»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

22.8.2020

Ivan Safronov
Igor Vakhnenko
Boris Kolesnikov
Alexey Stroganov
Vadim Godlevsky
Maksim Borodin

20.8.2020

Eigentlich hatte ich Pheromonfallen kaufen wollen, war dabei aber, wie das hier so ist, vom reinen Schauen geleitet bis tief an den Rand der Altstadt gelockt worden. Vor dem ehemaligen Zollamt, einer Nebenstätte des Museums für Moderne Kunst, entdeckte ich auf dem Vorplatz einen größeren Stapel von Europaletten, auf denen wiederum säckeweise Blumenerde in Stapeln lag. Ein Mitarbeiter der Spedition, zart und drahtig und milchschokoladenfarbig, vielleicht ein Ghanaer, vielleicht ein Namibier, vielleicht auch ein Südmarokkaner, schien damit beautragt, diese Säcke ins Hausinnere zu schaffen. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft auf dem Platze lagen noch 23 Säcke zu je 70 Liter vor der Tür. Frage nicht, warum man Erde mit Flüssigmaßen misst!

Im Angesicht dessen fiel mir natürlich wieder ein, wie ich kurz vor dem Lockdown, Ende März, an genau dieser Stelle gestanden hatte, bloß waren damals palettenweise Blumen abgeladen und ins Zollhaus hinein getragen worden. Sehr viel später erst hatte ich anlässlich meines Besuchs der Frank-Walter-Retrospektive erfahren, dass diese Pflanzen nach der Verkündung des Lockdowns retour nach Holland geschickt worden waren, da die Ausstellung nicht wie geplant eröffnet werden konnte. Die Künstlerin, Precious Okoyomon, konnte nicht aus den Vereinigten Staaten anreisen. Die Blumen warteten vergeblich auf ihr Arrangement.

Es handelt es sich übrigens mitnichten um dekorative Blühpflanzen, wie ich in Erfahrung bringen konnte: Die Installation «Earthseed» besteht aus den Insassen zweier Lastwagen-Container, gefüllt mit Exemplaren des in Japan heimischen Bodendeckers Kudzu (Pueraria montana), einer Art Winde. Die Installation soll eine Praxis in den Südstaaten von Amerika ins Gedächtnis rufen, als durch extensive Baumwollwirtschaft in Zeiten der Sklaverei der Boden errodiert wurde. Kudzu sollte die Krume vor dem Verwehen bewahren. Den Warnungen der Japaner gemäß, die die Yankees ignoriert hatten, überwucherte Kudzu das Land und ließ sich dabei nicht im Zaum halten. Mensch denkt, Gott lenkt, ließe sich dazu denken, doch wirkt die Präsenz der alles überdeckenden, auch die Scham und die Schuld zuwuchernden Pflanze Kudzu in dem ehemaligen Zollamt irgendwie — direkter? Auf jeden Fall eindrucksvoller, bestimmt. Was wohl mit der Ladung Pflanzen aus der Lieferung vor dem Lockdown geschehen ist? Und was wird denen blühen, die jetzt im Zollamt vertrauensvoll sprießen in Richtung ihres künstlichen Sonnenlichts?

«Schrecklich, die Corona-Zeiten», rief eine Frau mit Mundschutz vor dem Café Mozart. «Es treibt die Leut‘ auseinander. Man traut sich schon gar nicht mehr, irgendwo dazuzusitzen.»

19.8.2020

Nachdem ich gestern den Tag und den, wie es mir im nachhinein klar gemacht wurde: wesentlichen Teil der davor gelegenen Nacht damit verbracht habe, zu entgiften (Ursache vermutlich ein Gericht nach Ottolenghi, als dessen Wirkung ich mich fühlen konnte wie der Ozean selbst vor Port Louis: Ich sah den fremden, dunklen Faden vor mir, der sich, zunehmend freilich, in mein Türkis kräuselte), schwante mir heute früh abermals nichts Gutes bei dem Anblick dreier Männer in gleichartigen Polo-Hemden, die sich vor der Haustür versammelt hatten. Immerhin hatten sie keine Auberginen dabei! Allerdings hatten sie wenig später aus ihren Werkzeugkoffern ein durchdringend vibrierendes Tönen entfaltet, das vermutlich einen Durchbruch erzielen sollte. Wie auch immer der geartet war. Der Geräuschpegel war jedenfalls in seinen Spitzenwerten derart feinsinnig an die Unterschwelle der Erträglichkeit eingestellt, dass ich weder schreiben konnte, noch lesen. Ging glatt als Folter durch. Ich hatte tatsächlich keine andere Vorstellung zur Verfügung: Das Haus ist ein Zahn, ich befinde mich unverrückbar im Inneren des Hauses und da mir das Bohren ins Haus auf die Nerven geht, bin ich wohl der Nerv des Hauses. In dieser Vorstellung ließ es sich seltsamerweise wieder leben.

17.8.2020

Zum Ende hin gab es in V. eine Seite mit einer Aufzählung und die einzelnen Bestandteile dieser Aufzählung waren jeweils mit einem Symbol in Form von Händen, die mit ausgestrecktem Zeigefinger aus Manschetten stießen, indiziert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Seite zuvor schon einmal erreicht zu haben. Da ich mir aber sicher bin, den Text, Roman, diese Erzählung schon einmal gelesen zu haben, frage ich mich, was ich überhaupt weiß, von all den Texten, von denen ich weiß, das ich sie gelesen habe. Wie sieht dieses Wissen von jedem dieser Texte aus; sicherlich sieht es dem Text nicht gleich — wem aber dann?
Schaute, um mich auf andere Gedanken — zumindest einen davon — zu bringen, eine Folge von Priya’s Fridge Makeover: Es geht darum, dass eine Person namens Priya bei anderen Leuten den Kühlschrank aufräumt. In dieser Folge fing sie vor allem damit an, dass deren Kühlschrank ausgeräumt wurde. Anfänglich sah der gar nicht mal ungewöhnlich geräumig aus, wurde dann aber, je mehr Priya aus dem Inneren herausholte, geradezu unheimlich anziehend für mich mit seiner Leere. Vor allem, da auf dem Küchentisch mittlerweile eine Jause für Gargantua strammstand. Unter anderem: Fünf Anderthalbliter-Flaschen Milch! Im zugehörigen Reddit-Forum wird derzeit noch diskutiert, ob die daraus vielleicht Joghurt machen? Kaum, besagen die Gegenstimmen. Bei der gezeigten Marke handelte es sich wohl um ein laktosefreies Produkt (Fairlife enthält dafür doppelt soviel Protein wie die unverbesserte Milch von der Kuh). Der schönste Moment indes, als der Kühlschrank ganz ausgeräumt und leer und sauber weiß war, wird leider nur den zahlenden Abonennten von Priya gezeigt. Als ASMR für die Augen. Man schaut dann dabei zu, wie Priya in der aseptisch strahlenden Innenwelt des mächtigen Frosties umherspaziert und winkt. Bald schon so winzig scheint, dass sie von den Kühlschranklichtern überstrahlt wird, ausbrennt und.
Kurz vor Sonnenuntergang dann eine einzige aus allem aufgetürmte Wolke im Westen. Bei jedem Flugzeug die Lust, es möge dort hineinfliegen. Sie flogen alle weit vor der Wolke vorüber. Immer nur dann schien sie plötzlich viel weiter weg, als gedacht. Gleich darauf wieder ganz nah. Beinahe bedrohlich. Und trotzdem sehr schön.

16.8.2020

In der aktuellen Ausgabe der Schwäbischen Heimat, der dritten in diesem Jahr, steht eine unglaubliche Geschichte von einer Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach einer schweren Wirtschaftskrise einige Gemeinden ihre verarmten Bürger nach Amerika abgeschoben haben. Die Fahrtkosten für das Schiff wurden übernommen. Auf längere Sicht versprach man sich eine Entlastung durch den Wegfall der Armenspeisungen und Unterhaltszuschüsse. Den abgeschobenen Deutschen ging es damals wie den Heutigen von anderswo, die nach Deutschland zu gelangen hoffen: Die in Le Havre ansässigen Schlepper knöpften ihnen zuviel von der Wegzehrungspauschale ab, man kalkulierte die Zeit der Überfahrt nach New Orleans viel zu knapp, an der Hafenmündung dort kippte man sie ausgezehrt und teilweise unbekleidet an den Strand. Es war inzwischen Februar geworden. Sie werden von den dort lebenden deutschen Auswanderern gerettet und für eine erste Zeit versorgt. Allerdings regt sich bald schon Widerstand gegen diese Praxis, man schreibt Protestbriefe nach Deutschland. Der gesamte Artikel ist hervorragend geschrieben. Herzergreifende Szenen, wenn die Schwaben das Dampfschiff besteigen müssen, dass sie der Heimat entrücken wird. Ein Trompeter stellt sich in den Bug und spielt noch einmal den Abschied vom stillen Haus, während vom Kirchturm her die schwere Glocke läutet.
Auch sonst hat diese hervorragende Zeitschrift wieder einmal viel zu bieten. Beispielsweise wußte ich nicht, dass sich die Frau des Malers Rudolf Schleicher Speedy nannte (wohl nach einem damals populären Film mit Harold Lloyd). Und es gibt die Abbildung eines kleinen Gemäldes von einem Bach, von Otto Reiniger, das ich sehr, sehr gern hätte.
Nachmittags bei Eva und Jan im Garten. Auf einem Tisch lagen haufenweise winzige Äpfel, wie bei Handke. Alle reif. Sie fallen immer dann vom Baum, wenn sie reif sind, meint Jan. In jedem genau ein Loch, vielleicht sogar auch nur ein einziger Wurm.

15.8.2020

Herabgestiegen aus dem Bratwurst-Olymp informierte mich mein Vater, dass er in Amberg stationiert gewesen war. Ohne B. Aber Bamberg findet er auch wunderschön. Ein winziger Unterschied, ein Zeichen, macht über eine Stunde zwanzig über Land. A little goes a long way.

Und in dem Buch, das ich noch immer lese, V., verabschiedeten sich just zur Stunde zwei mit dem Gruß «Sahha» («Sahha», sagte Paola. «Sahha» echote Profane steht an der Stelle im Buch). Ich schaute nach und fand damit nur syrische Restaurants. Die Szene spielt aber in La Valetta. Den Buchstaben, die dem lateinischen h ähnlich sehen, fehlte im Malti eine Kleinigkeit, damit aus «Sahha» ein Gruß wird. Sie müssten so geschrieben und gedruckt werden: ħ. Dementsprechend die Stelle «Saħħa» sagte Paola. «Saħħa» echote Profane.

14.8.2020

Abschied von Bamberg. Ein herrliches Städtchen, von dem mir seit frühesten Kindheitstagen immer nur erzählt wurde — mein Vater war hier in seiner Soldatenzeit stationiert — gestern trat ich in diese Erzählung ein. Es war dort warm, aberangenehm ventiliert von den Flussauen, dabei unüblich leer in den Gassen, die tatsächlich malerisch sind und vollgestellt dicht an dicht mit den anheimelndsten Häusern und Palästen. Es gibt meiner Ansicht nach keinen schöneren Platz in Deutschland als den Biergarten der Brauerei Spezial Keller, zum Biertrinken und auch sonst nicht, mit seinem Blick auf die Spitzen von Dom und Sankt Stephan im ziegelroten See und gleich dahinter die blauen Hügel. Gestern hatte es außerdem noch klare Luft.

Abends, wir saßen in einer sogenannten Klause und in das gotisch spitze Kummet der Türfüllung war die Jahreszahl 1307 eingeschlagen, bin ich, wie so oft in letzter Zeit, wieder nachdenklich geworden, ob ich nicht konvertieren sollte.
Heute hat Wim Wenders Geburtstag. Alles gute zum Geburtstag, Wim!

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