»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

12.8.2020

Der altenburger Dialekt ist auch mit sehr viel gutem Willen kaum noch zu entziffern, ein wolliges Gurgeln, das unserem Aufenthalt hier erst die exotische Würze verleiht. So verbrachten wir den Hauptteil des Tages heute auf der Liegewiese eines Stausees, umgeben vom indigenen Volk der Altenburger aus unserer Nachbarschaft, die uns mit der für diese Gegend typischen Liebe zur Abgeschiedenheit, zur Distanziertheit und im Grunde doch zur Isolation zu meiden trachteten, wo es nur ging. Bald schwammen wir zu einer ebenfalls schwimmenden, künstlichen Insel im Wasser der Talsperre hinaus, deren Liegefläche — coronabedingt — lediglich für bis zu zwei Personen zugelassen war. Dort unter dem kleinen Schirm schippernd, lagen wir den Effluenzen vonseiten der Liegewiese zwar ausgeliefert, doch meinten wir der ehedem feindseligen Strahlung nun etwas Wohlwollendes beigemischt zu empfinden. Aus dutzenden, drüben in den Baumkronen verborgenen Lautsprechern sirmelte ein Klangteppich, der aus den mittleren Hits der Jahre 1984 und 1985 gewebt ward; beispielsweise erkannte ich eindeutig Celebrate Youth von Rick Springfield! Auch sonst war das Panorama der Uferlandschaft selbstverständlich vielfältiger, bunter und von daher auch abwechslungsreicher anzuschauen,  als die Aussicht vice versa. Selbst beim Horchen und Gucken ist der Wessi halt noch auf seinen Vorteil aus und strebt nach Profit.

Übrigens glänzende Internetverbindungsgeschwindigkeiten noch im hintersten Winkel: In der neuesten Ausgabe seiner Red Hand Files beantwortet Nick Cave die kombinierte Frage, wie er es a) mit der Gnade, und b) was er von sogenannter Cancel Culture hält.
«As far as I can see, cancel culture is mercy’s antithesis. Political correctness has grown to become the unhappiest religion in the world. Its once honourable attempt to reimagine our society in a more equitable way now embodies all the worst aspects that religion has to offer (and none of the beauty) — moral certainty and self-righteousness shorn even of the capacity for redemption. It has become quite literally, bad religion run amuck.»

Dem ist freilich nichts hinzuzufügen.

11.8.2020

Seltsam, wie mich jeder Ortswechsel, auch noch so gering, beinflusst, dahingehend, dass ich mich in einem völlig neuartigen Traumgeschehen wiederfinde. So war mein Träumen in der Nacht von Vorgestern auf Gestern von einem Gefühl unterlegt, dass ich auf eine fremdartige Weise als angenehm begriffen habe. Nach einiger Traumzeit wurde mir klar, dass es das Lebensgefühl des Wohlstandes war. Ich war wohlhabend gewesen in meinem Traum, und kaum dass ich das begriffen hatte, ging mir einiges schief. Die Erinnerung an meinen Wohlstand ist bei mir geblieben — echt wie von echtem Erleben erzeugt —, sie beschäftigt mich, latent, seit diesem Morgen.

Wir sind mittlerweile im Altenburger Land angelangt. Die Landschaft ist wunderschön, heiter geschwungen, zu allen Seiten des Dorfes bluten die Sträßchen in goldene Kornfelder aus. Gesäumt von Birnen und Zwetschgenbäumen, in denen die Wespen unermüdlich am Werk sind. Es gibt hier kaum Menschen. Wir wohnen im Mühlhaus, vor den Fenstern ist ein Teich. Selbst wenn man alles so macht wie immer, ist es auf einmal vollkommen neu. Auf dem Friedhof steht Ruhe sanft auf einem weißen Findling. Mit Ausrufezeichen.

9.8.2020

Als die Reifen unseres Gefährtes, irgendein Ford, die ersten Meter Autobahn befahren hatten, kamen wir beide zugleich in den Genuss eines längst vermissten Wohlgefühls: der Freude am Fahren. Zum Teil gewiss davon erzeugt, dass damit die Erinnerung an Ferienfahrten mit der Familie wachgerufen wurden; doch war da sicherlich auch ein Gefühl von weiter her, eine kollektiv erzeugtes Wohlgefühl vom Fahren auf der Autobahn.
Auch erlebt man dabei stets sehenden Auges viel und anderes und bleibt doch die ganze Zeit über bei sich. Urplötzlich platterte beispielsweise einmal der Regen auf unsere Windschutzscheibe. Aus heiterem Himmel. Wenige Augenblicke danach, war alles wie von der magischen Tafel fort gewischt.
Als wir die unsichtbare Grenze zur Zone überquert hatten, tauchte bald ein Tunnel auf, der «Tunnel der Wiedervereinigung». Er war ziemlich lang, wir fuhren darin etwa zwei Minuten lang, auf der anderen Seite war das Tageslicht merklich verändert — grau, dabei hell, irgendwie eintönig. Die Landschaft wirkte viel weniger sommerlich in diesem Licht. Wir beschlossen, im nächsten Dorf kehrt zu machen. Das war am Fuß eines Hügels, auf dem eine riesige Skulptur aus Naturstein mit dem Titel «Tor zur Freiheit» in den farblosen Himmel ragte. Noch einmal fuhren wir durch den Tunnel der Wiedervereinigung, aber dieses Mal wieder zurück in den Westen. Nach weiteren zwei Minuten fuhren wir dort ein ins strahlende, sommerlich blühende Licht über den Kasseler Auen. Aber es nutzte ja nichts, wir wurden auf der anderen Seite erwartet.

8.8.2020

Heute Tag der Katze (Luftdruck 1018 Hektopascal)

Lese V von Thomas Pynchon, der schönen Afrika-Szenen wegen. Besitze es jetzt wieder (oder erneut?) in dieser schönen Taschenbuchausgabe von Rowohlt mit dem schrillen Trauerrand, in der ich es vor ungefähr 30 Jahren schon einmal gelesen hatte. So gut wie alles vergessen, bis auf den Judasbaum. Verstehe jetzt allerdings besser, warum ich es damals als so schwer lesbar empfunden hatte: Die Übersetzung ist nicht gut, keinesfalls angemessen. Gerade bei der literarischen Übersetzung besteht das Komitee oftmals bloß aus einem einzigen Stimmberechtigten. Und trotzdem kommt dann nicht wie gewünscht ein Pferd, sondern ein Kamel dabei heraus.

6.8.2020

Noch immer kommen die besten Nachrichten mit der Post. Heute mittag zum Beispiel ein Päckchen aus Bad Canstatt, Absender ist die Metzgerei Luz in der Seelbergstraße. Inhalt war die aktuelle Lieferung meines Wurst-Abonnements, das mir Friederike zum Geburtstag geschenkt hat. Die Zusammenstellung variiert jeden Monat, heute waren sogar Saitenwürscht dabei — himmlisch! Dazu eine weiche Rotwurst und ein Sortiment Salamis, für die die Metzgerei gerühmt wird; unter anderem müsste es richtig heißen. Unter sehr vielem anderem, denn bislang war alles von erster Qualität! Das Familienunternehmen Luz  besteht in der fünften Generation seit 1911, gut möglich also, dass schon Hermann Lenz dort seine Saiten holte. Wahrscheinlich sogar, ich meine mich erinnern zu können, dass er des öfteren Ausflüge nach Canstatt unternommen hat.

Desweiteren in der Post: «Die Chefin» unseres Getränkelieferanten schickt mir eine CD mit ihrer Warteschleifenmusik, dem Schluckspecht-Lied (ich hatte dort darum gebeten, weil ich den Text so herrlich fand). Stellt sich heraus, so schreibt sie mir in ihrem Brief, dass Sie selbst «die Chefin» diese Firmenhymne eingesungen hat. Es sind auch noch Weihnachtslieder drauf. Bald, schreibt die Chefin, ist es ja wieder soweit.

Morgen wieder 34°C, am Samstag 37 Grad. Sonntags fahren wir fort.

4.8.2020

Mittlerweile bin ich in jenem Zustand angekommen, den Adorno als dicht und konzentrisch beschrieben hat, als Spinnennetz, das alles in sich hineinzieht, was da kreucht und fleucht. Heute früh kam mir auf dem Weg zum Postamt ein Mann entgegen, auf seinem T-Shirt stand in Großbuchstaben «Latin Lover», aber er schaute drein, als ob ihm das gleichgültig sein dürfte, was dort geschrieben stand.

Das war in jener Intensität meiner Empfindung gleichermaßen irritierend wie tröstlich zu erleben, wobei es dann noch immer genausogut sein kann, dass meine Arbeit als misslungen befunden wird. Nichts von dem herüberkommt, was ich mir vorgestellt habe.

Marko aus Zagreb schreibt an Nick Cave, was zu tun sei «when the lyrics just aren’t coming?», Nick Cave schreibt zurück an Marko, aber gleichsam auch an alle: «Meiner Erfahrung nach kommen die Texte so gut wie nie einfach so.» 

Was wird Marko damit machen?

3.8.2020

Gestern, als wir draußen saßen und Gazpacho aus den tiefen Tellern löffelten, landete eine der Wespen in Friederikes Suppe und begann sogleich, auf wirrer Fahrt herumzuschwimmen. Kurz diskutierten wir, ob die versuchte, die Insel Guarnición zu erreichen, beschlossen aber dann, dass ich sie herausholte. Abgesetzt auf dem Festland in einem Blumentopf, kletterte sie dort herum, noch beinahe vollständig vom Gazpacho überzogen, um dann mit einem Mal zur Seite umzufallen und liegenzubleiben wie sterbend. Dem war der Fall. Schon als Friederike um den Tisch herum gekommen war, um durch die Makrolinse nachzuschauen, war die Wespe tot. Wir fragten uns, welcher Bestandteil in der Suppe für Wespen giftig sein mochte. Vielleicht hatte sie auch eine Allergie? Im Stillen befürchtete ich selbst, die Suppe könnte vergiftet sein. Dies allerdings bloß kurz. Ich fragte mich aber schon: Woher nehmen wir unsere Zuversicht?

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