»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
30.9.2019
Vom Gestischen her betrachtet genau so, von innen her aber mit einem anders gearteten Gefühl waren dann heute früh mein blauen Wollpullover und ich uns einander in die Arme gefallen — wobei es bei ihm ja bloss Ärmel sind — wie Linus van Pelt, wenn er, nach der abgesagten Verbrennung seines Schnuffeltuchs, das aus der Feuerstätte holt und flüstert: «Da bist du wieder, alter Junge.»
Es war ja Sturm angesagt. Angeblich blieb es dann bei «Milder Brise», aber die Bäume vor dem Fenster wogten. Und weil sie hoch gewachsen sind, wirkte dieses ihr auf-mich-zu-und-vor-mir-Zurückwogen gewaltig. Das Kreatürliche des Baumes, man macht sich direkt Sorgen, ob er wohl brechen wird (in ein Zementfeld an der Brandmauer gegenüber dem stadteinwärts führenden S-Bahn-Gleis am Savignyplatz steht eingeritzt ein Zitat von Ernst Jünger: «Bruder Mensch hat uns schon oft verlassen. Bruder Baum nie.» Das steht dort aber schon seit Jahrzehnten, ist kein Sgraffito der Schüler von FFF).
Was habe ich eigentlich letztes Jahr um diese Zeit zum Herbst geschrieben, was im vorletzten? Ich weiss es nicht mehr. Schreibe für mich, aber der Text ist für andere. Aber man steigt halt doch mit jedem Jahr wieder in den gleichen Fluss. An den Übergängen, jetzt im Herbst, wird mir das klar. In den Fehlern des Kopisten, seinem Buch über seine Vaterschaft und die ersten Jahre in der Abgeschiedenheit schreibt Botho Strauß von einem Winter, der zur Erzählzeit hart im Sinne von kalt und stürmisch gewesen sein mag, dass ihm das Wetter so vorkommt, als treibe es den Frühling durch eine harte Geburt heraus. Für mich ist der Herbst die Geburt, nach der das neue Jahr mit dem Winter beginnt.
Und noch etwas, das ich nicht verstehen kann: Wenn ein Dokument mehrfach hin und her geschickt wurde und die Anzahl der Anmerkungen, Streichungen und Rücknahmen und Ergänzungen immer zahlreicher geworden sind, muss ich vom iPad zum Laptop wechseln, weil ich das Gefühl habe, dass ich mit dem Anschlag auf der Mechanik einer wirklichen Tastatur mein Vorhaben wirkungsvoller umsetzen kann. Was natürlich Quatsch ist. Aber das Gefühl verheisst mir das so.
29.9.2019
Mit samaritanischer Geste wies Christin mich vor Tagen auf die Fernsehserie «Berlin—Schicksalsjahre einer Stadt» hin. Die besteht aus vierzig Folgen, in denen jeweils die Geschehnisse eines Jahres seit dem Mauerbau bis zum Jahr 2000 nacherzählt werden. Das Bildmaterial stammt hauptsächlich aus den Archiven von Ostfernsehen und Sender Freies Berlin—Da wurde das Versprechen mal eingehalten, den Mülleimer zur Schatztruhe zu machen.
Auf die Interviews mit Zeitzeugen könnte ich teilweise verzichten, insbesondere auf Bettina Wegener, aber die Zwischenschnitte sind immer bloss kurz. Alles andere, was man aus den Archivbildern erfährt, finde ich sehr interessant. Beispielsweise wird eine Gerichtsverhandlung gezeigt, angeklagt sind zwei Jugendliche, Willi und Wolfgang. Ihnen wird vorgeworfen, reihenweise die Telefonhörer aus Telefonzellen gerissen zu haben. Willi zum Richter: «Einer stand Schmiere, der andere ist in die Telefonzelle rein». Der Richter fragt, warum. Willi «Uns war langweilig». Es gibt eine Umfrage unter Gleichaltrigen in heute stimmungsvoll geleuchtet anmutenden Schwarzweissaufnahmen. Ein Mädchen sagt «Ich würde sie verurteilen». Und lächelt staatsmännisch. Das Urteil wird verkündet: Ein Jahr Freiheitsentzug.
Das soll sich zugetragen haben im Jahr 1967 im Westen Berlins. Abwechselnd werden dann wieder Filmbilder aus dem Ostteil gezeigt, da wird dann gerade der Fernsehturm gebaut, oder ein Friedhof platt gemacht, um Platz zu schaffen für den neuen Todesstreifen. Aber es geht auch um Moden, um Einrichtungstrends, um Staatsbesuche. Das meiste davon wusste ich nicht. Und manchmal lernte ich von Ereignissen, die mir seltsam bekannt vorkamen. Anfang der achtziger Jahre beispielsweise ordneten die britischen Besatzer an, dass 30 000 Bäume gefällt werden müssten, weil die bei den Landeanflügen auf Tempelhof im Wege waren. Da kam es zu Demonstrationen und gewaltigen Auseinandersetzungen mit der Polizei (schon in Farbe). Eine junge Frau im gelben Regenmantel sagt «Wir haben doch sowieso schon so wenige Bäume in Berlin».
Lässt sich einwandfrei hintereinanderweg, aber auch durcheinander schauen, Kempowski style. Man muss dazu nicht einmal krank und zerstreut sein. Wollte ursprünglich schon gestern dazu etwas Genaueres schreiben, aber bin anscheinend davor eingeschlafen. Aufgeweckt um sieben vom Klingeln eines Phantomtelefons. Sollte mich wohl zurückrufen in meine Epoche.
27.9.2019
Im Augenblick der Gesundung, die Krankheit verlässt mich wie ein Bild das Atelier, sofort Demut: Wie wenig es braucht, dass ich mich beeinträchtigt fühle. Nicht mehr ganz da bis zu dem Grad, dass mir das Denken unmöglich wird, beziehungsweise, wie Friederike schreibt «Wenn ich nicht schreibe, geht es eigentlich». Und das allein durch Probleme mit der Atmung; noch nicht einmal Erstickungskrämpfe waren das gewesen, oder von diesen erschütternden Hustenanfällen, die unser Nachbar in Frankfurt aufführt, derentgegen die das von Thomas Mann beschriebene «kraftlose Wühlen im Brei organischer Zersetzung» anheimelnd klingt.
Gestern wagte ich dann mittags einen knappen Gang in den Park. Es hatte wie prophezeit kurz aufgehört zu regnen. Gehen ist wie Denken, scheint mit der Atmung zusammenhängend. In den Rabatten war der Blumenschmuck schon abgeräumt. Die Gärtner hockten im Kies und zupften eimerweise Unkraut. Man macht die Anlage winterfest.
Am Ufer über mir ein grelles Schreien, regelmässig—nichts zu sehen. Klang bedrohlich. Ein Blässhuhn machte Kopfbewegungen, die ich von seinesgleichen nicht kannte (und ich dachte schon, die machen mir nichts mehr vor). Wirkte, pantomimisch gelesen, alarmiert auf mich. Die App analysierte das Spektrum der Tonaufnahme als zugehörig eines Mäussebussards (buteo buteo: so freundlich klingt sein Schrei aber nicht). Prompt kam eine Lady des Weges mit einem Maltheser an der Leine. Die sollte sich vorsehen, das Hündchen käme dem Bussard gerade recht.
Die Lämmer hingegen, die mit den 50 erwachsenen Tieren rings um Charlottes Lustschlösschen den Rasen mähen durften, waren schon gross genug. Schöne Tiere, obwohl ich Schafe wie Ziegen nicht so sehr mag. Die Rasse nennt sich Gutschafe, stammt aus Schweden (das Gut bezieht sich wohl auf Gotland). Schickte meiner Mutter ein paar Aufnahmen, weil sie wiederum Schafe sehr gerne mag. Freude. Gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Schönwetterphase daheim.
Die Nacht hindurch Regen. Heute den ganzen Tag—warum eigentlich über? Kurz den Vorhang beiseite gezogen: Es gibt kein schöneren Anblick für mich als einen Amselhahn im bunten Laub, das glänzend und frisch abgewaschen ist.
25.9.2019
Gestern, um 12 Uhr 24 gingen auf der Schlosstrasse die Gaslaternen an. Die Uhrzeit notierte ich, ein denkwürdiger Moment (bald wird es um diese Stunde ja wirklich dunkel geworden sein). Logischerweise fiel mir dabei auch der erste Satz vom Chinesen des Schmerzes ein: «Schliess die Augen, und aus dem Schwarz der Lettern bilden sich die Stadtlichter.»
Das Wort «Heimbohrer» kommt auch drin vor. Die Laubsauger waren da noch nicht erfunden. Mittlerweile müssen sie ziemlich billig geworden sein. Sah und hörte dann prompt einen in den Händen eines Inders (der einen marineblauen Turban trug).
Wie ungewohnt dann abends erst die Lichter der Scheinwerfer wirken (um diese Zeit!)Ein Blick geht hinauf in den Ahorn: noch diese Fülle! Das Grüne wirkt reif.
Heute früh war der Luftdruck über Nacht auf unter 950 Hektopascal gefallen. Es regnet. Ziemlich schlaff, aus Sicht des Regens: ausdauernd. Immerhin ist es noch nicht kalt.
24.9.2019
Wieder mehr auf meine Instinkte lauschen? Ich will gar nicht erst bei den US-Sachbuchbestsellern im New Yorker nachschauen, es gibt todsicher schon ein Buch dazu; als überzeugter Eierkoch glaube ich (!) zudem, dass Timing alles ist. Doch heute: kurz bloss den Vorhang beiseite gezogen: Herbstwetter. Was ganz anderes, entschieden vom: Herbstlicht, das ich gestern noch geniessen durfte—flach einfallend, wie auf einer Bühne, tatsächlich golden, lange, tiefdunkle Schatten machend, dabei milde, alles anputzend mit seinem Schein.
Und jetzt (der Brandenburger sagt «jetze», um es mit seinem in der Bundesrepublik einmaligen Dialekt (einmalig, die widrigen Dinge noch widerwärtig zu benennen)): Herbstwetter—bedeutet allein vom Lichte (nicht Brandenburgisch!) her: grau, wegfliessend. Die Welt ist Aquarell geworden. Mehr lässt sich «bis dato», wie es unter Brandenburgern gerne mal öfters heisst: nichts sagen.
Die Vögel plaudern wie im Frühling. Sind wahrscheinlich von der neuartigen Lichtstimmung verwirrt. Luftdruck, fallend, steht momentan bei 1004 Hektopascal.
23.9.2019
Ganz selten habe ich in der Natur ein Vorbild für ein Kunstwerk entdecken können. Gestern aber, nach dem letzten Eis in diesem Jahr, setzte ich mich vor das Café hin, das ich einst vertuschend benannt hatte als «Creamcheese», dabei heisst es in Wahrheit «Savigny».
Still standen die Bäume an den Rändern der Strasse. Wie Dekoration. Am Ende der Strasse das gelbe Feld. Wie bei Proust. Wie neulich bei Gudrun auch, die eben dieses Bild genau mit dem gelben Fleck am Reihenhaus von Vermeer (als Reproduktion) im Badezimmer hängen hatte (gerahmt). Und so gelblich auch wie der Himmel bei Segantini, von dem mir Friederike eine Karte schickte mit seinem Arvenzweig. Beinahe abstrakt: Ich wusste erst gar nicht, wie rum ich die aufhängen sollte (wie im Witzfilm). Bloss war halt jetzt, ab 18 Uhr 15 etc der Anblick der Strasse zu einer Aufhänganweisung (muss dringend mal eine Galeristin fragen, wie sich der TT nennt) geworden. Dort, wo bei Segantini das Blau der Berge durchblinzelt, war hier das Pflaster der Pestalozzistrasse. Darüber der friedliche Himmel. Dazwischen: Robinienzweig.
Danach, als es dunkel geworden war, ging ich ins Kino (das reimt sich auf Tarrantino)—Warum auch nicht. Trotzdem muss ich sagen, auch wenn mich das alt machen sollte: Es war langweilig. Zudem ich noch nicht einmal einen filmhaften Flow erfahren durfte; das dreistündige Spektakel erschien mir mehr als eine Aneinanderreihung von Sketchen (die ich aber jetzt nicht gross lustig fand). Friederike, die den Streifen ja sehr gut fand, wollte ich fragen, ob sie das ohne Brad Pitt auch so befunden hätte. Glaube nicht. Brad Pitt rettet diesen Schwachmatenfilm nämlich.
Am nächsten Morgen, heute: schönster Himmel mit wolkenfarbenden Tupfen auf Blau. Die mittleren zwei Stunden seines Filmes hatte ich da schon vergessen.
«And the closer I get, the less of me there is/
Yeah,the older I grow/
the more of me is gone»
22.9.2019
Wenn man gar nicht schlafen kann: Wie dann die Dinge aus der Dunkelheit, wie kommend: Gestalt annehmen. Das kam mir derart bedeutend vor, dass ich daraus eine Kritik der herrschenden Verhältnisse entwickeln—wollte, sollte auch, wie mir das schien. Dabei ging es im Grunde um Zeit. Also um diejenige, ein Zeitmass, das dem Einzelnen, jedem Mensch, zur Verfügung stand, um sich darin, ja: auszuleben. Um sein Menschsein auch auskosten zu können. Gerade halt durch ein ganz simples Manöver wie: Wachbleiben; nicht schlafen, um am folgenden Tag arbeitsfähig zu sein.
Und dabei, dies denkend, wurde ich tief traurig. Natürlich. Natürlich? Nein. Und doch. In der Zeitung war eine Art des globalen Rundumblicks abgebildet: Abgedruckt waren Beweisaufnahmen von Klimaprotestanten aus den gängigen Nationen, sowie aus Indien und Kenia (die Typen dort waren sichtlich vom Regime gecastet, deren Aufschrei wirkte künstlich, aber so läuft das halt in Afrika: Die Potentaten dort lesen im Internet von einer weissen Mode und wollen die dann sofort auch umgesetzt sehen in ihrer Welt.)
Jan schrieb mir aus Indien: Keinerlei Schilder in Ahmedabad.
Apple scheint das neue Betriebssystem, wie es heisst: Im Hintergrund installiert zu haben. Seitdem habe ich jedenfalls einen Ordner für Email mit hinzugefügten Adressaten. Der Ordner ist, ich ahnte das Jahrelang, umfangreich. Löschte ihn komplett.
Tieftraurigkeit rührte sogenannt auch daher, dass ich mich an die Fahrt im Aufzug erinnerte mit Christian: ich hatte ihn aufmerksam gemacht hinsichtlich der Kratzspuren im weissen Lack der Kabine. Und er hatte mir fest versprochen, davon ein Bild zu machen. Dazu kam es dann aber nicht. Aufgrund eines Menetekels, wie ich leider sagen muss.
Was ich * will, ist eine Literatur, die ähnlich dämlich ist wie «Alone Again (Naturally)».
* erzeugen
Weil ich als Kind immer geglaubt habe, dass Paul Mc Cartney der Sänger ist. Aber es war halt der (kleine) Unbekannte. Der Text ist ziemlich weird. Die Musik von O‘ Sullivan war wohl insbesonders in der sogenannten DDR beliebt. Anscheinend sind es ja vor allem Ostdeutsche, die heute seinen Eintrag in der deutschen Wikipedia «betreu’n». Jedenfalls steht dort: «Die dritte LP I’m a Writer, Not a Fighter kam heraus». Usw.
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