»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.8.2020

Kaum, dass es eine halbe Nacht lang geregnet hat, bekomme ich schon Herbstgefühle. Gestern stand auf einem dieser zahllosen Schilder, mithilfe derer man als Autofahrer sich informieren lassen soll über die Sehenswürdigkeiten links und rechts der Autobahn; die man verpasst auch deswegen, weil man, während man davon liest und sich informieren lässt, auf der Autobahn fährt; in weiß auf braun etwas von einem Mineralwassermuseum. Ich habe heute früh gleich detailliert in Farbe nachgeschaut, während es draußen grau und feucht war: es hat geschlossen. Auch auf ihr Grundrecht, sich ihren sogenannten Haustrunk dort an der Mineralwasserquelle zu schöpfen, müssen die Einwohner aufgrund der dauerhaften Schließung von Mineralwasserquelle mit dem sie umgebenden Museum derzeit noch verzichten. Das Recht auf den Haustrunk besteht dort wohl seit 300 Jahren. «Jeder hat gereinigte leere Flaschen (max. 1 L) selbst mitzubringen.» Diese braunen Schilder am Rande der Autobahn müssten doch noch viel mehr solcher Information beinhalten! Wie gerne ich in der zuständigen Abteilung des Verkehrsministeriums tätig wäre (beratend).

Und natürlich ist jetzt, da es mir unmöglich gemacht wurde, das herrliche Mineralwassermuseum zu besuchen, dort meinen Haustrunk zu schöpfen, meine Lust unstillbar groß, eben auch nur eines von beidem, das Geringste von mir aus, zu tun. 

30.8.2020

Ausflug an den Norfbach, Landstrich am Niederrhein. Normalerweise findet dort am letzten Wochenende im August ein Schützenfest statt, das sogar im Fernsehen übertragen wird. Sagte man mir. Selbstverständlich war das von offizieller Seite alles abgeblasen worden. In einigen der Vorgärten war trotzdem die rot-weiß-schwarze Schützenvereinsfahne gehisst, aber nicht auf Halbmast, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auf der Fahrt zum Mittagessen bog vor uns ein Pferdewagen ab, auf dem saßen einander mit Bieren zuprostende Männer, Schützen in Zivil. An der Flanke ihres Gefährtes hatten sie allerdings ein Banner befestigt, das ihren Verein bewarb «Alt Nüss 1933». Ich reagierte freilich stark auf diese Zahl.
Auf dem Heimweg fing es Punkt Limburg an zu regnen. Aus der zinnfarbenen Ebene ragten bunt die Spitzen des Doms. Über Frankfurt Gewitter. Sogar Blitze. Und es regnet immer noch.

28.8.2020

Herzerfrischende Szene, wie sich auf dem Taxistreifen des Hotels — es hat seit heute wieder geöffnet — zwei Fahrer begrüßen, die sich die ganze Zeit über nicht mehr begegnet waren (wie es mir scheint). Eigentlich war ich ausgeschwärmt, um von den Haselnüssen aufzulesen, die der Wind von den Bäumen gerupft hatte. Kam aber dann, wie das halt immer so ist, an einer der zahlreich gewordenen Mikrobaustellen vorbei. Hier und da wird überall etwas repariert oder ausgebessert. In dem Fall ging es um etwas Unterirdisches: ein Baggerführer behandelte auf mikroinvasive Weise mit seinem verlängerten Arm durch eine Öffnung im Trottoir. Beides einander angemessen klein — Arm und Öffnung. Das Führerhäuschen umgab den Baggerfahrer wie eine gläserne Hülle. Auch diese schien angemessen. Mich erinnerte der Anblick an den Film mit John Travolta, The Boy in the Plastic Bubble. Ob der bei den Trash-Fans dieser Tage seine Auferstehung erlebt?
Auf einer der entlang dieser Straße geparkt abgestellten Baumaschinen faszinierte mich der auflackierte Schriftzug einer Firma namens Diamant: «Beton bohren … Beton sägen …» mich faszinierte freilich die Interpunktion. Kaum ist mir etwas noch weniger die Fantasie Beflügelndes vorstellbar als das Bohren, beziehungsweise Sägen von Beton. Hier wäre doch, so denke ich, jeweils ein Ausrufezeichen angebracht (hätte angebracht werden sollen). Aber diese drei Punkte … Es ist noch nicht lange her, dass ich meinen Frieden gefunden habe mit den drei Punkten. Warum, aus welchem Grund dies stattgefunden hat, ist mir nie klar geworden. Plötzlich tippte ich sie ein, es war eine Befreiung (dass es dafür mittlerweile eine eigene Taste gibt, die eine solche Dreiergruppe aus Punkten im Text platziert, hatte ich vorher schon, quasi klammheimlich herausgefunden, die Taste aber immer nur kurz, wie zur Prüfung, vor mich hin betätigt und die drei Punkte darauf umgehend wieder getilgt.
Seitdem setze ich sie ein, wenngleich sehr, sehr sparsam. Die drei Punkte kommen im Schrifttum der Laien gerne und häufig vor, sind aber nur etwas für Fortgeschrittene. Sie sind Kiesel aus der Hosentasche von Hänsel, sie leiten den Leser aus dem Text in das Unterholz des eigenen Denkens voran, wo es sich möglichst mit dem Denken des Autoren decken soll in jenem seltsam unbeschirmten Einverständnis, das die gedankenlösende Hälfte jenes Satzes, der mit den drei Punkten bewusst unvollendet formuliert ward, provoziert.
Das ist reichlich viel verlangt, es kann, wie immer beim Baggern, beinahe alles schiefgehen.

26.8.2020

Gestern abend, auf ein Mal, waren die Elstern zurück. Kein Mensch weiß, wo dieses Paar sich in den vergangenen Wochen aufgehalten hat. Den August über war es sehr still, die Amseln fehlen noch immer. Ich hatte gelesen, dass sie die heißen Wochen nach der Brutsaison im Wald verbringen, um sich dort in der schattigen Abgeschiedenheit zu mausern. Die Elstern hatten zurückgefunden in den großen Baum, in dem sie im Frühjahr ihr Nest errichtet hatten. Noch bevor der Baum seine Laubhülle umher entfaltet hatte. Im März war das. Sehr lange her. Eine Weile saßen sie dicht beieinander auf einem Kaminstumpf beisammen und schauten zu ihrem Baum hinüber «Weißt Du noch …»

Heute hat meine Mutter Geburtstag. Gestern hatte Maxim. Sechzig Jahre alt! In der Neuen Züricher Zeitung hatten sie ein Interview mit ihm selbst. Nichts Neues, Why Does It Always Rain On Me (mit Ausrufezeichen). Er hat wohl in den vergangenen drei Jahren beide Eltern verloren. Das tat mir leid.

Schöner Wind heute den Tag über. Durch den Tag hindurch.

25.8.2020

In der Frühe hatte ich mit einem Mal den Geruch sengender Zweige in der Nase, er kam in Wellen, und dazu vernahm ich aus dem schräg gestellten Küchenfenster der Mume ein Knistern. Ich blieb wachsam, aber das Feuer blieb aus.
Später war es der Duft frisch geschnittenen Grases, dem ich nachgehen wollte bis zur Europa-Allee. Der Europagarten, beginnend dort, wo die Fahrspuren der «Allee» hinab durch Tunnel führen, wird in Bälde fertiggestellt sein. Noch ist das Areal eingezäunt. Und tatsächlich wurden die Rasenflächen heute gemäht. Wie wir neulich nach Sonnenuntergang beobachten konnten, haben sich etliche Hasen in dieser Sicherheitszone angesiedelt. Von mir aus könnte der Zaun auch gerne stehenbleiben.
Bienen werden von Imkern nach Gewicht verkauft. Ein Bien genanntes Volk von 12000 Tieren wiegt ungefähr drei Pfund inklusive seines Regerationsorgans, der Königin. Die Völker wurden üblicherweise mit der Post verschickt, schreibt Andrew Coté. In den siebziger Jahren haben die Kunden des Versandhändlers Sears, Roebuck noch drei Tonnen Bienen pro Jahr als Mailorder bestellt. Macht 24 Milliarden Einzelbienen, wenn ich mich nicht irre.
In Hasen eine unvorstellbar riesige Zahl!
Als die amerikanische Post im Jahre 1913 den Paketdienst eingeführt hatte, dauerte es nicht lange und schon im darauffolgenden Jahr konnte New York Times von der erfolgreichen Verschickung eines zweijährigen Kindes von Stratford im Bundesstaat Oklahoma nach New York City: «The Boy wore a tag about his neck showing it had cost 18 cent to send him through the mails.»

Es sind allerdings bloß 24 Millionen Bienen. Wenn man sich die allerdings hasengroß vorstellt …

24.8.2020

Unverhofft von einer Wespe gestochen worden. Das erste Mal in diesem Jahr, und das ausgerechnet vier Monate vor Heiligabend! Merkwürdig auch, wie sie den Stich ausgeführt hatte: Aus dem Luftraum zwischen Hemdenstoff und meinem Körper, durch das textile Gewebe hindurch in den Rücken meiner linken Hand. Quasi als Illustration der sprichwörtlichen Verbildlichung der Umständlichkeit. Zum Glück nicht ins Auge!

Ich hatte gerade ein spanisches Reisgericht zubereitet, Paëlla nach dem Rezept der Mutter von Jakob Strobel Y Serra. Meine Vermutung war freilich, dass die Wespe von dem dabei eingesetzten Lebensmittelfarbstoff Colorante angestachelt wurde; ich stand ja außerdem noch unter dem Eindruck meiner Lektüre, den Lebenserinnerungen des Imkermeisters Andrew Coté, einem New Yorker, der erzählt, dass Bienen sich mit dem Geruchsstoff, den rohe Bananen verströmen, aggressiv machen lassen, weil stechende und deshalb sterbende Bienen einen Geruchsstoff verströmen, der identisch ist mit dem von gehäuteten Bananen.

Colorante ist auch gelb. Aber sonst gibt es keinerlei Zusammenhang. Auch nicht zwischen Wespen und Bienen. Im Vergleich mit einem Bienenstich tut der von einer Wespe überraschend wenig weh. Die Schwellung jedoch ist allerhand. Die Anekdote, die Andrew Coté erzählt, und in deren Verlauf er mehr als zwanzig Mal von Bienen ins Gesicht gestochen wurde, spielte sich in Uganda ab. Zum Frühstück dort gibt es ein Mus aus Bananen.

«Be on my side» von Melanie Charles und Meijwahn hat ein schönes Sample von Lani Hall. Wo ich in diesem Jahr meine Mistelzweige verkaufen werde, auf welchem Weihnachtsmarkt, weiß ich noch nicht.

23.8.2020

Von meiner neuesten Phobie vor WAGNER abgesehen, war gestern ein geglückter Tag. Dadurch auch erschöpfend. Abends Film geschaut: «Sehnsucht» von Valeska Grisebach. Wunderschöne Tragödie. Ein Meisterwerk! Komme noch immer nicht über das Ende hinweg: Die Erzählung der Kinder, Epilog. Im Halbdämmer noch versucht zu erklären, warum Film hierin der Literatur sich als überlegen erweist.

Heute früh nach dem Sonnenaufgang lange Minuten ein Himmel wie über Paris. Dann tuschhafter Regen. Rauschend, zauberhaft.

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