»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

6.3.2020

In Zürich führt die Beethovenstraße zum Wasser hin. Im Hintergrund die Berge, schneebedeckt. Es regnete den ganzen Tag über. Schweizer Männer tragen lieber Mütze als Schirm. Ansonsten hat sich kaum etwas verändert. Bei Trois Pommes Hommes hängt jetzt halt Amiri statt Balenciaga. Für Deutsche unerschwinglich, aber natürlich to die for (Pop Smoke just did). Ich hatte eine andere Stimmung erwartet. Stattdessen waren die Schweizer heiter gelaunt. Obwohl im Tages Anzeiger eine Grafik abgebildet war: Die Schweiz in den Top Ten der Länder, die am härtesten vom Virus getroffen sind; auf Platz sieben, gleich nach Hong Kong (Deutschland unter ferner liefen).

Oder kam die heitere Stimmung trotz des Regens eben daher, weil die Lage bedrohlich war, aber man hatte sie im Griff. Es gibt ja auch in der Schweiz Stimmen, die ich über den sogenannten Nanny-Staat beklagen. Aber es hat dann auch wieder Vorteile, wenn man als Bürger weitgehend sorglos lebt und sich Sorgen nur über Privatangelegenheiten machen muss.

In der NZZ war eine kleine Verlautbarung des Leiters für übertragbare Krankheiten im Bundesamt für Gesundheit, Daniel Koch: «Schulschliessungen sind in der Schweiz derzeit nicht geplant. Man will verhindern, dass es auf breiter Linie zu Kontakten zwischen Kindern und hütenden Grosseltern kommt.»

Hütende Großeltern. So leben die anderen.

5.3.2020

Im ICE 5 nach Basel: Bald schon ist Freiburg erreicht. Die Landschaft hat schon diese Hügel mit den breiten Rücken — auf jedem ein Landsitz, so müsste es sein.

Ging gestern, aus einer Laune heraus, ins Museum. Seitdem ich den Jahrespass für alle Häuser besitze, gehe ich auch mal im Vorübergehen hinein. Es dauerte dann eine Weile, bis mir aufgegangen war, was genau dort nicht stimmte; irgendetwas, sagte mir mein Gefühl. Tatsächlich war ich ausschließlich von Frauen umgeben. In der Ausstellung werden unter dem Titel «Fantastic Women» ausschliesslich Kunstwerke weiblicher Künstler gezeigt. Offenbar fühlte sich von diesem Konzept zu dieser Stunde ein ausschliesslich weibliches Publikum angezogen. Die Frauen waren auch alle ungefähr im gleichen Alter. Und stammten, obwohl sie sich in verschiedenen Sprachen unterhielten, aus der gleichen Schicht. Deutsche Töne waren keine zu hören, es muß sich also auf diese Weise zugetragen haben, dass diese Bildungstouristinnen in Bussen aus ihren Heimatorten nach Frankfurt gebracht worden waren, um dort diese für sie interessante Ausstellung zu besuchen.

Auf den Eintrittskarten steht in Großbuchstaben Fan Ticket. Weibliche Kunst als ein Phänomen extremer Zuneigung — zur Kunst, zu den Frauen? Zu beidem, zur Verbindung aus beidem. Zum Phänomen. Die Ausstellung selbst, wie schon bei der über Naturkunst, als eine auf extreme Weise voraussetzungsfrei zugänglich gemachte Wunderkammer angelegt. Mit Betonung auf Kammer. Die Korridore derart schluchtenhaft und eng, dass es oft unmöglich ist, Abstand einzunehmen zu den Bildern. Was beispielsweise bei den Zeichnungen von Unica Zürn schade ist, denn man kann halt einfach nichts erkennen. Bei Louise Bourgeois hingegen, der ein bisschen mehr Raum gegönnt wurde, wohl weil sie nicht bloß sogenannte Flachware abgeliefert hat, stolperten die Foulard-Frauen um mich herum: Monitor vor den Augen, Audioguide im Ohr. Auf Spanisch hört sich selbst die Bitte um Pardon an wie der Name einer Wurst.

Entwich dann wegen eines akuten Schubs meiner Klaustrophobie in den benachbarten Saal, wo die heiteren Skulpturen von Richard Jackson arrangiert waren. Penisnasen, spritzende Enten, im Kreissaal, das heimliche Au Pair: Ob das jemals wiederkommen kann? Wahrscheinlich gibt es eine Bildhauerei, die komplett von Jeff Koons absorbiert, geläutert und erledigt wurde. Zwei Frankfurterinnen machten Portraits voneinander vor den mit Lack verklebten Laken.

Auf dem Heimweg kam ich am Zollamt vorbei, einer Aussenstelle des Museum für Moderne Kunst, wo derzeit eine neue Ausstellung namens «Earthseed» aufgebaut wird. Ein holländischer Fuhrunternehmer ludt palettenweise junge Pflanzen ab. Fallopia aubertii ist ein schnell rankender Knöterich — in seinem Fall darf vom Wuchern gesprochen werden. Nom de guerre «Architektentrost». Im Vorraum der Ausstellungsfläche waren die Rohlinge der Skulpturen aufgestellt, die von der Pflanze überwuchert werden. Ausstellungseröffnung ist in drei Wochen. Für den Architektentrost kein Problem. Blühen (weiß) kann er auch.

3.3.2020

Am Ende ist der Text für den Schreiber zu einem Bild geworden. Nicht geronnen, auch sonstwie nichts auf natürliche Art, sondern künstlich, auf absolut unnatürliche Weise: Das war Arbeit. Alles gemacht. Vollendet, fertig, fixiert. Autoren, die gerne aus ihren Texten vorlesen, sind mir suspekt. Goetz: «Ich hatte gedacht, man schlägt 1989 auf und sieht sofort, dass das ein Text zum Anschauen ist, nicht zum Lesen, kriegt allein davon schon auf der Stelle gute Laune.»

Gespräch heute, am Morgen über den Zustand der Gnade; beziehungsweise natürlich über den Zustand jenseits dieses Zustands, der ja leider, obschon weitaus häufiger, nicht als Normalzustand gelesen werden will. So wie Friederike darüber geschrieben hatte, kenne ich es, aber nicht nur ich. Neulich erst ging es mit Oskar darum: Das Schreiben verstockt zusehends, wenn man es einmal bloß aussetzen lässt (wozu es einen zu verleiten scheint). Was Handke mit seiner Schwelle meint, Nick Cave mit der Muse: Es wird heikel bleiben, unvorhersehbar, aber allzeit willkommen wie Sonnenschein — gerne auch nachts.

Roman Flügel spricht mir aus dem Herzen: «Es gibt Tage und Wochen und vielleicht sogar noch mehr, wo man nicht in Form ist. Das Problem würde anfangen, wenn man einfach aufgibt und aufhört. Für mich war dann immer das wichtigste, so eine Grenze zu überschreiten; eine Unzufriedenheit auch auszuhalten. Aber eben nicht aufzuhören. Letztendlich ist es ja das Schönste was es gibt für mich. Es wäre Wahnsinn, wenn ich das aufs Spiel setzen würde.»

Die Abendwolken geballt wie Kontinente. Meine Körpertemperatur, Messung vor der Blutspende im Saal Matterhorn: 36,6 Grad.

2.3.2020

Kolonialisierung durch Bilder: Samin Nosrat berichtet auf Newyorker.com von ihrem Ausflug nach Oaxaca. Sie hatte sich, aufgrund von Erzählungen, das mexikanische Städtchen ganz anders vorgestellt. Allerdings scheint es sich innerhalb weniger Jahre verändert zu haben. Es dominiert dort wohl ein Typ von Bodega und Café, für dessen Einrichtungsstil der Begriff vom Airspace geprägt wurde. Alles sieht gleich aus, also gleich gut. Ideal nicht nur als Kulisse für Fotos, sondern auch jenseits des Suchers als Riesenkulisse für die Einwohner des Airspace, die es gewohnt sind, das alles in ihrem Leben instagramable sein soll. Früher sagte man pittoresk.

Reich der Bilder: Frau Nosrat hat in den Webereien vor allem noch Teppiche in Farbstellungen gefunden, wie sie sie schon aus Wohnungen auf Instagram kannte. «My best friend was with me—he’s an art historian, and a lot of his work has to do with colonialism and Mexico. He said that, when he’d been to Oaxaca last, five years earlier, this neutral palette hadn’t existed at all.» Vor acht Jahren war ich zuletzt in Oaxaca. Schon da fand ich alles geradezu quälend fotogen. Insbesondere den Sonnenaufgang und die Wandfarben. Das Marktgeschehen und die Murales, neue, cartoonhafte und die ganz alten, abblätternd zum Teil. Die Bevölkerung des Städtchen selbst aber nicht aufgeschlossen, sondern schön hinterwäldlerisch, wie ich es gerne habe. Der Kaktuswald am Berghang, an dem wir im Bus vorbeirasten waren, so schnell, dass ich von weitem erst dachte, das wäre ein Wald aus ultraschlanken Bäumen — aber dann: Na klar, Kakteen. Mexiko. Damals selbst noch auf Instagram gewesen. Kann mich nicht erinnern, was ich aus Oaxaca gepostet habe.

Auch ein QR-Code wird von der Kamera als Bildmaterial erfasst. Auf den Bananen ein Aufkleber mit Code und der Zeile Verfolge die Banane. Das Foto führt auf die Seite «Ein Herz für den Regenwald». Hier kommt dein Produkt her. Der Bananenbauer heisst Daniela Antonella. Seine Bananenplantage bewirtschaftet er in Equador. Auf der Plantage arbeiten 70 Menschen, davon sind 20 weiblichen Geschlechts.

Und immer so weiter. Bishin zum Größenvergleich des Bananenackers mit Fußballfeldern. Will ich einerseits dann schon, andererseits natürlich überhaupt gar nicht wissen. Aber wenn es mir schon hingehalten wird, sauge ich das Zahlenwerk freilich ein.

Der Luftdruck auf einem historischen Tiefpunkt (995 Hektopascal). Die Sonne scheint.

1.3.2020

Abends im Mousonturm, Theater, «Familie» von Milo Rau. Rekonstruiert wurde der letzte Abend einer belgischen Familie mit zwei Töchtern, die sich entschlossen haben, gemeinsam mit ihren Eltern in den Tod zu gehen. Vielleicht war es auch umgekehrt. Man erfährt davon nichts durch das Stück. Wie ich es mir allerdings vorgestellt hatte. Das es darin um die Psychologie geht; zumindest aber um das Gespräch, in dem die vier Mitglieder einer Familie, zwei sogenannte Erziehungsberechtigte darunter, zu diesem Schluss kommen, dass man sich en famille daheim aufhängen sollte. So blieb es für mich Theater für Leute, die nicht gern ins Theater gehen. Niemand schreit, nichts wird improvisiert und der Tomatensaucentopf wird keinem aufgesetzt, sondern bleibt da wo er hingehört, auf dem rekonstruierten Küchentisch in einem Bert-Neumann-Bungalow. Ringsum Vogelstimmen aus der Konserve, aber zwei lebende Hunde spielen mit (sich selbst) und wedeln mit den Schwänzchen, wenn die Tomatensauce in den rekonstruierten Mülleimer gescharrt wird beim grossen Aufräumen vor dem kollektiven Suizid.

In der für mich besten Szene ging es um die Formulierung eines Satzes für den Abschiedsbrief, wieder um Coda. Die Mutter erzählt ihren Töchtern dabei eine Anekdote von Flaubert.

Erzählen ist rekonstruieren. Schreiben setzt eine Mobilisierung voraus. Aus dem Stillstand ins Schwingen kommen. Am äussersten Ende der Schwingung ensteht die Schreibbewegung — bildlich an den Fingerpitzen, selbst wenn man tippt. Der Platz an dem man schreibt, trägt meines Wissens nach wesentlich dazu bei, dass diese Schwingung möglich wird. Der Platz an dem ich momanten schreibe, produktiv bin — zumindest war das gestern noch so, ist ein Tisch vor dem Supermarkt am Tel-Aviv-Platz, mit dem Rücken zum Schaufenster des Bäckereicafés und meinem Ausblick in die Europa-Allee hinein, an deren Ende wie ein Puffer quer das Plaza liegt mt seiner sich sanft windenden Fassade, auf deren bunten Lamellen in weissen, mannshohen Buchstaben einer serifenlosen Schrift das Wort Skyline geschrieben steht. Dahinter Maintower, Commerzbank, DG et cetera. Erinnerung an meinen Platz im Hotel Castell mit Blick auf die Steilwand, ans Engadin.

Das Europaviertel im übrigen kein Ort, an dem die Geschichte von «Allegro Pastell» spielen könnte, aber geschrieben worden sein, eventuell. Randt erzählt seinen Schäferroman in den Provinzen von Neukölln und Maintal. Aber ich konnte ihn vor mir sehen, wie er seinen Text in einem der mittelhohen Häuser entlang der Allee mit Conciergeservice und Fernblick schreibt.

Lieblingsstraße: Beethovenstraße, da besonders das Haus Nummer 47 mit der gläsernen Vitrine aus dem Eingangsbereich herausgebaut, in der ein mit Kieseln bedecktes Beet einen Bogenhanf beherbergt. Einen Bogenhanf! Und was noch?

Lieblingsplatz: Beethovenplatz natürlich. Mit seiner Kirche. Klein und niedrig, beinahe geduckt, die aber leider nicht Beethovenkirche heisst. Und in der Schumannstraße knospt eine Magnolie.

Der Letzte Satz bei Milo Rau übrigens «Wir haben es vermasselt, Sorry.» (Die Übersetzung war leider nie wirklich gut). Im Rest des Abschiedsbriefes ging es angeblich um Versorgung und Pflege der Hunde.

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