»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

26.10.2020

Jetzt zeigen sich die Blattstiele der wilden Erdbeerpflanzen mit einem Mal tiefrot gefärbt, zur Erinnerung an die Farbe ihrer Früchte. Die Farnwedel hingegen knochenbleich. Der Haselstrauch lichtet sich und offenbart den Sommersitz der Amsel. Und in den Wäldernmeldet das Gemeindeblatt, geht ein unbekannter Mensch mit Kettensäge umher, damit sein Unwesen treibend; ein Rogue Holzfaeller demzufolge, der in einer der vorvergangenen Nächte sieben Bäume gefällt hat (zwei Buchen, zwei Eichen, zwei Kirschbäume und eine Douglasie). Einfach so.

22.10.2020

Ein wunderbarer Tag bei spätsommerlicher Temperatur. In meinem Nachmittagstermin fehlt die Hälfte, lässt (über FaceTime) schön grüßen aus der Quarantäne. Wenn man den Schutzraum verlässt: Daisy’s Café, Final Sun, die Elbestraße. Am Ende, direkt filigran, eine Erscheinung: der Eiserne Steg.
Trotzdem nicht tröstlich, dass es anderen immer noch schlechter gehen wird als einem selbst. Junkies in der Perma-Krise.
Vor dem Plank sagt auf einmal jemand zu mir meinen Namen: Hallo Oskar! Ja, vor ein paar Monaten hatten wir uns von weitem gesehen — bei Anne Imhoff war das gewesen. Es war derart voll, man drang nicht durch zueinander. Bestimmt tausend Menschen damals im MMK.

Eine Frau trägt 18 Kilogramm Duftreis und drei Kochbananen vorbei — vor ein paar Monaten habe ich einen Internet-Radiosender namens NTS abonniert und es bis dato nie bereut — im Gegenteil! Vor allem seit ich die Bibliothek der Klänge in der British Library entdeckt habe. Die Unterwassergeräusche sind First Class! Aber auch das hier: ‹From Dusk to Dawn›

https://www.nts.live/shows/british-library-sound-archive/episodes/the-british-library-9th-june-2018

21.10.2020

Annäherungen mit einer Krähe: Wir kennen uns schon seit ein paar Monaten, aber gestern war es soweit. Die Sonne schien, vielleicht lag es daran, und mit einem Mal saß der Vogel, ein Tier, direkt vor mir und hielt sich dabei auf einer mir gegenüber gelegenen Lehne. Die Füße mit den regenwurmhaften Zehen geradezu artig beieinander versammelt wie sonst bloß die Hasen. Ihr Auge: klug blitzend. Wünschte, es wäre anders gewesen als im Klischee — wünschte ich das? Legte ihr stücklesweise Brezelärmle auf den Tisch zwischen uns beiden: Wie nennst Du den, Vogel? Was bedeutet der Dir?
Am nächsten Tag, nach der Nacht, heute: bin ich wieder hin. Der Himmel war ähnlich, aber auf dem Platz: keine Krähe.
Eine Frau schoß mit ihrem Lastenfahrrad dahin. Das Kind vorne, in der Schote, von behauchter Plane umhüllt. Sie betrillerte es trotzdem, während der Fahrt: «Finde ich übrigens ganz toll, Oskar, was Du da heute gezeichnet hast.»

20.10.2020

Renata Adler, die gestern ihren 83. Geburtstag feiern durfte, hat ihre Arbeitsmethode vor einigen Jahren noch so beschrieben: I wake up at five or six, I have breakfast, I think, ‹I should be writing.› And then I think, ‹Well, maybe after a little nap.› And that way several years pass. Truly, several years pass.

Der Blog, von dem ich diese Information bezogen habe, Subtle Maneuvers, meint dazu: «Sounds about right.»

Ich hingegen finde: Sounds just wrong.

Wilhelm Genazino hingegen, in einem wunderschönen (postumen) Gesprächsbändle im Verlag von Ulrich Keicher: «Es klingt zwar merkwürdig, aber ich muss kein Buch schreiben. Ich könnte mal fünf Jahre lang aufhören. Allerdings hätte ich dabei ein bisschen Angst. Wenn ich so eine lange Zäsur mache, denke ich, dann werde ich Schwierigkeiten kriegen, wieder auf das Gleis zurückzufinden. Diese Angst hätte ich. Das ist ja schon oft passiert, dass allzu selbstzufriedene Autoren gedacht haben, jetzt weiß ich, wie es geht, das weiß ich also auch in drei Jahren noch oder in fünf. Ich vermute aber mal, dass sich das Wissen nicht hält, die Nähe zum Stoff und zum Material und zum Vorgang.»

Ganz meine Meinung, übrigens: Es hält sich nicht. Bei mir noch nichteinmal bis zum übernächsten Tag!

Und ich weiß nicht, ob Jan Peter Bremer und Genazino sich gekannt haben. Der jedenfalls schrieb neulich erst, ein Schriftsteller sei jemand, der glaube, die Welt warte auf sein nächstes Buch.

Und auf der Straße drunten sagt eine in die Jahre gekommene Mitbürgerin, die mich von ihrer Sonnenbrille her an Joan Didion erinnert, zu ihrer Begleiterin: «Eigentlich ist es beinahe grauenvoll.»

19.10.2020

Beim Tun mit Kindern erinnert mich viel an meine Schwierigkeiten im Umgang mit den Gleichalten, allerdings in einer mir angenehmen Form — bloß weil ich der Überlegene bin?

Gestern Nachmittag wurde ich anlässlich unseres Besuches bei Amelie und Thomas von deren Tochter auserwählt, mit ihr zusammen ein Geschenk für ihre erkrankte Kindergartenfreundin herzustellen. Ich saß etwas schräg an ihrem für mich sehr viel zu niedrig gebauten Schreibtisch. Sie schien das nicht zu bemerken. Wie Mirko mir neulich bei meinem Besuch im Landhaus zu den zwei Hunden erklärte, haben diese beiden Hunde, deren Größen- wie Kompetenzenunterschied beträchtlich ist — der Kleinere ist zudem noch stark körperbehindert —, keinerlei Bewußtsein ihrer Unterschiedlichkeit entwickeln können. Sie rauschen regelmäßig ineinander und gemeinsam dann als ein Knäuel gegen die Wand, als Ebenbürtige. So ähnlich einigten das Kind und ich uns auf ein Ergebnis, zu dem wir beide stehen konnten. Mit Thomas dann über Kunst, beziehungsweise: dass Künstler sein bedeutet, zu wissen, wann ein Kunstwerk fertig ist. Im Sinne eines Ordnungsrufes, im Sinne von «Halt!»

In dem Sinn (und nach dem schönen Spaziergang heim, am Main entlang, der Milch führt, dieser Tage, und in Nizza sind die Pomeranzen reif) war der Eintrag vom Samstag noch nicht fertig. Einhalt mir zu früh geboten, der Satz müsste lauten:

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit makellos assimilierten Ausländern konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Mir kommt es zudem immer so vor, als ob es dann um deutsche Förmlichkeiten geht, um Bürokratie und Kitsch. Als ob der Kern der Sache, der selbst mir unbeschreiblich scheint, in den Hintergrund gedrängt wird; durch Sprache. Oder könnte ich genauso behaupten, kein Deutscher zu sein? Zu welcher Gelegenheit? Und wer würde mir widersprechen — am Ende doch sie?

17.10.2020

Die Bäume am Europagarten — war das am vorigen Wochenende oder an einem davor, dass ihr Kleid noch golden flimmerte — inzwischen waren sie zu Transvestiten geworden. Der Blick von der Bühne, mitten im Strip, zeigte nichts als leere Stühle und Krähen; nun wussten sie nicht recht, wie weiter: Soll ich, oder lass‘ ich’s lieber sein?

Die Zeitung knatterte im Wind. Der Bundespräsident hat beschlossen, die Paulskirche renovieren zu lassen. Von der AFD, die ein Konferenzzimmer nach der Paulskirche benannt hat, will man sich die Sprache aus Zeichen und Symbolen nicht länger umdeuten lassen. Frau Grütters, die während ihres Besuches in unserer Stadt schon den teuersten Beckmann aller Zeiten (ein Gemälde, ein Selbstporträt) als Gabe für die Sammlung des Städel Museums in die Kamera gehalten hat, will gleich neben Paulskirche ein sogenanntes Haus der Demokratie bauen (lassen). Ich freute mich schon! Erinnerte mich freilich, wenn auch nur blitzhaft, an das Haus der Geschichte von Helmut Kohl (nicht in Brake, Bielefeld, aber back in Berlin). Das war kein Erinnern, es war ein Entsinnen.

Die Jugend von heute saß derweil schräg vor mir. Schräg schaut es für meine alten Augen noch immer aus, wenn jemand irgendwo draußen videotelefoniert. Welt am Draht: Das war einmal die Zukunft. Wo bleibt der Rest?

Sie unterhielten sich auf dreifache Weise verschlüsselt. Auf Französisch und Englisch und — für die Flüche, aber vielleicht waren es auch Ausrufe ihres Erstaunens: Arabisch. Die andere, das Gesicht auf dem Bildschirm wurde also mutmaßlich aus Marokko, Tunesien oder Algerien herangefunkt. Ersteres war der Fall, wie es sich im Laufe des Videogesprächs herausstellen sollte. Es ging um das Corona-Management dort. Die Hiesige erwies sich als harsche Kritikerin der politischen Führung in der Heimat ihrer Eltern. Das Lob der Führung hierzulande fasste sie zusammen in dem Dreisatz: «Niemand weiß genau Bescheid über dieses Virus. Die Politiker müssen die Regeln machen, aber natürlich kennen sie sich auch nicht besser aus. Wir müssen jetzt alle selbst denken und handeln.»

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit Assimilierten konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Eben noch hatte ich am Glas einer Bushaltestelle den Kleber der linksjugend [solid] studiert: Neben der Zeichnung einer Brünetten mit pornöser Brille stand: Kontrolletti?! keine Hektik… Es passiert allen mal. Ticket vergessen, nicht abgestempelt oder einfach keine Zeit oder Kohle gehabt, um eins zu kaufen. Wenn die Kontrollettis jetzt nur lange genug brauchen würden, dass man sich an der nächsten Station schnell verdrücken kann… Damit andere eine Chance haben: Lass dir Zeit. Hol das Ticket erst raus, wenn du persönlich gefragt wirst und auch dann weißt du sicher nicht sofort, in welcher Tasche es steckt. Zeig Solidarität mit Menschen ohne Fahrschein!

Links war ich also auch nicht mehr.

16.10.2020

Die Lektüre abgeschlossen, danach bis heute sprachlos gewesen wie schon lange nicht mehr. War das jetzt außergewöhnlich gut, oder hat es bloß mich so erwischt? Aus welchem Grund auch immer. War dann noch viel zu lang (für mein Gefühl) damit beschäftigt, eine Stelle zu suchen; sie wiederzufinden, dabei war ich mir die ganze Zeit meines Lesens doch so sicher gewesen, wo in etwa sie zu finden war. Aber noch nicht einmal ihre Position auf der Seite hatte ich mir richtig eingeprägt — von wegen links unten! In einem anderen Buch, darin ging es um Dahlienzüchter und andere Phytofreaks, nahm ich mir einst einen Ratschlag zu Herzen hinsichtlich des Jätens: «Weed as you go» hatte dort gestanden, das weiß ich noch genau. Glaube ich! Seit Jahren denke ich und nehme es mir vor, diesen Tip auch bei meinen Gängen durch die Bücher zu beherzigen. Aber gegen mich bin ich machtlos, bekanntlich. Sagt Peter Kurzweil. Wählte gestern aus Langeweile einen Livestream von der Buchmesse an, da wurde der traurige Dennis Scheck gezeigt, der in der menschenleeren Festhalle an einem Tisch mit lauter Büchern saß, die er der einäugigen Witwe anpries wie Aale-Dieter auf dem Fischmarkt (ebenso selig).
Alles selig. Keiner lacht.

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