»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

8.2.2020

Abends in der «Volksbühne» — das Frankfurter Theaterhaus erwies sich von seinem Charakter her als gar nicht so sehr verschieden von seinem Namensvetter in Ostberlin. Die Alterstruktur des Publikums allerdings deutlich in die Siebziger verrutscht. Auf der Bühne wurde ein Gedicht von Adolf Stoltze rezitiert, in dem ein innerstädtisches Ufer als «vom Teiche bespült» beschrieben wurde. Ich bestellte mir die zweibändige Ausgabe seiner Gedichte in Frankfurter Mundart noch im Theatersessel sitzend (hatte einwandfreien Empfang). Als oben vorne der Stadtkämmerer Uwe Becker zitiert wurde, dachte ich freilich an «Allegro Pastell». Der Text hat mich anscheinend doch tiefer beeindruckt, als ich mir das nach den ersten Seiten noch vorstellen mochte. Vorhin, als ich auf dem breiten Weg durch das Europaviertel ging — derzeit meine zweitliebste Spazierwegskulisse nach dem Westend, weil ich dort schöne Godard-Gedanken bekomme — kamen einzelne Männer in warnfarbener Sportkleidung schon im Joggingschritt trabend aus ihren Hauseingangsbereichen. Waren mir bislang nie aufgefallen. Jetzt schon.

In der Zeitung wird ein grosser Sturm für morgen angekündigt, der angeblich sogar noch am Montag stürmen wird. Man soll auf Bahnfahrten verzichten. Jetzt, wo ich es weiss, fällt mir natürlich das eigenartige, milchig-gelbe Tageslicht auf. Dazu die Ruhe. Der kleine braune Hase, der in dem Gebüsch an der Warschauer Straße lebt, rannte ganz entgegen seiner Gewohnheiten wie ich sie kenne, quer über den Rasen und direkt auf mich zu.

Die Tiere sind unruhig.

6.2.2020

Mit den kahlen Eichenwäldern auf dem Kamm und den öligen Wiesen habe ich mein Weilmünster nicht wiedererkannt. Auf dem Hügel neben dem alten Parkplatz saß eine schwarze Katze, und wie ich die fotografieren wollte, zwängte sich aus der Hecke eine weisse dazu, ins Bild gewissermaßen, wobei den Tieren der von mir gedachte Motivrahmen nicht bewusst gewesen sein dürfte. Auch nicht, was eine Begegnung von weisser Katze und schwarzer Katze zu bedeuten hat. Um mir selbst die Bedeutungslosigkeit dieser Zufälligkeit einreden zu können, müsste ich einiges aufwenden. Viel leichter fällt mir, die Zeichenhaftigkeit anzunehmen.

«Ja, genau!», wie Jan Assmann das gestern im Gespräch mit Jürgen Kaube immer wieder gesagt hatte, als Antwort; auch einmal «Sehr schön!»; heiter gestimmt nach seinem kurzen Vortrag über die sechs Wurzeln Europas im Orient (in der sogenannten Romanfabrik). Das Signierenlassen von Büchern ist doch im Grunde sehr merkwürdig. Auch vom Wesen des Grundes her, oder stelle ich mich komisch an?

Auf dem Hohen Feldberg lag Schnee. Heimkehr im genau richtigen (goldenen?) Augenblick, als die Sonne als kupferrote Scheibe auf dem Erdboden stand. Die Dampfsäule aus einem Industrieschornstein: zuckrig eingefärbt, als schlürfe sie dünnes Rosa aus dem Schlot. Und inmitten der Stadt, wie es schien: Hohe Häuser, um die sich alles andere dreht.

5.2.2020

Mittlerweile funktioniert die Sprachsteuerung meines Telefons (Pixel) einwandfrei. Heute früh, ich kochte mir zwei Eier und befahl dem Telefon, einen Timer «für fünfeinhalb Minuten» zu stellen, dachte ich, dass es doch nicht die möglicherweise dem Märchen von den Heinzelmännchen abgelauschte Klammheimlichkeit des Systems ist, mit dem es sich beständig noch verbessert, ohne seine Kunden auf die Verbesserungen groß noch hinzuweisen, die mich stört; mich stört, dass ich mich nach einer auf meinen gesprochenen Befehl hin ausgeführten Aufgabe nicht bei Google bedanken kann. Das scheint nicht vorgesehen. Führte ja auch zu nichts. Doch meine Dankbarkeit sucht ihren Adressaten. 

Am Nachmittag, auf dem Weg ins Café Laumer, es war 16 Uhr 38, blieb ich auf der Ulmenstraße stehen und zückte mein Feldbuch. Dort oben sang unverkennbar der erste Amselhahn in diesem Jahr. Noch tastend zwischen den Triolen. Kurze Schwanzfedern: Brut aus dem vergangenen Jahr. Ausgerechnet auf der Turmspitze des Frankfurter Presseclubs.

Nach Sonnenuntergang dann dieses herrlich samtige Nachtblau, das sich nicht fotografieren lässt. Morgen geht es wieder zu den guten Leuten von Weilmünster. Ich freue mich schon.

4.2.2020

Übrig blieb am Ende ein Exemplar von Die Ordnung der Dinge, dem einzigen Buch, das, unseren Planungen trotzend, doppelt vorhanden geblieben war. Ausgerechnet, oder wie es bei Kempowski heisst: «Argh, dieser Hohn!»

Gestern dann Termin auf dem Allgemeinen Bürgeramt zur Anmeldung. Im Warteraum, der, einem Gate am Flughafen vergleichbar, in luftigen Reihen bestuhlt war, schauten alle auf einen Flachbildschirm an der fensterlosen Wand, der ein Willkommensvideo zeigte. Wie bei der Ankunft in einem fremden Land. Winzige Menschen bewegten sich in Zeitlupe am Mainufer entlang, dabei ein Licht, als ob ewiger Frühling angebrochen war. Wie man das heute in Filmen mit Großstadtsujet so darstellt, wuchsen auch ihnen hin und wieder feine weisse Linien aus den Händen und Köpfen, an deren Enden die Portraits ihrer Gesprächs-, oder Chatpartner in Vignetten emporgestiegen waren wie mit Helium gefüllte Ballons. Keiner ist jetzt mehr für sich und allein, alle stehen und gehen allzeit, wie unaufhörlich Verliebte, im stillen Zwiegesprächen mit ihren anderen umher.

Der junge Beamte trug Ehering und stammte ursprünglich ebenfalls aus Baden-Württemberg. Während er meine Fingerabdrücke ins System einspeicherte, unterhielten wir uns über meinen Geburtsort Bietigheim, der inzwischen durch den Musiker Rin zu einem popkulturell relevanten Ort der deutschen Ideengeschichte geworden ist. Allerdings, so der Beamte, war das Bietigheim am Neckar meiner Geburt schon 1975 durch die Eingemeindung der benachbarten Kleinstadt Bissingen zu Bietigheim-Bissingen umbenannt worden. Eine Bietigheimification, deren Process er mit einer dreizeiligen Formulierung auf meinem neuen Personalausweis abzubilden gedachte: «Geburtsort: Bietigheim-Bissingen, vormals Bietigheim».

Right on. Die Willkommensfibel mit dem Grußwort des Oberbürgermeisters Peter Feldmann heisst Ei Gude!

2.2.2020

Ich hatte vergessen, wieviel Spass es mir macht, ein Auto zu fahren. Morgens einsteigen, Radfahrer kamen aus allen Richtungen, die Frankfurter Adresse in das Navigationssystem eingeben und dann 500 Kilometer geradeaus. Nachmittags war ich dort. Kurioserweise weniger geschafft als nach einer der Bahnfahrten, von denen in den vergangenen drei oder vier Jahren ausreichend viele stattgefunden hatten.

Abends dann Friederike aufs Land chauffiert, in ein kleines Dorf mit Fachwerkhäusern im Ortskern und darin lauter Bankfilialen und Supermärkte in den Erdgeschossen, sogar Thai-Massagestudios und alles — Oberursel, ganz malerisch. Angeblich eine der wohlhabendsten Gemeinden im Umland, der Reichtum war aber unaufdringlich, im Ortskern zumindest war davon ausser einer Rolls-Royce-Niederlassung nichts zu sehen. Abendbrot dort in der Gaststätte einer Brauerei, wo sie knusprige Haxen hatten und «Kloß mit Soß».

Wenn man aus der schwarzen Nacht im Westen kommend, in die Frankfurter Innenstadt einfährt — ohne Musik — gibt es keine schönere, keine prächtiger beleuchtete, funkelnde und spiegelnde Stadt im Land.

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