Haltestellen von Grunewald und Nikolassee bis nach Wannsee gefahren ward?

Plötzlich wird es bunt. So wie in dem Puzzle, das wir Zuhause einst hatten, wo aus den craziest bunten Herbstwäldern, Laub was the game, das sogenannte Schloß von Neuschwanstein aufragte, sich reckte, in blühendem Weiß.

Der Wetterdienst sagt, es wird zum Wochenende hin noch einmal richtig nachsommerlich werden. Ich darf annehmen, dass kein Polizist unseren fun stören wird (A. Schmidt).

Gibt es denn gar nichts, was Dir die Freude noch trüben könnte?

Nö, wüsste nichts. Mal schauen: Nein, ich finde nichts.

In meinem Herzen, oder so.

Klar, das mit dem Dogen von Moabit ist schon betrüblich, aber es läuft sowieso.

Man hatte mich vor ihm gewarnt. Und das beileibe nicht ohne Grund. Die Rede war von einem Verbrecher. Aber wenn man lange genug in Berlin lebt, von wem heißt es das nicht? Außerdem hatte Rainald Goetz ihn in die Literaturgeschichte eingeschrieben.

Mit seinem Klarnamen, also nicht mit seinem Stasi-Kürzel, dem eines obskur gewordenen Schriftstellers, das er mir gleich am nächsten Abend in der Paris Bar verriet, nicht ohne hinzuzufügen: Wenn Du jemals über mich schreibst, schlag‘ ich Dir die Fresse ein. 

‚Nough said. Das kümmert mich ja bekanntlich nicht: physische Beeinträchtigungen. Einmal kannte ich einen, der zum Multimillionär geworden war durch eine schwierige Erbschaft, weil seine Eltern das Aufstellen von Glückspielautomaten der Sorte Monarch gepachtet hatten für die gesamte BRD. Er sich aber als steinreicher Hippie verstehen wollte, und sich deshalb zu einem Buddhisten mit Goldrand gemacht hatte. Der hatte mir dasselbe angedroht wie neulich erst die Kanaille.

Jetzt hat er, nachdem er seine ständig sich ausdünnende Belegschaft erst nach Neujahr durch eine offenbar ihn selbst überraschende Insolvenz getrieben hatte, alle entlassen, um seiner Mannschaft kurz darauf zu verkünden, dass er noch vor der Drucklegung des aktuellen Heftes einen neuen Job würde antreten in Russland, wo er als Vorstand einer Gruppe von Luxusmodehäusern gebraucht würde. 

Das sinkt freilich ein. Ich gab es dann auf, ihn an einen Kodex zu erinnern, den er niemals verinnerlichen konnte. 

Außerdem war ich noch immer beschäftigt mit der Übersetzung von Bowie und Balthus. Da gibt es mit jeder zweiten Replik diese Aussagen, die mir märchenhafte Welten aufschließen, ganz vergleichbar mit den Waldbildern jetzt, durch die Fensterscheiben der S-Bahn betrachtet: Etwa wenn Balthus plötzlich sagt, dass es sich für die Maler, deren Namen er nicht mehr weiß, durchaus lohnen könnte, sich mit den abgesehenen Formen zu beschäftigen, um die zum Hervortreten zu bringen »weil das ist lohnend. Im Gegensatz zur Beschäftigung mit der Kommunikation und all dem, das halte ich für eine Energieverschwendung«. Und alle drei Minuten vergesse ich, dass es David Bowie war, zu dem er sprach. Und kurz darauf geht es um seine Begegnungen mit Mishima, er kannte Braque und Giacometti persönlich und es geht dann immer so weiter und immer so fort, es ist ist dabei ein historisches Dokument entstanden; man kann es interessanterweise nirgendwo mehr kaufen, und  Bowie, der die Zeitschrift besessen hatte, ist tot. Ich habe die Rechte freundlicherweise erhalten von den Erben von Balthus, es geht um fünfzig Buchseiten, aber Bernd will mit mir streiten über die Kosten für das Papier. Na ja, well, wie beide das allzu oft, mir aber noch nicht genug sagen, so ist das halt alles geworden. Ich habe jetzt ja einen wahrhaftigen Verleger. Und wenn alle Stricke reißen sollten, gehe ich halt mit allem, was ich in mir trage, zu ihm.

An dieser Stelle von mir ein Hallo! an die Entwickler bei Apple: Am Zufällig-Modus von iTunes muß bitte noch schwerst gefeilt werden. Weil der ist mir noch immer zu vorhersehbar.

Und nebenher: Morrisey singt Moonriver echt richtig schlecht. 

MORSELLEN

Wieder nix für Maxim. Den Buchpreis, sagt die Tagesschau, erhält eine Autorin, ihr Name sagt mir nichts, die einen Roman mit dem geradezu hochinteressant klingenden Namen Archipel verfasst hat. Und so schaut sie auch aus. Die sogenannte Jury lobt die schillernden Details—wo leben die denn, um etwas als schillernd befinden zu dürfen; wo halten die sich, kulturell gesehen, auf? Schon gut, ich kann es mir vorstellen. Leider. Sie, die Autorin selbst, bemüht den Vergleich zu Yoghurt in ihrer Ansprache. Schillernderweise. Nein, da hat Maxim freilich nichts mehr zu suchen (oder zu finden.) Ein Gedanke an eine Art Werk scheint mittlerweile undenkbar. Man sollte sich selbst wohl als ein Dartspieler betrachten, umgeben von alternden Flüsterteufeln, die vor allem von einer noch ganz anders gearteten Scheibe zu berichten wüßten.

Am Abend gibt es jetzt allabendlich die herrlichsten Sonnenuntergangsbilder, in die ich mich hineinfahren lasse wie in Gemälde, um dort, scheinbar natürlich, eingemeindet zu werden. Obzwar das nicht der Fall sein kann, denn die Leinwand bleibt mir sozusagen ewig fern. Das Bild bleibt eine graphische Darstellung ohne Textur wie am Bildschirm, ganz glatt. Und so bleibt mir bloß mein sehr fühlbarer Wunsch, ein Teil dieses Großen und Ganzen zu sein.

VOM FEGEN DER GURKE

Climax war auch eine Enttäuschung. Also der Film von Gaspard Noë, im wahren Leben enttäuscht die Klimax ja bekanntlich nie (Woody Allen in Manhattan: »Even my worst orgasms were right on the spot.«) Aber wenn man den Mund dann mit einem Titel so voll nimmt, und schon so schöne Filme gemacht hat wie Irreversible und Enter the Void, sollte es nicht derart drogenpädagogisch zur Sache gehen müssen.

Es gibt allerdings eine Szene, da schafft er es, mit einem verhaltenen Wummern des übrigens exquisiten Soundtracks und einer ganz eigenartigen Inszenierung der Schauspieler, wie die zum Raum vor seiner Kamera sich verhalten, die ist wirklich ansteckend.

Und ich erinnerte mich.

War im Kino am Zoo, in einer Pressevorführung mit lauter Greisen. Die fanden den Film freilich super. Na ja, vielleicht ist das ja der Weg.

PERIPETEIA

Die Literatur hat dem Denkbaren voranzugehen. Eile mit Weile. Francis Ford Coppola hat sich und seine Leute monatelang auf den Philippinen gequält, bloß dass der Schrecken an sich dann auf die Zuschauer seiner Bilder übertragen werden kann, wenn Marlon Brando »The Horror« sagt. Und trotzdem entfaltet sich die Bedeutung des Begriffs dann nicht in diesem Maße, wie es Georges Bataille allein mit Sprache in seinem Das Blau des Himmels gelingt. Der Schrecken wird ganz wirklich in dem letzten Abschnitt. Marguerite Duras hat geschrieben, Bataille bediente sich keines Stils; da bin ich anderer Meinung. Und es ist auch nicht entscheidend, finde ich. Was für mich zählt, ist, dass die Figuren dort wie eingeschlossen ganz bei sich bleiben, wohingegen die Räume und Plätze wie außer Kontrolle geraten beschrieben werden, sich einfügen in die Fugenlosigkeit der Welt, sodass ganz kurz vor dem Ende des Textes der Schrecken und der Wahnsinn erdend wirken. Zentrifugal.

Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob Ulf Poschardt, mit dem ich gestern brach, diesen Text gelesen hat. Auf jeden Fall war das, was er in seiner Zeitung über den grauenvoll kitschigen Film Werk Ohne Autor von Florian Henckel von Donnersmark veröffentlicht hatte, lupenreine AFD-Kulturpolitikprogrammatik. Es ist beschämend. Und mir fällt zur Aufheiterung allein Andreas Dorau ein, was er in Das bist nicht Du über Poschardt schreibt und singt. Ich kann noch nicht mal mehr »Typen wie Poschardt« schreiben oder denken. In seinem sogenannten Werdegang von damals bis heute ist Ulf Poschardt für mich tatsächlich singulär. Fanalhaftestens.

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