»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

5.11.2020

Der New Yorker hat eine Geschichte mit Portraits hoch verschuldeter Amerikaner. Einer trägt meinen Nachnamen. Sprang mich an. Auch aufgrund seiner Hautfarbe. Brecht hat immer recht: Es ist ein Verfremdungseffekt. Bislang hielt ich meine Familie für sehr überschaubar. Wie ich daraufhin feststellte, ist mein amerikanischer Verwandter im Internet sehr aktiv. Wird mir bis heute nicht aufgefallen sein, weil ich dort noch nie nach Verwandtschaft gesucht habe.

Desweiteren: Die Kollektion, die Jil Sander für Uniqlo entworfen hat, ist leider enttäuschend.

Aber zum Abendbrot gibt es frittierte Pizza, da kann nichts schiefgehen (der Flyer war im Briefkasten, Contrabande vom Rogue Postboten. Trotz Verbot! Überlege sowieso schon seit längerem, den spießigen Werbeverbotsaufkleber abzulösen — mir entgeht sonst noch viel mehr ‹interessantes› Material).

4.11.2020

Anscheinend während einer Radiosendung eingeschlafen. Fühlte mich heute früh jedenfalls herrlich, selten gut ausgeruht. In der Sendung hatte Mac Demarco seine persönlichen Hits aus japanischen Telespielen aufgelegt. Ich war überrascht, wie gut diese Musik mittlerweile geworden ist! War nie ein Telespieler. Meine einzigen Erinnerungen an dergleichen reichen weit zurück an den Commodore, auf dem ich ein Spiel mit winterolympischem Thema spielen sollte. Der Joystick knarrte wie ein Paar alte Stiefel, wenn man ihn, wie verlangt, hypnotisch hin und herbewegte und -riss, um den virtuellen Biathleten anzutreiben. An einen anderen Soundtrack kann ich mich nicht entsinnen.

Gestern nun also die Greatest Hits aus Final Fantasy (unter anderem). Ich schaute nach und es gibt sogar Soundtrack-Alben für die Spiele. Gut, da ist mir also etwas entgangen. Heitere Arpeggien hüpften mir voran und hinüber, mich hinter den Bildschirm zu leiten.

2.11.2020

Seidiger Tag, den ich beinahe verpasst hätte. Als ich um kurz nach 16 Uhr vom Schirm aufschaute, flitterte von fern ein Baum mit gelbem Laub. Und ich ließ mich ermutigen von Friederikes Appell. Draußen gab es 20 Grad und glockenklare Luft. Drüben hatte sich eine Taube abgelöst vom Fensterbrett: klang wie zerbrechend Styropor. Ich hatte mir alles viel leerer vorgestellt. Die Leute standen jetzt halt einfach so auf dem Platz herum mit ihren vielen Kindern. Und Brezeln to go. Das Repertoire scheint begrenzt, nicht jeder will sich gleich einen vierbeinigen Lockdown-Kumpel kaufen, aber was anscheinend auch immer geht ist Kicken, Bolzen, Fußballspiel. Und Saufen (in eigens mitgebrachten Liegstühlen, dem Wasserhäuschen gegenüber in der Sonn‘). Menschen ohne Bälle, ohne Kinder, ohne Flaschen oder Hunde sah ich keine. Ich kam mir beinahe selbst schon vor wie ein Polizist.

Der Abglanz der untergehenden Sonne zauberte Umbra-Töne an Fassaden, wo ansonsten keine sind.

1.11.2020

Am Vormittag die letzten Korrekturen am Satz von Hamburg. Sex City — womit jetzt alles daraufhin deutet — oder darauf hindeutet? dass nun gedruckt wird (nicht heute natürlich, never on sunday, aber morgen? Blue Monday übrigens ein Relikt aus den Zeiten bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, als noch mit Waid, später auch mit Indigo blau gefärbt wurde. War die Brühe erst angesetzt, die Stoffe darin eingelegt, dauerte es einen Tag lang, bis durch chemische Reaktion mit dem Sauerstoff aus der Luft die Blaufärbung einsetzte. Angesetzt wurde meist am Sonntag, am Montag hatten die Färber frei und machten blau — freilich nur diejenigen, die blau gefärbt hatten).

Ist das jetzt eine unverhältnismäßig lange Dauer gewesen? Womit sind wohl all diese Monate verstrichen bis zum Druck? Zwar steckt man drin, wie es heißt, aber verstehen wird man es trotzdem nicht; nie vermutlich. Da ähnelt das Mysterium der Buchherstellung doch sehr den Gesetzen zum Gelingen von Hefeteig. Eine dichte, beinahe undurchsichtige Masse von Zeit wird auf dem gläsernen Objektträger hauchfein ausgestrichen zu einem zart getönten Film. Das dauert halt. Und dann ist es soweit.

Woraufhin ich heute ziemlich Heimweh nach Jamaika bekommen hatte von der Lektüre. Wird zudem auch am Wetter liegen. Zumindest nach Schottland würde ich doch wollen, nach Anstruther und dort die Fish & Chips.

Stattdessen Flachswickel — auch nicht verkehrt. Vor dem Sonnenuntergang erste Probe der Weihnachtsmusik, The Twelve Days of Christmas. Damals wurde die Amsel noch mit dem Recorder programmiert. Herrliche Melodie!

31.10.2020

Was alles ließe sich mit einem Aquarium anstellen? Auf diese Frage kam ich gestern, beim Blick aus dem Fenster (es waren mehrere hintereinander, sie ergaben mein Blicken). Mit den Augen hatte ich mich festgesaugt an einem Balkon gegenüber; an einem ganz bestimmten von vielen. Ich beobachte das Treiben auf diesem Balkon schon seit einiger Zeit. Gestern hatte ich sogar das Gefühl: seit ewiger.

In der Wohnung, die sich zu diesem Balkon hin öffnet, zogen kurz vor dem ersten Lockdown im März ein paar junge Spanier ein. Damals nahm ich an, sie hatten sich vor der rigiden Ausgangssperre in ihrer Heimat in Sicherheit bringen wollen. Damals wurden ja in Frankfurt noch ausufernde Freiluftparties auf dem Platz vor der Alten Oper gefeiert. Und die Spanier waren dafür im richtigen Alter. Also gerade schon volljährig, aber noch jung. Außerdem zahlreich. Und da die Wohnung vermutlich nicht mehr als zwei Zimmer hatte, spielte sich sehr viel von dem häuslichen Leben dieser jungen Leute auf diesem Balkon ab.

Damals war es schon warm gewesen. Die Spanier schliefen bei heruntergelassenen Rollläden bis in den späten Nachmittag hinein, wie es in ihrer Heimat Sitte ist — Stichwort Siesta — und bevölkerten die lauen Nächte hindurch ihren Balkon. Beinahe immer wurde mir von ihnen dort ein Augenschmaus bereitet. Eine der Spanierinnen beispielsweise war zierlich gewachsen derart, dass ihre Taille kaum mehr Umfang aufzubieten hatte als ihre inmitten empor führende Wirbelsäule. Mithilfe meines Fernrohres konnte ich das schon recht deutlich erkennen. In aller Drastik wurde es mir allerdings erst vor Augen geführt, als ich bei einem meiner Spaziergänge in der menschenleeren Stadt auf eine Abordnung meiner spanischen Telenachbarn traf. Die Zerbrechliche war mitten unter ihnen dabei, hatte sich aber den gestiegenen Temperaturen zum Trotz eine grotesk überdimensionierte Daunenjacke übergestreift, die dem englischen Begriff vom Puffer Jacket usw usf. Bezeichnenderweise hielten die männlichen Spanier dabei Wegbiere der Brauerei Corona in Händen. Alles in allem also ein herrliches Bild, das ich zudem genießen durfte, als ob ich es durch mein Fernrohr betrachten dürfte, denn zwar erkannte ich diese Gruppe als eine durch mein heimliches Auge mir vertraut gewordene; vice versa hatten die von mir Beobachteten diesen Effekt natürlich nicht.

Gestern nun, als ich mal wieder in die Ferne reiste, schweifenderweise, und spurlos vor allem, allein mit dem Blick, war dort auf dem Balkon ein Aquarium aufgebaut. Allerdings kein leerer Glaskasten, wie er hier im Viertel ab und an mal zusammen mit dem absurdesten Sammelsurium auf die Straße gekippt wird, sondern fachgerecht mit Sand, Pflanzen, Lavagestein und vor allem: mit Wasser gefüllt. Sogar beleuchtet. Fehlen einzig die Fische — beziehungsweise sind die eventuell so klein, dazu noch farblos, vielleicht sogar transparent? dass ich sie durch mein Fernrohr nicht erkennen kann. Vor dem Aquarium selbst agierte (in stehender Haltung) ein Spanier. Um den Wohnraum mit Spaniern nachzuverdichten, wurde vor kurzem die Küche auf den Balkon verlegt. Der Spanier bereitete etwas zu aus Hühnerschenkeln. Die Abschnitte warf er in einen Topf, der unweit von ihm auf dem transportablen Zwei-Platten-Herd stand. Derzeit, womöglich den mittlerweile fallenden Temperaturen geschuldet, vielleicht ist es auch bloß eine Mode, tragen die Spanier diese norwegischen Einteiler aus flauschigem Gewebe, sogenannte One Suits. Der Spanier mit den Hühnerschenkeln war dergestalt als einer von den Minions verkleidet. Sein Kollege als Black Panther, ein dritter als Hulk. Die Spanierin — nicht aber die dünne, sie war nach dem Sommer schon abgereist — war ganz gewöhnlich gekleidet. Offenbar ist diese Einteiler-Mode männlich codiert.

Ob wir gemeinsam Weihnachten feiern werden? Eventuell dient das Aquarium der temporären Aufnahme von Meeresbewohnern, die dann dem Festschmaus dargebracht werden sollen. Und ist das Aquarium auf diesem Balkon dann ein Mise en abyme?

30.10.2020

Bei der bloßen Ahnung einer Möglichkeit von Sonnenschein hatte ich gestern alles stehen und liegen lassen, um hinauszustreben. Unaufhörlich morphten die Wolken und ich war innerlich wie zusätzlich noch bewegt von der Ankündigung, dass ab Montag wieder nichts mehr so sein würde wie es heute noch war. Letzte Gelegenheiten, Prix choc. Und das Café des Bäckers am Tel-Aviv-Platz: Würde auch er seine Terrasse schließen müssen? Noch war dort alles wie immer, wie gestern und an all den anderen Vormittagen zuvor. Vormittage waren derweil zu meinen Nachmittagen geworden (ich schlief in der Nacht) und die Zeit auf den Uhren war freilich auch damals noch anders vergangen, weniger persönlich — nehme ich an, direkt unpersönlich, als diese als anders, weil innerlich wahrgenommene Zeit.

Der Marktleiter des großen Rewe — bald würde es für mich Zeit, auch dieses groß groß zu schreiben, wie im Großen Bruder — nutzte die konspirative Pause bei Plundergebäck und Zigaretten, um seine Einräumhilfen und Getränkekästenstapler (und Champignon-Abbürster und Aufschnitt-Aufschneider und vor allem auch die Kassiererinnen und Kassierer) auf die neue Zeit einzuschwören (auch dieses neu bald Neu): «Ab Montag haben alle zu, die Leute müssen wieder selber kochen, alle kaufen bei uns ein.» 

Noch war er sich nicht sicher, ob pro 10 Quadratmeter ein kaufender Mensch sich frei bewegen darf, oder ob es doch zwanzig waren (Quadratmeter. Sein Markt hat 2000).

Ein seidiger Hund hatte sich neben mir niedergelassen. Seinem Verfüger hatte ich sofort angesehen, dass der noch mit ganz anderen Sphären seinen Austausch pflegte als bloß mit der städtischen Welt. Und der Hund lag wie versprochen friedlich da. Ich besah mir sein glänzendes Fell, die Mannigfaltigkeit schwarzer Haare. Seine Schnauze wies in die selbe Richtung wie mein Blick. Beide schauten wir jetzt über den Platz in die Ferne, zu den großen Baustellen im Dunst. Unablässig die Hämmer auf Schalbetonbrettern, unaufhörlich die Wolken, und ich fragte ihn, leise bei mir: Bist Du es, das Jahr?

28.10.2020

Zuletzt ließ selbst die schwarzäugige Susanne ihre Lider fallen. Es bleibt die Erinnerung an diesen einen Tag, als wir in den Weinbergen zu Gast sein durften. Jede Rebsorte färbt ihr Laub unterschiedlich ein. So entstehen bunt gestreifte Hänge.
Heimgereist mit einem Hartschalenkoffer voller Quitten. In meiner Kinderzeit gab es eine Fernsehwerbung, da klappte einer auf verschneitem Gipfel seinen Samsonite auf und surfte, mit beiden Beinen in den Hartschalenhälften stehend, zu Tal. Ich fand, meine Zweckentfremdung passte auch nicht schlecht in unsere neue Zeit.
Gestern noch viel über Farben gelernt: Von Quittengelb und Himmelblau. Bis ins Hohe Mittelalter hatten in den Färberhütten die Bottiche für gelbe und blaue Farbstoffe voneinander getrennt aufbewahrt werden. Sogar räumlich geschieden à la Milchiges und Fleischiges. Das Mischen der reinen Farben war mit einem Sondertabu belegt. Weshalb es in der mittelalterlichen Welt kaum grüne Kleidungsstücke gab.
Heute früh war alles grau. Frühlingshafte Milde. Mittags fing es zu regnen an.

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