»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.4.2019

Ziemlich geschockt vom Brand der Notre-Dame de Paris. Wusste gar nicht, dass dieser mittlere Turm auf einer Holzkonstruktion aufgebaut war. Erfuhr davon freilich erst heute früh aus einem Newsletter, weil ich in meinem Dachstüble keinen Fernseher habe. Dafür gibt es hier Vögel, die auch mitten in der Nacht noch singen — keine Nachtigallen, es ist etwas anderes, stimmlich wie gesanglich zwischen Amsel und Drossel, eventuell ein Ortolan.

Auf dem Weg ins Studio nehme ich jetzt an jedem Morgen einen anderen Weg durch die Gassen bergab. »Ja, so lernt man die Stadt kennen«, hat Marcus gestern gesagt, als ich ihm von meinem Beschluß erzählte. Heute führte mich der Weg an einer Kantonsschule entlang, auf deren Vorplatz eine ausladende Magnolie mit langlippigen Dolden in Mauve dominierte. Ich wollte schnuppern, da entdeckte ich die um deren Zweige gebundenen Bänder in rot und weiß, wie wir sie aus Bulgarien vom Märzenfest dort kennen. Fragte dann gleich im Studio herum, ob dies auch (oder gar ursprünglich) ein Schweizer Brauch sein könnte (zeigte das Foto): Nein. Nicht, das sie wüssten. Aber dass es Bulgaren geben könnte in Zürich, wurde für absolut möglich gehalten »Sicher, warum denn nicht?«

15.4.2019

Es war kurz nach 17 Uhr, als die Maschine durch die Wolkendecke stieß. Dort oben war gleißender Sonnenschein. Der Boden, über dem wir zogen, war schneeweiß gehäuft. Ich saß am Fenster und spürte die wärmenden Strahlen. Es hatte den ganzen Tag über geregnet. Hier oben war das Wetter optimal.

In Zürich dann schon angenehm müde während der Wohnungsübergabe. Die Vermieterin stellte mich den anderen Bewohnern des Hauses vor. Im Keller ein Waschküche: man muss eine Münze einwerfen, um die Maschine in Gang zu setzen. Soll dafür aber keine der Münzen aus dem eigenen Besitz nehmen, es steht eigens dafür eine Henkelkanne bereit, gefüllt mit Münzen. Wie diese Münzen generiert werden, aus welchem Besitz sie entstammen, weiß niemand. Und es gibt auch noch einen Waschkessel aus Kupfer, in dem früher noch von Hand die Wäsche gebrüht wurde. Früher, das heißt wahrscheinlich vor sechzig Jahren, fünfzig.

Das Haus an sich ist hoch und alt. Die Wohnung ist sehr schön, verwinkelt und mit niedrigen Decken, aber Fenstern hinaus nach allen drei Seiten. Ein Haus gegenüber hat einen Garten auf seinem Dach. Mein Fußboden besteht aus ungewöhnlich breiten Dielen, die malerisch knarren, wenn ich um die Ecken biege. Ganze Baumstämme wurden hier verlegt.

Legte mich ins Bett und las noch im Schwäbischen Parnaß, den Konstanze uns in zweifacher Ausführung geschickt hatte (»Ein Buch kostet weniger als ein Eis mit vier Kugeln.«) 

Schlief ausgezeichnet. Fühle mich daheim.

13.4.2019

Dass heute der 13. April ist scheint mir insofern bedeutend, dass ich, dabei schon auf dem Weg zum Flughafen, noch einen letzten, eigentlich den ersten Blick auf mein Flugticket warf, um festzustellen: Aha, Du fliegst ja erst morgen. Seit ich meine Armbanduhr mit den Hosen bei 1400 Umdrehungen in der Waschmaschine geschleudert (und zuvor gewaschen) habe, hat sich ihre Gangungenauigkeit von +3 Minuten vollständig gegeben; allerdings hinkt nun ihre Datumsanzeige. Man kann halt immer nur eines haben.

In Sternhagen Gut ging der Blick von Dächern ungehindert frei nach allen drei Seiten hinaus in die Weite, bis es selbst dort nicht mehr weiterging. Am Horizont zeigten sich gestern früh noch über dem Waldsaum strahlend weiß heraufquellende Wolken aus der Ferne, worüber der alles überspannende Himmel längst dunkelgrau war. Das Weiße leuchtete mir als das Künftige der Alpen ein, als die Schweiz.

Wenige Tage nur (auf dem Papier), aber nun liegt auf meinem Fensterbrett ein kleines Nest, das wir im Unterholz des Seeufers gefunden hatten, wo es herabgeweht ward. Die eingetiefte Sitzfläche ist so groß wie ein Fünfmarkstück—also für Rotkehlchen? Auf dem gleichen Gang erspähten wir ein Schneckengehäuse von dieser Größe, das man sonst, auch als Schneckenhaussucher, noch nie gefunden hat. Es hat die Form eines Posthornes, wahrscheinlich heißt die dazugehörige (längst verblichene Schnecke) auch Posthornschnecke—aber seit dem Wikipedia-Streik schaue ich so gut wie nichts mehr nach, weil ich mich davon nicht mehr abhängig machen will. Hier also liegt das Schneckenfossil in einem verwaisten Nest.

Interessanterweise zwitschert und jubiliert es ja hier in der Stadt sehr viel mehr und auch vielgestalter, als dort auf dem flachen Land. Dafür lebten wir dort umgeben von Katzen, die es hier hauptsächlich auf Fotokopien gibt, weil andauernd eine vermißt wird (derzeit, hier im Viertel: Findus, Fiete und natürlich noch immer Mützle, wobei wir in deren Fall kaum noch Hoffnung aufbringen können.)

Beim kurzen Gang durch den Schloßpark gestern konnte ich zeigen: zwei Blässhühner auf ihren Nestern, zwei Fischreiher auf Habacht, wie eingefroren, ein Eichhörnchen, die brütende Storchenhenne, unzählige Amselhähne beim Kopfsprung ins Erdreich, einen Buntspecht, einen Biber.

Aber auf dem Land begegneten wir insgesamt nur vier Menschen. Dafür schauten uns, oft durch die Zäune hindurch, überall Tiere an. Wenn ich abends die Augen zumachte, sah ich dort im Augengrau nicht bloß die Sonnenstäubchen, sondern mittig zentriert zwei dunkel glänzende Sphären, die wie ein Summarum der Blicke von Kühen und Schafen, von Katzen und sonstnochwas waren.

10.4.2019

Nach angenehmer Fahrt im Regionalexpress erreichten wir nach anderthalb Stunden die Kleinstadt Prenzlau. Im überraschend aufgeräumt wirkenden Zentrum besorgten wir uns in einem Geschäft für regionale Spezialitäten, was wir für die nächsten Tage in unserer selbstgewählten Abgeschiedenheit auf dem Sternhagen Gut brauchen konnten: Uckermilch und Uckereier, sowie einen Uckerkäse, eine Uckerwurst und ein rundes Brot mit Namen Luther. Dann kehrten wir fürs Mittagessen in dem nahe des Bahnhofs zwischen einem Wahlplakat der Linken und einem von der SPD gelegenen Flachbau ein, über dem in schnörkellosen Buchstaben Imbiß Ecke stand. Der Gastraum im Inneren der schmucklosen Baracke war auf eine extreme Weise nüchtern gehalten—was auf uns schon wieder berauschend wirkte. Die vielen blankpolierten Tische aus jenem Holz, aus dem man einst die Kegel gedrechselt hat, waren unbesetzt. Wir hatten freie Platzwahl. Nur ganz hinten in dem langen Raume saß eine Runde aus drei Männern, der eine von ihnen war auf seinem Sitz eingeschlafen und erwachte nur für kurz, als er von seinem Tischgenossen in die Brust gestoßen ward. Der Wirt fungierte auch als Koch. Von seinen zahlreichen, an allen möglichen Stellen vor, hinter und neben ihm an den Wänden und am Tresen selbst befestigten Angebotstafeln bestellten wir die Nudeln mit Gulasch und die Topfwurst mit Kraut. Beide Speisen mundeten vorzüglich. Wir aßen alles restlos auf. Hätten sogar, wäre nicht unser aus Berlin vorbestelltes Taxi vorgefahren, auch gerne noch Nachschlag bestellt. Ein ausgezeichneter Ort, eine anständige Gaststätte in Prenzlau, die wir uneingeschränkt an- und weiterempfehlen können, falls und wannimmer sich ein Aufenthalt in diesem an Attraktionen sonst armen Städtchen ergeben sollte.

Mit dem Wagen ging es dann ins Hinterland von Prenzlau. Es wurde rasch idyllisch. Der aus dieser Gegend stammende Fahrer unseres Mobils sagte, von Friederike auf die endlosen Alleen angesprochen, die wir passierten »Ja. Deshalb haben wir hier in Brandenburg auch die meisten Verkehrstoten.«

Das Gut selbst dann freilich ein Knaller. Umgeben von Auen und Wäldern und von der Dachterrasse aus mit Blick auf den See, der hinter den Wäldern rauscht. Herumstreunende Katzen, wollige Lämmchen und kalbende Kühe wo auch immer man hinschaut. Die Sonne stach zwischen gewaltig weißen Wolken herunter, es gibt massenhaft Liegestühle, ein Bussard schraubte sich gleitend in eine Thermikspirale empor.

Im Abendlicht sitzen die Stare in den blattlosen Ästen der schätzungsweise dreihundert Jahre alten Eiche, knattern mit den Schnäbeln und sondern dann wieder ihre lustigen Melodien ab. Dann war die Sonne untergangen und es wurde unglaublich still.

9.4.2019

Während eines Telephongesprächs mit Jan bekam ich bei seinem parallel dazu abgewickelten Bezahlvorgang mit, dass er gerade 24 Terrabyte an Speicher bezahlen mußte. Wir kamen anschließend nicht ganz darauf, was das an Raum bedeutet für Zeichen. Und er sagte, ganz Freund: »Als Schriftsteller brauchst Du dir darum keine Gedanken zu machen.« Stimmt auch! Ich habe gerade wieder meinen schönen Laptop aus der zweiten Generation des MacBooks ans städtische Stromnetz angeschlossen, und er funktioniert tadellos. Nehme mal an, ich käme insgesamt mit einem Gigabyte aus, so von der von mir verursachten Textmenge her.

Im Park gibt es jetzt ein Schild, das verkündet, dass die Rasenflächen fortan nicht mehr gemäht werden, sondern von einer Schafherde bewaidet. Heute war davon noch nichts zu sehen, aber dafür brüten die Blässhühner auf teils schwindligen Konstruktionen frei flottierender Nester. Und machen dabei, ihrem schlichten Wesen zum Trotz, einen konzentrierten Eindruck auf mich bei dieser Tätigkeit. Bei der kleinen Brücke, die zu meiner Lieblingsbank führt, auf die ich mich gerne pflanze, brütet indes eine Schwanenhenne. Das Nest ist überraschend riesig, uch hätte es mir vorstellen können, bekam aber tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben die Dimension eines Schwanennestes vor Augen geführt—wie groß wohl die darin verborgenen Eier sind? So groß wahrscheinlich wie der bretonische Kieselstein, der daheim auf dem Fensterbrett ruht. Es ist doch seltsam mit den Wasservögeln in städtischen Parks, weil man die außerhalb ihrer Brutsaison, wenn sie sozusagen ihrem Privatleben nachgehen (sitzenderweise), als städtische Angestellte betrachten will, die halt die Wasserflächen beleben.

Alles um mich herum blühte und trieb und baute und brütete. Ich kam mir selbst ganz müßig vor.

8.4.2019

Wobei mir der Weg zur Kirche selbst versperrt war: vor Absperrbändern, die mit ihrer Gestreiftheit in Rot und in Weiß unter Bulgaren als Zeichen des Festtages Martiniza verstanden werden, zogen Athleten auf Rollschuhen vorüber. Ich nahm die Unterführung, denn es war ein Halbmarathon angesagt.

Und meine Kirche war dann doch eine andere, als die schicke, die ich mit Christian und Friederike besucht hatte. Der Navigator wies mir den Weg zu einem gelb angestrichenen Haus.

Der Trick beim Kirchenbau—diese ist von Schinkel—besteht ja wohl darin, einen Innenraum zu erzeugen, dem man seine Größe von außen her nicht ansehen kann.

Wir waren zu dreißigst. Allerhöchstens. Und es war, anders als bei Georges Bernanos: Eine lebendige Gemeinde. Ich kann mich an einige Gottesdienste erinnern, die mir das Eintauchen in den gelebten Glauben nicht möglich machen konnten. Aber in der Gemeinde Luisen gibt es eine Pfarrerin, sie heißt auch noch Aline Seel, die ihre tragende Rolle wirklich sehr gut spielen kann. 

Mir wurde das vor allem bei der mir Zuteilung des Abendmahls klar gemacht, als sie mir in die Augen schaute, und ich zurück, während sie zu mir sagte: »Dies ist der Kelch der Liebe und des Lebens.

Setzte mich hernach vor das C‘est La Vie. Die Marathonläufer bildeten einen dicken Strom von Körpern, die voranstrebten.

Und abends stand hinter der goldenen Locke von Judith Rakers: Die weltweite Getreideproduktion reicht nicht mehr für den Bedarf (»Getreideernte deckt weltweiten Bedarf nicht.«) Danach kam Fussball (Was mir »aus rechtlichen Gründen« nicht gezeigt werden konnte.)

7.4.2019

Heute früh traf doch wieder der Newsletter von Maria Popova ein. Ihren Brainpickings habe ich seit vielen Jahren abonniert, am vergangenen Sonntag kam er nicht, es gab keine Erklärung, sodass ich mich fragte mich: war‘s das?

Heute zitiert sie aus einem Interview mit James Baldwin: »Jemanden zu lieben, von jemandem geliebt zu werden bedeutet eine erhebliche Gefährlichkeit, weil wir uns verantworten sollen. Eine anständige Beziehung unter Menschen, in der die beiden das Recht erwerben, den Begriff von Liebe zu verwenden, fordert nach einem Vorgang, der zart ist von seinem Wesen her und zugleich brutal anstrengend. Häufig auch furchterregend für die beiden, die in ihm involviert sind—weil er sie dann erst an die eigene Wahrheit führt, die sie dann voreinander aussprechen wollen«.

Seitdem mir Friederike das Fernrohr zurück gebracht hat, sehe ich das Treiben der Vögel im Hinterhof wie mit neuen Augen (dabei macht die Prothese meine Sehkraft nur stärker.) Vergrössert zeigt es mir die jahrzentealte Oberfläche der Zweige, das jahrjunge Knospen an deren Enden. Emanuele Coccia schreibt, das Blatt sei der Sinn des Baumes. Alles, sogar das unsichtbar im Erdreich verzweigte Wurzelwerk diente allein den Austreiben der Blätter. Die Fangen die Ultraviolette Strahlung ein. Photosynthese. Ohne die Bäume und Pflanzen könnten wir Menschen nicht weiterleben. Das macht er klar.

Und meine Mutter schreibt (auf einer Karte,) dass gestern die Gärtner da waren und unsere Arbeit an dem kleinen Obstgärtle beim Brennholzhaufen gelobt haben. Quasi professionell.

Heinz Bude sagt, so weit bin ich im Band: »Ich weiß mehr über die Gesellschaft, als ein Mediziner über den menschlichen Körper.«

Um zehn Uhr ist Gottesdienst. Leider mit Posaunenchor.

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