»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.11.2020

Nach drei turbulenten Tagen war heute erstmals wieder die Gelegenheit, mich in meinen Gedanken zurecht zu finden. «Man kennt sich nicht aus», heißt es im Österreichischen, wenn man etwas nicht versteht. Im eigenen Kartenmaterial von der Welt sich zuhause zu fühlen.
Später, draußen bei den Bäumen und dem Wind. Etwas ihm anheim zu flüstern «Nur Du und ich heute Nacht». Dramatisch schreien die Krähen. Darob und vergebens. Wie aufgerissen ein Nachthimmel, jetzt schon, zu dieser Tageszeit.

15.11.2020

Im Oppenheimer Park, hinter dem Denkmal des Dr. Bockenheimer jagt ein kastanienfarben dunkles Eichhörnchen hinter einem eichhörnchenfarbenen her. Beinahe kitschig, wie die beiden, über ihre unterschiedlichen Fellfarben hinweg, zusammenzuarbeiten schienen. Wobei der Kitsch hier freilich allein im Auge des Betrachters entstanden war. Im Mastjahr 2020 gibt es für Eichhörnchen außergewöhnlich viel beiseitezuschaffen und einzulagern. Ich fragte mich, ob ihnen das bewusst wird; ob ihnen diese Fülle im Vergleich mit der Menge im Vorjahr angezeigt wird.
Es war noch früh, die Sonne erst dem Main entstiegen. Die Luft war hell und still. Rotkehlchen in den arg zerfledderten Baumkronen. Zart, gläsern, unsichtbar.

12.11.2020

Der Reiseteil der F.A.Z., den ich sonst nur allzu selten mit Genugtuung lesen kann, hat einen großen Text von Bernd Eilert, der zum Besten gehört, was ich in dem Genre gelesen habe. Es geht um eine kleine Landschaft rings um einen See in Niedersachsen, an dessen Ufern links und rechts die beiden Lager protestantischem beziehungsweise katholischem Glaubens sich angesiedelt haben. Dazu kommt, dass Arno Schmidt hier einen seiner seltenen Aufenthalte zwecks Recherche (für seine Frau Alice war es ein Urlaub) verbracht hat. Die Tage in einer Pension am Ufer des Dümmer sind verwandelt in die Seelandschaft mit Pocahontas. Aber es geht auch um Brinkmann und um norddeutsche Clanstrukturen (bei Eilert).
Wohingegen sich auf einer Brache unweit vom Tel-Aviv-Platz nach nächtlichen Regenfällen eine kleinere Seenplatte ergeben hat, in deren flachem Wasser (der Dümmer ist an seiner tiefsten Stelle einen Meter tief) zwei Nilgänse standen, deren erdbraunes Gefieder die umstehenden Hügel wiederzugeben schienen und außerdem der Szenerie einen exotischen Hauch verliehen. Ringsum grasten Krähen im Schlamm, im Wasser spiegelte sich die weiße Stadt.
Und im Supermarkt waren Pois chiche im Sonderangebot. Wie sie in der Petit Bar zum Apéritiv angeboten werden. Das letzte Mal war ich mit Friederike dort. In der alten Zeit. Im Angesicht der Dose verspürte ich wehmütig die Lust, sofort nach Cagnes sur Mèr aufzubrechen. In mediterrane Gefilde. Aber abgesehen davon, dass es das Heim dort nicht mehr gibt, waren es in der vergangenen Zeit stets andere Gründe, äußere, die mich an einer Reise dorthin gehindert haben. Jetzt ist alles anders geworden. Und der Hinderungsgrund für das Reisen verläuft als Mauer durch mich.

11.11. 2020

Jetzt ist es immer schon dunkel, wenn ich mich aufmache zum Platz. Heute ist Martinstag und gestern dachte ich noch an meine Laternen, die ich im Lauf meines Lebens getragen. Am Tel-Aviv-Platz gab es ein gelbliches Licht. Das fiel sanft, wie auf der Bühne eines leergespielten Theaters, aus den elegenaten Stäben, die ich den Sommer über für Fahnenmasten gehalten hatte. Dass dort einmal die Fahnen europäischer Länder gehisst würden, hatte ich gedacht — dies aber nur nebenbei und diffus, denn im Sommer hatte ich, gedanklich, noch anderes zu tun als die Möblierung des öffentlichen Raums zu ergründen.

Weil ich ein sehr kleines Paket in die Schweiz verschicken wollte, war ich am Morgen auf der Post gewesen, in einer Filiale, die ich im Frühjahr für mich entdeckt hatte, sie befand sich in der menschenleeren Halle des Hauptbahnhofs und auch in dieser Postfiliale begegnete man damals nie einem anderen Mensch. Gestern, am Stehtisch, der dafür eigentlich zu niedrig ist und vielleicht als Knietich angeschafft wurde, kauerte ein dicker Sikh mit grauem Rauschebart, der sich von einem Kontaktmann über das Telefon eine indische Adresse diktieren ließ, die er mit anmutigen Zeichen einer Blockschrift in die Kästchen des Paketaufklebers für internationale Post einfüllte, fiel mir auf, dass auf den über dem Tresen hängenden Bildschirmen das gelbe Logo für Postbank und DHL anscheionend aus dem Internet heruntergeladen worden war. Es waren ganz deutlich die Wasserzeichen von Alamy Stockphoto zu erkennen, die in diagonal gesetzten Streifen über den postgelbgrundigen Schirm verliefen. Am unteren Rand der Bilddatei war zudem ein schwarzes Feld zu erkennen, auf dem ebenfalls der Firmenname dieser Bilddatenbank zu lesen stand. In China sollte es ja gefälschte Filialen von allen möglichen Markenherstellern geben. Warum also nicht hier, warum nie die Post?

Dabei dachte ich freilich an W.A.S.T.E. und an Jan Marsaleks Bankfiliale. Für das Porto verlangte der freundliche Darsteller 29 Euro von mir. Genau so viel wie für eine Versendung nach Indien. Ich zahlte kontaktlos, es funktionierte angeblich tadellos.

8.11.2020

Ein unerwartet wundervoller Ausflug hat uns gestern weit weg in die Weinberge geführt, wo die belaubte Natur in ihren letzten Zügen lag. Farbenprächtig wie in jedem Jahr, und wie ich es trotzdem immer wieder vergesse. Auf einer schattigen Wiese, die steil bergan führte, war das Ebenbild eines Römerpokals aufgestellt — stark vergrößert allerdings, so hoch wie ich —, um auf die Weinspezialitäten der Gegend hinzuweisen. Im Grunde befanden wir uns da schon auf Baden-Württemberger Terrain. Schon schade, dass kein Besen offen war, man nirgends den neuen Wein verkosten durfte, kein Zwiebelkuchen. Der Winzerort selbst war menschenleer, bis auf eine Katze, die himmelblaue Augen hatte und ein seidig flauschiges Fell, das warm wirkte und duftig, wie frisch geföhnt. Die bot sich unserem Streicheln dar und wälzte sich bald auf dem Trottoir herum, aber da waren wir längst aus einer Dreiergruppe von Einwohnern heraus angesprochen worden; vielsagend mit der Feststellung, dass solche Katzen leicht geraubt werden können, weil sie zu sehr zutraulich sind. Aber auch die wenigen Menschen, denen wir auf unserem Weg durch die Rebreihen begegnet waren, zeigten sich blickscheu und wichen wie ängstlich aus. Das gehört jetzt zu unserer Zeit wie in dem Buch aus dem Jahr 1947, dem Tagebuch vom Leben und Überleben, das ich heute noch einmal wieder gelesen habe, dieses Misstrauen vor den Nachbarn und vor allem vor Fremden, weil man von jedem befürchtete, dass der einem die Lebensmittel klaut, zur Nachkriegszeit gehört hat. Ich kann mir mittlerweile schon nicht mehr vorstellen, dass ich jemals wieder die Gesellschaft von anderen unserer Zweiseligkeit vorziehen werde.

Als ich heute morgen von Weihnachten gelesen habe, dachte ich an die Schatten auf der Straße, unter denen Eis gedeiht, während auf den sonnenwarmen Stellen schon alles verdunstet ist, und wie es riecht, wenn man bei solchen Temperaturen an seinem Fäustling aus Wolle riecht.

Seltsam, dass es dich zu etwas drängt, was keiner braucht, schreibt Lenz.

5.11.2020

Der New Yorker hat eine Geschichte mit Portraits hoch verschuldeter Amerikaner. Einer trägt meinen Nachnamen. Sprang mich an. Auch aufgrund seiner Hautfarbe. Brecht hat immer recht: Es ist ein Verfremdungseffekt. Bislang hielt ich meine Familie für sehr überschaubar. Wie ich daraufhin feststellte, ist mein amerikanischer Verwandter im Internet sehr aktiv. Wird mir bis heute nicht aufgefallen sein, weil ich dort noch nie nach Verwandtschaft gesucht habe.

Desweiteren: Die Kollektion, die Jil Sander für Uniqlo entworfen hat, ist leider enttäuschend.

Aber zum Abendbrot gibt es frittierte Pizza, da kann nichts schiefgehen (der Flyer war im Briefkasten, Contrabande vom Rogue Postboten. Trotz Verbot! Überlege sowieso schon seit längerem, den spießigen Werbeverbotsaufkleber abzulösen — mir entgeht sonst noch viel mehr ‹interessantes› Material).

4.11.2020

Anscheinend während einer Radiosendung eingeschlafen. Fühlte mich heute früh jedenfalls herrlich, selten gut ausgeruht. In der Sendung hatte Mac Demarco seine persönlichen Hits aus japanischen Telespielen aufgelegt. Ich war überrascht, wie gut diese Musik mittlerweile geworden ist! War nie ein Telespieler. Meine einzigen Erinnerungen an dergleichen reichen weit zurück an den Commodore, auf dem ich ein Spiel mit winterolympischem Thema spielen sollte. Der Joystick knarrte wie ein Paar alte Stiefel, wenn man ihn, wie verlangt, hypnotisch hin und herbewegte und -riss, um den virtuellen Biathleten anzutreiben. An einen anderen Soundtrack kann ich mich nicht entsinnen.

Gestern nun also die Greatest Hits aus Final Fantasy (unter anderem). Ich schaute nach und es gibt sogar Soundtrack-Alben für die Spiele. Gut, da ist mir also etwas entgangen. Heitere Arpeggien hüpften mir voran und hinüber, mich hinter den Bildschirm zu leiten.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«