»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

15.8.2019

Der Himmel fuhr seine Gefährte heraus: weiss und ausgreifend, an Bug und Rändern wolkig geraten, entglitten die Schiffe seiner grossen Hand.

Währenddessen kam es im Edeka «bei mir um die Ecke», zu einem spektakulären Zwischenfall, bei dem ein als Kunde getarnter Dieb festgenommen wurde vom Ladendetektiv, weil er, vor dem Getränkeregal stehend, möglicherweise aber auch schon im Bereich der Frischfleischtheke den Inhalt der kleinen Flasche (0,3 Liter) Gerolsteiner Mineralwasser (in der «Sommer Edition») ausgetrunken hatte, ohne diese offenbar bezahlen zu wollen, sondern obendrein auch noch diese von ihm geleerte Flasche in den hauseigenen Pfandautomaten einzuführen, um sich dann an der Kasse den Bon in bar erstatten zu lassen. Für alle, also vor allem für mich, die noch nie richtig begreifen konnten, wie der Betrug mit sogenannten Cum-Ex-Geschäften funktioniert: vom Prinzip her genau so.

Dass die überhaupt noch Ladendetektive haben! Aber vermutlich ist damit bald auch Schluss, denn eine Ära geht zu Ende und dieser, der letzte Edeka seiner Art in Berlin schliesst für sechs Wochen, weil er modernisiert werden soll. So steht es jedenfall auf den Plakaten. Bis dahin will ich mich noch ein bisschen sattsehen an den Metzgersfliesen und den Spiegeln über dem Angebot von «Obst». Sattriechen auch an dem anheimelnden Duft, dem Supermarktduft meiner Kindheit, dem unvergleichlichen Gemisch aus Banane und Schatten und Kühlaggregaten, Bodenreiniger und noch etwas anders Seifigem und ganz viel Karton.

Eine Wiedereröffnung wird es nicht geben. Der modernisierte wird ein anderer Edeka geworden sein. Nichts, das nicht schwönde, wie Rainald Goetz geschrieben hat (vor 20 Jahren). Am 24. August macht Markus das Schädels dicht. Vier Monate noch bis Weihnachten.

I want a Range Life, Honey.

14.8.2019

Im Schlaf geträumt, ich wäre Dichter. Ich sah mir selbst beim dichten zu. Das Gedicht, das dort entstand, gefiel mir gleich von Anfang an und ich fand, es wurde auch nicht schlechter. Nachdem ich die letzte Zeile aufgenommen hatte, beschloss ich aufzuwachen, um es zu notieren. Licht machte ich keines an, ich wollte danach weiterschlafen, schrieb im Dunkeln in möglichst weit voneinander abgesetzten Zeilen auf den Tisch. Danach legte ich mich wieder zu Bett.

Dieses Gedicht war auf mich zu gekommen auf jene Weise, die Tschaikowsky in einem Brief an Nadeshda von Meck beschreibt: «Die Erleuchtung ist ein Gast, der nicht immer auf den ersten Ruf erscheint. Arbeiten aber muss man immer, und ein richtiger, rechtschaffener Künstler ist gar nicht imstande, mit müssigen Händen dazusitzen unter dem Vorwand, er sei zum Schaffen eben nicht aufgelegt. Wartet man auf Stimmung und versucht nicht, ihr entgegenzugehen, so kann man leicht in Faulheit und Stumpfheit versinken.»

Wobei Wenzel Storch zum Beispiel, so geht die Legende, die Erleuchtung seiner Bildsprache während eines LSD-Rausches empfangen haben will. Was wiederum nur wenige wundern mag; am allerwenigsten jedoch diejenigen, die noch niemals LSD probiert haben. Stellt sich mir die Frage, ob eine drogeninduzierte Erleuchtung noch eine solche ist; also beispielsweise, wenn zwei im Drogenrausch sich als füreinander bestimmt erkennen: Ist das dann trotz des Rauschzustandes noch Erkenntnis? Oder sind all diese Begriffe wie Erkenntnis und Erleuchtung nur dann zulässig, wenn kein Bewusstseinsdoping vorgenommen wurde? Ist die Erkenntnis der Bestimmung doch bloss vermeintlich; wahre Liebe nur geträumt? Wobei gerade Verliebtheit selbst schon als Psychedelikum wirkt. Es demnach kaum jemals nüchterne Geister gegeben haben wird; beziehungsweise: wann—im Zwischendurch, dem Antichambre des Abklingens und Vorglühens? Gibt ja zahlreiche Künstler, die dazu geraten haben, dass man sich zur Konzeption eines Werkes durchaus unter Einfluss setzen könnte, allerdings bekäme das Werkstück dann erst in der Ausführung seinen entscheidenden Drall.

Als ich heute früh meine traumwandlerischen Zeilen entziffert hatte, fand ich das Ergebnis immerhin noch ordentlich:

Coolness ist ein schlimmes Wort

Die meisten jagt man damit fort

Mich nicht, mich kann man damit locken

Mit coolen Leuten zusammenhocken

Für mich so schön, fast wie Musik

Zum Hocken braucht es bloss noch Lieder

Die, wie es heisst, zur Verfügung stehen müssen

Dabei um uns schwebend,

Setzt Euch!

Lasst Euch nieder

13.8.2019

So waren schliesslich drei Tage ungenannt vergangen, dabei war so viel geschehen. Am Samstag hatte ich mich am frühen Abend aufgemacht, um, in meinem Sommeranzug, zu Fuss zum nahen Bahnhof am Stuttgarter Platze zu gehen, wo ich mit Friederike verabredet war. Das geriet für mich doch ziemlich überraschend zu einem Spiessrutenlaufen, da der akzeptierte Dresscode in der dorthin führenden Fussgängerzone anscheinend ein total anderer war. Das war mir vorher noch nie aufgefallen, konnte es ja auch kaum, da ich dort zwar viel und gern, dabei aber noch nie in einem hellen Anzug unterwegs gewesen war. Zwar zeigte man nicht mit Fingern auf mich, aber ich fühlte die Blicke in meinem Rücken und dann gab es da noch ein Paar, die über mich lachten (wahrscheinlich aber mit mir). Dabei waren die selbst für meinen Geschmack seltsam angezogen. Und das höchst. Sozusagen kostümiert. Kurioserweise, ich ordnete diese Eindrücke zunächst meiner durch den Spott der Passanten hervorgerufenen Verunsicherung zu, begegnete ich dann mehr und mehr dieser für meinen Geschmack kostümiert einhergehenden Menschen, die allesamt im besten Alter waren. Und so wie ich dem Bahnhofe entgegenstrebten. Dort, auf dem Bahngleis oben, wo ein schönes Lüftle Kühlung brachte, fand ich mich monothematisch von ihnen umstellt. Diese Menschen waren wie in einer Verfilmung der Loveparade durch Wenzel Storch in bunte Schlaghosen und Paisley-Wämse gezwängt. Die meisten von ihnen hielten Sonnenblumen in den Händen. Einfahrende S-Bahnen brachten, stadtauswärts führend, nur noch mehr von diesen Kostümierten heran. Ich googelte den Konzertplan der Waldbühne: dort trat an jenem Abend Dieter Thomas Kuhn auf; ein Landsmann, der, mitsamt seinem Publikum in die besten Jahre gekommen, einer anscheinend sehr grossen Anzahl von Bürgern die Chance zu einer kleinen Flucht aus dem Alltag hinein ins Glück anbietet. So vielleicht wie früher bloss Fasching und im Rest des Jahres das Programmkino, wenn The Rocky Horror Picture Show in einer Spätvorstellung lief.

Diese beiden Generalthemen, beste Jahre, also Zeit, und Kino, wurden dann auch am Rande wichtig im weiteren Verlauf unseres Abends, denn wir besuchten die Nachfeier des 60. Geburtstags von Claudius Seidl. Die fand in einem ehemaligen Frauengefängnis statt, das derzeit von den Architekten Grüntuch zu einem Hotel umgebaut wird, was ja in der architektonischen Sphäre auch eine Art Kostümierung bedeutet, denn die ausbruchssicheren Mauern des ursprünglichen Zweckbaus bleiben doch bestehen. Ob aber die Fenster dann bei Eröffnung des Hotels noch vergittert sein würden, das wird man schauen. Vor zehn Jahren habe ich in Oxford ein paar Tage in einem zum Hotel umgebauten Gefängnis geschlafen, das war vom Karmischen her völlig i.O. Ich schlief dort so, als ob ich mir keiner Schuld bewusst gewesen war. Dementsprechend, man erzählte sich, dass die Grüntuchs den Bau schon im Vorwege der Party durch einen spirituellen Heiler mit Räucherwerk hatten reinigen lassen, wurde es zu einer seidig hochschäumenden Party mit viel unverhofftem Wiedersehen—knapp vier Monate vor Weihnachten wage ich zu behaupten: Party of the Year!

Besonders schön für mich war die Rede von Christian Seidl, der daran erinnerte, dass es der ursprüngliche Berufswunsch seines Bruders gewesen war, Bischof zu sein. Das Bild sehe ich seitdem ständig vor mir; vor meinem geistlichen Auge. Dem heimlichen auch.

9.8.2019

Über Nacht, wie abgeworfen, stehen jetzt überall im Viertel die Leihfahrräder von einer noch einmal anderen Firma herum, die nennt sich «Donkey Republic». Was für Fahrräder gilt, dürfen Menschen noch lange nicht, das wurde mir klargemacht heute früh, als ich vor dem Café gegenüber sass; es heisst übrigens «Milchbubies», das ist ein bisschen belämmert, passt aber vom Lokalkolorit zu den Müllautos der BSR, die, im identischen Orangeton wie die Fahrräder von «Donkey Republic» lackiert, mit Luschtigo-Slogans beschriftet sind: Auf einem stand «Classicist», auf dem anderen «Tonnosaurus Rex». Der Betreiber des «Milchbubies», ein Türke, sah sich gezwungen, einen seiner Gäste zur Ordnung zu rufen, weil der sich, wie so ein herabgeworfenes Leihfahrrad, mitten auf den Bürgersteig plaziert hatte. «Die Müllfahrer filmen das und mailen die Clips ans Ordnungsamt. Die stellen mir dann einen Strafbescheid aus wegen einer begangenen Ordnungswidrigkeit.»

Der Gast rückte ein wie befohlen.

Wie es der im August 2012 verstorbene äthiopische Premierminister Meles Zenawie (Meles bedeutet Schnecke) einst nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft formuliert hatte: «Die Esel blöken, aber sie tragen die Last.»

8.8.2019

Karibische Wolkenformation am Himmel, Iles flottantes, nachdem es gestern den ganzen Tag über grau in grau geblieben war, und die Sonne, wie Lorenz Jäger das über Albrecht Dürers Melancholie-Bild schrieb: Als ein matt leuchtendes Gestirn erschienen war.

Gestern fiel mir deshalb ein, dass es nicht noch ewig so weiter gehen wird. Dass kein Verlass ist, auf die schönen Temperaturen. Ein Auto hielt, und der Fahrer «Alles gut!», fragte mich, wo hier die Jil-Sander-Strasse zu finden sei.

Gar nicht, sie ist doch noch gar nicht gestorben.
Der Mann war schwer tättowiert und hatte einen langen, rötlichen Bart.

Vermutlich war ich sensibilisiert durch den Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Die Strasse, die es hier wohl gibt (und das gleich zweimal in Berlin) heisst bloss Sander, ohne Jil.

Die Zeit hat im Feuilleton einen hoch interessanten Text über Katharina und Michael Rutschky, die wohl eine Art Sekte hier betrieben haben in Charlottenburg. Jetzt wird mir auch dieses Ding mit dem Holm-Friebe-Kult klar, woher er das hatte. Traf zufällig Helene wieder, fixte sie gleich damit an.

7.8.2019

Heute früh sass im Badezimmer ein Grashüpfer an der Wand (für ihn ist das normal, an einer Senkrechten zu ruhen). Wie kommt der da hin?  In den dritten Stock? Während ich duschte, zog er sich auf eine höher gelegene Stelle (noch immer in der von mir aus gesehen Senkrechten) zurück; womöglich ist er / sind die dazu auch noch wasserscheu.

Friederike hat ja einen Vorteil: Sie kann zu ihren Einträgen bei Bedarf noch Fotos veröffentlichen; wir* hatten uns einst—wieviele Jahre ist das «jetzt» her: 4 oder fünf?, darauf geeinigt, allein mit Schriftzeichen auskommen zu wollen. Und sind, kurioserweise (gleich was kam), dabei geblieben. 

So fragte ich mich gestern erst wieder: Wie könnte ich meine Texte noch bildlicher machen?

Da fiel mir glatt ein: Sound. Denn Friederike hat zwar Bilder, aber sie postet (noch) keine Klänge. Also gab ich, und zwar «einfach so» in das Eingabefeld bei Apple Music ein: «Cheri Lady». Ich kam, ehrlich gesagt (wie Dr. Dr. Rainer Erlinger sagen würde, meint niemand, der «ehrlich gesagt» sagt, etwas ehrlich), noch nicht einmal über das Eintippen des Kunstwortes «Cheri» hinaus, da zeigte mir der Browser des iPadPros schon 37 Versionen des grässlichen Liedes an.

Dieter Bohlen, man muss seinen Namen jetzt zumindest deswegen nennen, um auf russischen Websites erwähnt zu werden, hat es in der BRD binnen dreissig Jahren zu einer gar nicht mal erstaunlichen Berühmtheit gebracht. Denn so ist Deutschland ja wirklich: Wie Dieter Bohlen, wie Tegernsee und Sylt, wie Axel Springer, wie FC Bayern und, wenn es um die Zukunftsbegeisterung für das Jahr 2000 geht: wie Elektroroller. 

Um es Friederike, die ja immerhin zweitausend Jahre jünger ist als ich vom Geburtsdatum her, schwerer zu machen, hörte ich mir also sämtliche Versionen von Cheri, Cheri Lady (die Wiederholung scheint wichtig) kritisch an, um dabei unter anderem auch herauszufinden, warum ich eigentlich jeden Monat knapp zehn Euro an die High-Design-Firma Apple für Musikstreaming bezahle, bloss um dann in deren Hochglanz-Service zig angeblich unterschiedliche Versionen von Kompositionen von Dieter Bohlen zu finden.

Es handelt sich ja nicht um Interpretationen. Es gibt keine einzige Coverversion—vom Rapper Capital Bra abgesehen, der vermutlich von Ulla Popken gesponsert wird.

1. Die Originalversion, vom Album «Let’s Talk About Love», wurde noch vom Originalsänger der «Band», Thomas Anders, eingesungen. Damals, im Jahr 1985, war das mittlerweile stilprägende Computerprogramm «Autotune» nicht erfunden. Oder wie es der inzwischen leider verstorbene #Frank Schirrmacher ausgedrückt hätte: Es war das unerfundenste Programm. Plus: Es gab noch nicht einmal Internet.

2. Die «Special Version» aus dem darauffolgenden Jahr 1986, da schon mit Verweis auf die Plazierung in den Charts von «Formel Eins», zeigt auf dem Cover sowohl den Komponisten Bohlen, wie auch den Sänger Anders. Beide mit leuchtenden Zähnen, obwohl Photoshop™️ damals noch nicht erfunden war. Es handelt sich offenbar um klassische Retusche.

3. Noch im Vorjahr erschien eine «Remastered Version», die aber für mein Empfinden einzig im von Bohlen sogenannten «Intro» einen Dopplereffekt hat, bevor dann der «Bohlen-Akkord» (vgl. Tristan) erklingt. 

[Um hier den Hi-Fi-Freaks das Wort aus dem Munde zu nehmen: Ich höre MP3 über WiFi via eines Picknicklautsprechers von B&O.]

4. Bei der «New Version» aus dem Jahr 1989 immerhin, das ja historisch geworden ist, weil ich da mein Abitur, wie es heisst: ablegen durfte, scheint der Bohlen-Akkord in ein Arpeggio aufgelöst, das, für heutige Ohren verwirrend, auf Panflöten geblasen wird. Denen sei über den Flötenklang hinweg zugerufen, dass neben Richard Clayderman auch der Rumäne Gheorghe Zamphir die legendär gewordenen achtziger Jahre dominiert hat in den Charts (die damals noch «Hitparade» hiessen.) Für Wolfgang Herrndorf war es vermutlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, mit welchem Spiesser-Sound er seinen Text bestückt.

5. Im selben Jahr, dem der Niederschrift von «Tschick» jedenfalls, veröffentlicht Dieter Bohlen, da längst von der Bildzeitung «Bild» zum «Pop-Titan» aufs Schild gehoben, eine von ihm sogenannte «New Version», die, anstatt des anfänglichen Panflötenintros nichts Neues aufweisen kann ausser einem, nun ja: Geräusch. Das machten allerhand Musikproduzenten in dieser Dekade genau so, von daher ist Bohlen da schon wieder nichts vorzuwerfen.

6. Dass «bildungsfernen Schichten», ja: dass geistig Behinderten und anderswie sozial Benachteiligten nicht bloss in der BRD, sondern auf der ganzen Welt

 

*Waahr [https://de.m.wikipedia.org/wiki/Anne_Waak]

PS Interessanterweise unterscheidet sich die «Full Length Version» bei «Common People» von Pulp von der bekannt Gewordenen dadurch, dass dort ein ganzer Paragraph in der Strophe gestrichen ward; in der es, bekanntlich, um ein Leben in der Unterschicht ging. Da hat sich mittlerweile an den sogenannten Verhältnissen so einiges verändert, wie es sich plakativ beispielsweise an der folgenden Selbsteinschätzung («philosophy») einer Eisdiele herauslesen lässt: «We’re Ice & Vice, an experimental ice cream shop based in New York City. Handcrafting our ice cream, sorbet and frozen yogurt in small, customized batches, we push the boundaries of what frozen desserts can be. Always edgy and always ultra-premium, we serve up quality and vice with every scoop.»

6.8.2019

Auf der Wilmersdorfer Strasse stehen die Demonstranten vor einer demnächst abgewickelten Filiale von «Mc Geiz». Auf den Schildern steht: das Unternehmen werde kaputtgespart. 

Kurios, aber: wann fing das sogenannte Kaputtsparen an? War es Saturn, oder war es Media Markt, die den Slogan hatten «Geiz ist geil»? Ich erinnere heftige, moralisch grundierte Einlassungen im Feuilleton angesichts der Kampagne. Es ist schon so lange her, dass ich gar nicht mehr genau weiss: war das vor, oder war das schon nach der Treuhand? Dass jedermanns Portemonnaie schlagartig sich so dick anfühlte wie ein Sumo? 

Neulich brauchte ich Batterien. Ich war früh dran, der Media Markt hatte noch nicht geöffnet. Aber vor dem Rolltor hatten sich schon einige Männer versammelt. Wir warteten. Ich studierte die dort vor dem Portal ausgehängte Menükarte der Mitarbeiter in Uniform, die uns, den Kunden, bald schon, in wenigen Minuten zur Verfügung stehen würden. Irgendwie beinahe unangenehm, dass die alle Mike hiessen, Roy oder Sandy. Schlimm sind doch einzig die Ressentiments, die stimmen.

Als das Rolltor aufgezogen ward wie früher vielleicht eine Zugbrücke, stürmten die mit mir Wartenden den gleissend ausgeleuchteten Saal, um sich in Zahnarztterminsfrühe bei Speicherkartensparfragen beraten zu lassen, bei Kaffeekapselgraumarktsmarkenwünschen und möglichst flachen Flatscreens und kabellosen Ohrhörern und Handytarifen.

Es hat angefangen damit, dass Shopping zur Beruhigungsbeschäftigung wurde. Selbst dem Bürgermeister von New York City fiel am Tag nach dem Elften September, der bekanntlich ein zwölfter September war, bloss folgendes ein: «Take the day as an opportunity to go shopping, be with your children. Do things. Get out. Don’t feel—don’t feel locked in.»

Es gibt ja, obwohl ich mit Mode-Anekdoten sparen sollte, um literarischer zu wirken, auch noch die damit, mit dem historischen Ereignis verbundene Geschichte der Bulgarischen Bauernbluse: Zeitgleich, nämlich am 11. September, war in den Stores von Yves Saint Laurent, deren Damenlinie damals noch von Tom Ford entworfen wurde, eine schwarze, den bulgarischen Trachten nachgefühlte Bluse ausgeliefert worden. Das war an sich in der Tradition des Hauses keine Neuigkeit, sie war zu Lebzeiten von Yves Saint Laurent (der schliesslich 2008 in Umnachtung verstarb) immer wieder mal angeboten worden, aber die Kundschaft wuchs a) wie ahnungslos nach und b) wurden es, bedingt durch das Internet, auch immer mehr (Kunden). Am Vormittag jenes elften September des Jahres 2001 war es in Manhattan, laut Angestellten in YSL-Boutiquen wohl nachfragemässig so gewesen, dass, trotzdem in Downtown gerade beide Türme rauchten, Uptown die Telefone nicht still stehen wollten, weil diverse Kundinnen sich die besagte Bauernbluse reserviert sehen wollten. Fairerweise tatsächlich aber bloss am Vormittag.

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