»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.7.2019

Das Begehr sämtlicher Besucher des Parks scheint auf die beiden einzig unzerstörten Sitzwarten gerichtet. Unzerstört wohl bloss deshalb, weil sie unzerstörbar sind. Es sind zwei parallel zueinander auf die kleine Bucht ausgerichtete Liegeflächen aus imprägnierten Holzlatten, die, in sanfter Geschwungenheit, jeweils auf ein fest im Erdboden verankertes Gestell montiert wurden. Aus den üblichen Bänken, die entlang des Weges durch den Park aufgestellt sind, wurden lattenweise die Sitzflächen herausgebrochen und, eigentlich kurios, für die Parkbewirtschafter gut sichtbar in einem der dürren Gebüsche gelagert—zu wer-weiss-zu-welchem-Grund, die jahrzehntealten Holzstücke sind ringsum dick mir tannengrünem Lack versiegelt (und an vielen Stellen ist unter der dunklen Lackschicht noch die frühere, eine weiße zu sehen). Grillen kann man damit nicht. Trotzdem werden die in den Sitzflächen der Bänke fehlenden Latten nicht mehr ersetzt, noch werden die herausgerissenen dort wieder eingesetzt, und sie werden auch nicht aus dem Gebüsch entsorgt. Es herrscht ein Patt zwischen den Vandalen des Parks und seinem Personal, das wochentags über den Weg zieht, um die Mülleimertüten auszuwechseln und die Zigarettenkippen vom Asphalt zu kehren. Ansonsten behandeln sie den Park wie ein afrikanisches Hotelzimmer, in dem zwar regelmässig Staub gewischt wird, aber wenn an einem Stuhl ein Bein abbricht, dann steht der halt von da an schräg. 

Von daher, aber halt auch des schönen Ausblicks auf die Bucht wegen, sind die noch benutzbaren Sitzwarten so begehrt. An den Sonntagen treffen sich hier opulent gekleidete Frauen aus dem Nahen oder Fernen Osten für Selfies im Grünen. Üblicherweise wird das Telefon dabei am Selfiestick gehalten, was Fernsehmässige Perspektiven ermöglicht. Die Frauen gehen dann als ihr eigener Kameramann umher und sind zugleich auch Moderatorinnen, denn sie sprechen währenddessen arabische Texte in die auf Videofunktion geschalteten Telefone am Stiel. Als Hintergrund wird mit Bedacht die kleine Bucht gewählt, denn dort treiben, sobald sich am Ufer menschliche Wesen sammeln, die beiden Schwäne elegant durchs Bild und sorgen mit ihren geschwungenen Hälsen für reizvolle Doppelbilder im dunklen Spiegel der Bucht. Ausser denen gibt es dann noch einen Reiher, der sich gravitätisch auf dem ihm angestammten Totholz hin und her bewegt, sowie die üblichen Stockenten und Blässhühner. Vor allem aber ist es halt grün. Das ist, seitdem ich in Israel war, leuchtet mir das ganz neuartig ein: ein geradezu exotisch wirkender Knalleffekt für einen Video-Call in diese Welten. Dort gibt es ja kaum Grün. Alles ist sandig und staubig und von der UV-Strahlung ausgebleicht. Die moderierenden Frauen, was sie sagen, kann ich leider nicht verstehen, orientieren sich meiner Ansicht nach an Hanni Hüsch und ihrer ähnlich glamourösen Nachfolgerin Annette Dittert. Man könnte geradezu meinen, Frau Hüsch stünde dort an der Bucht als Orientalin verkleidet (mit Onassisbrille und seidiger Bluse), wie weilands noch vor Downing St No 10.

Der surreale Effekt wird dabei noch leicht angehoben durch die herangewehten Rufe eines gemischten Chors von Schauspielern beim sogenannten Impro-Sport. Denn seit einiger Zeit wird dort auf dem nahen Hügel ein aus dem Münsterland hierher nach Berlin verfachtetes Globe-Theater aus Holz aufgebaut. Es ist schon fast fertig. Sie proben den Sommernachtstraum.

22.7.2019

Lorenz Jäger weist auf einen Text in der London Review of Books hin: Andrew ’O Hagan beschreibt die Trauerfeier für Karl Lagerfeld im Grand Palais. Er lässt es vage, wann genau, aber beschreibt im Zuge dessen auch seine persönliche Begegnung mit Karl Lagerfeld, im Rahmen derer dieser ihm gesagt habe, für ihn sei Marcel Proust wie der Sohn eines Hausmeisters, der den Herrschaften hinterherschaut, wenn sie die Treppe nehmen zur Belle Étage. 

So amüsant das gewesen sein mag, es liest sich schon jetzt bisschen muffig. So lustig es sein kann, einen Abend lang mit Martin Mosebach zu plaudern—diese Art Leute, die die Kunst des Verblasenen beherrschen, stirbt jetzt restlos aus. Es wird sie bald nicht mehr geben, solche Menschen, die zwischen Söhnen von Hausmeistern und Etagenadel unterscheiden wollen. Die sich ihre Email von den Ehefrauen öffnen lassen, weil sie Computer nicht bedienen können (wollen) und präzise Ansichten haben zu allem und jedem. Wie lange lebt jetzt Proust eigentlich schon?

Angeblich, laut O’Hagan, hatte Karl Lagerfeld testamentarisch verfügt, dass seine Asche mit der seiner Katze in einer gemeinsamen Urne vermischt werden sollte, falls die Katze vor ihm sterben sollte—so wie ich heute in der Früh den Rest israelischen Kaffee in die Dose mit dem aus Peru gekippt habe, um Platz zu schaffen im Lebensmittelfach. 

20.7.2019

Ich kann keine Bilder vom Mond mehr sehen. Weder Vorderseite noch die Erdabgewandte. Auch keine Mondmobile, Astronautengesichter, schematische Darstellungen der Flugbahn durchs Weltall zum Mond, Stars And Stripes. So heftig war die Überdosis zuletzt beim Tod von David Bowie (im Year Punk Broke). 

Es wird auch schon wieder früher dunkel (21 Uhr 15). Was ich vermissen werde ist die akustische Osmose, die es nur im schönen Sommer gibt. Wenn durch die geöffneten Fenster eine sich über den Tag hinweg beständig ändernde Mixtur an Alltags- und Naturgeräuschen an mich herangetragen wird. Manches davon ist kaum mehr als Ahnung und lockt mich, ich lausche; anderes hat von sich aus genügend Körper und dringt bis zu mir hinüber oder empor. Einer der Nachbarn von gegenüber beispielsweise hat sich ein Blasinstrument gekauft, ich kann es nicht genau entziffern, ob es eine Art Saxophon ist oder eine Posaune (vielleicht ja dieses spezielle Horn, das Richard Wagner damals erfolglos auftreiben wollte in Paris), er übt darauf oder damit an jedem frühen Abend von sechs bis zur Tagesschau und für mich hört es sich allmählich gut an. Was es leider micht mehr in der Intensität gibt wie früher mal, ist Geschirrklappern. War für mich der Inbegriff des Sommerbeginns: Wenn das Geschirrklappern hörbar wurde, standen überall die Fenster offen, und es war warm.

In den Bäumen rauscht der Wind. Bin mittlerweile bei 130 Einträgen im Feldbuch, das ich seit Anfang Mai führe. Das ist nicht viel, jedenfalls sehr viel weniger, als ich erwartet hatte. Gut, in Israel hat die App gar nichts erkannt. Aber auch hier, die Stadtlandschaft besteht aus sehr viel weniger Vogelarten und Pflanzensorten, als man sich das so vorstellt. Allerdings lag ich gestern unter einem Baum und dachte, was ist das denn bloss für ein entzückender Vogel, dessen Stimme ich da vernehme? Ganz bestimmt ein Exot. Doch war es tatsächlich ein Stieglitz. Der ist vergleichsweise winzig, aber apart gefiedert in beige, weinrot und schwarz. Und macht einen langen Ton, den er unablässig zwirbelt. Hört sich an wie Fairouz, wenn sie Mush Kissa Hai singt, ein bisschen auch wie mein Nachbar wenn er seine Tröte wringt.

Wenn das auch noch Düfte wären, und nicht bloss Klänge, fände ich es freilich unerträglich. Man stelle sich das vor: schon früh am Morgen wehten die monotonen Düfte der Allerweltsvögel Sperling und Meise herein. Abends stösst der Nachbar in sein duftendes Horn. Auch ein Hörnchen wäre mir da schon zu viel. Wobei es dann wahrscheinlich erstaunlicher- (oder erbaulicherweise) so wäre, dass gerade die Taube, also deren bisweilen extrem nervender Rufton von einem seltenen Wohlgeruch wäre, sodass man wieder garnichts gegen die Anwesenheit einer Taube einwenden könnte. Wohingegen der Steiglitz dann stänke, die Biene zwar anders, aber trotzdem halt auch et cetera. Gut, dass es soweit nicht gekommen ist mit der Evolution und ich die Fenster sommers offen lassen kann.

Bei Filmen, die im Sommer spielen, liegt unter allem Draussen Grillengeräusche. Ich kann mich nicht erinnern, wie der Winter klingt.

19.7.2019

Der Slogan des Techniktagebuchs («Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren») fiel mir wie so häufig, so auch heute wieder ein, als ich beim Lesen alter Bücher von Wilhelm Genazino auf die Beschreibung eines damals neuartigen Automaten der Deutschen Bundesbahn stiess, den es wohl—ich selbst kann mich daran nicht mehr erinnern—vom Anfang der siebziger Jahre an in den Hauptbahnhöfen der BRD gegeben haben muss. Genazinos Erzählung trägt sich einst zu in Frankfurt am Main:

«Es fiel ihm ein grosser Automat auf, vor dem einige Männer standen. Abschaffel stellte sich dazu. Es war ein Computer, der vollautomatisch Fahrplanauskünfte gab. Der Automat hatte die Grösse eines Türrahmens und war rot angestrichen; vorn blinkten verschiedene Lämpchen auf einer Schautafel. Der Automat erregte die Bewunderung der Männer; sie sprachen über ihn, und was sie sagten, war voller Begeisterung. »Er arbeitet, er arbeitet«, sagte einer der Männer mit vergnügter Stimme. Die Bedienung des Automaten war einfach. Auf einer Tafel waren die Namen von grossen und mittleren Städten aufgeführt, und vor jedem Städtenamen war eine Nummer eingezeichnet. Das war die Kennummer des Zielbahnhofs, wie der Automat es nannte. Diese Kennummer musste auf einem Knopf eingetastet werden, und auf einer anderen Taste musste der gewünschte Abfahrtszeitraum eingedrückt werden. Dann summte und ruckelte es in dem Automaten eine Weile, und nach kurzer Zeit rutschte aus einer Öffnungslasche ein Papierbogen heraus, auf dem tatsächlich alle Zugverbindungen in dem gewünschten Zeitraum aufgedruckt waren. Ungläubig hielten die Männer die Papierbogen in der Hand und zeigten sie herum. Aus ihren Bemerkungen war zu sehen, dass viele eine Zugverbindung zu erfahren wünschten, die sie vorher schon an einem Auskunftsschalter erfragt hatten.»

Ulrich Greiner hat die Literatur Genazinos noch zu dessen Lebzeiten als «Lebensphilosophie für Bausparer» bezeichnet. Das verkündete er so in der Zeit kurz nach dem Büchnerpreis für Genazino, und ich fühlte mich von seinem Slogan natürlich direkt angesprochen. An die Beschreibung des Fahrauskunftsautomaten konnte ich mich heute trotzdem nicht mehr erinnern. Vermutlich, weil ich damals die frühen Bücher ruckhaft eingesaugt habe; und ausserdem gab es das Techniktagebuch damals noch nicht. Aber ein paar Jahre zuvor, es ist jetzt gute zwanzig Jahre her, da besuchte ich ein Seminar etwas ausserhalb von Rendsburg an der Eider, da war unter anderem auch Ulrich Greiner als Vortragsredner eingeladen. Er war mit Spannung erwartet worden, auch mit Ehrfurcht bei vielen, und so machte er es dementsprechend spannend und gab der ehrfürchtigen Erwartung unter seiner jungen Zuhörerschaft zunächst Raum. Dann hob er den Kopf, den ich als cäsarenhaft erinnere, um anzuheben mit «Meine Damen, meine Herren, ich muss Ihnen leider die Mitteilung machen: Sie kommen zu spät.»

Damit war freilich nicht der damalige Abend, die Veranstaltung selbst gemeint, sondern die Veranstaltung an sich, ein bisschen somit das Leben, in unserem Falle aber vor allem der sogenannte Literaturbetrieb. Greiner, damals noch Kritiker im Feuilleton der Zeit illustrierte uns den Niedergang am eigenen Beispiel dergestalt, dass er seit neuestem die eigenen Seiten produzieren müsste. Damals, vor gut zwanzig Jahren, fand ich: Das klingt doch gar nicht schlimm. Eher selbstbestimmt. Abenteuerlich. 

Ulrich Greiner fühlte sich durch solche Zumutungen offenbar herabgewürdigt. Gut möglich, dass keine sieben Jahre später bei ihm deswegen Genazino in Ungnade fallen musste, weil sich Greiner selbst mittlerweile nur noch als einer jener von Genazino häufig beschriebenen Büroangestellten betrachten konnte; ein Kritiker, der nicht mehr primär schreibt, sondern vor allem sehr viel tippt und klickt. In seiner Goldenen Zeit gab es dafür noch Sekretärinnen. 

 

18.7.2019

Eine Raupe, so lang und ungefähr auch so dick wie mein Zeigefinger, grün mit einem grellblauen Scheinstachel am hinteren Ende, lief quer über den Weg vor mir. Raupe eines Lindenschwärmers. Endlich mal ein neues Tier, ein Saisontier zumal. Eines, das in dieser Form bald schon nicht mehr da sein wird.

Abends war ich bei Dagmar eingeladen, es gab finnische Knusperbrote mit Tatar. Sie erzählte von einem Interview, das sie einst mit Rudolf-August Oetker gemacht hatte. Der rauchte Zigarre, drückte den heruntergerauchten Stumpen aber nicht aus, sondern steckte ihn in seine Tabakspfeife, die er eigens dafür herausgeholt hatte. Reiche in dieser Form gibt es nicht mehr. Beziehungsweise kann ich es mir einfach nicht vorstellen, dass Jeff Bezos oder Bernard Arnault, der neue zweitreichste Mann der Welt noch einen Spartick haben könnten (wie mein Grossvater, der aus lauter dünnen Seifenresten wieder eine handelsübliche Seife formen konnte, die dann bunt gescheckt war und vielstimmig duftete). Der ebenfalls anwesende Johannes erzählte von seinem Besuch in einem sogenannten Zollfreilager in Zürich, wo Sammler Teile ihrer Sammlung aufbewahren lassen und bei Bedarf von dort aus weiterverkaufen. Er hatte dort einen Milliardär erlebt, der wütend aus dem Waschraum wiedergekommen war. Das Toilettenpapier war ihm unbotmässig dick und flauschig vorgekommen. Er vermutete, dass man sich hierauf seine Kosten bereichern wollte.

«So war er beschäftigt, sein wartendes Leben mit Bedeutungen und Verbindungen auszufüllen, die er untereinander verglich und vollständig ernstnahm.» (Genazino)

17.7.2019

Seit gestern früh bewohne ich ein Sandwich aus zwei Baustellen. Die eine, rechts, da bekommen die Leute im Haus schräg gegenüber ein neues Dach. Das ist optimal getimed mitten in der Ferienzeit, es regnet ja auch nicht viel. Vor allem halt macht die Demontage des veralteten Dachs Lärm. Die Bauarbeiter dort gehen nach dem mir zwar ewig, dabei doch ewig rätselhaft erscheinenden Baustellengesetz zu Werke, demnach man in der Frühe, gleich ab halb sieben für anderthalb Stunden den allergrösstmöglichen Lärm verursacht, um dann, um acht Uhr, zunächst eine Stunde lang sehr leise Arbeiten zu verrichten. Da kann man als Unbeteiligter kaum anders denken, als dass dieser schwungvolle Auftakt den Kirchenglocken abgeschaut.

Zu meiner Linken, im Gebälk der Winterlinde, ertönt dann in die Stille von links her hinein ein Knerfeln und Knurpsen. Als rötlicher Schatten huscht das Eichhörnchen dort durchs Laub. Rauschenderweise. Es hat sich, nachdem schon der Mutist und später nach ihm noch das Taubenpaar dort unter dem Wipfel des schönen Baumes den Nestrest als mögliche Bleibe besichtigt hatten, anscheinend entschieden, das kaum Kaffeeschalengrosse Fundament aus dürren Zweigen aufzustocken, um selbst dort einzuziehen. Das Eichhörnchen war mir schon bei meinem Einzug im Januar dort in dem damals noch kahlen Geäst vor meinem Fenster aufgefallen, wie es sich Material beschaffte. Vor allem von dem einen, schon beinahe gänzlich gehäuteten Aste zog es mithilfe seiner kleinen Hände gnadenlos die letzten Streifen ab, um sich diese, dreimal gefaltet, quer zwischen die Zähne zu packen wie eine glühende Machete. Damals aber führte sein Transportweg noch abwärts und dort dann um die Ecke des Hauses herum, wohin ich ihm nicht mehr folgen konnte. Nehmen wir also an, es denkt jetzt daran umzuziehen (in meine direkte Nachbarschaft!) Oder die Aufstockarbeiten dienen der Errichtung eines Zweitwohnsitzes.

Jedenfalls ist hüben wie drüben dann Mittagspause um zwölf Uhr. Die menschlichen Bauarbeiter müssen danach freilich nochmals ran bis zum Feierabend. Das Eichhörnchen dagegen lässt sich in der zweiten Tageshälfte nicht mehr auf seiner Baustelle blicken.

Interessant übrigens in dem Zusammenhang, dass die Bildzeitung «Bild» in ihrer neuen Werbekampagne allerlei Vertreter Ihrer Traumleserschaft zeigt, aber darunter sind keine Bauarbeiter mehr (dafür halt Feuerwehrleute, Polizisten und Krankenhauspersonal.)

15.7.2019

Ist man zu zweit schon viele? Genügt das, um sich stark fühlen zu dürfen? Meine Kunstlehrerin aus der Oberstufenzeit hat an mich geschrieben über die Funktion auf der Website. Zum ersten Mal seit meinem Abitur, Anfang der neunziger Jahre. «Es freut mich, zu sehen, dass Sie tatsächlich immer noch schreiben.» Eigentlich war sie ja gar nicht meine Lehrerin im Leistungskurs BK, sondern wir hatten eine AG gegründet, die Arbeitsgemeinschaft Freie Kunst. Ganz einfach aus dem Mangel heraus, den ich im Leistungskurs in Sachen Kunstvermittlung verspürt hatte. Die AG hatte dementsprechend wenige Mitglieder, es waren drei. Und sie, Frau Duhm brachte uns dann in unserer Freizeit mit echten Künstlern zusammen, mit Achim Kubinski beispielsweise, der in einer Wohnung arbeitete und dort gab es keine Staffelei. Bloss einen Schreibtisch und an der Wand daneben hatte er eine Postkarte befestigt, darauf war eine Gleisstrecke im Gebirge abgebildet, die in die schwarze Öffnung eines Tunnels hinein fluchtete. Dazu erklärte er mir eine Theorie von Paul Virilio, den ich freilich nicht kannte, denn der Lehrplan des Leistungskursus Bildende Kunst sah keine Theoriearbeit vor, sondern bestand vor allem im Abmalen von mit Wasser gefüllten Gläsern und Hühnereiern in Kaseintempera. In einem Steinbruch bei Heimerdingen liessen wir dünne Plastikfolien in die Thermik steigen und machten Fotos davon. Frau Duhm sahte einmal zu mir «Du musst nicht alles festhalten wollen.»

Das also war freie Kunst. Heute nachmittag, im Park, begegneten wir bei der Seerosenernte einem jungen Fuchs. Er schnürte direkt auf uns zu, wir sahen ihm direkt in seine gelben Augen. Dann verzog er sich seitwärts, um in einer Wiese mit einem Hechtsprung etwas zu erlegen im hohen Gras. Eine andere Spaziergängerin wandte sich an uns. Sie wies uns hin auf ein Video, das wir uns «von Spiegel Online ziehen könnten», da ginge es um Das Wilde Berlin.

Das gerade bezeugte sprach sie nicht an; für sie war die Begegnung mit einem leibhaftigen Fuchs in der Natur lediglich ein Link zurück ins Internet.

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