»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

MEIN SCHARLACHROTER HAUSMANTEL

Der RBB hat eine interessante Dokumentation, eine Reportage über das Hochhaus des Axel-Springer-Verlages: Die Eingesessenen mögen den nennen Turm der Lügen, oder Golden Shower Tower—all dies kommt darin freilich nicht zur Sprache, es sprechen der Feingeist auf Montage und der Greis Servatius. Als Aussenquelle Jakob Augstein im Hemd, als wahrlich widerlicher Bourgeois.

Dann wiederum erfreulich die Ankündigung des Bonnbüchleins in der Vorschau bei Matthes und Seitz: Es schaut alles extrem schön aus, möge diese Fracht usw. Kleine, wirklich kaum störend wollende SMS an den Verleger, die dieser auch tatsächlich beantworten kann trotz all seiner Verpflichtungen (Dank.)

Post auch in dieser Hinsicht von Moritz Müller-Schwefe, aufgrund des Panizza-Vorworts (ja, dieses Tagebuch wird jetzt auch bald so trist wie das von Herrndorf—nein!,) der mir den Vorgängerband von E.M. Forster schickt, wie um bekräftigen zu wollen: fühlen Sie sich doch bitte bei uns aufgehoben.

Tue ich dann. Sowieso. Von daher: gern.

LICHT

Möwen ziehen über das Haus, flamingohaft getönt vom Sonnenaufgang hinter den Gleisen. Angeblich soll in letzter Zeit sogar die Feuerwehr alarmiert worden sein, weil Greise im abendlichen Bild aus buntem Licht und brüllenden Wolken einen fernen Großbrand gesehen haben wollten.

Den Briefwechsel von Ingeborg Bachmann mit Hans Magnus Enzensberger gelesen. Einmal, da ist er dreißig Jahre alt, probiert er seine erste elektrische Schreibmaschine aus und führt ihr die Möglichkeiten des Stakkatotippens darauf vor. Sie kann es ja nicht hören oder sehen, also macht er lange Reihen aus kleinen, und dann Grossbuchstaben, schreibt dahinter, kokett, stets kokett »siehst du wohl, wie lustig das ist?« Monate später verfasst er, der ansonsten stets in Kleinbuchstaben an sie schreibt einen Brief komplett in Grossbuchstaben, damit fragend »SIND DIE GROSSEN BUCHSTABEN NICHT AUCH GANZ SCHÖN

Lustig, mit welchen Problemen man sich zu jener Zeit herumgeschlagen hat; es sind im Grunde dieselben geblieben. Einige Briefe werden mit Durchschlagpapier getippt und an diverse Adressen gleichzeitig verschickt, weil der eine nie genau wissen kann, wo der andere sich gerade aufhalten wird. Gibt ja auch jetzt Anläße, wo man eine SMS und eine EMail mit gleichem Anliegen abschickt, um es dringlich zu machen. Dann vielleicht noch einen Anruf tätigt, wenn man keine Antwort erhalten hat. Alle Wege münden in ein und derselben Person, die zwar an ein und demselben Ort sich aufhalten wird, aber trotz allem nicht zu erreichen scheint.

Noch einmal lesen werde ich das nicht, also wohin mit dem Buch? Im Feuilleton war ein eher sanft zu nehmender Aufsatz von Leander Steinkopf, eine Ermutigung, Bücher auch ruhig mal wegzuschmeissen. Über die innerlich wahrgenommene Schwelle hinweg pfeffern, raus vor die Tür. Da ist eine Art Ehrfurcht vor dem Wegschmeissen eines Buches. Eine Art Drang, es zu bewahren, obwohl man es nie wieder brauchen wird.

Kenne ich von Schuhen.

CHEFTHEORETIKER

Schlag zwölf, die Suppe köchelte schon, endlich fertig mit den Korrekturen am Bonntext. Es hat dann, es kommt halt immer anders, doch mal wieder etwas länger gedauert. Gar nicht erstaunlich, wie schwer es doch ist, Abstand zu sich selbst herzustellen. Wie Maurice Summen zum Album der Türen total richtig verlautbaren läßt: »Alles entscheidet sich im Edit.« Das Album übrigens ein Hammer mit drei M. Direkter Nachkömmling von Pornography. Aber auch Beta Band. Staatsakt scheint das Label der sogenannten Stunde zu sein und die, nun ja, etwas überkandidelte Hymne von Dietmar Dath auf Jens Friebes nicht ganz so gelungenes Werk, ebenfalls dort erschienen, rührte womöglich von den Hummeln her, die er verspüren mußte, weil das Ding von den Türen erst spät im Januar erscheinen wird. Komplett gut, die Musique läuft hier nonstop.

Jan sagt ja auch immer, dass ihm das Schneiden erst Freude bereitet. Ich bin ja im Filmischen noch längst nicht soweit, aber allmählich kann ich zumindest Verbindungen herstellen, ich identifiziere Transplantate, man könnte ja tatsächlich beim Schreiben eines Drehbuches angeben »Party wie in Nocturnal Animals, aber die Leute reden über Berlinspezifisches.«

Und a propos Jan: ich beneide ihn darum, dass er Noten lesen kann. Schickte er mir doch gestern einen Ausriß aus den Peanuts, wo Schröder wie immer an seinem stummen Flügel sitzt und schreibt dazu »Das ist nicht Beethoven!« Für mich waren es tatsächlich Notenpapiergirlanden wie immer. Also fragte ich »Sondern?«

Und er »Chopin.«

Glaubte ich ihm aufs Wort.

PUTZLICHT

Gestern wurde mir die Bedeutung des Begriffes Heimat in der erweiterten Bezeichnung des Bundesministerium des Innern enthüllt. Das war auf einer Bahnfahrt in die Innenstadt. Während des Wartens auf meinen Zug waren mir die neuen Plakate aufgefallen: »Freiwillige Rückkehr« hieß die Überschrift unter der Marke des Ministeriums »Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt!« Ein gezackter Zaun aus bunten Flaggen vieler Herren Länder wies von den Schlagworten hin auf die Webadresse www.ReturningfromGermany.de, daneben ein Hinweis à la Black Friday »Jetzt bis zum 31.12.2018 bis zu zwölf Monate zusätzlich Kosten für die Wohnung im Herkunftsland sichern.« Auf der unteren Hälfte des Plakates wurde dieser Hinweis in sechs Sprachen, beziehungsweise Zeichensystemen wiederholt: Englisch, Farsi, Französisch, Arabisch, Russisch und Paschtu.

Diese Plakate waren in jedem Leuchtkasten, auf jedem Bahnsteig entlang der Strecke der S7 ausgehängt. Bis zum Bahnhof Zoologischer Garten immerhin, wo ich aussteigen mußte, während mich Bundespolizistinnen in Riot Gear vor den enthemmt ihren verdienten Heimsieg feiernden Fans der Hertha abschirmten. Draußen das übliche: Großstadtgetriebe. Ich ging auf das Erntedankfest bei den Nitsches. Es gab Truthahn mit dem üblichen Beiwerk aus Pürrees und Saucen. Das ist nicht jedermanns Sache, hat sich aber nun einmal eingebürgert und ich weiß ehrlich gesqgt auch gar nicht mehr, was wir früher daheim spezielles gegessen haben zu Erntedank. Wobei mir ein Georgier dann erzählt hat (ein Architekt, der sich in eine in Berlin lebende Künstlerin aus Georgien verliebt hatte, und ihretwegen seine Heimat verlassen hat,) dass in Georgien um diese Zeit ein Geflügelgericht zubereitet wird, indem man ein Huhn oder etwas ähnlich delikates in einer Sauce aus pürierten Walnüssen fortwährend dreht und wendet, um es in der Nußsauce zu garen.

»It is absolutely delicious«, sagte er (ich kann leider kein Georgisch) »But very rich.« Und auch alles andere, was er mir erzählen konnte, vor allem die Walnußbaumwälder, klang einfach bloß anheimelnd in meinen Ohren.

»I‘d like to move to Georgia«, sagte ich.

»Viel Spaß«, sagte die Künstlerin.

Man versprach mir das Rezept.

AM G-PUNKT DER JEMÜTLICHKEIT

Anders grau, gelblich, anders feucht auch, fauchend: gleich auf dem Bahnsteig unter den düsenhaft die Kaltluft hereinleitenden Glasröhren zu Berlin umfing mich das Wetter, das, laut Olafur Eliasson, dem Isländer, die Natur des Großstädters ist. Bin ich demnach nicht, ich empfinde ungemütliches Wetter als unnatürlich. Es soll sich verziehen. Woandershin. Zurück in seine Dose, nach Sibirien.

Fuhr mit einem unterdrückten Schrei noch weiter in mich zusammen, als vor mir eine Don‘t-Look-Now-hafte Gestalt erschienen war in einer bodenlangen Kutte aus ultramarinefarbenem Material mit goldenen Knöpfen. In dem dunklen Loch der Kapuze machte ich vor allem einen waagerecht rasierten Balken aus. Es handelte sich demnach um Frédéric Schwilden, der, dergestalt vermummt zu einem Seniorennachmittag der CDU nach Magdeburg geschickt ward, um dort Jens Spahn auf die Nerven zu gehen. Während der kurzen Fahrt im Regionalexpress—es gibt ja, zeichenhafterweise keine normale Zugverbindung nach Magdeburg—erzählte er mir die von ihm sogenannten Schwänke aus seinem Leben als Chefreporter Politik, da ging es vor allem um Harald Glööckler natürlich, und wie der wohnt, seitdem er sich sämtliche Zähne hat entfernen lassen, um sie durch Implantate aus Panzerglas zu ersetzen.

Das Mosaik von Christoph Niemann wurde während meine Abwesenheit eingeweiht. Darauf weist jetzt ein in das Mosaik mit hineingefliestes  Schild hin, das von seinen Proportionen her—noch—ungeschlacht wirkt; von seinem Informationsgehalte her freilich nicht: Das Werk wurde »kuratiert von Ruth Ur.« Schicker Name. War mir auch noch gar nicht klar gewesen, dass man auch einzig einzelne Werke kuratieren kann. En attendant les sprayeurs.

Daheim dann eine Art Naturwunder: die Geranien haben zur zweiten Blüte angesetzt. Rot im kalten Grauen.

WOHNFORMEN DES MITTELALTERS

Jetzt tritt es schlagartig hervor, mir in den Sinn, während ich, dick eingepackt in isolierende Schichten durch die selben Straßen gehe wie noch vor wenigen Tagen und dort, überall, an den selben Stellen die Mitmenschen sehe (nicht entdecke), die auf dem Trottoir liegen oder schon auf sind, sitzen. So lange es warm war, auch nach Sonnenuntergang erträglich vielleicht, hatte das zwar etwas Elendes, jetzt ist es unvorstellbar geworden, wie sich das aushalten läßt: ein Wohnen ohne Wände und Gardinen; nichts um einen herum, das einen abschirmen kann vor den anderen, die heim gehen können (oder in ein Büro.) Auch Oskar hat, als wir zuletzt noch über Frankfurt sprachen, erzählt, dass er die an der Ringstraße direkt gegenüber des Hauptbahnhofs auf bräunlichen Matratzen lagernden Mumen beeindruckend findet. In einem Sinne von stark. Mächtig, weil er sie sich gleich als Clanchefs vorgestellt hatte. Der eisige Wind bläst von diesen Phantasien das Fleisch in Fetzen weg. Nichts bleibt.

Was ist nackter als nackt, so nackt, dass es knackt?

Alexander Kluge hat in dem Gespräch mit Michaelsen auf die Frage nach der Scham geantwortet, dass er die nie hätte. Er sagte »Nicht einmal beim Nasepopeln.« Ich schäme mich, wenn ich auf dem Weg zum Erzeugermarkt durch die Taunusstrasse abkürze, weil mir kalt ist und dort dann die Männer und Frauen in meinem Alter sehe, manche noch älter, die auf ihren schmuddelig gewordenen Ballen hocken, um nachzudenken über Geld.

Heute früh schaute ich aus dem Fenster in den blanken Hinterhof, wo (durch das Fernrohr war es mir nah,) das Eichhörnchen, einen halben Apfel zwischen den Kiefern, von einer Dachrinne aus in die durchsichtig gewordene Krone des Kirschenbaumes sprang, um seine Beute dort in einer Astgabel festzuklemmen. Akrobatik, kein Applaus. Das ist ja natürlich, gehört sich so, aber es wäre, denkt man es sich auf unsere Proportionen umgerechnet gerade, als würde ein Erwachsener (konnte nicht erkennen, ob es ein weibliches Eichhörnchen war,) mit einem Laib Bauernbrot zwischen den Zähnen von einem Hochhausdach zum nächsten springt, ohne dies Brot zu verlieren.

Dann, als die rote Apfelhälfte gesichert war, sprang es weiter, in ein Gebüsch. Darauf näherten sich Vögel, weichschnabelige Meisen, um von dem Apfel abzupicken. Zwar dementsprechend wenig nur, aber trotzdem wurde der Vorrat dadurch geschmälert. Keine Tür, keine Wände hat die Speisekammer des seidig unverwuschelten Eichhörnchens.

Bei Vertigo ist meine Lieblingsszene die, wenn Kim Novak aus dem Ankleidezimmer kommt, vollendet verwandelt, und James Stewart sagt aus seinem Sessel heraus »Komm her.« Sie ziert sich, weil sie fürchtet, er könnte sie verwuscheln, ihr das Make Up in Ordnung bringen »I have my face on.«

Dann, wenig später »Ach verwuschel‘ mich doch ein bißchen.«

IN DER KÜNSTLERKOLONIE ZUM BLAUEN HASEN

Sonntag in der Früh, auf dem Feldberg lag schon Schnee, und im Hessischen Rundfunk wurden uns »eisige Genüsse« versprochen, nahmen wir die Bahn hinaus nach Preungesheim zum Künstlerbedarfshandel, der, als Künstler kennt man keinen Ruhetag, ganz natürlich auch am Siebten Tag des Wochenlaufs geöffnet hat. Ein, hat man die visuelle Durststrecke der Gießener Landstraße gottlob vorbeifahrenderweise erst hinter sich gebracht, selbst im Klammen durchaus anheimelnde Vorort—die Schwemmländer der Taunusvorebene haben meiner Phantasie zumindest einen Spielraum zu bieten, wo sich nackte Gerippe einst mild belaubter Sträucher jetzt im Wrast wie festzuklammern scheinen, um die milchfarbene Decke sich über die dürren Zehen zieh‘n zu dürfen »nur noch ein Stündle!«

Auf dem Parkdeck eines Supermarktes stand der Wurstwaggon eines Halal-zertifizierten Imbißmannes, dessen nicht gerade ausladendes Menü unter den obligatorischen Kebap-Speisen auch eine Rubrik Rund um die Bratwurst anzubieten hatte. Dies freilich auf die hessentypische Rindswurst, per se beinahe Halal, eingekreist. Interessant, wenngleich auch ortstypisch, dass ein und derselbe Entrepreneur zugleich und in ähnlicher Aufmachung dort auch ein Menü hingeklebt hatte, um für seinen zweiten Geschäftsbereich, jetzt als Immobilienmakler, zu werben. Dort wiederholte sich der Slogan in roten Blockbuchstaben »WIR VERMIETEN AUCH! SPRECHEN SIE UNS AN

»Eine Rindswurst, bitte, mit Senf und Fritten. Und eine Wohnung, hier im Viertel.«

»Macht eintausendzweihunderteinundzwanzig Euro achtzig im Monat. Beides kalt, mehr oder minder.«

»Dankeschön.«

Ich hatte meine Inspiration aus der Zeitung empfangen. Dort hatte es ein Bild gegeben, in dem der Präsident der Vereinigten Staaten während seines Lokalaugenscheins einer Brandstätte in einer Art Wald, umgeben von Zivilistionsschrott sich mit einem Vertrauten beriet. Von der Körperhaltung her brütend. Die Aschehaltigkeit der Luft hatte die Farbfotographie auf Schwarzweißkontraste reduziert. Ideal, meiner Inspiration zufolge, für eine Verewigung im Linolschnittverfahren. Dazu stand schon der Titel fest: Donald Trump in Paradise.

Im Künstlerbedarfshandel halfen uns dann die dort rings um die Uhr auf 400 Euro-Basis beschäftigten Studenten der Städelschule mit der ihnen beigebrachten Fachkenntnis, unseren Wagen zu füllen. Daheim dann schnitten wir inspiriert in die uns stapelweis‘ verkauften Linolkarten. Es war wie beim Zehennägelschneiden. Man fegt das nonchalant vom aus Sveta Petka mitgebrachten Tischtuche—ist schließlich Künstler. Nach vollbrachtem Werk dann tatsächlich die von den Altvorderen unermüdlich berichtete Befriedigung. Sie stellt sich ein. Es tut wirklich gut, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Ein Raphaël ohne Hände—will ich nicht sein.

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