»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

8.10.2020

Abends im Kino: Enfant Terrible. Gegenüber eines Hotels mit Namen Corona (Garni). Hübscher Vorgarten, es hatte aber auch geregnet. Im Fenster leuchtete still eine Lampe hinter honigfarbenem Schirm. Im Kino hatten sie die Sessel aus ehemaligen First-Class-Kabinen der Lufthansa. Irrwitzig breite Sitzflächen, mit orientalisch besticktem Gewebe bezogen. In der Vorstellung zahlreiche alte Lesben. Kurios. War mir vorher nicht bewusst, dass Fassbinder für schwule Frauen interessant ist.   Wahrscheinlich gibt es ein von den Geschlechtszugehörigkeiten enthobenes Interesse für das Homosexuelle an sich. Die lachten auch immer, wenn die Männer gedemütigt wurden. Vielleicht ist Kino mit schwuler Thematik für Lesben eine Art sozialer Pornografie?

Aus dem Film, der nur in Innenräumen spielte, nachts, zurück auf die Straße, wo es auch längst dunkel war. Und die Fassaden glitzerten. Ob Roehler den stummen Tod, der eine Maske trug, natürlich, selbst gespielt hat?

Ab morgen gibt es Sperrstunde.

6.10.2020

Abschied von München, wo ich gestern erst im völlig neu gestalteten Keller meines Hotels gelandet war; neu gestaltet — freilich — von Axel Vervoordt (ich hatte ihn an den Kleiderhaken erkannt — und dann natürlich auch am Grün an den Wänden, diesem speziellen Vervoordt-Grün, von dem es einst geheißen hatte, dass er seinen Kunden sogar ein exklusives Klopapier verkauft in diesem Grün, auf dass sie sich gegenseitig daran erkennen könnten bei ihren jeweiligen Besuchen im Gegen-Chalet. Aber halt auch an seinen charakteristisch gegossenen Kleiderhaken aus Bronze hatte ich den Meister erkannt; an deren bäuerlicher Simplizität, die Bauern selbst aus dem Jahrtausend, auf das Vervoordt sich bezieht, die Ära Odd Nerdrums, als die Altvorderen Mark Rothkos noch auf solchen Schemeln …) Am nächsten Morgen nahm ich das Geschehen auf der Baustelle vor meinem Fenster rein optisch war, die Scheibe ließ nichts durch von den Geräuschen, die der Umbau der Bayerischen Staatsbank in ein Hotel unter chinesischer Leitung verursacht. Auf Nachfrage hin zeigte man mir den neu gestalteten Flügel aus Konferenz-Räumen, die ebenfalls von Vervoordt eingerichtet wurden. Am besten gefiel mir der Mozart-Raum mit seinen bodenlangen Vorhängen, blau-weiß kariert. Am zweitbesten die holzvertäfelte Bibliothek. Hinter der Plexiglasscheibe, just for show, ein Meyers aus dem 19. Jahrhundert. Mit den schönen Stichen. Hatte ich auch mal. Ror Wolf ist tot.

5.10.2020

Abschied von Heimerdingen bei teilweise bedecktem Himmel mit Tendenz zum mittäglichen Aufreißen. Gestern war der schönste Tag. Ein Ausflug führte auf die Schwäbische Alb, ins Biosphärenreservat hinter Münsingen: Idyll einer unberührten Landschaft aus sanft geschwungenen Wiesen mit Wachholder und alten Obstbäumen darüber verteilt, sodass man beim bloßen Anblick des vom Menschen unberührten, unverzierten Naturgemäldes zu glauben geneigt ist «Da stimmt etwas nicht». Ein ehemaliges Truppenübungsgebiet, that’s why.

Drastisch wirkt dahingegen die Man made desert eines dem Parkplatz vorgalagerten Neubaugebietes mit seinen Carports, Trampolinen und Gabionen. Zum Neutralisieren suchten wir das Kloster Zwiefalten auf, den Innenraum des barocken Walfischs aus einer anderen Zeit. Von den Deckenmalereien wurde mir schwindelig. Ist mir unter gleichwelchen Wolkenformationen noch nie passiert.
Abends TV «Mein Leben mit 300 Kilogramm».

4.10.2020

Auf dem Rückweg vom Kaffeetrinken in der Stadt bemerke ich im Vorüberfahren einige Personen auf unserem Stückle. Ich wende, fahre auf die kleine Obstwiese zu: dort lagern zwei Mumen, umgeben von Kinderwägen und etlichen Kindern. Die Kleinen haben sich Äste abgerissen, um nach den Walnüssen zu schlagen. Ich erkläre, dass es sich um Privateigentum handelt und bitte, die Erntearbeiten an unserem Baum jetzt zu beenden. Die Kinder streben dem Mann entgegen uns präsentieren ihre Beute. Ich zeige das weltweit akzeptierte Handzeichen des Einhalt gebietens. Die Kinder laden daraufhin die übrigen Nüsse zu den anderen in die Kinderwägen, die Mumen schieben ab.

Das Eigene behaupten: braucht man im städtischen Leben, wo alles hinter Schloß und Riegel ist, so gut wie nie. Dementsprechend lang anhaltend die Erinnerung an meine Aktion. Auch körperlich. Eine andere Form von Muskelkater.

3.10.2020

Am Vorabend gab es noch einen warmen Leberkäse, morgens kündigte sich dann der Forstwirt per Telefon an, dass er sich in einer halben Stunde auf seinen Traktor setzte. Herbeigefahren wurde die alljährliche Lieferung des Brennholzes. «Nachwachsende Rohstoffe» suggeriert eine schlaraffische Bequemlichkeit, aber das Öl muss gefördert und in Fässer gefüllt, die Bäume gefällt und deren Stämme in Scheite zersägt und gespalten werden. Und vor dem Heizen kommt das Aufschichten. The grabbing hands grab all they can. Die stumpfe, wahrscheinlich sehr gut von einem Roboter zu erledigende Arbeit lässt den Gedanken sehr viel Raum. Man unterhält sich nebenbei und so entstand dann unser Spiel, in dem der Vater zum Chinesen wurde, der, weil klein und zart von Wuchs, dort unter dem niedrigen Dach des Verschlages die Scheite aufzuschichten hatte, Stoß um Stoß und dann noch um einen mehr. Li Holzwurm war sein Name. Und das Wetter war uns wohlgesinnt. Abends nahm ich, nach getaner Arbeit wie es heißt, den Apfel, den ich vor ein paar Wochen noch als unreif befunden, hier auf dem Tisch im Garten abgelegt, zu mir — hineinbeißenderweise: Jetzt war er freilich ideal.

Heute früh dann mit dem Gefühl aufgewacht (und erst recht damit umhergegangen), ich wäre über Nacht in ein Kastanienmännchen verwandelt worden. Holzhart kugelnd der Muskelkater. Hecken aus Pfaffenhütle, Hagebutten und Schlehen.

1.10.2020

Zwei Halbwüchsige in der Berufskleidung von Trockenbauarbeitern oder Malern schleifen einen dritten in das Foyer der Sparkasse, in der ich mich befinde, zum benachbarten Geldautomaten, an denen ein vierter von ihnen — gleichaltrig, imselben Stil gekleidet — ihn vor dem Bildschirm stehend zwingt: «Schau meinen Kontostand!»

Tja. Das scheint das zeitgenössische Äquivalent zur Besenkammer bei Kempowski, «Aber dieser Hohn!», die Nilpferdpeitsche.

Das Barometer schwankt beständig um 1050 Hektopascal. Astern und Krähen.

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