»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.7.2020

Der nächste Halt wird Berlin Hauptbahnhof sein, in Spandau ist schon ein Bettler zugestiegen. Genau genommen: ein Blinder Passagier, der sehenden Auges durch den Waggon der Ersten Klasse geht, sein Zeitüngchen feil bietend, schwankend, das letzte Exemplar. Der Zug schwankt, der Bettler geht. Draußen vor dem Fenster fährt gleichauf eine S-Bahn ein in den Bahnhof. Die Passagiere tragen Masken.
Am Savignyplatz wirkt alles leer, wie verlassen. Die Autorenbuchhandlung verweist schriftlich auf ihren Online-Shop. Schulferien, dazu noch Corona. Der Zwiebelfisch ist ausgebrannt. In der Glastür hängt ein Zettel vor einem Hintergrund eiskalt gekachelter Leere: «Wir sind zum Betteln nicht geboren. Aber Corona und Brandstiftung ist zuviel.»
Ansonsten ist alles wie immer, überall dort, wo der Boden nicht aufgerissen war, ist er jetzt aufgerissen. Wo er einst aufgerissen war, ist er jetzt wieder zu.
In der Suarezstraße, sollte man annehmen dürfen, sitzen ja eigentlich diejenigen, die mehr gesehen haben als alle anderen. Nichts von den Zeiten, Epochen, an Stilen und Wirrungen, Verirrungen ist diesen Trödlern des Westens noch fremd. «Aber sowas: haben selbst wir noch nicht gesehen.»
Steifensandstraße, Ecke Witzleben, Roman.

22.7.2020

Beckett ist schlecht gealtert, ich konnte noch nie verstehen, was er damit gemeint hatte, dass die Sonne keine Wahl hat. An den Satz aber dachte ich heute auf dem Weg zum Friseur, da sah ich unter den Arkaden am Platz der Republik einen jungen Mann, der saß auf dem Boden zwischen zwei Säulen in einem Fleck Sonnenschein. Wie auf einer Lichtung. Wie zu einem Picknick auf dieser Lichtung mitten in der Stadt hatte er seine Habseligkeiten rings um sich ausgebreitet: Die rote Blechdose, einst für Pullmoll, mit den frischen Zigarettenfiltern, die Flasche mit destilliertem Wasser — Apothekenware —, sie war halbvoll. Die Spitze natürlich, die gibt es von der Suchthilfe. Sein Heroin kochte er in einem Portionslöffel für Pulverkaffee — vermutlich bei Tchibo mitgehen lassen, über der Flamme aus einem Lichtbogenfeuerzeug (Tesla T13). Ich finde auch, dass man in sein Werkzeug investieren sollte. Wie das wohl zusammenpasst: Heroin, intravenös und eine Außentemperatur von 30°?

Beim Friseur jedenfalls — die vergeben die Plätze nach dem Prinzip von Chatroulette — bekam ich dann ausgerechnet diesen vorn allen anderen zugeteilt, den ich bei mir im Stillen als den Kirgisen bezeichne. Weil er mit Vorliebe ausgefeilt wirkende Muster, die an sogenannte Tribal Tattoos erinnern, in die Bärte seiner Kunden ziseliert. Bei mir war nicht viel zu machen und trotzdem widmete er sich mit Inbrunst meinem verbliebenen Haar. Inbrünstiges Knurren drang durch den schwarzen Vorhang seiner Gesichtsmaske. Gerade so, als ob er ein Kater war, oder ein Luchs, und ich kraulte ihm zwischen den Pinseln. Dabei war es ja umgekehrt. Doch hielt ich still. Die Orientalen bevorzugen ja, nicht bloß wenn es heiß ist, zitrische Düfte. Ganz billiges, sprittiges Kölnisch. Derartige Noten verströmend, ich hatte keine Wahl, schlich ich auf schattigen Wegen heim.

Insgesamt wieder einer von diesen Tagen, während derer ich hinter der Glasscheibe stehe und auf der anderen Seite der Kinderchor. Und ich kann hören, was die aus meinem Lied machen, das sie singen sollen. Aber meine Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen von meinem Platz hinter der Scheibe, sind begrenzt. Extrem begrenzt.

21.7.2020

An jedem Samstag gehe ich früh am Morgen zum Erzeugermarkt. Um diese Uhrzeit begegne ich auf dem Weg durch das Westend über die Zeil bis zur Konstabler Wache so gut wie keinem Menschen. An einem dieser Samstagmorgen lag der gesamte Opernplatz voller zerschlagener Flaschen und Scherben von Trinkgläsern samt Trinkhalmen und zerknautschten Zigarettenschachteln. Auch das Wasser im Brunnen, dessen Becken als weite Schale geformt ist, war voller Abfall. Es hieß dann, hier feiert seit neuestem in jeder Freitagnacht eine wachsende Anzahl junger Menschen aus dem Umland bis zum Tagesanbruch. Das wurde dann auch so, die Anzahl wuchs. Am vorvergangenen Samstag fiel mir aber auf, dass der Opernplatz bei meinem Dazukommen schon wieder aufgeräumt und sauber abgespült war. Lediglich die Luft roch zart nach Ethanol, bildete ich mir ein. Aber das Wasser in der Brunnenschale war astrein und klar. Anscheinend hatte die Strategie der Stadtverwaltung darin bestanden, ihre Reinigungstrupps unverzüglich bei Abzug der Feiernden anrücken zu lassen. Am Samstag fand ich diese Strategie dahingehend noch verfeinert vor, dass jetzt etwa zweihundert Mülltonnen auf dem Platz verteilt standen. Ein preemptive strike. Die Tonnen waren Veteranen aus Rave- und anderen Festival-Zeiten in Frankfurt, wie an ihren Aufklebern abzulesen war, die Smileys hinter Sonnenbrillen zeigten. Auf nicht wenigen klebte sogar noch die Werbung des Suhrkamp Verlags. Und auf dem Portikus des Opernhauses steht ja bekanntlich «Dem Wahren Schönen Guten». Aber gleichwie, findet Joseph Beuys, es waren halt im Zweifel noch immer viel zu wenige Mülltonnen auf dem Platz vor jenem Opernhaus. Nicht vierhundert, sagte Beuys, sondern viertausend; noch besser vierzigtausend Tonnen hätten sie aufstellen lassen sollen. Damit die Feierwütigen den Platz vor lauter Tonnen nicht mehr betreten könnten.
An jedem Sonntag hingegen verschickt der Archivar des New Yorker eine EMail mit seiner Zusammenstellung älterer Artikel, die er zur Sonntagslektüre empfiehlt. Die sind immer alle gut, ich schaffe aber allerhöchstens zwei pro Sonntag, da muss ich gut abwägen. Gestern hatte ich mich glücklicherweise für eine Reportage aus dem Jahr 1992 entschieden, Ausgabe vom 15. Juni, genauer gesagt, eine Susan Orlean — wahrscheinlich schon tot — schreibt über den Kosmos eines einzigen Kleinsupermarkts in Queens. Die Geschichte wird über 30, 40 Buchseiten hinweg erzählt und ist derart gut, dass es mir wieder beinahe schmerzhaft bewusst gemacht worden ist, wie grässlich der New Yorker mittlerweile geworden ist. Im Lockdown habe ich mehrfach erwägt, mein Abonnement zu kündigen. Derart angeödet hat mich die allwöchentliche Lieferung. Man denkt ja, New York ist doch eine derartig abwechslungsreiche Stadt, da schickt man als Redaktion mit Budget einfach ein paar Leute und die schreiben dann über den Supermarkt in ihrer Nachbarschaft, und es ist immer noch interessant. Aber es passierte dann das genaue Gegenteil, es ging Woche für Woche um Hintergrundgeschichten zu Lockdown und Mundschutz, zu Black Lives und zu Donald Trump. Aus der Säuglingsperspektive hat die Mama schlimm Brustkrebs. Aber wenn ich mein Abonnement tatsächlich kündigen würde, verlöre ich damit auch meinen Archivzugang, und das kann ich mir nicht leisten. Heute erst, nur beispielsweise, fand ich dort im Faksimile einer Ausgabe im Mai 1972 neben der Rezension von Gravity’s Rainbow eine halbseitige Anzeige, auf der eine Frau im Rollkragenpullover große Augen macht: «A new book by the woman who has made thousands of Americans take to the needle»
Kurios! Auch heiter, und — Spoiler: It’s not about heroin.

20.7.2020

Der letzte Satz, der mir, gestern, als ich schon im Bett lag, durch den Sinn ging, war «Das war jetzt ein geglückter Tag, den solltest Du nicht noch durch Arbeit trüben.» Danach freilich noch Ideen. Aber schon im Ansatz auch ein Fehler, wie mir heute morgen gleich als erstes wieder auffallen sollte, als ich zu Bewusstsein kam. Wie war ich denn darauf gekommen, meine Arbeit derart abfällig zu bewerten? Und dazu sah ich die Erinnerung an eine Szene, da wares draußen schon dunkel gewesen und ich hatte draußen gesessen bei dem winzigen Windlicht, umrahmt von Mandelbaum und Minzeblüten und aus dem nächsten Zimmer, das im Dunkeln lag, war Friederikes Stimme zu hören, mit der sie ihrer Freundin die Funktionsweise des Equalizers erklärte. Nämlich dass der mit seinen Einstellmöglichkeiten nicht die Lautstärke verstärkt oder mindert, sondern die Farbe in den Klang bringen kann wie die Bildregler in einem Fernsehapparat. Der Duft der Minzeblüten nimmt bei Tag noch zu.

18.7.2020

Sebastian schickt ein Foto, er ist auf einem (parkenden) Rennrad zu sehen, daneben ragt ein Straßenschild ins Bild «Platz der Arbeiterinnen». Eine Momentaufnahme von einem Platz in der sogenannten Neuen Mitte Altona (NMA). Das hätten wir, beide Anfang der siebziger Jahre geboren, nicht gedacht: Dass Deutschland noch einmal zu einem derart heiteren Ort werden dürfte. Unsere neunziger Jahre in Hamburg waren also lediglich ein Vorgeschmack — Heute, im Reich von Maß und Mitte, ist Links für Alle wahrgeworden. Damals war Lachen freilich noch verboten, sonst gab es Haue von den K-Gruppen aus der Roten Flora (die wollten die Frauen diskriminierende Hygieneindustrie mit Naturschwämmchen bomben).

Aber es gibt noch viel zu tun! Auf dem Weg zum Wochenmarkt las ich fassungslos, dass Haftbefehl sich selbst ins Bein geschossen haben soll (allerdings aus Versehen wohl, es ist ihm, der zazaisch-kurdische Wurzeln hat, wohl am Donnerstag auf der B-Ebene passiert). Da fiel mein suchender Blick auf die Speisekarte eines Frittenstandes auf der Zeil, der noch geschlossen hatte — egal, ich hatte schon angefangen, zu lesen: stand da etwa «Zigeunersauce»? Selbiges Thema hatten wir neulich schon einmal beim Grillen mit meinen Eltern, auch dort stand Zigeunersace (allerdings physisch, in einem Fläschle auf dem Tisch). Dort jetzt auf der Speisekarte war die sogenannte nur eine von insgesamt drei Variationen des Themas Sauce, mit der man sich die Fritten noch angenehmer machen lassen konnte. Was mich verblüffte, war die der Z-Sauce zugeordnete Flagge, es war die der kommunistischen Republik Kuba. Ein Fehldruck — in dem Zusammenhang wohl eher eine Fehlfarb‘ — war ganz auszuschliessen, denn neben der Bolognese-Sauce prangte die italienische Trikolore (die ja ursprünglich die mexikanische, aber lassen wir das…). Da fiel mir auf, dass es sich bei diesem Frittenstand um ein sogenanntes Franchise eines US-amerikanischen Lizenzgebers handelte. Und dort, in den Vereinigten Staaten, wird eine stückig geschmorte, würzig abgeschmeckte Sauce aus Zwiebeln und Paprika als «Cuban» bezeichnet. Das sagt freilich dem deutschen Gaumen wenig bis nichts. Ob dann aber nicht einfach die Flagge der Roma, die es ja durchaus gibt, der als Zigeunersauce eingedeutschten Kubanischen zuzuordnen wäre? Ist freilich auch nur unzureichend bekannt, das Flaggenmotiv der Roma. Es gibt es noch nicht einmal in der Flaggensammlung der Emoji — Wahrscheinlich kommt das aber noch. Wobei, das hatte ich vor zwei Jahren auch schon einmal behauptet.

17.7.2020

In einem Kästchen mit der Aufschrift «Zu Verschenken», in denen man, so war ich es in Berlin gewohnt, den Plunder auf die Straße stellt, fand ich heute ein kleines, von Hand mit feinem Pinsel bemaltes Pferd aus Holz, das ich einschob und auf den Namen Paula taufte. Aß danach zum zweiten Frühstück bis zu den letzten Zipfeln alle Wurst aus dem Paket von einer Stuttgarter Metzgerei, das die erste Lieferung war eines Wurstabonnements, mit dem Friederike mir zum Geburtstag eine Freude gemacht hat —unbotmäßig! Was Wurst angeht, so kann mir ihr Genuß gar nicht zart und geniessend genug vonstatten gehen; da bin ich gegensätzlich veranlagt zu Franz Kafka, der Ende Oktober 1911 in seinem Tagebuch vermerkte «Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiss hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtslos, wie eine Maschine.»
Bei mir hingegen ist jeder Wurstgenuss, selbst der imaginäre, von zärtlichen Gefühlen getragen; wenn nicht: geprägt.

16.7.2020

Wenn Japaner essen, dann sieht das zumeist ganz anders aus, als wenn wir essen. Japaner attackieren die Speise, sie gehen den Essvorgang an; sie nehmen nicht einfach bloß etwas zu sich, sie nehmen es in sich auf, lassen es in sich ein. Ich habe heute einen Japaner gesehen, wie er eine Currywurst aß: Pieks pieks, happs happs — im Grunde wie ich, und dann doch wieder nicht. Seine Unerschrockenheit.

Es gibt ja diesen Film von Wim Wenders — die ARD hat derzeit eine Werkschau in ihrer Mediathek, weil Wenders bald 75 wird —, er hat ihn im Tokio der frühen achtziger Jahre gedreht, da zeigt er eine Werkstatt, wo sie diese Modelle von Speisen herstellen, die in japanischen Restaurants das Angebot illustrieren. Es sind tatsächlich echte Omeletts und echte Fische et cetera, die in eine Gummisuppe eingegossen werden, dann mit Gips ausgefüllt und daraus entstehen dann die Hohlformen für die Modelle aus Wachs. Die Kamera in dem Film verweilt wohltuend lange bei den einzelnen Arbeitsschritten. Ganz appetitlich wirkte auf mich das Zusammensetzen eines mehrstöckigen Sandwiches mit Schinken, bei dem die Kanten sehr scharf abgeschnitten werden, bis es perfekt geometrisch geraten ist und man sämtliche Schichten seines Innenlebens sehr gut erkennen kann. Das herrliche Rosa des Schinkens! Ich dachte daran, dass eines dieser Schinkensandwich-Modelle bei einem Restaurant angeliefert worden sein könnte, und daraufhin fühlten die sich dort herausgefordert, ihre Schinkensandwiches so schön hinzubekommen wie dieses Modell. Vielleicht war Japan ja so. Vielleicht ist es so immer noch. Ich weiß es nicht, ich war noch nie dort.

Die Farben in diesem Film gibt es jedenfalls alle nicht mehr, sie sind verschwunden.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«