»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

11.6.2020

Im nächsten Kapitel behandelt Gopnik die frühe Kindheit Warhols, auch dessen Geburt. Er verfügt über einen gigantischen Zettelkasten und kann beiläufig das Große im Kleinen angelegt zeigen. Wenn Husserl tatsächlich Recht behalten sollte, kommen mir 1000 Seiten für die Rekonstruktion Andy Warhols nicht übertrieben vor. Meine Detailverliebtheit kennt, davon angesteckt, auch im Jenseits der Biografie keine Grenzen mehr. Aus dem Eintrag zu Blake Gopnik in der Wikipedia erfahre ich, dass er tatsächlich aufgewachsen durfte im Meisterwerk brutalistischer Baukunst «Area 67», das mich jetzt freilich an eine Trutzburg aus lauter Zettelkästen erinnert. Wie bei den Royal Tennenbaums sind sämtliche seiner Geschwister sind auch Wissenschaftler geworden. Das wird alles einen wesentlichen Einfluss gehabt haben auf sein Denken, wie die Gallenblasenentfernung von Warhols Vater auf dessen Sohn, der am Ende an einem Problem mit der Gallenblase starb, seine heute selten gewordene Krankheit im Kindbett, der Veitstanz, der den jungen Andy aussonderte aus der Gemeinschaft der Knaben, oder die Suppe aus Wasser und Ketchup (mit Pfeffer und Salz), die es in Warhols Kindheit in Pittsburg gab — und eben keine Tomatensuppe aus der Dose wie sonst überall. Im dritten Kapitel, die er wie Jean Paul mit einer Kette von Teasern überschreibt, soll es um den Weg des jungen Warhols in die Seltsamkeit gehen; der Themenkreis Homosexualität wurde schon hinreichend gesät. Jetzt kann es zur Sache gehen.

Ansonsten läuft hier das herrliche Lied von Hanna Herbst. Warum eigentlich «rauf und runter»? Das habe ich schon zu Schallplattenzeiten nicht verstanden. Gestern Nacht hat draußen vor dem Fenster jemand Akkordeon gespielt.

10.6.2020

Ausführlich ist gar kein Ausdruck, wie es in meiner Heimatsprache heißen täte. Der Biograf lässt das Leben Warhols aus der Mitte beginnen, als Wiederauferstehung, nachdem er von Valerie Solanas niedergeschossen ward. Die Einlieferung des klinisch Toten (ein Rettungswagen traf viel zu spät erst am Union Square ein, schon damals Krise im Gesundheitssystem, Manhattan die Gehäutete) wird zur Rekonstruktion einer Obduktion an deren Ende der Patient wieder lebt, weil der zufällig in der Klinik Dienst habende Operateur zuvor in einer Klinik in Harlem hospitiert hatte und sich von daher auskennt mit Schussverletzungen «Residents sliced into the veins in Warhol’s elbows, pushing in tubes for fluids and blood; they left scars that could have passed for stigmata in the arms of this lifelong churchgoer. Without wasting time on the usual five-minute hand wash, …» Insbesondere letzteres kitzelt mich als Zeitgenossen des Biografen noch mehr vermutlich als einen zu Zeiten des Lebens und Sterbens von Andy Warhol. Mein innerer Lou Reed singt «Is Warhol really dead?» Die Frage blinkt tatsächlich «berechtigt», derart detailgenau wird im Folgenden die lebensrettende Operation beschrieben, wohl seitenlang*. Auch Schussverletzungen an sich, man sieht ja in Filmen und auf Fotos immer nur rote Punkte, das lernt man bei Gopnik: richten im Körperinneren auf unsichtbaren Wegen Verheerendes an. Mit einem Loch, einem türspionhaften Kanal zum Durchschauen bescheidet sich die sogenannte Kugel nicht. Der invasive Ansatz für eine Biografie wäre wahrscheinlich noch vor 30 Jahren als Geschmacklosigkeit empfunden worden. Im Grunde sehr wahrscheinlich auch noch vor 14. And now let`s party untill the break of dawn.

* Keine Ahnung wieviele in der konventionellen Auffassung von einer Seite — Ich lese das E-Book; knappe 1000 Seiten lassen sich im Bett nicht mehr angenehm handhaben. Keine der zur Textdarstellung zur Verfügung gestellten Schriften gefällt mir wirklich, ich habe einen Font namens Athelas ausgewählt als Ersatz für die fehlende Sabon, der Name stammt von einem fiktiven Kraut bei Tolkien «Angewandt wird Athelas immer als Aufguss mit dampfend heißem Wasser, in das die Blätter hineingeworfen werden. Ein bis zwei Blätter reichen meist aus. Wenn mit dem Aufguss eine Wunde ausgewaschen wird, wirkt er schmerzlindernd. Vom Kontakt mit einem Nazgûl taub und leblos gewordene Körperteile werden durch eine Waschung mit dem Sud wiederbelebt.» Hierbei scheint mir vor allem der Begriff vom Aufguss wesentlich.

9.6.2020

Noch schwanke ich, ob ich mir die Warhol-Biografie von Blake Gopnik kaufen soll. Beinahe fühle ich mich dabei schon wie Warhol selbst und werde neidisch auf all die anderen, die sie schon haben und davon erzählen können, wie gut sie ist. Dann wieder fürchte ich, dass in den Rezensionen schon alles drin steht, was auf den immerhin 912 Seiten zu finden war. Bei Joan Acocella zum Beispiel: «Warhol lied constantly, almost recreationally.» Allein das herauszufinden, Enttäuschung im Kalkül, reizt mich sehr. Es soll darin mit einer peniblen Detailgenauigkeit zur Sache gehen. Also einerseits ekelig, dadurch halt auch wieder interessant. Didier Eribon und James Miller mit vereinten Schreibkräften, so stelle ich es mir, aufgrund der Vorberichterstattung, vor. Beinahe fühle ich mich wie Lou Reed «Andy, it’s me, haven’t seen you in a while». Wie lange er schon tot ist, und erst jetzt kommt die große Biografie. Acocella erklärt das mit der Fülle des Materials, vor allem der zu analysierenden Inhalte der Time Capsules. So gesehen führt kein Weg an dieser Anschaffung vorbei … Ansonsten gestern nicht viel mehr zustande bringen können. Ein Mann mit Pressluftramme war auf dem Trottoir zu Gange. Acht-Stunden-Schicht, normalerweise. Das Haus in seinen Grundfesten erschütternd. Kleine Mittagspause von halb zwölf bis halb zwei. Bei Rewe gibt es Edelweiß für 2,89.

8.6.2020

Bad Nauheim natürlich auch Gedenkstätte für den Rock’n Roll. Am Rande des Kurparks, rechts neben dem würfelförmigen Haus im Jugendstil wurde ein Platz nach dem «King of Rock’n Roll» benannt, weil er dort in diesem Haus einen Teil von seinen Jahren in Bad Nauheim auf der Etage gewohnt hat. Es waren insgesamt nicht ganz zwei (Jahre). In dem Haus ist heute ein Hotel namens Grunewald. Davor wurde eine Stele aufgepflanzt mit einer weißen Brosche aus Stein, die den King im Profil zeigt. Meine Urgroßmutter Rosa, die beinahe als Hundertjährige starb, nannte ihn Elvis Prestling. Im Hohenlohischen werden die Erdbeeren Prestilinge genannt. Im Wald hinter dem Denkmal «Dem Deutschen Soldaten» standen wir bald vor einem entwidmeten Kirchturm, auf dessen Plattform ein Planetarium errichtet wurde. Aber nicht kuppelförmig, wie wir es erwartet hatten, sondern mit einem Spitzdach, also beinahe schon wieder wie eine Kirchturmspitze geformt (von der Bauweise her aber auch wie eine Dombaumeisterhütte). Die Grundmauern des ehemaligen Schiffs der Kirche waren erhalten geblieben. Noch früher, also vor zweitausend Jahren bald, hatte der Turm einem ganz anderen Zweck noch gedient, da war er Teil einer römischen Signalanlage: Von der Spitze des Turmes (hier wohl noch gänzlich ohne Aufbau, der Begriff von einer Turmspitze rein begrifflich zu verstehen) aus wurde zu einem anderen Turm im sieben Kilometer entfernten Friedberg über die Luftlinie gemeldet. Dort, im heutigen Friedberg war ein Herr von «1000 syrischen Bogenschützen» in Alarmbereitschaft stationiert. Wie gemeldet wurde — mit Feuer, mit Rauch, mit Rufen oder anderen Blasinstrumenten — stand auf der Tafel nicht verzeichnet. Mein Interesse am Wetter ist leicht zurückgegangen, seitdem ich die täglichen Wetterberichte von David Lynch aus Los Angeles entdeckt habe (auf Youtube). My kind of people, my kind of fun.

7.6.2020

Ausflug nach Bad Nauheim. Die Landschaft auf dem Weg dorthin erinnert an meine Heimat im Strohgäu: Streuobstwiesen, sanft geschwungen. Auch das Wetter spielte dabei mit. Der Kurort selbst dann so wie alle, die ich bislang kennenlernen durfte — sogar Velingrad «The spa capital of the balkans» war so: Die Heile Welt trägt halt wesentlich bei zur Heilung. Sprudelbrunnen, Lavendel, Planetenpark, Pizzeria Al Arcadia. Massenhaft Cafés, beinahe noch mehr Eisdielen. Vor dem Café Marwald einen genialen Amarena-Becher gelöffelt, bisschen People watching dazu. Circa 60 Prozent der Passanten in Bad Nauheim über 35 Jahre tragen Kleidung im Stil vergessener Jugendkulturen: rockige Lederjacken, gothic Tops, Baseballmützen falschherum aufgesetzt, Sweatshirts von Fantasieuniversitäten, zerlöcherte Jeans. Wünschte wir hätten solche Amarena-Kirschen auch daheim im Kühlschrank.

6.6.2020

Durch ein häusliches Missgeschick hatte sich ein Scharnier an meiner Brille verbogen, die Fahrt zum Optiker war unausweichlich. Schon in der Bahn fielen mir die jungen Menschen auf, die mit Pappschildern in die Abteile strömten. Die Aufschrift konnte ich ohne meine Sehhilfe nicht lesen. Alle sahen super aus. An der Hauptwache, einer unterirdischen Station mit (see-) sternförmiger Unterführung / Passage hatten sich schon hunderte junger Leute mit Schildern versammelt. Es kamen andauernd noch weitere dazu. Einige, an denen ich vorüberging, diskutierten das Wording eines Schildes. Auch das ist eine Erzählung: Warum man sich dann doch für den Slogan entschieden hatte, welcher Favorit verworfen ward. Die Atmosphäre war insgesamt positiv, mein Eindruck ging in Richtung Kreativ-Workshop. Malcolm Mc Laren hatte vor gut fünfzehn Jahren festgestellt «Gallery openings are the night clubs of the 21st century.» Das mag für meine Generation noch wahr geworden sein, für die nachfolgenden sind es jetzt Demonstrationen. Heute ging es um Solidarität mit Black Live Matters. Als ich vom Optiker zurückkam, fing es zu schütten an, also ging ich durch die Fressgass. Da standen circa fünfzig meiner Leute unter Regenschirmen vor dem Apple Store an.

5.6.2020

Eine neue Ausgabe des «Wetters» ist eingetroffen, die Zeitschrift, die ich zu lesen lernen will, weil ich darin kaum etwas verstehe. Das ist vorbei, ich verstehe alles, weil es eine Sonderausgabe ist zum Thema Theater. Schauspieler schauen (dich an). Passt mir natürlich auch wieder nicht. Mir kann man es nicht recht machen. Die Redakteurin fällt mir ein, die meinen Text, wie sie sagte «grumpy» fand. Ohne old man, das hatte sie sich verkniffen. Obwohl so ein Sexismus und Ageismus vonseiten Frauen nicht belangt würde. Noch nicht, vielleicht. «In zwei-, dreihundert Jahren wird das Leben auf der Erde unvorstellbar schön sein … wundervoll.» Friederike trinkt jetzt am Vormittag immer Goldenen Tee mit Kurkuma. Den schlürft sie in winzigen Schlucken und wird dabei wirklich immer jünger. Wie mir scheint.

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