»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
WILDNIS
Träume von überfüllten Räumen, in denen kein Durchkommen ist. Eisiges Strömen, der Wind raschelt im Laub auf dem Rasen wie ein Tier. Wilde Wetter, wie man es auf dem Land erleben kann, wo sich draußen alles biegt und bäumt erlebt man in der Stadt nicht. Die Häuser halten sich aufrecht. In den Zwischenräumen lebt ein Baum.
Gezähmt bis hin zum Lähmenden des Anblicks die Ausstellung Wildnis in der Schirn. Auf mich wirkte die Zusammenstellung leider so, als ob einem Generator wie dem Zufallsmodus in Apple Music dort die Auswahl der Kunstwerke überantwortet ward. Ein Sammelsurium aus allem möglichen, was irgendwie mit Bergen oder Bäumen, mit Weiten und Ebenen oder auch mal einem Tier zu tun hat. Auch leider viel von nicht so guten Künstlerinnen, über die es im Grunde vor allem zu sagen gibt, dass sie weiblicher Natur waren oder sind. Ein schönes Gemälde von Georgia O‘ Keefe, abstrakt in Wüstenfarben, das aber leider hinter Glas gerahmt gezeigt werden muss, sodass ich kaum erkennen konnte, ob sie etwa Teile des Motivs mit Klebestreifen maskiert hatte, um scharfe Kanten zu erzeugen. Und ein sehr schönes Werk aus vier Tafeln von Tacita Dean. Der Rest ließ sich im Spurt nehmen.
Die japanische Defintion der Wildnis als ein der bürgerlichen Gesellschaftsordnung enthobener Raum, wurde da von den Besuchern der Ausstellung selbst verkörpert, die, weil es ja um Tiere und Natur zu gehen schien, mit Kinderkarren ihren durch die Räume torkelnden Schnullerkindern hinterher trollten.
Vielstimmig dafür der Rapell á l‘ordre im Gästebuch des Museums. Der Ton hat sich mittlerweile, geschult im Drunterkommentieren von Internetseiten, verschärft. Es wird, von der Beleuchtung der Räume, über die Farben und Schriftgrößen der Hinweistafeln und der Temperatur der Suppe im Bistrot alles niedergemacht. In teils unverschämtem Ton. Aber immerhin: handschriftlich.
EXOTERIK
Miete Strom Gas: herrliches Lied. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um das erste vom neuen Album der Türen, das von Monika Grütters finanziert wurde im Sommer. Wenn bloß alle Staatskunst so gut werden darf, bin ich dabei.
Schlimm allerdings, regelrecht verbaselt fand ich die Sonderausgabe des SZ-Magazines, die alljährliche Kunstnummer, die 2018 Raymond Pettibon hat. Da frage ich mich halt schon, warum eine Redaktion, die in der Woche zuvor noch ein wie immer wundervolles Interview von Sven Michaelsen drucken kann, ausgerechnet zu meinem Lieblingskünstler jemanden schicken muß, der so ganz unverfroren und offensichtlich überhaupt gar nichts, kein winziges bißchen mit Kunst anfangen kann (oder auch nur das mindeste, auf Vorschulniveau, von der Kunst und den Bedingungen zur Kunstproduktion, weiß.) Da bleibt dann freilich nicht mehr übrig, als irgendeinen zusammengegoogelten Faktentrash abzugreifen. Oder um es mit Alexander Kluge zu sagen, der in der Woche zuvor mit Michaelsen sprechen durfte: »Wir sind doch beide Eisenhändler, wieviel Gramm?«
Der Bildteil natürlich eine Offenbarung. Und ich hoffte, was ich ansonsten im Gegenteil nie hoffe: Dass niemand bitte den entsetzlich spießigen Text dazu gelesen hat. Wenn der Spießer zur Kunst geht, muß er pathologisieren. Und dann ist Pettibon selbstredend autistisch, vergreist, dement et cetera. Kocht Mais mit Reis! Ich kenne das schon, dass ein Interview mißrät, nicht gut gelaufen ist. Aber dann gibt man es doch bitteschön nicht in den Druck! Oder erschießt sich zuvor.
Fragte mich auch, ob es Oda Jaune nicht längst ankotzen müsste, dass es zu ihrer Kunst nichts anderes zu schreiben gibt, als dass sie Witwe ist. Pflügte mich längst schneeblind geworden durch einen mir unendlich währenden Text, wo selbst noch jede sogenannte BU (Bildunterschrift) um das magische Wörtlein Witwe arrangiert geworden war. Und stieß dann, wie es heißt: ganz am Schluß doch noch auf den Namenszug der Verfasserin, es war ja Lara Fritzsche, preisgekrönt. Na ja, dann. Verstehe ich es halt einfach nicht, oder es mußte so sein.
Konnte dann aber mit dieser Injektion von Wut das Vorwort zu Panizza vollenden. Herrlich, wie die Freiheit dann aus mir heraus die Fingerspitzen streckt. Barthes hat ja von der Lust am Anfangen geschwärmt; die kenne ich auch. Aber die Lust am Fertigmachen empfinde ich als mindestens genau so geil.
Mein Herz klopft.
EX SITU
Mein Gedächtnis ist kein Rückspiegel, es funktioniert wie eine Diaprojektion: Alles scheint vergrößert, fiel mir dabei ein, als ich heute früh beim Öffnen der Haustüre (Handke soll seine Tochter mit der flachen Hand geschlagen haben, um ihr den falschen Begriff des Aufmachens der Fenster auszutreiben,) der Mume gegenüberstand, die dort, tatsächlich weit unter mir in ihrem Sack voll Knoblauchknollen kramend, nach ihrem Haustürschlüssel (Hausschlüssel: Zack!) wie es heißt: fischte.
Monatelang dürften wir uns nicht mehr in persona begegnet sein. Ich schaute jeweils nur herunter auf ihren Balkon, auf dem noch immer die Geranien bergeweise blühen, während die meinen in Berlin, aufgrund des harschen Seeklimas vermutlich, schon längst abgestorben sind. Und: tatsächlich ist sie noch viel kleiner, als ich dachte. Geradezu winzig, dabei aber kubenförmig, den kühleren Temperaturen angepasst, in viele Schichten eingepackt. Ganz wie es Jennifer Anniston in jener Folge Friends erklärt, was einen Trifle ausmacht: »Ganz viele Schichten.«
Gestern abend dann noch ein im Mutter Ernst, wo man uns Kotelettes brachte, die wie gefrorene Waschlappen ausschauten, braun. Von innen freilich delikat. Mit uns am Tisch saß eine Familie, so als ob gleich gefilmt würde: Der Vater im Dreiteiler aus Wien mit roter Krawatte, die Mutter in einem eng anliegenden Oberteil mit Leopardenflecken bedruckt (erbsgroße Perlen um ihren schönen Hals.) Die Tochter nun, auch modisch als ein Produkt ihrer Erzeuger. Schatten einer Krähe im Spiegel einer Hochhausfassade aus rötlichem Granit. Darüber zog ein Ferienflieger einen hellen Strich über den Abendhimmel. Da bekam ich Gerhard-Schröder-Gefühle »Ich will da rein.«
CADY NOLAND, SUPERSTAR
Vergeblich, mein Besuch der Kleinmarkthalle, wo am Mittwoch im Parterre ein Mainfischer seine Praxis öffnet. Ich fragte nach Trüschen, die im Hessischen natürlich Quappen heißen, weil ich Friederike mit dem einzigen Fischgericht der Schwäbischen Küche, den Trüschenleberle bewirten wollte. Er kannte den fraglichen Fisch unter beiden Namen. Doch obwohl, weil beinahe ausgestorben, die Trüsche in den vergangenen Jahren erfolgreich wieder angesiedelt werden konnte im Strom der Nidda, gibt es für die Quappe oder Trüsche bislang noch nicht genügend Abnehmer, um mit seiner Leber lohnend handeln zu können. Er hat ein gefliestes Lebendbecken dort unten in seinem kühlen Kellerraum. Packt auf Verlangen die darin herumscharwenzelnden Fische, Saiblinge vermutlich (ich vergaß, ihn danach zu fragen; sie hatten Punkte,) und steckt sie kopfüber in einen mit demselben Wasser, aus dem sie gerupft, gefüllten Wasser und erledigt ihren Fall mit einem Stromstoß aus einer weiß lackierten Gabel—seltsam, dass einem da der Fischtod wie es heißt human vorkommen will, gleichsam zum Mercy Seat, bloß dass halt die Fische nichts zu sagen haben. Und dass es vor allem dabei nicht qualmt aus dem Kopf des Fisches, während er innerlich gekocht wird bei seinem Unterwassertod.
Sodann, die Hasengasse hinab, betrat ich das Museum für Moderne Kunst in seinem kuchenstückförmigen Gebäude (aus Vogelperspektive betrachtet) am Rande der neuen Altstadt. Die Ausstellung der Skulpturen Cady Nolands ist über drei Etagen aufwärts arrangiert. Und mit jedem Stockwerk dort wird es eindringlicher. Der Besucher bekommt es dabei beigebracht, worum es hier geht. Wobei es sich tatsächlich unfassbarerweise um Werke handelt, die in den achtziger Jahren entstanden sind. Das läßt sich allein von den winzigen Schildern an den Wänden ablesen. Den Kunstwerken an sich sieht man es nicht an. Das hat mit unserem veränderten Verhältnis zu Amerika zu tun. Allein deren Flagge, einst ein beliebter Aufnäher auf Jeansjacken hierzulande, löst heute ein diffuses Unbehagen aus dergestalt, dass man die Farben und deren Muster nicht mehr als Popkultur wahrnehmen kann, sondern als Warnsignal.
Zur Verwendung kamen vor allem Materialien aus dem Baustoffhandel, Stangen und Schellen aus Aluminium. Es sind, alles ist über dreißig Jahre alt, deshalb keine Alterungsspuren festzustellen. Selbst die geleerten Bierdosen wirken wie gestern gekauft. Man wandelt durch ein blankgeputztes Gerippe einer Zeit. Und weil es alles derart blank, neutral und abstrakt gehalten ist, wallt der Gedanke an Blut und Gewalt und Mercy auch so gewaltig auf. Wie bei den Waterboys und ihrem skelettierten Stück Trumpets, das ja eben nicht von Trompeten untermalt wird, sondern von einem frei flottierenden Saxophon, weshalb ich beim Hören dann umso intensiver über Trompetenklänge nachdenken kann. Das fällt vor allem auf in einem der oberen Räume, wo eins dieser Horrorgestelle mit einem Schaukasten von Joseph Beuys kombiniert wird, in dem es, laut Schild, um die Direkte Demokratie geht, und in den Kästen aus verglastem Wannenblech Tauziehtaue und Boxhandschuhe mit einem schimmligen Zahnschutz der Boxer ausgestellt werden. Das wirkt antik. Die aus Aluminium gegossenen Pranger von Cady Noland, ihre Zäune, Käfige und Folterutensilien dagegen: taufrisch, immernoch einsatzbereit.
Eine Insel, auschließlich für diese Ausstellung vorgesehen, wäre der ideale Ort, um diese erstaunlich schreckliche Kunst zur optimalen Wirkung zu verhelfen. Das MMK in Frankfurt, mit seinen Jil-Sanderhaften Räumen, in denen man immer wieder von aparten Söllern aus einen Überblick sich verschaffen kann über die darunter im Licht gelegenen Flächen, ist aber beinahe ideal. Auch weil die zahlreichen Museumsaufseher hier in hübschen Uniformkitteln in Marineblau mit dem weißen Rückenaufdruck »Museum« ausgestattet sind.
Halt einfach auch ein perfekter Name: Cady Noland.
NGUOI NGUOI LOP LOP
Merke, dass ich jetzt manchmal länger vor Schaufenstern verweile, bis ich glaube, begriffen zu haben, was dort gezeigt wird, wozu.
Tatsächlich elektrisiert, vermutlich weil ich mit dem Vorwort für die Neuauflage des Textes von Oskar Panizza beschäftigt bin, hat mich die kleine Meldung in Natur und Wissenschaft, auf Basis eines in Science Robotics veröffentlichten Berichtes: Der Prototyp des automatischen Polizisten besteht derzeit aus »identischen, acht Zentimeter großen Würfeln. Jeder ist mit Rädern, Motoren und einem Mikroprozessor ausgestattet.« Die Einheiten werden von an sämtlichen Kanten angebrachten Magneten zusammengehalten. So kann die Einheit sich je nach den Gegebenheiten ihres Einsatzgebietes zu beinahe beliebigen Formen zusammensetzen. Beispielsweise zu einem flachen Gebilde, um unter einer Tür hindurch zu gleiten—wie Lacan das für sein Modell des Begehrens, des Hommelettes vorgesehen hatte; oder als hintereinandermontierte, schlangenhafte Gestalt, um in einen Raum hinter einem senkrechten Spalt zu dringen (etwa einer annähernd geschlossenen Türe eines Liftes.) Auch Treppensteigen ist der Einheit möglich durch Anformung in Z-Formation. Und wenn dann erst jeder Kubus einen Rotor erhält à la Drohne, wird eine umherfliegende amorphe Masse denkbar, schwebendes Begehren nach Lacan, das, gesteuert durch das Auge der Videoüberwachung, die sich etwa über einen durch Gassen fliehenden Räuber stülpt und ihn kraft der Magnete am Fortkommen hindert, bis er von einem selbstfahrenden Gefängnispanzer eingesammelt wird, um vor einem Gericht Künstlicher Intelligenz verurteilt zu werden.
LE NOUVEAU MONDE AMOUREUX
In Frankfurt wurde ich empfangen von Friederike, die mich bei einer Brüssler Pizza mit einem Mitbringsel von ihrer Islandreise bewirtete: ein Bier namens Lava. Jahrzehnte waren vergangen, seitdem ich selbst auf dieser Felseninsel gelandet war, aber der Geschmack des Lavabräus brachte mir unmittelbar und, wie ich es in einem Text über den Beginn der Bauarbeiten am Bonner U-Bahnsystem auf Veranlassung des damaligen Verkehrsministers der BRD, Franz-Josef Strauß gelesen hatte: rammstoßartig, auf jedenfalls total unprousthaft die Erinnerung zum laufen, wie es dort zugegangen war. Der Geschmack des Bieres war lakritzhaft und zugleich wie die Rinde vom Schwarzwälder Schinken; also dunkel, tendenziell schon schwarz (wie man sich dort, auf Island, auch den halbierten Schafskopf munden lassen kann.)
Am nächsten Morgen drängte es mich auf das Observation Deck meines geliebten Einkaufszentrum, dem sogenannten Skyline Plaza, Roman, wo es laut allüberall plakatierten Plakaten einen »Europa Weihnachtsmarkt« geben sollte. Dies war allerdings und entsprechend vollmundig mit einem Pfund Salz zu verstehen, denn es waren in den wenigen dort rings um ein verkleinertes Modell des Eiffelturmes aufgestellten Hütten lediglich diejenigen Länder Europas repräsentiert, die auch aus ihren landesküchen mit allgemeinverständlichen und obendrein rasch zuzubereitenden (vulgo frittierten) Snacks die Europa-Weihnachtsmarkt-Besucher zu bewirten sich in der Lage befänden. Und nicht etwa sähen. Von daher war Island wie es heißt a priori von der Teilnahme am Europa Weihnachtsmarkt auf dem Observation Decke des Skyline Plaza ausgeschlossen. Teilnehmen durften dafür wohl: DEUTSCHLAND, ITALIEN, UNGARN, SCHWEIZ, KROATIEN, ÖSTERREICH, SCHWEDEN, SPANIEN, FRANKREICH. Und DRESDEN. Dies aber wohl allein des Stollens wegen. Und nicht etwa, um Dresden als nationale Exklave Deutschlands zu erklären. Der all dies konzeptuell zu erklärende Leitsatz des Weihnachtsmarktes lautete indes »Europäische Länder Food-Hütten mit speziellen landestypischen Gerichten«.
Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.
VON BERLIN VIA STUTTGART NACH HEIMERDINGEN UND VON DORT AUS ÜBER BESIGHEIM UND MARKRÖNINGEN NACH FRANKFURT AM MAIN
In der Bahn, zwischen den Haltestellen Feuerbach und Neuwirtshaus saßen mir gegenüber zwei Mädchen, die eine hübsch wie selbst die junge Nastassja Kinski es nie war, und besprachen ungeniert (weil es drängte), eine Herzensangelegenheit, die wohl mit einem Zwischenfall während einer Whats-App-Unterhaltung mit einem nicht anwesenden jungen Mann zusammenhing. Ich lauschte. Und wurde ganz gerührt von der feinen, sensiblen Art wie beide miteinander sprachen. Und auch wie genau sie ihre Gefühle voreinander beschreiben konnten. Kann ja sein, dass ich mich falsch erinnere, aber ich dachte: so klar und deutlich konntest du das in diesem Alter nicht. Da hat sich etwas wichtiges getan inzwischen; ein empfindungssprachlicher Epochensprung.
Am nächsten Tag dann zeigten sich in der Frühe schon lachsfarbene Wölkchen über den Dächern, es wurde eine Ausfahrt gemacht ins Hinterland, wo an den Steillagen die Reben in schurgeraden gelben Reihen aufwärts führten wie Cord oder wie nass gekämmt. Und in den Ebenen waberten die endlosen Reihen von Spargelbüschen in einem giftigeren Gelb über den Sandböden wie Dämpfe. Der Himmel war blau. Wie es sich herausstellen sollte, war dies eine Erinnerungslandschaft meiner Eltern, in der sich Geschehen vor meiner Geburt abgespielt hatten. Ich wußte gar nicht, dass Markgröningen, ein Dorf, das ich lediglich vom alljährlichen Schäferlauf kannte, eine derart malerische Altstadt besitzt. Im zweitschönsten Fachwerkbau, dem Gasthaus zum Bären bekamen wir einen sehr guten Mittagstisch mit Rostbraten, Suppe, Bier und Salat.
Leichte Gartenarbeit unter der Anleitung des Vaters. Ein Beet sollte entstehen, wo einst der Rhododendron seinen Platz hatte. Mit zum Ende hin zunehmend schwer wiegendem Gerät (die Garage enthält davon schier unerschöpflichen Vorrat), riß und hackte ich dessen Hinterlassenschaft: sein kabeldickes Wurzelsystem, aus dem lehmigen Grund — schweißtreibend. Aber halt auch schön, mal, zwischendurch.
Die dafür bestimmten Sträucher, Johannisbeer sollten es sein, besorgten wir in einem veritablen Großmarkt, der hier, wo jeder »jeden Schritt« mit dem Auto zurücklegt, US-amerikanische Dimension hat. In jeglicher Hinsicht. Gleich im Foyer, noch vor den Blumen, gab es ein massiges Becken, in dem seehundsgroße Koi-Karpfen ihre Bahnen zogen. Das sichtbar gemachte Unterwassergeschehen zog die kleinen Kinder freilich an wie Eisenspäne, sollte aber natürlich auch kapitalisiert werden, weshalb es einen gleich neben dem Fischbecken aufgestellten Automaten gab, der nach Geldeinwurf den Kindern magische Kugeln aus durchsichtigem Plastik spendierte, in denen sich die Pellets befanden, mit denen sie dann die herrlich schimmernden Tiere füttern konnten, während ihre Mütter einkaufen fuhren (den Wagen, schiebenderweise.) Die Weitläufigkeit des Gartencenters bedingt es, dass man den Kindern eher mehr als bloß eine dieser Koifutterkugeln kauft, damit die Zeit bis zur Wiederkehr der Mutter nicht mit Blödsinnmachen vertrieben wird.
In der Abteilung für Whirlpoolbecken und Jacuzzis entdeckte ich just eben das Modell wieder, in dem ich im vergangenen Sommer im bulgarischen Jakoruda gesessen hatte mit Ausblick auf die Rhodopen. Sparkling memories. Schäumend auch.
Nach dem Einladen der Sträucher, einer mit Stachelbeeren ging auch mich mit, weil man in solchen Märkten ja immer noch etwas kauft, was man ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte zu kaufen, führte meine Mutter mich in die Sonderverkaufsschau, wo es thematisch natürlich bereits Weihnachten geworden war. Und zwar mit allem: mit Neon und Spray-Schnee und eisbedeckten Bachläufen, in denen es gewittrig flackerte wie auf der Tanzfläche von Stayin‘ Alive. Ich bin da mittlerweile unentschieden, obwohl es für mich früher undenkbar gewesen wäre und ich freilich mit nichts anderem dekorieren könnte, als mit Strohsternen und durchsichtigen Glaskugeln und Kerzen in rot. Aber wenn es dann so komplett überkandidelt vor einem sich, wie es heißt: erschließet, das sogenannte Winter Wonderland Punktpunktpunkt. Im mumischen Wohnzimmer wars doch vor einem Jahr ähnlich gewesen, fiel mir dabei ein. Bloß halt nicht ganz so üppig. Dann lieber doch karg.
In der dem Konzept dieses Supercenters eignenden Logik hinsichtlich Kundenführung, schloß sich direkt an das Weihnachtsland die Freiluftzone mit Grillgeräten an. Saisonal betrachtet wurde man also aus der Zukunft in die abgeschlossene Vergangenheit geführt. Dort verharrte ich mit dem Vater schon auch ehrfürchtig, vor allem aber heidnisch gestimmt vor einem ausladenden Altar zur Garung extrem großer Mengen Tierfleisches. Ein ganzer Koi hätte dort entspannt lagernd neben einem anderen Platz gefunden. Das Gerät nannte sich unverständlicherweise Napoleon, der ja a) kleinwüchsig gewesen sein soll, b) Franzose (keine Barbeque-Nation) und c) laut Mommsen: feuerscheu. Solcherlei diskutierend wurden wir von einer der Verkäuferinnen angesprochen, die mit einem der für das Supercenter typischen Uniformmäntel angetan war — also in grün. Und die zeigte uns nun auf ihrem Telephon, dass sie sich just heute früh erst, wie sie sagte: privat, einen dieser Napoleon-Herde gekauft hatte. Und zwar, weil wir sie fragten, warum, weil es ihre Leidenschaft ist: zu grillen. Sie zeigte uns auch unaufgefordert weitere Fotos, mit denen sie einige ihrer denkwürdigsten Fleischgerichte festgehalten hatte. Das schaute imposant aus, weil die Fleischstücke uns teilweise größer erscheinen wollten als einer der Koi-Karpfen aus dem Becken im Eingangsbereich.
Doch warum ausgerechnet dieser Grill, der mit dem Namen Napoleon?
Sie freute sich, so als hätte sie zu lange auf diese Frage schon warten müssen: »Weil ich nur bei dem eine Sizzle-Zone habe,« sagte sie und lenkte mit einer Handbewegung unsere Blicke auf ein jenseits des regulären Rostfeldes angebrachtes Gittergehäuse aus besonders hochglänzend poliertem Edelstahl. »Dort herrscht eine Temperatur von 600° Celsius. Nur bei der Hitze kriege ich mein Fleisch so hin, wie ich es haben will.«
Das Auto, in dem sie ihren Napoleon nach Hause schaffen würde nach Feierabend war ein Opel Adam, das war ihr wichtig zu erwähnen. Wir verabschiedeten uns von ihr, ohne nach ihrem Namen zu fragen und ließen sie auf ihren Feierabend im Gartencenter wartend zurück. Die Kinder standen dort noch immer und fütterten die Karpfen. Unser Weg führte uns nach den Kassen am Fruchtstand eines Türken vorbei. Granatäpfel gab es auch.