»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.10.2019

Die kleinen Bäume, die aus den Samen von der Rothschild Avenue gewachsen, sind hier über den Sommer leider zu gross geworden. Sie überspreizen die Fensterbank, und eigentlich müsste man sie längst umtopfen — absehbar allerdings, was aus ihnen dann werden könnte (Bäume nämlich, was hast Du dir sonst dabei gedacht, als Du dir diese Kerne eingesteckt hast an jenem Nachmittag, als ihr aus der Weissen Stadt zurück geschlendert ward in Euer abgeschiedenes Quartier, die schatt’ge Kemenate?)

Eins von beiden muss mindestens weg. Es stellt sich, wie so oft an jedem Tag, wie beinahe überall auf der Welt, die Frage: Darf man lebende Topfpflanzen wegschmeissen? Einfach so.

Oder sollte man sie zuvor bei sich daheim vernichten?

Dass ich mich damit beschäftige — Ich gehe ja auch jeden Morgen raus und sammle die von den Zweigen des Mandelbäumles herabgefallenen Blätter auf; es gibt auf der Kommode die weisse Keramik einer schöpfenden Hand: darin bewahren wir die auf. Schöne Wehmut des Vergehens. Zauber einer Wiederkehr.

Meine Mutter schreibt, dass sie (mit ihrem Garten) im Gartenschmuckwettbewerb ausgezeichnet werden. It‘s running in the family (Ondaatje).

Ich fand ja früher das Café Plank auf der Münchener Strasse cool. Mittlerweile zieht es mich in’s Starbuck‘s im Skyline Plaza. Am Nebentisch erzählt ein vielleicht türkischstämmiger Jugendlicher seinen Kumpeln von dem Fahrlehrer mit migrantischem Hintergrund, der ihn, wohl fälschlich, für «einen Kanaken» hält. «Der redet mit mir, als ob ich dumm wäre. Der verunsichert mich». 

«Wechsel doch einfach», rät ihm sein Freund. 

Das sind die feinen Unterschiede, von denen Bourdieu spricht.

22.10.2019

Aufgrund eines Missverständnisses mit meinem Friseur trage ich mein Haar seit gestern im Stil der Zeit. Zunächst war ich von meinem Anblick befremdet, als ich meine Brille wieder aufsetzen durfte, und mich mit der neuen Frisur im Spiegel sah. Dann aber fiel mir auf, dass ja alle um mich herum: die Friseure in der Goldenen Schere inbegriffen, aber dort auch die noch in den Friseursstühlen sitzenden Kunden, die noch  Wartenden mit ihren Telefonen beschäftigten und beinahe sämtliche männliche Passanten, die draussen vor den grossen Fenstern des Salons die Münchener Strasse hinauf- oder heruntergingen, einen Haarschnitt dieses Typs wie es früher noch geheissen hatte sporteten. Endlich also war ich zum Teil einer Bewegung geworden. Zwar bloss einer Männerbewegung, dafür aber einer altergruppenübergreifenden. Von daher: immerhin.

Am Vortage waren wir vor dem Gang hinunter ans Mainufer noch vor einer Weinstube auf dem Römer herumgelungert, weil man von dort aus, so Friederike, sehr schön die Menschen beobachten kann. Vor allem waren es Männer aus Südamerika, die, das faszinierte mich wie eh und je, mit ihrem beneidenswert dichten wie dicken und rabenblauschwarz schimmernden Haar prunkend, sich auf der Stelle hin in alle Himmelsrichtungen drehten und anschauen liessen wie Figuren eines Glockenspiels. Dann trat mit einem Mal ein Mann aus unseren Gefilden auf und blieb, auch er, wie um sich uns zu zeigen, in einer Pose verharrend stehen und schlug die Hälfte seines wollfarbenen Mantels auf wie die Seite seines Buches, raffte die hinter seinem linken Arm mit dessen daran befestigten Hand, die ihm jetzt als Agaffe nützlich wurde, die er, um den Faltenwurf zu gürten, in die linke Hosentasche seiner Blue Jeans schob. 

Dieser Mann war das Bild des deutschen Mannes zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus modischer Sicht, selbstverständlich. Sein grau meliertes Haar war natürlich in eben dieser Frisur geschnitten, die auch mir am nächsten Tage geschnitten werden sollte. Allerdings ahnte ich davon am Vortage noch nichts.

Jetzt hat ja der Bayerische Jungbauernbund seinen Jungbauernkalender präsentiert. Er ist wie in jedem Jahr natürlich in zwei Ausführungen erhältlich, streng segregiert nach Jungbäuerinnen und Jungbauern. Die weiblichen Bauern interessieren mich persönlich ungleich mehr, es gibt auch eine schöne Forstwirtin zu sehen!, aber für die Ästhetische Theorie der Männerbewegung sind freilich die Jungbauern wichtig. Man glaubt nämlich bloss, vor allem ich, wenn ich mich an mein Heimatdorf erinnere, dass Jungbauern irgendwie allenfalls interessant verwachsene, in jedem Fall vor allem natürliche Burschen waren und sind. Der Jungbauernkalender zeigt auf jedem Blatt ein am ganzen Körper glatt rasiertes, im Grunde überpflegtes, an den Bauchmuskeln legosteinhaft modelliertes Mannsbild mit eben dieser Frisur, wie sie jetzt alle tragen: Jungbullen, Identitäre, Migranten und ich. Einer der Jungbauern macht splitternackt, im Adamskostüm ohne Feigenblatt, auf seiner von der Sonne verwöhnten Weide einen Doppelaxel wie das tote Murmeltier neulich, um einen Apfel vom Zweige zu drehen. Dabei spannt er den Glutaeus maximus auf allernatürlichste Weise. Zum Anbeissen schaut das aus. In der sogenannten Landlust findet so etwas nicht statt. 

Abends waren wir in «Joker». Joaquin Phoenix tanzt grandios. 

   

21.10.2019

Uns war ein wunderbarer Abend geschenkt worden. Nach dem Kuchen hinunter an den Main, wo es zwischen den Brücken einen Abschnitt des Parkes am Flussufer gibt, der Nizza genannt wird. Ein Arboretum, bepflanzt mit Bäumen, die es dort eigentlich nicht geben dürfte (sagt wer?). Bananenpalme, Pomeranzenbaum, Oliven und die Mispeln habe ich erkannt (letztere wegen eines mich prägenden Urlaub in Spaniens, da war ich noch im Bambusstangenreiteralter, und weil es die Mispelchen im Glas hier in den Apfelweinkneipen als Dégistiv gibt). Sehr viele andere Pflanzen erkannte ich nicht, noch nicht einmal nicht wieder. Und ich hatte mein Telefon mit dem Feldbuch nicht dabei. Sorglosigkeit des Sonntages. Mein Gefühl der Ausgewogenheit ward zudem massgeblich bestimmt von dem Text, den Thomas Melle unter dem Titel «Clowns auf Hetzjagd» im Feuilleton veröffentlicht hatte. Zustimmung zu jeder einzelnen seiner Zeilen. Nun war Frieden eingekehrt, so empfand ich es, weil Peter Handke in unserer Sache, der Literatur, Recht getan war.

Auf dem Heimweg, noch immer war es warm, entdeckten wir im abgezäunten und von einem Zauntor versperrten Vorgarten eines Nachbarhauses, dort aus dem ungemähten Gras aufragend, drei Wiesenchampignons. Im Dickicht der grasfarbenen Halme vermutlich noch weitere, kleine, bald zu den grossen Hüten aufschliessende.

Heute früh zum ersten Mal Morgenrot.

19.10.2019

Das Ganze war natürlich wieder einmal nicht ganz so grossartig, wie ich es mir ausgemalt hatte. Als ich am Vormittage in dem nahe des Erzeugermarktes gelegenen Schnellrestaurant eingetraf, war dort nirgends ein Schild oder ein Banner aufgehängt, das auf die Feier des Aktionstages Chicken Mc Nuggets hingewiesen hätte. Es sah dort drinnen aus wie immer bei Mc Donalds, also auch wie immer bei Mc Donalds überall sonst auf der Welt. Und draussen war schönstes Wetter. Als mir die Tresenfrau dann auch noch erklärte, dass ich erst dann einen Anspruch auf die eine, auch nur einzige und einmalige Ausgabe der vergünstigten Knusperli samt Saucen anmelden dürfte, wenn ich mir zuvor die App von Mc Donalds herunterlüde, um ihr dann, nach meiner dort erfolgten Registrierung mit Klarname, Emailadresse et cetera, den dort in der App angezeigten Gutschein vorzuzeigen, hatte ich keine Lust mehr. Noch nicht einmal mehr auf Chicken Mc Nuggets zum regulären Preis. Und dabei hatte ich am Vorabend und die Nacht hindurch bis zu dem Moment, da ich die Schwelle des Restaurants übertreten hatte, den allergrössten Appetit von allen auf sie gehabt. Da allerdings hatte ich sie mir noch in Mannigfaltigkeit und beinahe frei verfügbar vorgestellt; füllhornhaft. Und hatte sogar schon erwägt, nicht nur mehrfach an diesem Aktionstag in unterschiedliche Filialen zu gehen, um mir dort vom Aktionstagsangebot abzuschöpfen, sondern auch unsere Nachbarn zu fragen, ob ich in ihrer Tiefkühltruhe einen Teil meines Chicken-Schatzes einfrieren dürfte.

Nur in den wenigen Stunden, in denen wir gestern Abend bei der Feier der Redaktion von Titanic in dem Ruderklub gewesen waren, hatten sich meine Nuggetgedanken verzogen. Das Buffet dort war nämlich wie in jedem Jahr von Kristin Eilert selbst hergestellt worden. Die freilich hatte mich zuerst gar nicht wiedererkannt, weil ich ja so stark zugenommen habe. Und dann noch die neue Brill‘. Jedenfalls schob ich gerade einen grossen Löffel in eine zimbelförmige Schale, gefüllt mit darin dargebrachtem Salat aus kandierten Walnüssen und pikanten Linsen, als sie zu mir sagte «Moment, das Buffet ist noch nicht eröffnet». Erlaubterweise deckte ich mich mit ihren Hors d’heuvres ein, jenen himmlisch buttrigen Hubertushörnchen, die ich mir auf dem Weg zu unserem Sitzplatz im Bug des bootsförmigen Clubgebäudes mit veritablen Rollgriffen einverleibte. Diese Buttrigkeit ihres Blätterteiges, erklärte Kristin uns dann einige Zeit später, als alle um uns herum schon sehr betrunken waren, wie das bloss unter Satirikern noch in solch verschärfter Form üblich ist, kommt ganz einfach daher, dass sie den Blätterteig der Hubertuskipferl selbst tourniert. Und zwar mit französischer Butter. Mehrere Wochen nimmt sie die Zubereitung der Schlemmereien für die alljährliche Titanicparty in Anspruch. Unter anderem ein Grund, weshalb bei ihr daheim in ihrer Küche drei Tiefkühlschränke stehen. Und eine alljährliche Titanic-Weihnachtsparty mit Buffet gibt es übrigens auch.

Ungefähr da, an dieser Stelle, fielen mir meine Nuggets wieder ein. Kurz darauf meinte Kristin irgendwo in der schäumenden Menge ihre Schwester entdeckt zu haben. Der mir gegenüber sitzende Dokumentarfilmer erzählte von einem spektakulären Zweiteiler über Ernst Jünger, den es demnächst bei Arte zu sehen gäbe. Bevor nun gleich das Thema Handke aufs Tapet gebracht würde, brachen wir auf.

Die Nacht war schön und klar. Der Morgen auch. Ich ging dann über den Markt wie immer. Am Apfelweinstand fragte ein dicker Kunde mit kritischem Blick den Apfelweingutsbesitzer, wie der diesjährige Rauscher «herausgekommen» sei. Der Gutsherr: «Meiner hat Niveau». Ein Haufen Tauben machte sich gleichzeitig auf und hinauf in die taubenfarbige Luft.

18.10.2019

In der Zeitung war heute früh ein Foto abgebildet von einem Murmeltier, das im Moment darauf von einem ebenfalls abgebildeten Fuchs (Weibchen) aufgefressen wurde. Das Murmeltier ist senkrecht auffliegend in gestreckter Körperhaltung zu sehen — beim Eiskustlauf heisst die Figur bei Menschen Doppelaxel, glaube ich. Der Gesichtsausdruck zeigt ein menschliches Erschrecken, die Murmeltieraugenlieder aufgerissen, das weisse im Murmeltierauge ist zu sehen; aus dem Mund ragen die als charakteristisch wahrgenommenen Murmeltierzähne, die man ja ansonsten nie zu Gesicht bekommt. Weil man das Murmeltier nie zu Gesicht bekommt. Im Engadin hatten wir uns da sehr gewünscht, auf dem Gipfel bei Segantinis Hütte droben, ein Murmeltier zu Gesicht zu bekommen; eines ansichtig werden zu dürfen. Stattdessen führte man uns dort zu Fröschen. Auch nicht schlecht.

Das Punctum von der Murmeltiertodesangstsekunde wurde von einer Chinesin aufgenommen, die gnadenlos abdrückte, als sie im Himalaya auf der Lauer liegend zur Zeugin gemacht wurde bei dieser Begegnung von hungriger Füchsin und Murmeltier, soeben aus dem Winterschlaf erwacht und dann gleich sowas; beziehungsweise, wie Rainald Goetz einst geschrieben hat: «Wenn Schlafen schon so schön ist, dann muss ja… nein, Quatsch!»

In der sachlich formulierten Bildunterschrift heisst es, dass die Füchsin selbst nicht aus Hunger handelt, sondern Nachwuchs zu versorgen hat mit dem erbeuteten Murmeltier. Ich werde derzeit auch getrieben von einem wölfischen Appetit, der mich andauernd übermannt — angeblich ganz normal, beziehungsweise natürlich in den Tagen bis Erntedank. Am Mittwoch beispielsweise, als wir bei Renate von Metzler eingeladen waren, ass ich sehr viele kleine Schnitzel. Es gibt dort in jedem Jahr Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat. Angeblich hat der Hirnforscher Wolf Singer zu dieser Tradition angeregt. Ich bekam von meiner Tischnachbarin Frau Lueken, die Vegetarierin ist und sich von Beilagen ernährt, beinahe sämtliche ihre Schnitzel geschenkt. Dann kam endlich auch noch der Kellner mit dem zweiten Servis. Danach war ich sehr satt und bereit zu meiner Verpuppung. Fragte mich aber insgeheim, wie lange das wohl anhalten würde, dieses Gefühl des Gesättigtseins. Bis mir endlich meine Flügel wachsen, oder doch wieder bloss bis Erntedank?

Gar nicht insgeheim wurde in den wunderschönen Räumen des Metzlerschen Stadtpalais von Politik geredet. Das hat sich freilich extrem geändert, seit Errichtung des Hauses: Früher, zu Knigges Zeiten noch, war das Sprechen über Krankheiten, über Religionen oder politische Ansichten in der Gesellschaft nicht gerade tabu, aber man sollte es zu vermeiden versuchen. An meinem Tisch ging es um Handke, also eine mittlerweile als toxisch verstandene Mixtur aus allen dreien. Herr Jung, der auch Verleger von Handke ist, entschuldigte sich nach einer Weile bei Frau Gerster, die hierbei das Wort führte, und ging heim. Ich nahm aus dem Augenwinkel aber wahr, dass im Nebenraum schon schüsselweise die Mousse mit Schlag hereingetragen wurde.

Es ist halt mittlerweile nicht bloss mit der Wohnungssuche genau andersherum geworden, als es früher war, worüber ich neulich noch mit Martin Mosebach sprach, der vorgestern wie es heisst durch Abwesenheit glänzte, weil er bis auf Weiteres in Marokko weilt. Es sind auch nicht mehr die Unvernünftigen die aussterben, wie Handke einst befürchtet hat. Beziehungsweise tut sich was im Reich der Vernunft.

Morgen ist Aktionstag für Chicken Mc Nuggets bei Mc Donalds. Bundesweit.

16.10.2019

Für mein Empfinden von der Zeit am Tag ist es schon ziemlich spät, zu spät für mich jedenfalls: Ich sitze in einem ICE nach Frankfurt am Main, draussen, hinter den Fenstern ist es Nacht. Die Abfahrtszeit habe ich mir nicht selbst ausgesucht, das Ticket stammt noch aus einer von mir sogenannten Phase in diesem Sommer, als ich noch nicht einmal mehr genug Geld zur Verfügung hatte, um mir sechs Eier zu kaufen, einen Liter Milch, geschweige denn eine Fahrkarte für die Deutsche Bahn.

Der Zug ist voll mit Passagieren und wie natürlich ist der Speisewagen seit Abfahrt am Berliner Hauptbahnhof ausser Betrieb. Ich habe in meinem Leben noch nie eine Platzkarte gelöst, mich immer auf einen Sitz im Speisewagen verlassen. Auch seitdem es, seit ein paar Jahren nun zunehmenderweise: dort keinen Service mehr gibt. Aus den sogenannten Bordbistros ist somit im Laufe der Zeit ein wie reguläres Abteil geworden, faktisch ist es eine rollende Ruine, in dem sich all diejenigen einfinden, die sich für den regulären Reservierungsvorgang bei der Deutschen Bahn zu spontan, also faul, oder zu blöd oder halt auch zu klug, alles gleich gut, befinden. 

Wenn man regelmässig mit der Bahn fährt, bedeutet es Coolness, sich nicht über die Mängel bei der Durchführung der Reise aufzuregen. Die Deutsche Bahn ist zwar privatisiert, gehört aber noch immer ganz dem Staat. Gesellschaftlich ist es in Deutschland sogar so geworden, dass man als Beschwerdeführer über die Zustände innerhalb der Fahrzeuge der Deutschen Bahn sich als extremer Alman outet — als Spiessbürger also, wie das einst hiess. Von daher nehme ich das Milieu dort im Gemischtwarenabteil mit Humor. Heute war eine Familie mit fünf Kindern zu Gast. Die waren eindeutig arm, sonst hätten sie ja nicht so viele Kinder, die lebten vom Kindergeld, der Mann schaute nach Arbeitslosigkeit aus, wahrscheinlich durften die sogar en famille umsonst bahnfahren, und wenn Ulf Poschardt mit an Bord gewesen wäre, dann hätte er sich wie in alten Vanity-Fair-Zeiten beflügelt gefühlt, eine Hymne auf die Deutsche Familie zu schreiben. Aber, und das ist wohl Teil des unsrigen, des deutschen Problems: Anders als die Königin von Norwegen reist Ulf Poschardt nicht mit der Eisenbahn. Die Minister im Bundestag auch nicht — vor Jahren sass ich neben Christian Wulff, dann später einmal noch neben Frau Professor Schwan —, oder auf jeden Fall nicht so, dass sie mit «den Leuten» dort in Kontakt kommen könnten. Meint: Mit den Deutschen an sich.

Wer war schon mal in Braunschweig? Wer schaut die neue Serie auf ZDF Neo, wo sich deutsche Frauen bei deutschen Männern zum Essen einladen lassen und die von der Machart her wie auch von ihrem Casting sämtliche von Vox et cetera unterbotenen Standards unterbieten will? «Morgen 16 Grad in Hildesheim. 7 Grad kälter als heute»

In der Warteschlange liess ich alle fünf Kinder aus dieser Familie vor — eins nach dem anderen. Sie erhielten dort gegen Vorlage ihres Gutscheins jeweils ein verkleinertes Modell eines ICE-Zuges, in dem sie sich schon befanden. Als ich dann nach den Kindern — eilig hatte ich es nicht, man fährt ja immerhin und ist damit beschäftigt — an der sogenannten Reihe war, konnte die Tresenchefin wie es mir schien: endlich ihren Damm brechen lassen. Barsch und sächselnd fuhr sie mich an. Ich habe die für sämtliche Beteiligte ungute Situation an Bord bei vielen Fahrten studieren können. Mir tun die Leute, die dort arbeiten natürlich leid, wenn sie, mangels Ware gleich selbst sinnlos geworden, durch das Bundesgebiet gefahren werden, aber ich finde trotzdem, dass sie sich das nicht anmerken lassen dürften. Sie aber rief mir entgegen «Wenn ich unhöflich werde, klingt das ganz anders».

Je nun. Da ich an anderer Stelle schon bösartigerweise geschrieben hatte, die Bahn zöge (sic) Ostdeutsche an, weil dort aus der Zone vertraute Zustände herrschten, so will ich mich heute korrigieren: Die Zustände bei der Bahn befördern (sic) bei den vornehmlich ostdeutschen Angestellten einen Rückfall in die aus der Diktatur vertraut gemachten Techniken zur Kompensation: Anschnauzen, Abmeiern, Wegwinken. Ein ICE sorgt somit, dafür braucht es kein Ticket, bei Bahnfestangestellten (sic) für eine stundenlange Zeitreise zurück in das verloren geglaubte System. Interessanterweise zeigte sich die Mutter der kinderreichen Familie unter solcher Aegide damit beschäftigt, ihren Nachwuchs zum Stillschweigen zu mahnen. Stumm spielten deswegen ihre Kleinen mit den Nachahmungen des ICE auf dem elipsenförmigen Tisch des Bordbistros. Arme Eltern wissen um ihren niedrigen Status in der Gesellschaft; auch um ihre ständige Bedürftigkeit und wollen nicht, dass der Nachwuchs den Gönnern wie Metastasen ihres Lebensstiles lästig fällt.

Doch neben mir sass, so nahm ich an: ein Intendant. Vielleicht war er auch Dramaturg. Er schrieb von Hand, aber was er schrieb, erschien mir nicht als selbst ausgedacht, sondern wie kommentierend. Allein durch mein Anschauen seines Schreibens und mein Nachdenken über die Bestimmung seiner Zeilen konnte ich zu meiner Ruhe zurück finden (während die Bordbistroregentin eine Kundin schuriegelte, die es gewagt hatte, einen grünen Schein hervorzubringen (oder wie es im Englischen heisst: zu produzieren). Der Mann neben mir zog davon unbe- und gerührt sein blaues Band aus Schleifen über die Seiten.

«Why do you write?» lautete die Frage an Nick Cave heute. Ich habe schon oft genug betont, wie gut, wie segensreich ich seine Antworten auf die an ihn gestellten Fragen finde. Aber. Diese hier betraf mich nun. Hätte sie doch, eigentlich und im Grunde, von mir selbst stammen können. Denn warum schreibe ich, wenn ich mir das Schreiben doch eigentlich und im Grunde nicht einmal mehr leisten kann?

Es wird jetzt 26 Jahre her sein, da kam Nick Cave im dunklen Anzug aber barfuss auf die Bühne der Grossen Freiheit in Hamburg. Für mich war das damals ein religionsstiftendes Ereignis. Und hier steht nun seine Antwort auf meine Frage, warum ich schreibe: 

«I feel my songs are conversations with the divine that might, in the end, be simply the babblings of a madman talking to himself. It is this thrilling uncertainty, this absurdity, from which all of my songs flow, and more than that, it is the way I live my life. So, for me, living in a state of enquiry, neutrality and uncertainty, beyond dogma and grand conviction, is good for the business of songwriting, and for my life in general.

Some of us, for example, are of the generation that believed that free speech was a clear-cut and uncontested virtue, yet within a generation this concept is seen by many as a dog-whistle to the Far Right, and is rapidly being consigned to the Left’s ever-expanding ideological junk pile. Antifa and the Far Right, for example, with their routine street fights, role-playing and dress-ups are participants in a weirdly erotic, violent and mutually self-sustaining marriage, propped up entirely by the blind, inflexible convictions of each other’s belief systems. It is good for nothing».

​Morgen 15 Grad in Einbeck. 8 Grad kälter als heute. Die Zugchefin macht eine Durchsage: «Mein Name ist Aphrodite Vrazioti». Und damit geht es los.

15.10.2019

Lust auf Schnee.

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