»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

13.7.2019

Mein Verhältnis zu Berlin, meint Christian, sei vergleichbar mit dem Gefühl in einer sterbenden Liebesbeziehung. Auf einmal treten schleichend die physischen Eigenschaften des anderen hervor—isst zu laut, lacht künstlich et cetera. Das gute am Anker aber ist, dass die Gaststätte ihren Namen zu Recht führt. Bei gutem Wetter legen dort abends die kleinen Motorboote aus anderen Städten, aus Hamburg und sogar aus Dänemark und Holland an. Gebräunte Greisenpaare kommen in Ausgangskleidung an Land und geniessen den festen Grund unter den Stühlen auf dem Trottoir. Das innere Wellenwallen, das die Tage und Nächte an Deck hervorruft wird von den Bieren besänftigt. Wohliges Murmeln löst sich im Abendhimmel. Mauersegler kreisen.

Steht man auf, kann man vom Vorplatz des Ankers über das Gebüsch bis ans andere Ufer hinüberschauen. Dort ist ein Platz an der Kaimauer, wenn man da seine Füsse ins Wasser taucht und die Zehen sacht hin- und herbewegt, kommen bald darauf die jungen Stockenten herangepfeilt und knabbern einem an den Zehen. Stockenten sehen anscheinend nicht sehr gut, aber sie sind wohl empfindlich für die kleinen Schwingungen im Fluss, die ihnen von hineingeworfener Nahrung künden.

Ein Lastkahn, die «Janine» aus Hennigsdorf schiebt schwarze Dieselwolken aushauchend, zwei schwimmende Container à 32,5 Meter vor sich her. Gefüllt mit—Sand.

Für Friederike, die heute Geburtstag hat

12.7.2019

Es regnet seit ein Uhr, ich war aufgeweckt worden vom Rauschen vor dem Fenster. Der Luftdruck fiel über Nacht um drei Punkte auf 1001 Hektopascal. Schon in den vergangenen Tagen war das Klima so seltsam unter einem blauen Himmel, grundsätzlich warm, aber jedes Mal, wenn eine der kleinen Wolken vor die Sonne getrieben wurde, kühlte die Luft sekundenschnell ab. Wie in den Bergen. Ich glaube, das liegt daran, wenn die Wolken besonders hoch am Himmel stehen.

Von der Hand voll bohnenkernhafter Samen, die ich beim Botanisieren unter den blühenden Bäumen auf dem Rothschild Boulevard aufgesammelt habe, sind inzwischen schon zwei Keimlinge entstanden. Sie brauchen anscheinend sehr viel Licht. Ich habe das kleine Treibhaus direkt am Fenster aufgestellt und trotzdem streben sie beinahe diagonal in dessen Richtung. Zwei Wochen lang haben sie in der Erde geruht, ohne dass etwas zu sehen war. Ich war kurz davor, die Erde wegzuschmeissen. Am nächsten Morgen fing es an.

Die Vorschusslorbeeren für den amerikanischen Wunderschwamm muss ich mindestens zur Hälfte abräumen. Nach zehn Tagen im Praxistest löst sich die erdbeerfarbene Seite, die mit der namensgebenden Schrubbfunktion, auf. Einfach so. Was besonders traurig ausschaut, weil der Schwamm ja als lächelndes Gesicht gestaltet ist. Das wirkt nun wie aus alter, mürb gewordener Wassermelone geschnitzt. Von den Augen hängen ganze Lappen herunter wie nach einem Säureattentat. Darunter freilich das Shit eater grin. Da muss man gar nicht gross paranoid sein, es ist eindeutig so, dass der Hersteller in dieses Material einen progressiven Zerfallsmechanismus programmiert hat. Wäre ja auch zu schön, wenn ein Schwamm länger hielte als ein paar Tage. Da frage ich mich—nicht bloss weil die rote Seite an Rote Grütze erinnert und die gelbe Unterseite an Vanillesauce—wie weilands Walter Kempowski in Anbetracht der ihm ohne die geliebte Vanillesauce aufgetragene Grütze: «Was soll das?»

Traf gestern Nachmittag Gosha, die Wirtin des Ankers, auf der Strasse. Sie hat eine Sehnenscheidenentzündung (vom Zapfen).

8.7.2019

Der Tag fing an mit einem Stromausfall, der das Viertel betraf, aber bloss vier Stunden lang anhielt, bis wieder Saft in die Leitungen fliessen konnte. Dann erfuhr ich (durch mein Hingehen), dass das für mich zuständige Bürgeramt, das sich bislang in einem Einkaufszentrum befunden hatte, «bis auf weiteres geschlossen hat». Das nun für mich zuständige befindet sich angeblich eine Stunde weit entfernt weg. Dort liegt mein neuer Reisepass und mein Führerschein, die ich im März beantragt und dabei auch weisungsgemäss im Voraus in Bar bezahlt habe. Seitdem habe ich von dem Bürgeramt entgegen der Ankündigung keine weiteren Briefe mehr erhalten. Wollte deshalb heute mal nachfragen kommen.

Als ich ins Kräutergärtle kam, hatten dort über Nacht andere sämtliche Tomaten weggeschnitten. Die waren noch grün. Die Beete um die Stauden herum waren zertrampelt. Wenn ich die Tourismusbehörde von Österreich wäre, würde ich im nächsten Jahr nicht mehr in Berlin investieren. Oder zumindest ein Schild anbringen mit dem Zitat von Malcolm Lowry «Gefällt Ihnen dieser Garten? Aber warum wollen Sie ihn denn dann zerstören?» [¿LE GUSTA ESTE JARDÍN? ¿QUE ES SUYO? ¡EVITE QUE SUS HIJOS LO DESTRUYAN!]

In der Tagesschau kam gestern abend kurz vor dem Wetterbericht eines der von mir gefürchteten Hintergrundsfotos in Schwarzweiss: João Gilberto war gestorben. Ich schickte Lino eine Nachricht. Seine Antwort kam binnen Sekunden: «Das ist ein grosser Verlust! (Bin in Portugal).»

Wie lange ist das her, seitdem wir uns an jedem Morgen begegnet sind? Ein Jahr.

Abends, als es aufgehört hatte zu regnen, setzte sich der Mutist nahe zu mir auf eine Laubdecke der Schwarzpappel. Um ihn herum glänzte und glitzerte es frisch abgewaschen. Er hatte sich zurechtgeruckelt. Wartete. Die Batterie meiner Kamera war leer.

«I’m ready for my close up, Mr. DeMille.»

7.7.2019

Am Abend fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag über nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Das kommt bei mir vermutlich öfters mal vor, aber heute war es mir aufgefallen. 

Der Zeitungshändler war im Gespräch mit einem anderen Kunden gewesen, da konnte ich mein Geschäft wortlos abwickeln. Morgen fährt er für drei Wochen in den Urlaub. Ich kenne noch drei andere Geschäfte in seinem Umkreis. 

Am Ufer des Flusses hatten sich die arbeitslosen Männer versammelt, um ihren Hunden Tricks beizubringen. Sie reden andauernd davon, dass sie arbeitslos sind. Und von den Autos, die sich andere, die nicht arbeitslos sind, gekauft haben oder kaufen werden. Audi ist zu teuer. Kia gar nicht mal so schlecht. Mit einem Peugeot oder Citröen aber «kann man sie jagen», weil in den Autos französischer Hersteller die digitalen Anzeigeinstrumente hinter den Lenkrädern derart weit entfernt angebracht sind. «Keine Ahnung, ob das mit dem Körperbau der Franzosen zusammenhängt.»

Am westlichen Ausläufer des Parks hat das Land Österreich ohne jede Kampagne, ohne viel Hinweisschilder einen Kräutergarten anlegen lassen, da wachsen seitdem mehrere Sorten Thymian, Basilikum, Oregano und sogar Liebstöckl. Es gibt reihenweise Tomatenstauden, Gurkengeflechte und scharfe Paprika. Dahinter wurde ein Hügel aufgeschüttet, auf dem, von Bienen, Hummeln und Schwebfliegen umbraust, die verschiedensten Stauden ungefüllter Blüten blühen. Die umstehenden Bänke haben die Einladung, in Österreich Urlaub zu machen, in ihren Rückenlehnen eingebrannt. Dort bin ich gern, und das vorzugsweise am schattigen Vormittag, um mit meinem Taschenmesser Kräuter zu ernten. Bei mir gibt es, seitdem ich den österreichischen Garten in meiner Nachbarschaft entdeckt habe, öfters Omelettes aux fines herbes. 

Im Feuilleton war heute ein okay übersetzter Text von Anne Berest mit dem sie die Unlust ihrer Landsleute beklagt, die deutsche Sprache zu lernen. Sie selbst gehört wohl zu der Generation von Franzosen, die in den neunziger Jahren von ihren Eltern gedrängt worden war, Deutsch als Fremdsprache zu belegen. Temps passé.

Ich könnte ihr aber auch erzählen, dass es unter Deutschen einen grossen und meinem Gefühl nach nur noch stärker werdenden Widerstand gibt, französische Ausdrücke im Fluss der deutschen Sprache akzeptieren zu wollen. Das gilt hierzulande, kurz gesagt, als gespreizt, schwul, oder, tja: etepetete, und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass es mit der Wahl Ursula von der Leyens anders werden wird. Ich könnte bezeugen, dass die schöne Eigenheit der sowohl deutschen wie französischen Sprache, die Suche nach dem Gegenstand der Rede im Reden selbst zu dokumentieren, hier in der deutschen Literatur zuletzt bei Hermann Lenz zu finden war. Das amerikanische Englisch ist via (schlecht übersetzter) Serien und Comments unter Posts schon sehr tief eingewandert in die deutsche Umgangssprache. Und es wird (hier in Berlin zumindest) täglich durch die umher wandelnden Kreativtouristen verbreitet wie durch self-wandering-loudspeakers. Begibt man sich in eine Nachbarschaft, in der Tastemaker sich treffen, hört man eintönig Awesome, vielfach like, und: Do you want me to. Es ist der Angriff einer öden Lingua Franca auf unsere literarische Gegenwart. Das wird von Deutschen als zupackend und pointierend empfunden. Letztendlich wohl als befreiend. Weil: Es macht Sinn und man kann damit einfach toll Dialoge wiedergeben. Dialoge vor allem aus den Serien, mit denen man hier seine Freizeit verbringt.

Eine Frau hatte sich mir von der Seite her genähert und sagte «Sie haben ja ein richtiges Messer.»

Und ich sagte «Ja.»

6.7.2019

Seitdem ich vor vielen Jahren im Zuge einer Reportage in das Laboratorium eines Aromenherstellers eingelassen ward, träume ich von einer alternativen Karriere als Limonadenerfinder. Die in Israel verkosteten Oasentrünke haben meine alte Leidenschaft wiederbelebt. Nachfolgend eine erste Verkostung von vier teils innovativen, teils klassischen Trünken aus dem Zentrum des Commonwealth, aus Afrika und Asien, die ich aus dem überwältigenden Sortiment des «Asiatischen Afro-Shop Katar», der wie gesagt von Sikhs betrieben wird, ausgewählt habe. Dort wurde gestern ein Tesla betankt, den sich die Betreiber wohl für eine Wochenendausfahrt gemietet hatten. Alle umringten das Gefährt und machten Videos.

1. Coco Loto Coconut Juice with Pineapple

Schaut herrlich aus! Der Abfüller «Exotic Food Co., Ltd» aus dem Küstenbadeort Chonburi im Süden Thailands hat das Etikett seines Trunkes wohlweislich mit Bildelementen von Sonnigkeit überdeterminiert: Blütenblätter, eine trinkfertig skalpierte Kokosnuss mit herauslugendem Halm, sowie eine im ganzen aufrecht stehend halbierte Ananas am Strunk—wer da nicht an Erfrischung glaubt, der war noch nie in exotischen Gefilden baden. Selbst die an Schwebteilchen reichen Küstengewässer in der Bucht vor Pattaya wurden detailgerecht nachgeahmt vermittels der reichlich in einem Glas voll Coco Loto herumtreibenden Kokosnussfasern. Oder sind es solche von der versprochenen Ananas? Es ist nicht herauszuschmecken. Der Trunk schmeckt enttäuschend fad, eigentlich bloss trübe (wenn das ein Geschmackserlebnis sein könnte). Innerhalb der thailändischen Geschmacksästhetik handelt es sich eindeutig um ein Texturgetränk. Allerdings habe ich selbst noch nie das Verlangen verspürt auf etwas Trübes. Wird auch in Zukunft nicht vorkommen. 

Geschmacksurteil: 0 von 6 Seifen

2. V-Fresh Drink with Rose Flavour and Basil Seed

Diese in Thailand abgefüllte Flüssigkeit erfüllt meine Vorstellung von einem Oasentrunk auf ideale Weise: sie erscheint milchig, zugleich leuchtend rosa im Glas. Ein Scheinparadoxon, das mit thailändischer Nahrungsmittelchemikerleistung wirklich gemacht werden konnte. Als Cherry on the top bildet sich gleich nach dem Einschenken eine appetitliche Schicht Sediment am Boden des Glases und starrt den Trinker an wie Kopf an Kopf dort lebende Wesen, wie Kaulquappen etwa, auch Froschlaich ist denkbar, aber es handelt sich um die versprochene Basilikumsaat, die dem Trunk in nicht geringer Menge beigemischt wurde. Warum, das sollte man nicht fragen wollen. Auch tut man als Liebhaber des idealen Oasentrunkes besser daran, ihn gottgleich anzubeten, aber niemals wirklich zu versuchen. Selbst eisgekühlt dominiert das Rosenblütenaroma noch lange Zeit nach einem winzigen Schluck. Bei dem Markennamen kann es sich bloss um einen Übersetzungsfehler handeln. Etwas weniger erfrischenderes als V-Fresh ist undenkbar. Selbst warmer Gin käme mir da mehr gelegen. Als Palate Cleanser hilft gegen das anschliessende Mundgefühl einzig der thailändische Hühnersalat Laab Gai. Womöglich liesse sich von dort aus die Entwicklungsgeschichte dieses Trunkes rückwärts erzählen.

Geschmacksurteil: 6 von 6 Seifen (Look, don‘t touch)

3. Vimto Sparkling Fruit

Erstaunlich, dass dieser Trunk angeblich schon seit dem Jahre 1908 auf dem Markt sein soll—jedenfalls steht das so auf der im zeitlosen Design gehaltenen Dose aus England, in der sich demnach auch eine Reinigungsflüssigkeit befinden könnte. Oder ein Raumduft. Und, jetzt ahnt man es als Leser: so schmeckt der Inhalt auch. Immer wieder nimmt man nach den ersten Schlucken die Dose zur Hand, um sich zu vergewissern: gibt es das—ein Sirup, der sprudeln kann? Auch kaum zu glauben, dass man ein solches Aroma mit ausschliesslich auf dem Planeten Erde geernteten Früchten erzeugen kann. Das aber, so will es die Legende von Vimto, das ursprünglich Vimtonic geheissen hatte, soll tatsächlich der Fall sein. Der Farbton der Flüssigkeit indes, ein durchdringendes Rot, das an Lambrusco erinnert (und auch vergleichbar schäumt) deutet vielleicht auf Beeren hin. Angeblich handelt es sich sogar um eine Mixtur aus Himbeeren, Brombeeren und schwarzen Johannisbeeren, sowie nicht näher spezifizierten Kräutern, was damit alles in allem schlicht als «Vimto-Aroma» ausgewiesen wird. Wer, wie ich, in seinem Leben schon eine liaison dangereuse hatte mit dem köstlichsten Likör der Welt, Chambord, sollte sich von Vimto möglichst fern halten, also im Anschluss auch Reisen in die Arabischen Emirate und nach Indien und in sonstige ehemalige Kronkolonien meiden, in denen Vimto auch morgen noch hauptsächlich vertrieben werden wird—die Brause schmeckt nämlich exakt so, wie ein gut gekühlter Drink mit viel Chambord und wird die überwunden geglaubte Leidenschaft wiederbeleben wollen. Leider.

Geschmacksurteil: 4 von 6 Seifen

4. Nkulenu‘s Palm Drink

Dieser Kandidat steht ausser Konkurrenz, da mir erst kurz vor der Verkostung auffiel, dass es sich dabei um einen (wenn auch schwach) alkoholisierten Oasentrunk handelt. Für ghanaesische Verhältnisse aber, und aus der dortigen Abfüllerei Nkulenu Industries Ltd in Madina stammt der Palmendrink, dürfte er mit den irgendwo auf dem hübsch gestalteten Etikett versteckt angegebenen 4,5% durchaus noch als Softdrink durchgehen. Die Vorderseite wiederum ist übersichtlich und durchaus ansprechend im Stile einer britischen Fernsehserie aus den frühen siebziger Jahren («Die Profis») gehalten: auf einem Schild in tannengrün verheissen die im Bogensatz plazierten Buchstaben «Premier Quality». Eine ungewöhnlich beschnittene Nahaufnahme eines Palmenstrunks wird von diesem Qualitätsversprechen eingerahmt. Darunter, mittlerweile hat der Farbton des Hintergrunds in ein souveränes Gold gewechselt, steht in einer klassisch anmutenden Funk-Platten-Schrift der irgendwie an einen Zauberer erinnernde Firmenname «Nklulenu». Für sämtliche weitere Bestandteile auf dem Vorderschild der ansonsten smaragdhellen Glasflasche, von Palm über Drink und Shake&Serve bis Ingredient: Palm Juice wurde ebenfalls eine eigene Schrifttype ausgewählt. In der extrem heterogenen Weise seiner Machart wirkt das ansprechend auf das europäische Auge. Der europäische Gaumen wiederum reagiert in einem beinahe umgedrehten Sinne auf die Einförmigkeit des Geschmackserlebnis des Palmenmosts: Selbst gut gekühlt hat der vorschriftsmässig extrem gut durchgeschüttelte Trunk fernab von seiner Abfüllstätte doch zu viel von seinem autochthonen Charme verloren. Man sollte ihn wahrscheinlich ungekühlt, und dabei unter Palmen wandelnd direkt aus der Flasche schlürfen. Ganz ähnlich dürften übrigens die frisch in Frankfurt angelangten Ghanaesen urteilen, die sich bei Adolf Wagner in Sachsenhausen ihren ersten Bembel teilen.

Geschmacksurteil ausser Konkurrenz, da alkoholisch: 3 von 6 möglichen Seifen.

5.7.2019

«Die künftigen Kriege», prophezeiten mir neulich, vor dem Anker sitzend, Ulrich und Rainer «werden um Trinkwasser geführt». Den beiden glaube ich mittlerweile alles. Und tatsächlich deuten die Zeichen auf dem Mineralwassermarkt darauf hin, dass dort die Kundschaft auf künftige Preissteigerungen vorbereitet werden soll. Das Sortiment einer zwar quintessentiellen, aber physikalisch kaum modifizierbaren Ware, die zudem im Idealzustand farb-, geruchs- und mehr oder weniger geschmacksneutral ist, lässt sich lege artis schlecht ausdifferenzieren. Den Fisch schiesst hier der Abfüller Gerolsteiner ab, der sein von mir bevorzugtes Wasser derzeit als «Sommer Sprudel» vertreibt.  Das üblicherweise mit silbergrauen Elementen gestaltete Etikett wurde um eine aprikosenfarbene Strandecke inklusive Schirm, sowie um besagten Saison-Schriftzug im selben «sommerlichen» Farbton ergänzt. Als wir neulich in einem Frankfurter Supermarkt diese Novität im Gerolsteiner-Regal der Mineralwasser-Abteilung entdeckten, lasen wir uns gegenseitig die Inhaltstoffe von einer Flasche «Classic» und von einer solchen, die als Sommersprudel verkauft werden sollte, vor: die Mineralwerte waren bis aufs Milligramm identisch. Weitere Zusätze, Modifikationen an der Blasengrösse et cetera: niente.

In Israel wiederum, wo das Meer mittlerweile so salzig gemacht worden ist von den Entsalzungsanlagen, dass man sich nach dem Baden sofort mit Trinkwasser abduschen muss, weil man sich sonst wundschürft beim Gehen, gibt es natürlich kein autochthones Mineralwasser zu kaufen. Man trinkt also entweder Eau de Robinet oder Evian. Ich konnte leider nicht herausfinden, was die Israelis gegen sprudelndes Wasser einzuwenden haben—es ist auf jeden Fall kaum vorhanden. Es sei denn, man trinkt, wie früher in den Tropen, das grauslige Sodawasser von Schweppes.

Ich habe mich dort an die ausgezeichnete Auswahl fruchtiger Oasentrünke gehalten, die vornehmlich aus Brasilien importiert werden. Eine Gewohnheit, die mir lieb geblieben ist. Gestern kaufte ich in dem während meiner Abwesenheit hier eröffneten «Asiatischen Afro-Markt», der von Sikhs geführt wird, einige Fläschchen, Flakons und Dosen mir absolut fremdartig erscheinender Oasentrünke, die sich derzeit noch in der Kühlung befinden. Eingehender Testbericht folgt morgen.

4.7.2019

Spaten, eine Traditionsbrauerei aus München bewirbt ihr Bier, das neuerdings in einer bewusst traditionell etikettierten Flasche abgefüllt verkauft werden soll mit dem herrlichen Slogan «Vor allem fürs gemeinsam Munden wurde einst das Bier erfunden». Der darunter in einer Handschrift gesetzte, eigentlich traditionelle Slogan des Hauses lautet unverändert «Lass Dir raten, trinke Spaten». Über die Hintergedanken zu diesem Winkelzug des Marketings spekulierte ich neulich erst trefflichst mit meinem Vater, da uns das überarbeitete Design von Etikett und Kasten im Vorüberschieben aufgefallen war. Mein Vater, jahrelang ein Trinker von Spaten, wie es ihm geraten, erkannte seine Marke erst auf den zweiten Blick.

Jetzt ist hier in Berlin jede U-Bahnstation flächendeckend mit den Plakaten für Spaten ausgeklebt. Anders als Augustiner, Bayreuther, Paulaner und Tegernseer hat Spaten den Export seines Bieres zu lange gescheut, drängt jetzt aber mit Macht auf den Späti-Markt.

Und ich bekomme bei jeder U-Bahnfahrt Heimweh und wünschte mir gerade schon, es gäbe eine Endhaltestelle «Heimerdingen», zumindest aber «Frankfurt», denn von dort aus hat man es neuerdings auch nicht mehr weit, seitdem—ein Novum in über 1200 Jahren Ortsgeschichte!—man vom Hauptbahnhof in Stuttgart mit Bahnverbindungen bis direkt zum anmutigen Bahnhofshäusle von Heimerdingen fahren kann. Passenderweise ist die letzte Bahn, mit der man von Korntal bis dorthin fährt, dann auch ein sogenanntes Bähnele. 

Der Bahnhof liegt übrigens direkt gegenüber des Getränkeladens, in dem ich mit meinem Vater das Redesign von Spaten zuerst gesehen hatte. So it’s kind of an infinity loop.

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