»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

30.11.2019

Mittlerweile war es Black Friday geworden, der in diesem Jahr auf einen Friday For Future gefallen war, aber als ich mich mit dem Fotografen in der Schlemmerabteilung des KaDeWe auf die abwärts führende Rolltreppe begab, war die Erzählzeit noch die eines Vortages. Eine wirkliche Neuheit, die der grosse Umbau gebracht hatte, war das Verschwinden der Kassen. Wir fanden dort jedenfalls keine mehr. Auch hatten wir, von den Gästen in den Bistrots abgesehen, auch keinen einzigen Zahlungsvorgang beobachten können. Die Kassen oder Zahlstellen waren entweder tatsächlich verschwunden wie in wegrationalisiert — wozu dann aber die Preisschilder? — oder aber sie waren mitsamt des zuständigen Personals, den Kassiererinnen und Kassierern, in die neue Innenarchitektur integriert worden und somit an der Oberfläche unsichtbar. Fragen hätte man freilich können, bloss wen? Hier und da standen schwarz Uniformierte herum, schwarz wie das Inventar: etwa die? Von daher hatte der Fotograf einer von ihm sogenannten Einfachheit halber die einem der schwarzen Regale entnommene Phiole mit aus Mexiko nach den Vereinigten Staaten exportierten, dort abgefüllten und daraufhin nach Europa verschifften Maiskörnern, aus denen er sich beim netflixen Popcorn zu machen gedachte, mit in eine unter der Schlemmerabteilung gelegenen Etage mitgenommen. Hier wurde Damenoberbekleidung ausgestellt, und die Zahlungsstelle ragte ob ihrer Glanzlosigkeit und der Unflauschigkeit ihrer gänzlich auf Pelz und Mohair verzichtenden Bauweise wie ein Fremdkörper aus dem wie um die Wette schmeichelnden Bunt. Die Frau, die sich aus einem bungalowförmigen Shop-in-Shop der Marke Jil Sander zu uns herüber an diesen schmucklosen Tresen bequemt hatte, begutachtete die Phiole voll Mais und beschied uns abschlägig: Solcherlei könnte auschliesslich auf der von ihr als «Lebensmittelabteilung» bezeichneten Etage erworben werden. Auf die Frage wiederum, wo denn dort genau, musste sie passen: Sie war noch nie dort. 

Sagenhaft. Wovon sie sich wohl ernähren mochte; was dieses Geschöpf unter Schlemmereien verstand?

Der Fotograf weigerte sich indes, lediglich der Zahlung seiner Maiskörner wegen noch einmal hinauf zu fahren — was wiederum mich an meinen Vater erinnerte mit seiner hartnäckigen Weigerung, auf Spaziergängen auf demselben Weg heimzugehen, auf dem man zu einem Ausflugsziel gekommen war. Weshalb wir uns dann mit schöner Regelmässigkeit in den uns wildfremden Wäldern in der Schweiz, in Frankreich und anderswo verirrten. Derzeit und gerade befanden der Fotograf und ich uns zum Beispiel wie schlagartig vor einem Balenciaga-Stand. 

«Alles gut bei Euch?» rief die extrem junge Frau, wohl noch Schülerin, während der Fotograf den Versuch unternahm, einen winzigen Hund aufzunehmen (mit seiner Kamera), der an einer Leine und noch weiter unten von einem mit Strasssteinen besetzten Halsbald gehalten wurde und auf der lavendelfarbenden Auslegeware auf dem Vorplatz des Balenciaga-Standes eine Art Headspin aufführte (ich tippte innerlich auf Verwurmung). Aber die in Wien gebraucht gekaufte Kamera streikte, versagte den Dienst, fuhr ihr Objektiv ein, anstatt das heitere Hundsbild zu bannen. Der Strass auf dem Halsband war zum Schriftzug Moschino angeordnet. Der Fotograf knurrte. Das war Insta-Gold.

Um den Eindruck, wir wären nicht ganz dicht, weitgehendst zu zerstreuen, fing ich eine Fachsimpelei an mit der Einkaufshilfe. Freudig sprudelte diese los, dass just heute die Frühlingskollektion eingetroffen war, die sie nun ganz allein auszupacken und auf Bügel zu hängen beauftragt.

«Belastend», mutmasste ich. Mutmasste vor allem, dass man derzeit noch «belastend» sagt bei solcher Gelegenheit.

Sie aber sagte — «Alles gut.» Und zeigte mir einen der potentiellen Verkaufsschlager aus dem Mastermind von Demna Gvasalia: Ein Pullover, mit extrem langen Ärmeln, der immer enger wird, je häufiger man ihn trägt. Während ich noch wie ungläubig das synthetisch wirkende Gewebe betastete, machte sie rasch ein Foto von sich. Ich wünschte ihr noch «Happy Unboxing». Der Fotograf war inzwischen wieder so weit.

Der Weg ins Freie führt wie bei sehr vielen Kaufhäusern auch im KaDeWe durch die Kosmetikabteilung mit ihren dem Natürlichen an sich in seiner Mannigfaltigkeit nachempfundenen Düften. Inmitten meiner Erläuterung eben dieser meiner Theorien bekam ich im Vorübergehen mit, wie eine der Kaufberaterinnen dort zu ihrer Kollegin sagte: «Ist das nicht der Fabian Hinrichs — der mit der Kamera?» Woraufhin diese wiederum sagte: «Der andere ist jedenfalls dieser Dieter Dittrichson.»

«Diedrichsen heisst der aber, glaube ich. Dietrich Diedrichsen.»

Die andere, schon googelnd: «Wie schreibt man das?»

«Na, so, wie man es spricht!»

Der Wachmann liess den Fotografen anstandslos passieren. Der Mais war offenbar nicht mit einer Diebstahlssicherung versehen worden. Da fragte ich mich, ob es den Tatbestand des Mundraubes überhaupt noch gab. Da der Fotograf in Richtung Flughafen weitermusste, um am Abend rechtzeitig in Nizza einzutreffen, steuerte ich alleine das Café Einstein an, wo es um diese Zeit vor dem ersten Advent die herrlichen Gänsebratwürste gibt. Nicht gerade billig, aber schliesslich war dies meine Abschiedswoche von der Stadt Berlin. Mein Weg führte mich bezeichnenderweise über den urnischen Weihnachtsmarkt auf dem Nollendorfplatz, der sich hier, wo Sterne traditionell mit Stars assoziiert werden, freilich Christmas Avenue nennt. Der Boden war mit elastisch nachfederndem Rindenmull bestreut, die teilweise mannshohen Dekorationsobjekte waren in altrosafarbende Glanzfolie gehüllt worden. Das Niveau der sogenannten Speisen und Getränke war vergleichsweise gehoben. Es gab beispielsweise eine Hirschbratwurst mit beschwipsten Preiselbeeren», die mich potentiell interessiert hätte, aber ich wollte doch weiter zur Gänsewurst. Auf den Lebkuchenherzen, die mir vergleichsweise winzig erscheinen wollten, stand in Zuckerschrift «Sexi». Keinerlei Sicherheitsvorkehrungen im Umkreis des Marktgeschehens übrigens. 

Im Einstein kam ich genau zur rechten Zeit durch die Tür: Es war zehn vor drei am Nachmittag. Die Tageskarte gilt dort nämlich bloss bis um drei. «Alles gut», sagte die Kellnerin, die vermutlich aus Korea stammte. Ich gab meine Bestellung auf und sie rannte. Ich schaute mich um: Und wer sass dort am grossen Fenster zum Garten und redete agitiert auf sein Gegenüber ein? Fabian Hinrichs. Er war es wirklich.

29.11.2019

Vor dem KaDeWe harrte einer in genuflexio duplex aus, einer Geste des Bittens. Vor Jahren schon hatte man ihm beide Hände amputiert. Eventuell also ein Taschendieb im früheren Leben, ist er seitdem zum Betteln verdammt. Sein Gesicht tief zu Boden geneigt, wo die kleine Schale steht. Ich dachte an eine Skulptur, an ein Gemälde von Eliza Douglas, nicht an Lessing, um ehrlich zu sein.

In der Schlemmerabteilung erkannte ich nichts wieder. Ich war dort, auf dieser Etage, von deren Fülle mir schon mein Vater vorgeschwärmt hatte, zuletzt vor siebzehn Jahren gewesen. Ich erinnere die damals üblichen Westberliner Gestalten mit Blauverlaufs-Brillen und gelben Pullundern, die Pilsbiere tranken, und die Frauen behielten drinnen die Hüte auf. In meiner Erinnerung war es dort labyrinthisch und vollgestellt mit Tortentresen und Kochinseln und die Fenster zur Aussenwelt waren mit einer Fototapete vom Novemberhimmel abgeklebt.

Das gibt es jetzt alles nicht mehr (bis auf den Himmel), die Souvenirs an Westberlin wurden, wie es bei Moritz von Uslar heisst: in den Keller geräumt. Die vorherrschende Farbe für Wände und Einbauten in der neuen Schlemmerabteilung ist, global betrachtet wenig überraschend, schwarz, in den Bistrots sind die schwarzen Lampenschirme auf ihrer Innenseite mit Goldbronze beschichtet, in den Schauküchen sind die Wände mit einem Fliesenspiegel aus Subway tiles verkleidet — wie man das halt heute so macht.

Der Fotograf hatte einen wölfischen Hunger mitgebracht (und eine Kamera, die aber nicht zuverlässig funktionierte, weil er sie, in Wien übrigens, «in einem Vintage-Shop» gekauft hatte — wie man jetzt offenbar zum Flohmarkt sagt); Hunger und Ärger hatten eine kleine, aber dräuend wirkende Regenwolke erzeugt, die ihm — wie in einem Comic — anstelle eines Heiligenscheins knapp über dem Kopf stand und ihm magnetisch schwebend nachreiste, wo auch immer er sich hinzubewegen versuchte. Von daher nahmen wir im erstbesten (von den Rolltreppen aus gesehen) Bistrot Platz, der «Schwemme» und bestellten das Wiener Schnitzel, das laut Speisekarte preisgekrönt war und ein Backhendl, das zwar bislang sieglos geblieben war, aber wohl mit Fleisch von Hühnern aus Paderborn zubereitet wurde. Und von Paderborn wusste ich im Gegensatz zum artverwandten Osnabrück bis dahin noch so gut wie gar nichts, ausser dass die dort stockkatholisch sind; ich war auch selbst noch nie in Paderborn, aber der Fotograf stammt von dort.

Nach dem Festmahl (vom Preis her, man hat sich für die Preisgestaltung der «Schwemme» zweifellos vom Erfolgsmodell des «Grill Royal» inspirieren lassen und bietet die einzelnen Beilagen im Baukastensystem an, bei dem alles extra kostet — und wer isst schon sein Schnitzel nackt?), streiften wir durch die weiten Gänge, im Grunde ist es nur ein einziger, der natürlich gegen den Uhrzeigersinn (beim Skifahren kann ich auch bloss Linkskurven) an weiteren Bistrots mit den Themen «Italien», «Frankreich» bzw «Fisch» zur Rechten vorbeiführt, während auf der anderen Seite das hungrige Aug‘ sich vom Angebot in den schwarzen Regalen verführen lassen soll. Dann weitet sich der Gang in eine veritable Landschaft aus Schnewittchensärgen, unter deren gläsernen Hauben sich die Gesamtheit der Meeresbewohner an Stränden aus zertrümmertem Eis sozusagen aalt. Ich habe mir das bis vor kurzem erst extrem gerne angeschaut: die Farben, die Augen vor allem, wie sie alle so still und starr ruhen. Dann aber las ich einen Aufsatz in der Fachzeitschrift für Schmerzforschung «Pain», mit dem die durch Kurt Cobain popularisierte These («It’s okay to eat fish/ Because they don’t have any feelings») als widerlegt gelten muss, weil Fische halt doch ein Schmerzempfinden haben. Das wurde unter anderem dadurch erforscht, dass den Probanden ihr Fluidum schrittweise mit Essig versetzt wurde. Bis sie sich wanden. Wenn Fische also Schmerzenslaute äussern könnten, dann würde es auf der Schlemmerstation des KaDeWe unbotmässig laut. 

Doch würde das dem Anbieten der Träger von Scheren und Flossen auf den Fluren des KaDeWe Einhalt gebieten? W.k. wie mein Vater zu sagen pflegt. Wohl kaum. Russen lieben nun mal Fisch. Das Brötchen mit Lachstremeln kostete 8 Euro. Es schaute sehr appetitlich aus.

28.11.2019

Zum Mittag ins KaDeWe, dort war ich mit dem Fotografen verabredet — vor allem, weil wir uns die umgebaute Schlemmerabteilung anschauen wollten. Vom Bahnhof Zoologischer Garten kommend, führte mich mein Hinweg zwangsläufig über den Weihnachtsmarkt. Auch der Breitscheidplatz war zu diesem Zwecke umgebaut worden. Selbst als harmloser Fussgänger fand ich es schwierig, mir überhaupt einen Zugang zum Marktgeschehen zu bahnen, da dieser Platz jetzt geradezu eingeigelt wird von einem physischen Sicherheitssystem dergestalt, dass auf Anhieb von einer der beiden, den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche wie Gabelströme eines Flusses fassenden Verkehrsadern kommend, kein Durchkommen erwünscht scheint. Der Marktbesucher sieht sich hier zunächst mit einem Wall aus palisadenhaft dicht beieinander aufgepflanzten Christtannen konfrontiert, deren rot lackierte «Töpfe» mit Blei ausgegossen wurden, wie es scheint. Hat man sich dann erst über eine zu beiden Seiten mit leuchtend gelben Warnkeilen markierte Schwelle hinter die Baumfront eingefädelt, fällt ein circa drei Meter breiter Kordon vergleichsweise angenehm auf, denn er besteht aus leer (-gelassen) -em Asphalt; ein graues Band, das naturgemäss bis zu dem in für Westberlin üblicher Höhe gesetzten Randstein aus Granitblöcken reicht, um dort nahtlos an den Asphaltbelag des Trottoirs entlang des Breitscheidplatzes anzuschliessen, das freilich im Zuge der für die Durchführung eines Weihnachtsmarktes seit dem Ereignis vom 19. Dezember 2016 nötig gewordenen Sicherheitsmassnahmen dicht mit den vielerorts üblich gewordenen Betonklötzen verstellt wurde, deren einzig weihnachtliche Qualität darin bestehen dürfte, dass sich Kleinkinder von den auf deren Oberseite aufgegossenen Noppen an die auf ihren Wunschzettel diktierten Legosteine erinnert fühlen werden.

Mit dem Durchschreiten dieser letzten Barrikaden betritt man den Weihnachtsmarkt und steht damit vor den Treppenstufen in jenem Fundament aus Beton, auf dem sich das blockhafte Kirchenschiff von Egon Eiermann, angebaut an den im Krieg ruinierten Turm der Gedächtniskirche, erhebt. In die Treppenstufen wurden die Namen und Nationalitäten der am 19. Dezember 2016 ermordeten Weihnachtsmarktbesucher eingelassen. Auf den Stufen stehen Grablichte, es sind Blumen und Flauschtiere abgelegt. Die Hütten der Marktgastronomie wurden sämtlich vom selben Markthüttenverleiher geliefert, was dem Weihnachtsmarkt selbst eine leblose, an ein Geisterdorf denken lassende, Stimmung beschert. Die leis abgespielten Winter- und Weihnachtslieder machen das nicht besser. Insbesondere nicht tags. Die Entscheidung — ob um die Geschlossenheit des durch die Einheitshütten eingeschlagenen Kurses eines einheitlichen Erscheinungsbildes zu verstärken, ob um das bei erster Besichtigung des Modells als zu einheitlich empfundene Erscheinungsbild aufzulockern, blieb für mich unmöglich zu entscheiden —, die Hüttengastronominnen und -gastronomen in eine Kostümierung nach dem Vorbild desjenigen der Bevölkerung des Sparkassencomicdorfes Knax zu stecken, verfehlte leider die erheiternde Wirkung auf mich. So sie denn von sogenannt Höherer Stelle überhaupt intendiert war und nicht der Ratlosigkeit, einer Schnapsidee oder gar Menschenverachtung entsprungen war, was ich nicht hoffen will.

Aufgrund welcher Überlegungen gleichwelcher Art es den Stand eines «Fröhlichen Friesen» auf diesen Marktplatz der Trostlosigkeiten verschlagen haben mag - man traut sich schon gar nicht mehr nachzudenken. Auch nicht, und diese Frage stellt sich dann trotzdem andauernd, während man den Marktplatz im Spurt nimmt: was denn dies alles mit Weihnachten zu tun haben soll. Die nun in einem anderen Sinne als rettend empfundene Demarkationslinie aus Monsterlego und Bleibäumen hinter sich lassend, bleibt natürlich auch nicht aus, den Kordon mit dem unseligen Todesstreifen hinter dem «Antifaschistischen Schutzwall» assoziieren zu müssen.

Im weihnachtlich dekorierten Schaufenster des Spielwarengeschäfts neben dem KaDeWe wird der «Imperiale Sternenzerstörer» von Lego ausgestellt. Er ist circa anderthalb Meter lang und besteht aus tausenden betonfarbenden Plastikklötzchen. Die von den Gewerkschaften empfohlene Bauzeit beträgt 36,5 Stunden. Kostenpunkt: 699,— Euro. Wir sind im Westen angelangt.

26.11.2019

Gestern abend tagte der Presseclub, den es in Frankfurt tatsächlich gibt (finanziert durch Mitgliederbeiträge und Spenden von Banken und Industrie) in einem Dachgeschoss im Westend. Wir waren direkt von der Eröffnung des Weihnachtsmarktes auf dem Römer dorthin spaziert, nachdem der Oberbürgermeister Feldmann seine Rede gehalten hatte, die mitreissend gewesen war; so ist jetzt halt die Zeit, dass auch vor dem Anschalten der Weihnachtsbaumlichter eine Rede gehalten wird, beschlossen mit dem Aufruf zum Zusammenhalt des Bürgertums und zur Solidarität gegen Rechts.

Im Presseclub unterhielten sich Günther Nonnenmacher und Peter Hoeres, ein Historiker, der das sehr dicke und immens interessante (ich bin allerdings erst auf der Hälfte, aber wird schon schiefgehen) Buch «Zeitung für Deutschland», die Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasst hat. Herr Nonnenmacher (unter anderem ging es auch darum, seit wann Angela Merkel in der Zeitung nicht mehr Frau Merkel genannt wird, sondern Merkel) findet das Buch nur halb gelungen, was seiner Ansicht nach aber nicht unbedingt an Herrn Hoeres liegt, sondern an der im Verlauf der Geschichte dieser Zeitung schwieriger sich darlegenden Quellenlage. Hoeres hingegen bemängelte das Verschwinden rechter Feuilletonisten im Geiste Friedrich Sieburgs («Gang zwischen Meistern»). Nonnenmacher konfrontierte ihn, erwähnte Simon Strauss und fragte nach Hoeres Definition des Konservativen. Hoeres wich aus und nennt als Beispiel Lorenz Jäger. Nonnenmacher: Lorenz Jäger hat das Feuilleton nicht geprägt. Wohingegen ihm Patrick Bahners unter anderem deshalb im Gedächtnis geblieben ist, weil er einst in einer Randspalte forderte, Prince Charles künftig als Fürst Karl anzusprechen, da der deutsche Fürstentitel die genauestmögliche Entsprechung des englischen Prince ist. Ebenfalls gelobt wurde, für mich überraschend, Dietmar Dath, der, so Nonnenmacher, wie auch Bahners einen Sound sein eigen nennen kann. Zwei Sätze eines Textes von Bahners oder von Dath und man wüsste, wer schreibt.

Kurzum, ein herrlicher Abend für Nerds. Stelle es mir aber auch ebenso herrlich vor für Hereingeschneite, die dann kaum ein Wort verstanden haben werden. So meldete sich eine Frau mit gelöstem Haar, die mir zuvor schon auf dem Weihnachtsmarkt spanisch vorgekommen war und setzte an zu einem Impulsreferat über Karl den Grossen. Da regte sich bald der Unmut des übrigen Publikums, aber Werner d’Inka, in Personalunion Herausgeber dieser Zeitung und Vorsitzender jenes Presseclubs hob seine rechte Hand, woraufhin die Murmelnden, seines Handzeichen ansichtig geworden, umgehend verstummten. Und einträchtig wurde dem wirren Sound der Feuchthaarigen gelauscht.

25.11.2019

Kaum noch vier Wochen (Kette der Köstlichkeiten): Samstag abend mit Friederike und Jan in der Bar (Maxie Eisen), wo man mir einen Drink mit Namen «Fruchtig» — der andere nannte sich «Herb» (wie in «Whipped Cream & Other Delights») — reichte, der nach Erdbeersaft mit Limettenspritzern schmeckte. Insgeheim dachte ich beim Schlürfen an den heimischen Kühlschrank, in dem eine Schatulle aus transparentem Kunststoff, wahrscheinlich war es sogar Plexiglas, meiner harrte.

Doch sollte das, dies Warten meinerseits, das Harren der Schatulle, noch bis zum Morgengrauen dauern sollen, bis mir dann endlich einer der darin aufbewahrten Tannenschäume als frühe Mundung aufgetragen ward. Kühl und zart: Die unter der handfest klingenden Handelsmarke Dickmann’s unters Volk gebrachte Saisonköstlichkeit ist nicht bloss von ihrer ansprechenden Verpackung her ein Hochgenuss, die in den Formen zierlicher Tannenbäumle gestalteten Schokoladenküssle sind derart delikat geraten, dass ich es schon kommen sehe, dass ich in meiner saisonalen Inkarnation als Christkind mir diesen Ortolan unter den Weihnachtssüssigkeiten tagtäglich einverleiben werde. Ohne leider.

Zart schäumend, der Schaum dabei noch nach dem schwäbischen Motto «Speck auf die Würste» mit dem Aroma von Vanillekipferl aromatisiert, die hauchdünne, wie gesagt bäumlesförmige Schokoladenglasur mit roten, weissen und grünen Nonpareilles besteckt: Meine alte Leidenschaft zu Dominosteinen und Schokoladenkränzen kam mir mit einem Mal vorsintflutlich vor. Oder wie es Mike Meiré einst ganz ähnlich über das Innovationspotential bei der Sanitärtechnik festgestellt hatte: Auf dem Markt für weihnachtliche Süssigkeiten tut sich etwas.

Um auch meinem nostalgischen Bedürfnis genüge zu tun, las ich, während ich mir die Tannenschäume aus der Zukunft munden liess, den grossen Dominostein-Test in der Zeitung, der unter der Ägide von Thomas Platt durchgeführt ward (Verkostungsnotizen von Guido Fuhrmann). Interessante Hinweise auf zwei Berliner Konditoreien, die ich noch nicht kannte. Unter anderem auf den Leibkonditor des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck.

Am Nachmittag dann erste Schöpfung aus unserem Rumtöpfle: Mein lieber Schwan!

23.11.2019

Kunst inspiriert Technologie/ Technologie vollendet Kunst: Mit diesem Slogan bewirbt Saturn einen Kühlschrank aus Korea. Das Gerät wird mit einer silbrig getönten Fotografie abgebildet, der zweitürige Kasten steht fernab aller Küchen in einem archaisch wirkenden Raum, einem sacht bergan sich windenden Säulengang. Der Blick durch die Säulen zeigt keine Landschaft, nicht einmal andeutungsweise. Das schattige Aussen könnte also einen weiteren, noch weitflächigeren Raum bedeuten, einen Tempel, der das säulige Spiralgehäuse wie ein Inneres Heiligtum umschliesst — und darin beschlossen dann freilich der Kühlschrank. Silbrig schimmernd. Klimafreundlich kühlend. Mit InstaView(TM) Door-in-Door(R)-Technologie.

In der Strassenbahn singt ein Afrikaner mit Kopfstimme leis vor sich hin. Auf seiner schwarzen Wollmütze steht Alternative Future.

Vor einem Friseursalon in der Münchener Strasse steht ein bulliger Typ und telefoniert, während er seine Gesichtsmaske einwirken lässt. Mit Extrakten von Tiefseealgen, sein Gesicht sieht aus wie mit olivgrüner Zahnpasta angeschmiert; wie aus dem Horrorfilm, den wir gestern spät noch zuende geschaut.

Heute früh herrliches Morgenrot. Den Tag über blieb es hell und lind. Sonnenuntergang auch nicht zu vergessen. Rings um das Dachgeschoss des Marriott hatte sich minutenlang eine himbeerzarte Korona gebildet. Wie von der knallend roten Leuchtschrift verströmt.

22.11.2019

Ich bin gern unter fahrendem Volk — Musiker, Theater, Filmer: wandernde Künstlergruppen sind mir die angenehmste Gesellschaft. Man fügt sich auf Zeit. Und erfährt vor allem so viel, was aus allen Himmelsrichtungen hergeholt an einen herangetragen wird. Andreas Koch meinte neulich erst wieder, ich sei ein Nomade. Er selbst wiederum so verwurzelt und sesshaft, wie ich es mir von meiner Natur aus nicht vorstellen könnte. Woher er das nimmt? Er hat mein jehnisches Wesen erkannt. Jedenfalls erzählte mir die Maskenbildnerin, die ansonsten nicht in Weilmünster, sondern in München arbeitet, dass die Moderatoren meiner Lieblingssendung «Wetter vor acht» nach Neujahr die Sendung in Frankfurt aufzeichnen werden, weil die Aegide dann beim Hessischen Rundfunk steht. Das betrifft natürlich vor allem Claudia Kleinert. Vielleicht entdecke ich sie dann samstags auf dem Erzeugermarkt, wie neulich schon den Tatortkommissar? Auch interessant: Die HD-Technologie stellt die Maskenbildner vor die Herausforderung, die Oberfläche der Moderatorengesichter vor dem überscharfen Kamerauge in Schutz zu nehmen. Es gibt wohl sogar Puder und Abdeckpaste, die als speziell für HD-Optik vermarktet wird, aber die bringt es dann auch nicht. Gut ist HD, laut Expertise der fahrenden Filmer, für Tierdokumentationen und Landschaft. Für die Zurschaustellung des menschlichen Schönheitsideals definitiv nicht. (Und was ein Hirschkäfer von seinem Image in HD hält, bleibt sein Geheimnis.)

Jetzt ist die städtische Natur hier auf dem Höhepunkt der herbstlichen Idylle. Gestern nachmittag in der Taunusanlage waren die Flächen quittengelb vom Laub der Ginko-Bäume bedeckt. Und aus dem Vlies ragten die Eiben schweigend und dunkel, spiegelnd die Türme ringsum. Zum Idyllischen trägt freilich noch bei, dass in diesem Park sämtliche Passanten in dunkelblaue Anzüge gekleidet sind — wie sie alle so einherschreiten im Herbstlicht; über güldenem Grund.

In der Abendschau zeigten sie einen Bericht von den Weihnachtsmarktvorbereitungen zu Rottweil: Der parteilose Bürgermeister hat mehrere jeweils anderthalb Tonnen schwere Betonskulpturen eines Rottweilerrüden giessen lassen, die als Terrorblocker in der Einfahrtszone des Marktplatzes aufgestellt werden.

Aber selbst als alle noch Ritter waren, kam halt einer, der den Dosenöffner erfunden hatte.

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