2018

31.12.2018

Ein ewigwährender Adventskalender: 13 Fenster hat die Fassade des Hauses gegenüber. Bis in den August des Jahres 2017 hinein war es leer gestanden, zwar in einem offensichtlich desolate Zustande (in kaum besseren, dafür anderen Tagen war es wohl auch ein Stundenhotel gewesen unter anderem,) doch fragte man sich als Besucher dieses Viertels auch »Wird man dort vielleicht bald einmal wohnen können?«

Dann kam es zu überraschenden Aktivitäten, die Haustüre unter dem kantigen Baldachin aus Aluminiumblechen stand fortan ständig aufgesperrt und von früh auf bis spät in die Nacht wurden aus dem Inneren des Leerstandes sämtliche Eingeweide bishin zu den Toilettenschüsseln herausgezerrt und zu mannshohen Häufen auf das breite Trottoir getürmt. Auch wurden manchmal Baumaterialien angeliefert, sodass ich bald der Meinung war, es würde dort seriös saniert werden. Und meine Erwartungen an eine Wandlung in ein Mietsgebäude wurden durch solche Lieferungen von Gipsplatten und Schlauchpaketen bestärkt. Das ging so weiter, über die Adventszeit und die Weihnachtstage hinweg bis in das nächste Jahr.

Dann aber, ich war eine Weile lang nicht mehr in der Stadt gewesen, schienen die Sanierungsarbeiten auf ungefähr dem ersten Drittel ihrer Strecke ins Stocken geraten; die Fassade war unverändert ihrem tristen Zustand überlassen, die Fenster schlierig, auf dem silbernen Vordach lag nach wie vor der Müll, aber die Türe darunter blieb nun tagsüber geschlossen. Und, das konnte ich durch mein Fernrohr erkennen: hinter den dreizehn Fenstern, nur wenige davon waren von innen mit Lappen oder aufgeschnittenen Müllsäcken verhängt, wohnten jetzt überall Menschen. Ausschließlich Männer. Es waren die Männer, die das Haus im Frühling zunächst entrümpelt hatten, um dann behelfsmäßig Sanitäranlagen einzubauen. Der schier unendliche Sommer des Jahres 2018 hatte da schon begonnen, und an den Aprilabenden, ließen sich die Männer auf den Balkonen zur Straße hin sehen, um sich mit ihren Telefonen zu beschäftigen oder Wäsche zum Trocknen über die Balkongeländer zu hängen.

Woanders als dort—auf den Balkonen und hinter dem Glas der Fenster ihres Hauses—begegnete ich diesen Männern aber nie, auch nicht in dem Kiosk an der Ecke, vor einem der Wasserhäuschen des Viertels, im Bulgarischen Supermarkt oder bei Penny. Immer nur dort, wie in einem Vivarium. Dort immer nur an den Nachmittagen und abends. Vor allem auch kam nie Besuch.

Dann, es war schon Herbst nach dem Kalender, aber die Luft noch immer schön warm, erspähte ich am frühen Abend eine ganze Gruppe von ihnen, wie sie, aus der Richtung des Skyline Plazas kommend, heimwärts zogen. Identisch in signalgelbe Westen gekleidet und mit den weißen Kunststoffhelmen teils noch auf dem Kopfe, andere trugen den ihren unter dem Arm, verschwanden sie im Haus. Kurz darauf gingen in den Zimmern die Lichter an. Die Balkontätigkeiten waren schon seit längerem eingeschränkt, denn auf den meisten türmte sich mittlerweile das, was mir als Müll erscheinen wollte, bis weit über die Brüstung. Bürostühle und Knäuel von Auslegeware, halbe Waschmaschinen, Kartons.

Als es kälter wurde und immer länger dunkler, bekam der Anblick des Hauses etwas bedrückendes. Würden die Männer an Weihnachten nach Hause reisen? Hatten sie eines? Konnten sie sich die Reise dorthin, wohinauchimmer, denn leisten? Offenbar waren das Zeitarbeiter, die an dem gigantischen Wohnturm schafften, der neben dem Skyline Plaza errichtet wurde und einmal so ähnlich heißen würde. Höher als der schöne Messeturm, aber in dem anderen Architekturstil des 21. Jahrhunderts gebaut, also nicht als blockhafte Kästchenarchitektur wie alles Neue in Berlin, sondern in der kaum erträglicheren Weise, die, glaube ich von den sogenannten Graft Architekten und dem ominösen Jürgen Meyer H. populär gemacht wurden, und halt so aussieht, als hätte jemand in irritierender Penibilität lauter Skibrillen aufeinandergestapelt. Die zumeist papierweißen Fassungen der Skibrillen sind dann die mit Glas verschalten Balkons (wobei es ab sechzig Meter über dem Meeresgrund schon heftig windet, also wer will da auf einen Balkon? Aber wer weiß, vielleicht haben auch die vermögenden Wohnungsbesitzer überflüssigen Kram, der dann dort gelagert werden will.

Im Haus gegenüber gingen jedenfalls sogar an Heiligabend wieder alle dreizehn Lichter an. Alleingelassen in der Fremde verbringen Männer ihre freien Tage dann wohl so, dass sie wie an jedem Abend bei Putzlicht auf ihren Betten liegen und sich mit ihren Telefonen beschäftigen. Keine Lichterketten, kein Schneespray an den Scheiben, kein aufblasbarer Santa klettert am frisch lackierten Regenrohr hinauf. Auf den Fenstersimsen kühlen ein paar Flaschen Fanta. Neulich gab es bei einem im dritten Stock anscheinend einen Umtrunk—der auseinandergerissene Karton eines Sechserpacks Becks Alkoholfrei steht jedenfalls noch immer auf seinem Sims.

30.12.2018

Die letzte Ausgabe in diesem Jahr spült im Feuilleton der Sonntagszeitung gleich ein paar herrliche Geschichten herbei. Schäumend der Text von Sybille Anderl über die unverlangt ihr zugeschickten Laborberichte selbsternannter Forscher an der sogenannten Weltformel. Einer arbeitet seit längerem an einem spiralförmigen Denksystem mit dem Arbeitstitel Unser Universum, das laut Frau Anderl »mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Zitiert wird daraus im Folgenden »eine einfache Alltagsanalogie:«

Sie stehen an einer Haltestelle, eine Person oder mehrere Personen steigen in einen Bus. Bei Abkühlung entsteht eine Haut, ähnlich Flott bei der Milch. Der Bus ist ein geschlossenes System, ähnlich einer Zwiebel. Der Bus fährt los. Was sehen Sie? Sie sehen nur den Bus. [Dazu die Abbildung einer Zwiebel.]

Tausende werden es nicht gleich sein dürfen, aber zumindest arbeiten auch heute und dann gleich morgen wieder hunderte Männer in Deutschland an ihren obskuren Theorien. Und nicht alle werden in den Wissenschaftsbeilagen der Zeitungen Veröffentlichung bekommen. Im Oktober erhielt ich von einem Verlag, in dem ich einmal ein Buch veröffentlicht hatte eine an die gesandte kleine Schachtel, die sechs Tonbandkassetten enthielt. Der Absender hatte um eine Weiterleitung an mich gebeten. Zusätzlich zu den Kassetten war seiner Post noch ein mehrseitiger Brief beigefügt, dessen Herstellung im Labor eines Copyshops allein einen ganzen Tag gefordert haben dürfte. In einer queckenhaft aufjagenden Handschrift, die im Original der Kopiervorlage auf den Formularblättern der Post niedergelegt ward, brachte mir dieser Philolog seine Würdigung meines Gesamtwerkes dar, dies allerdings nur anrißhaft in der Form eines Thesenpapieres (sieben Seiten), verbunden mit dem dringlichen Hinweis, die ausgearbeitete Form fände sich wiederum im Audioformat auf den beiliegenden Tonbandkassetten—wie gesagt deren sechs à neunzig Minuten. 

Fiel mir heute bei Lektüre des Zeitungstextes wieder ein, die Kassetten habe ich ja noch immer nicht angehört; das Ganze wegschmeissen mich aber andererseits auch nicht getraut. 

Paar Seiten weiter hinten im Feuilleton dann die von seiner betreuenden Redakteurin Julia Encke seit dem Jahr 2015 gesammelten Ausredeemails des Thomas Glavinic, aus welchem angeblichen Grund er seine anscheinend an jedem Freitagnachmittag fällige Kolumne nicht liefern kann oder konnte. Extrem phantasievoll und natürlich auch sehr viel besser als seine Kolumne selbst.

29.12.2018

Der Gipfel weiter sich in ein Plateau. Ich frage mich, wann ich wieder »ganz der alte«, gerne auch in etwas älter, sein werde. Von vergleichsweise merkwürdiger Klarheit zeigt sich mein Traumgeschehen. In der vergangenen Nacht wurde mir die Rezeptur für Gletscherbonbons verraten, sehr anschaulich und, wie es mir als Schlafendem auch scheinen wollte: präzis. Noch im Erwachen allerdings zerflossen mir die Formeln für die Ester und das Gesamte stellte sich als Humbug heraus. Es war also entweder etwas verloren gegangen, oder aber was im Traum mir klar schien, war dies nur innerhalb der Welt des Traums. Wieder einmal fand ich es bedauerlich, für die noch während des Traumes bei mir häufig sich einstellende Erkenntnis keine Möglichkeit der direkten Notation (im Schlaf) zur Verfügung zu haben. Das müsste doch möglich sein, glaubt man beispielsweise Keynes, dem der Grundsatz seiner Wirtschaftstheorie, wie er behauptete »in einem Traum enthüllt ward.«

Als angenehm am kranken Dämmern empfinde ich, dass man aus der Pflicht zum klaren Denken wie entlassen ist. Man treibt, wie Sloterdijk das einmal an deutschen Talkshowgästen festgestellt hatte »oben ohne« durch seinen Tag; kann stundenlang in Comics blättern, ohne gleich nervös zu werden. Wobei ich da in einem alten Heft auf eine mein Gehirn anregende Geschichte aus dem Leben von Donald Duck stieß, da beschweren sich die drei Neffen bei ihrem Onkel Donald über ihren Hund, den sie mit einem Holzmodell einer Ente für die Jagd abrichten wollen—was bislang mißlang. Der Onkel wiederum findet den Denkfehler der Kleinen und beträufelt die Ente mit Lebertran, woraufhin der Hund ganz spitz wird auf den präparierten Balg. Später fahren die Ducks mit dem Hund in einem Ruderboot hinaus auf den See und Donald Duck selbst schießt auf eine Ente im Flug mit seiner Kugelbüchse. Der Hund aber, zum Apportieren ins Schilf geschickt, bringt einen Fisch. Zeigt sich also durch den Lebertran falsch konditioniert, wobei ich mich da noch immer fragte, weshalb man als Leser in der Willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit es sozusagen schluckt, dass hier Enten Jagd auf Enten machen, die wiederum viel kleiner sind, und das dazu das Ganze noch von einem Boote aus?

28.12.2018

Gestern mittags noch smorzando, dabei aber von unten her schon schäumend. Genesung nahte, so wie es heißt: ich fühlte mich beinahe über dem Berg (das Wiedererlangen der Gesundheit als Schein hinter dem Pass.)

Ein erster, kurzer Gang im Draußen, nach dem Einkaufzentrum Skyline Plaza, wo es gleich wie vor den Ruhetagen emsig zuging in den festlich spiegelnden Etagen. Die Skyline selbst macht dieser Tage wenig her, wird von den Knöcheln an in bronchitischem Nebel verborgen. Teenager hielten sich auffällig die nagelneuen iPhones ans Ohr—möglichweise mit keinem Teilnehmer verbunden, einfach so; just for show.

Was ich daheim nicht zur Verfügung habe als Anschauungsmaterial studiere ich hier umso lustvoller: die Balkons der anderen. Gerade jetzt, in der unwirtlichen Jahreszeit stapeln sie dort auf ihren Balkons von bananenförmigen Sportsäcken bishin zu ganzen Küchenzeilen sämtliches, was sie in den sogenannten vier Wänden nicht sehen wollen, auf dem Balkon. Den aber sehen all die anderen im Geviert des Hinterhofes. Gerade so, als suchte man sich ein Brillengestell nach der Maßgabe »irgendeins« aus, weil man es selbst ja nicht ansehen muß. Dazu fand ich, noch halb fiebrig im Prachtbande von Rattelschneck einen Strip, da hatte sich der eine, Brillentragende, eine zusätzliche, und seine eigentliche Brille überwölbende, aus Spiegelfolie gebastelt, der andere wies ihn auf deren dämliche Machart hin—sie sei noch häßlicher als die ihm notwendige, woraufhin der ihm wiederum versicherte, er könnte seine darunter sich befindliche, wohl wenig schöne Kassengestellsbrille sehr wohl noch sehen »ich habe sie jederzeit vor Augen,« was sein Gegenüber aber nicht gleich verstehen konnte (er spiegelte sich ja bereits in der darüber gestülpten Bastelbrille aus Folie.) Auflösung des Bastlers: Einseitig verspiegelte Folie war aus.

In der Mailbox die Neuauflage des Erfolgsalbums von Metronomy, das eine Zusatzplatte mit unveröffentlichtem Material enthält. Holiday (Bedtime Dub) scheint mir der Hit. Froh dabei, nie über Musik schreiben zu müssen für Geld. Kritik an der Musik, andauernd, schon seit ich denken kann, unermüdlich, tags wie nachts, allein und vor anderen, da allerdings zurückhaltender, schon mehr auf Übereinstimmung hoffender. Innerlich jedoch radikal.  

Christoph Ransmayrs Rede anläßlich der Verleihung des Heinrich-Kleist-Preises an ihn selbst, abgedruckt im heutigen Feuilleton bringt das Gewaltige des Schäumens heraus mit dieser Wucht, die mich einst bei der Lektüre Der Letzten Welt erfasst, erschüttert und seitdem nie mehr losgelassen hat. Ein von musikalischen Rhythmen getragenes Schreiben von Felsen und vom »wie kochenden Wasser«, womöglich das Ideal für Claas Relotius, der dann, das anzielend, nur wenig darunter im Kitsch gelandet ist. Vor allem eine Frage der Etikettierung, wie mir scheint. Es wird sich niemand aufmachen müssen, um nachzuprüfen, ob das denn alles so seine Richtigkeit gehabt haben wird, mit den Lebensbedingungen der Großeltern Ransmayrs—ob es gar zu schrecklich war, um wahr zu sein. Ransmayer veröffentlicht spärlich, schon gar nicht außerhalb seines inneren Interessensgebietes, stets Literatur. Absolute Freiheit. Rhapsode, Reporter, ein unerbittlicher Unterschied. Man kann sich jederzeit absolut frei entscheiden. Bloß macht Freiheit halt arm.

27.12.2018

Gewiß ist es unklug, kurz vor dem Feste noch Freunde zu besuchen, die kleine Kinder haben. Zwar hatte man uns freundschaftlich versichert, deren Krankheiten wären längst abgeklungen, aber, im Nachhinein gefragt: woher wollten die das so genau wissen? Ärzte waren es jedenfalls nicht. Womöglich hatten die Kinder sich das gegenseitig diagnostiziert, denn es gab dort jede Menge kleinformatiger Stethoskope, Nierenschalen, Fieberthermometer aus Holz und all dies halt, was diese kleinen Ärzte ohne Hemmungen so benötigen, um ihrer Berufung nachgehen zu können—herumrennenderweise. Mir wurde dann in der sogenannten Ordinationsecke, hätte auch eine Küchenzeile sein können, aber in jedem Fall en miniature, eine Injektion verpasst und zwar subkutan ohne Nadel, wovon ich bis heute noch vier kleine Fleischwunden zurückbehalten habe. Außerdem muß ich annehmen, dass es eben diese nadellose Spritze war, durch die ich mit dem Festtagsvirus infiziert ward. Mit Kindern verhält es sich bei mir ähnlich wie mit Bienen: bei denen denke ich auch vor allem an den Pelz und ihre Dienlichkeit im bienenfarbend gestreiften Kleide, vergesse dabei aber so ziemlich ganz, beinahe, dass sie darin auch einen Stachel bergen, mit dem sie usw.

Die Krankheit blühte dann am Heiligabend direkt nach dem Besuch des Stadtgeläuts auf dem Römerberg und dem Gottesdienst in der Kirche St. Nikolai auf wie zeitgleich die drei Blüten an dem Stengel der Amaryllus auf unserem Fenstersims. Überall Kerzen und Blumen, bald wähnte ich mich schon in der Aussegnungshalle. Das innere Erlebnis wird von Ernst Jünger im letzten Band seiner Tagebücher beschrieben, wenn es heißt »Bin nicht mehr ganz da.« Und von seinem Schopfe aus muß ich dann an das Weißröckchen denken: Du wirbelst herum / Du weiß nicht, wie lange / Woher, und warum.

23.12.2018, Vierter Advent

Wenn Weihnachten alltag wäre—Charlie Brown, am Weihnachtsmorgen zu sich, noch vor seiner Berufung zum Regisseur des Weihnachtsspiels »What‘s with me? I don‘t feel it. I don‘t have this feeling for christmas«—bei mir ist es umgedreht, aber ich fände es richtig, an allen anderen Tagen im Jahr mit einem besonderen Gefühl dem Leben gegenüber umherzugeben.

The Schwarzenbach, Zarte Blüte Hass: Auf dem Erzeugermarkt herrschte nun eben genau nicht, sie hing dort zwischen den Käufern und Händlern in der Atmosphäre, ward selbst von ihnen hervorgebracht, erzeugt, als Stimmung. Die Vogelsberger Schlachterfrau zum Abschied mit dem Wechselgeld »Ich habe ihnen ein Weihnachtswörschtsche in die Tüte gelegt.«

In der Kleinmarkthalle vor dem Stande eines anderen Fleischers standen Greise milde schauend an, um sich die wie aus sehr viel Marzipan gemachten Spanferkel in Hälften durchsägen zu lassen. Der uns Nächste verlangte nach drei Hinterbeinen samt der Schwänze. Er antwortete uns, dass daheim eine Suppe draus gekocht würde. Dazu gäbe es »Reis, Kartoffeln, alles mögliche«, wahrscheinlich sogar Nudeln. Zu Weihnachtsessbräuchen befragt, antworten alle im Wir. Private Rituale. Schön!

Abends dann im Palmengarten, da regnete es noch nicht und im Nachthimmel hing hinter einem feuchten Schleier groß der volle Mond. Das Lichterfest hat natürlich auch weniger schöne Ecken zwischen schwarzen Bäumen, vom Licht der bunten Scheinwerfer herausgeschält—immer dann, wenn es figürlich wird, wäre der Garten allein, vom Mondlicht angestrahlt und von den Lichtern der Innenstadt umgeben, spektakulär genug. Aber es gibt dort eben diese eine durch die Inszenierung herausgehobene Kulisse rings um den schwarzen Spiegel eines Sees, wo an der amphitheaterhaften Rückwand die Baumgerippe in Magenta und Suspiriarot stumm leuchten, die Enten treiben still durchs Wasser wie bestellt und wenn man den Blick dann bloß um 100 Grad wendet, kommt dazu die aus ihrem Inneren heraus beleuchtete Kathedrale von Price Waterhouse Cooper mit ins Bild; ein Bild aus Mandy von Panos Cosmatos. Von hier aus, vom nahenden Ende desselben beschaut: für mich der sogenannte Der Film des Jahres.

21.12.2018

Wie Maschke bemerkte »sagt heute keiner mehr Dufte.« Wir waren darauf gekommen in der Diskussion der Übersetzung des mit dem Preis der Literarischen Welt ausgezeichneten Buches von Virginie Despentes, wo sich ja andauernd jemand an »die Rockschösse« von jemandem heftet; wo jemand »verduftet« und im Schallplattengeschäft nach »einer Scheibe« verlangt wird. Ich hatte nach der Lektüre des Originals eben bei diesen Häufungen der Ahnungslosigkeit in der Übersetzung nach dem Deutschen das Lesen aufgegeben (S. 15.) Anstatt des Verduftens wäre das Verdünnisieren angebracht, meiner Ansicht nach, wenn man den Jargon der erzählten Zeit wiedergeben wollte. Das Verduften greift ja abbautechnisch gesehen zu tief hinab in die fünfziger oder vierziger Jahre des vergangenen Sprachjahrhunderts, wo man die Sillage parfümierter Personen noch wahrnahm wie den Östron begattungsreifer Artgenossinnen.

Mosebach sagte dazu freilich gar nichts. Wobei seine Anmerkung, zur gebratenen Weihnachtsgans gehörte für ihn Sauerkraut, mich noch bis in den nächsten Tag beschäftigen sollte.

Für 13 Uhr war heute ein orkanhaftes Stürmen angesagt, in den Tagesthemen, die teilweise aus dem in 1000 Metern Tiefe gelegenen Braunkohlestollen der Zeche Haniel übertragen wurden, machte es die herrlich geformte Wetterprophetin Claudia Kleinert recht dramatisch und wies, im katholikenfarbenen Rollkragenwams, auf signalrot leuchtende Sturmpfeile auf den Südwesten von Deutschland hin. Nun hat allerdings der Wetterdienst von Google, der minütlich mehr recht hat als alle anderen Sender, diese Sturmwarnung über die vergangenen Stunden mehr und mehr bishin zu jener Milden Brise verflacht, die jetzt auch in der Wirklichkeit weht.

Kurzes Fachgespräch mit dem in Weihnachtsbaumkreisen anerkannten Maximilian Krug, der sein von Gitterstellwänden umzäuntes Pop-Up am Eisernen Steg aufgebaut: Nicht bloß uns, sondern auch der Europäischen Zentralbank, sowie dem Frankfurter Dom hat er wie in jedem Jahr einen Weihnachtsbaum verkauft. Summa summarum kommt er, seine Plantage befindet sich im Spessart, auf gut 2500 Bäume, die er in Frankfurt absetzen konnte. Die wenigen, bislang geht er von »circa 30, maximal 25« aus, auf denen er, wie es heißt: sitzenbleibt, fährt er am Nachmittag des Heiligabend zum Frankfurter Zoo: »Die Elefanten und die Ziegen knabbern an denen herum.«

Unserer hingegen liegt da in der milden Brise, vom Schwachregen beträufelt in einer Eck‘ auf dem Balkon. Die saftig tiefgrünen Nädelchen gewuschelt vom Wind.

20.12.2018

Vor dem Besuch der Denkbar konnte ich die neue Brille abholen, endlich, hatte ich nun mehr als eine Woche lang ohne Sehhilfe zurechtkommen müssen. Eine Lebensform, an die ich mich nicht gewöhnen konnte. Monadenhaft. Auf Dauer nichts für mich.

Vom ersten Augenblick nach dem Aufsetzen des neuen Gestells aber wurde mir die Umwelt wieder so gezeigt, wie sie wohl wirklich war: weit, bis sehr weit hinter die den Ladenraum des Optikers umgebenden Schaufensterscheiben in einer Schärfe klar gezeichnet, wie ich sie schon seit langem nicht mehr geschaut. Dabei war es längst schon dunkel, und so traten allüberall die Lichtlein in den Bankentürmen lockender hervor, ja, ich meinte einzelne Bildschirminhalte in den Büros dort von denen in wieder anderen auseinanderhalten zu können. Ein rauschhafter Effekt, der sich nicht abnutzen sollte, während wir durch die funkelnden Täler zum Nordend wanderten. 

Eine Viertelstunde vor Beginn des Vortrages und somit gerade noch rechtzeitig, kamen wir dort an, um die letzten beiden noch frei gebliebenen Stühle, die glücklicherweise zudem noch direkt neben dem Rednerpult aufgestellt waren, besetzen zu können. Schier unglaublich, dass eine Vorlesung über die Logik bei Martin Heidegger derart viele Zuhörer anlocken konnte.  

Kaum hatte Lorenz Jäger mit seinem Vortrag angefangen, wurde es im Raume still und diese Aufmerksamkeit wurde auch dann nicht unterbrochen, als sich leis die Eingangtüre öffnete, und Martin Mosebach cum tempore erschien. Er legte sich eine Handfläche hinter die Ohrmuschel und blieb dort bei der Türe stehen.

Nun hatte Jäger freilich übertrieben, als er uns in Berlin seinen Vortrag als »allgemeinverständlich«, als geradezu voraussetzungsfrei angekündigt hatte; gut möglich andererseits könnte es auch sehr gut so sein, dass sich Jägers Begriff vom Allgemeinen noch von dem unseren unterschied. Fabelhaft allerdings wie er zum Abschluß aus den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Notizen Heideggers zum Komplex von Gehen und Wald vortragen konnte—da glaubte ich, mir wüchse nun zu meinem hyperscharfen Schausinn noch ein Drogenohr.

Die unvermeidliche Fragenrunde wurde ausgerufen. Der direkt vor dem Rednerpult auf einem Sonderplatz postierte Günther Maschke meldete sich zu Wort »Man sollte doch zunächst rauchen.« Woraufhin er, der, solange Jäger vorgetragen hatte, mit geschlossenen Augen und wie tief in sich gegangen dessen Worten gelauscht hatte, mit Mosebach zu eben diesem von ihm angeratenen Zwecke den Saal verließ. Die von uns befürchteten tumulthaften Szenen ließen auf sich warten. Sie traten gar nicht erst ein. Und dies obwohl ja Sascha Anderson, der Dichter, in Begleitung seiner Ehefrau Alissa Walser Platz genommen hatte. Wie Tilman Allert durch seine mikrosoziologisch geschliffenen Brille ganz korrekt feststellte, muß der Ossi quertreiben. Und so widersprach Anderson (übrigens in überhaupt keiner Weise auch nur entfernt mit Herrn Anderson von den Frankfurter Freunden der Kakteen und anderen Sukkulenten) dann auch Lorenz Jäger wo und wie er auch konnte, doch half ihm das alles nichts, denn Jäger, der sich seit vierzig Jahren unter und wirklich nur unter sehr vielem anderen mit Heidegger beschäftigt, hatte seine Argumente sämtlich parat, was wiederum Anderson dann irgendwann auch milder schäumen ließ, vergleichbar ungefähr mit der Olive im Martiniglase aus jenem Witz, in dem ein Zecher stundenlang versucht, die Steinfrucht mit einem Stocher aufzupieksen, bis ihm der Barkeeper helfen willund es ihm dann auch schon beim ersten Mal gelingt, woraufhin unser Mann am Tresen sagt »Keine Kunst, jetzt, wo ich sie müde gemacht habe.« Sich seine bolivianische Hirtenmütz‘ aufstülpend, ging dann auch Sascha Anderson vor die Türe.

Gewiß, ich sah jetzt alles. Sogar durch den Dunst der Glastüre hindurch bis in die Gesichter der dort stehenden konnte ich schauen, ihnen von den Lippen ablesen womöglich auch, doch gesellten wir uns dann zum Abschied gewissermaßen noch live auf ein letztes Wort zu Maschke, der uns dann recht Haarsträubendes aus seinem erfahrungsreichen Leben erzählte. Beispielsweise von seinen Jahren als Dozent an der Marineakademie von Peru »Peru ist ja ein Langküstenstaat.« Aber es ging freilich auch um das heranrückende Weihnachtsfest. Und wie man es zu nehmen hat. 

Bevor er sich, gemeinsam mit Mosebach in eine von ihnen sogenannte Bierkneipe verabschiedete, fiel Maschke noch eine Sache ein: »Zwei große Erfindungen hat die Menschheit gemacht: Das Rad, und Silikon.«

19.12.2018

Wir fahren regnerischen Tagen entgegen. Am Montag, abends, am Rande der Verleihung des Literaturpreises der Literarischen Welt an Virginie Despentes, erzählte Lorenz Jäger von seiner Zeit in Japan als Dozent, die ihm das Vermitteln komplizierter Sachverhalte gelehrt hatte vor allem wohl durch eine Eigenart japanischer Studenten, die, wenn ihnen etwas unverständlich geblieben ist von einem Vortrag, den Kopf bei der kryptischen Passage auf eine chrakteristische Weise schräg halten, beinahe unauffällig und auf jeden Fall still, wie um die Gedanken an eine spezielle Gegend ihres Schädelinneren rieseln zu lassen. Heute abend sehen wir uns wieder. Dann hält er in der sogenannten Denkbar in Frankfurt einen Vortrag zu Heideggers Logik (»Keine Schwarzen Hefte, nichts.«) Werde den Kopf so lotrecht halten wie es halt geht.

Zeichenhafterweise fand das Frühstück heute morgen wiederum statt in einem Café namens Dankbar, eingezogen in den ehemaligen Verkaufsraum einer Fleischerei (in Leipzig), wo es eine herrliche Deckenverspiegelung gab aus der Kaiserzeit: rosenbunt und mit Mäandern beinahe wie im Chinarestaurant. Eine sehr schöne Limonade bekommen, aus Leipzig, namens Meiner Mötts. Sanft schäumend (im Gegensatz zum Fest im Goldenen Hochhause, wo es hoch herging.)

Der Kellner hatte ein fluoreszierendes Tattoo an der Schläfe.

17.12.2018

Es schneit (10 Uhr 36.)

The Less You Know, The Better

Beschäftigte mich mit dem hochinteressanten Begriff von der Schöpfungshöhe.

Am Nachmittag dann ein amüsantes Experiment mit dem synthetischen THC, das Rafi (Mechoulam) mir mit Diplomatenpost geschickt hat (mit seinen besten Wünschen für mein Weihnachten.) Wirklich interessant, auf eine für mich angenehme Weise: Das Bewußtsein löst sich komplett auf in den Klängen und schwebt sehenden Auges davon. Der Himmel schaute aus wie eine Daunendecke, von hinten durchleuchtet. Lauschte Sébastian Telliers La Ritournelle, danach Primal Scream, natürlich. Allesamt freilich Meisterwerke.

Die Substanz wird übrigens auf getrocknete Kräuterschnipsel (Salbei?) aufgesprüht weitergegeben dergestalt, dass der grünliche Inhalt des Tütchens an botanisches Marihuana gemahnt. Dies hinsichtlich des sogenannten Skeuomorphismus‘, der mich, zusätzlich zur Schöpfungshöhe, beschäftigt hält.

Tudo o que você podia ser

Anzeichen erster Weihnachtswunder: die Eiche steht jetzt enthüllt vor meinem Fenster. Der Ast, den sie in einer herzförmigen Spirale seewärts hält, war unter seinem Laubkleid bloß zu ahnen. Seidig schäumte dieses Wissen auf, wann immer ich dort ins Grüne geschaut.

Eminent: Der Mammutbaum hat ausgetrieben. Ein direkter Nachfahre einer Wellingtonie aus dem Wald am Rittertorsträßle hinter Heimerdingen entsteht. Dort gewachsen aus jenem berühmten Pfund Samen, die, vom letzten König Baden-Württembergs selbst aus den Vereinigten Staaten bestellt, in seinem Land verstreut ausgesät worden waren. Die Samen aus einem aus Heimerdingen mitgebrachten Zapfen habe ich im Sommer eingesteckt in Blumenerde, seitdem gewartet, und jetzt also erscheint schlagartig ein erster Trieb, so zart wie Kresse. Ein Keimblatt läßt sich nicht entdecken, der gelbliche Halm mündet in einer zwiebelförmig verdickten Struktur. Was jetzt genau ausschlaggebend war, für die auf mich natürlich spontan wirkende Keimung, läßt sich leider nicht nachvollziehen, da ich, weil so lange Wochen scheinbar nichts vorangegangen war, es irgendwann im September aufgegeben hatte, das Keimtagebuch weiterzuführen. Na ja. Es gibt tatsächlich eine Mammutbaumcommunity im Internet (inklusive Forum.) Aber irgendwo muß doch auch mal Schluß sein. Wer sagt das eigentlich?

Gestern, im 3-D-Refraktor

Glückliche Tage liegen hinter mir, zu glückende treiben bugwärts auf mich zu. Am Sonntag fuhren wir tout en famille nach Maulbronn, wobei mit dem Schnee, den wir dort um diese Zeit im vergangenen Jahr hatten, leider nicht zu rechnen war. Doch erwarteten uns dort, wie neulich, die Leute aus Schmie, jenem unterschätzten, auch zu unrecht übersehenen Ort dort gleich bei dem Kloster. Sie hatten ihre herrlichen Würste dabei. Mir war freilich zunächst nach Zirbe, diesem Wunderbaum, der den Schlafgestörten kraft seiner Kernholzdüfte als Medizin versprochen wird. Am Zirbenstande kaufte ich dann ein Fläschchen der Substanz; bei abgeschraubtem Deckel daran schnüffelnd breitete sich, hier in etwa den berüchtigten Poppers vergleichbar, bald ein großes Wohlbefinden in mir aus. Doch wurde es mir auch recht schwindelig, wie ich, eingehüllt in Zirbenduft in meine Wildbratrote aus Schmie hineinbiß. Der Schwindel aber, der sich im Verlauf des Nachmittages noch zu einem veritablen Drehschwindel auswachsen sollte, rührte dabei nicht, wie ich zunächst vermuten wollte, von dem mich umgebenden Schwall der Zirbe her, sondern war, wie es heißt, dem Umstand geschuldet, dass mir am Vortage meine Brille zerbrochen war, sodass ich ohne Sehhilfe durch die mittelalterliche Welt Maulbronns geleitet werden mußte wie ein Blinder (Jorge Luis Borges hat in einem der letzten Gespräche für die Paris Review erklärt, er sähe mittlerweile die Welt »in Orange«, ich meine, er sagte »in Honigtönen.«) Bei mir war es halt zu wenig scharf.

Was die Substanz anbetrifft: Friederike hat das Fläschchen konfisziert. Ich bekam Zirbenverbot.

Enttäuschend auch, dass der von uns sehr geliebte Kater namens Frieder, der von seiner gedrungenen Bauweise her an die von Balthus gemalten Artgenossen erinnert, sich kein Mal blicken ließ. Und dass, wo wir ihm doch die noch verbliebenen Dosen aus unserem Bestand an Katzendrinks (Huhn) mitgebracht hatten. Da half kein mitternächtliches Rufen: er zeigte sich nicht auf der Gasse in Heimerdingen, und so reisten wir in dieser Hinsicht unverrichteter Dinge wieder ab. Die Katzendrinks blieben dort, vielleicht ja im Frühjahr, im sogenannten Getränkekühlschrank.

Lange Session dann in Frankfurt beim Optiker, der mit zwei wohl extrem kostspielig erworbenen, meiner Ansicht aber lohnenderweise, Spezialgeräten Staat machen konnte. Ich wurde angeschlossen an einen 3-D-Refraktor, der mir dem Drogenrausch sehr ähnliche Bilder ins Bewußtsein induzierte. Ich schaute auf ein karibisches Bild, aus dessen Panorama sich bald bunte Wasserbälle lösten, die auf mich zuschwebten, um dann im virtuellen Raum vor »meinen Augen« kreisend still schwebend stehenzubleiben, während am Horizont aus den Wellen des holographischen Meeresspiegels, beinahe schaumgeboren, die Buchstaben erschienen waren, an deren Entzifferbarkeit sich meine Sehverstärkungsbedürftigkeit ermessen lassen würde.

Brillengestell zuzüglich sogenannter Gleitsichtgläser (aus Japan!) kostete dann soviel wie ein neues iPad Pro, das ich viel lieber gehabt hätte. Aber es geht nun einmal nicht anders. Ohne Brille kein Text.

Angenehm verschwiemelt, als Kurzsichtiger durch das grau versiffte Land zurück nach Berlin, Haus der Gegenwart, Ministerium der Heimat. Mit dem Photographen stundenlang an den Aufnahmen von Los Angeles herumgeschoben. Riesenfreude. Dazwischen kurzer Abstecher zum Verleger, dann gleich wieder in die Künstlerkolonie, Zweigstelle Berlin, zurück. Bei zur Straße hin geöffnetem Fenster den Nerven  gelauscht: »Angst.«

Bei den Freunden von Kakteen und anderen Sukkulenten

Die Wetterverhältnisse, wahrscheinlich liegt es am Luftdruck, machen mir zu schaffen. Den Donnerstag über mußte ich das Bett hüten, schlief mehr oder weniger die ganze Zeit hindurch bis zum Morgengrauen, bei dem ich mich dann aufraffen mußte, um den Zug nach Frankfurt noch zu erreichen (was mithilfe von Weißdorntropfen gelang.) Aus dem Bordlautsprecher eine originelle, weil bislang noch nie von mir bezeugte Ansage (man sammelt ja unwillkürlich mit der Zeit:) »Der Speisewagen und das Bordbistrot stehen unter Wasser. Sie müssen von daher bis zum Erreichen des Endbahnhofs Basel geschlossen bleiben.«

Abends dann zur Weihnachtsfeier der Frankfurter Freunde der Kakteen und anderer Sukkulenten. Die Feier fand angeblich statt in einem Gemeindehaus in der Nähe des Künstlerbedarfshandels. Es regnete flächendeckend. Wir hatten, da wir, bislang ohne offiziellen Mitgliedsstatus, einer freundlich formulierten Einladung auf der nüchtern gestalteten Website des Vereins Folge leisten wollten, unser angebliches Greisenhaupt, einen Däumling mit hinter vergilbender Wolle verborgenen Dornen, in einer kleinen Tragetasche dabei, um uns vor dem Freundeskreis als Kakteenfreunde ausweisen zu können (wie es bei Woody Allen der Psychoanalytiker macht, wenn er seine Tabakspfeife hochhält »Ich bin Psychoanalytiker, hier ist meine Pfeife!«)

Erstaunlicherweise schien es dort in dem Festsaale schon schäumend hoch herzugehen. Durch beschlagene Scheiben meinten wir eine Art Polonaise erkennen zu können. Auch wurden teilweise rote Pullover oder Blusen getragen. Ein schier unaufhörlicher Strom von Kellnerinnen schleppte überladene Tabletts in den murmelnden Saal. Doch tagte dort am frühen Abend, wie man uns sofort zurief, ein Kegelklub. Die Kaktusfreunde hätten sich ein Stockwerk höher eingefunden im Kabinett Römisch Zwei.

Hier saßen, der Verein blickt auf eine Geschichte seit der Gründung im Jahre 1924 zurück, sieben Mitglieder um eine mit Gestecken und Kerzen geschmückte Tafel. Drei Ehepaare und ein einzelner Herr, der sich unmittelbar als Nestor der Versammlung zu erkennen gab—handelte es sich doch um Günther Anderson, den langjährigsten Gartenmeister des Frankfurter Palmengartens. Man nahm uns freudig auf in dieser Runde. Bevor das Essen aufgetragen wurde, sahen wir uns aufgefordert unseren Pflegling auszuwickeln, um ihn zur Begutachtung herumzureichen.

Eindeutig kein Greisenhaupt, wurde einstimmig festgestellt. Aber im bestmöglichen Zustand. Weder Spinnmilben, noch schrundige Stellen. Dabei hatten wir uns nach dem Sommer schon Sorgen gemacht, ob die unbotmäßige Vergilbung seines Faserkleides womöglich durch unsere Fehlbehandlung, vor allem halt durch das Bestäuben mit Leitungswasser hervorgerufen ward. In unserer Sorge hatten wir Ansichten des Vergilbten in ein Kakteenforum im Internet hochgeladen. Doch wurden wir dort, wie Tautropfen an einem Spinnenseil, alsbald in einen verschwörungstheoretisch grundierten Wirrwarr aus Privatmeinungen gezerrt.

Herr Anderson wiederum, der schon in den siebziger Jahren Forschungsreisen nach Bolivien und Afrika unternommen hatte—möglich gemacht wurde dem Palmengarten Frankfurt dies durch einen Mäzen, der selbst aufgrund einer Herzerkrankung keine Fernreisen mehr unternehmen konnte—um in den Herkunftslandschaften der Kakteen und anderen Sukkulenten deren ursprüngliche Lebensbedingungen recherchieren zu können, zerstreute diese unsere Bedenken mit der dem Sachverstand eigenen Ruhe: Denn das Faserkleid dieser Kakteen diente ja gerade eben dazu, den Morgentau und die Nachtfeuchte sozusagen einzuspinnen, um dann die darin gefangenen Tröpfchen während heißer Sonnenstunden dem Kaktuskörper zur Verfügung stellen zu können. Desweiteren ging es dann auch mal um die Signaltrommeln im ländlichen Indien der siebziger Jahre, um Gelbfieber, sowie um die hygienischen Verhältnisse von Ägypten versus Mexiko.

Die Fachsimpelei wurde aufs Schönste rhythmisiert durch das Vorlesen amüsanter Kurzgeschichten von Ludwig Thoma. Bald waren die kleinen Kerzen herunterbrannt, der Vorsitzende ließ es sich in seinem Schlußwort nicht nehmen, uns für unser unverhofftes Kommen zu danken, da der Abend durch unseren Beitrag einen für alle Anwesenden erfrischenden Verlauf genommen hatte. Das erinnerte uns freilich an die Reden auf dem CDU-Sonderparteitag, den wir am Nachmittag auf Phoenix verfolgt hatten, wo in mancher Rede, wenngleich metaphorisch, von Frischluftgefühlen und aufgestossenen Fenstern erzählt ward.

Man gab uns eine herrliche Fotographie mit, Aufnahme einer in voller Blüte stehenden Sukkulente. Ganz unscharf ist darauf im Hintergrund feiner, weißer Kieselstein zu sehen. Das Gewächs ist womöglich in Wahrheit nur wenige Millimeter stark.

The House That Jack Built

Rechts unter den Gleisen, in der Unterführung der Hardenbergstrasse am Bahnhof Zoologischer Garten (Zoo), der einst in den neunziger, achtziger und siebziger Jahren noch ein Synonym war für eine Hölle in Deutschland, weil dort sich Jugendliche als Stricher verdingten, um sich Heroin kaufen zu können, gibt es noch immer eine Art Supermarkt, den Verbrauchermarkt Ulrich, der seit diesen trüben Zeiten den Allerabgewracktesten mit beispielsweise Tetrapacks billigem Weißwein et cetera entgegen kommt.

In der Seitenstrasse neben den Gleisen gibt es seit kurzem das Programmkino Delphi Lux: ein herrlich ausgestattetes Lichtspielhaus; es werden dort, bevor es dunkel wird, geometrische Neonkunstwerke gezeigt. Bis es dunkel wird, kann man sich umschauen. In der Vorstellung des neuen Films von Lars von Trier saßen dort Leute, auf die ich mir keinen Reim machen konnte; es war keine Pressevorstellung. Wir hatten alle Eintritt bezahlt. Die anderen, der Saal war voll an einem Montagabend, zeigten sich in Partylaune. Es waren vor allem Männer, die, in bunten Sweatshirts gekleidet, ihren sogenannten Damen noch Getränkewünsche erfüllen wollten, bevor es dunkel würde. Die Paare gehörten zur Slasher-Community; das waren also spezielle Cineasten, die im Internet vor allem im Forum von Schnittberichte.com publizieren. Hier, im Delphi, saßen sie in Vorfreude unter sich.

Für solche Spezialzuschauer ist der Film eine Enttäuschung. Die Kritiken von Andreas Kilb in der Sonntagszeitung, am Tag darauf dann von Dietmar Dath im Feuilleton, haben vom Werk eines psychopathisch gewordenen Regisseurs gesprochen. Die angedeuteten Tabubrüche hatten wohl eben diese Spezialzuschauer in das Kino angelockt—und bei mancher Szene, wenn etwa Matt Dillon sein Kleingeld aus einem Portmonnaie herausholt, das aus einer gegerbten Brusthaut eines weiblichen Opfers genäht ist, wurde im Saal kurz, aber halt nur sehr kurz, gelacht.

Der Film geht aber zweieinhalb Stunden lang. Dann aber, am Ende, kommt es zur besagten Höllenfahrt, die halt keine Fahrt ist, sondern auf trostlose Weise vom Menschen erzählt: dass der immer nur weiter machen will; egal mit was. Because life, it goes on.  Ich war mittendrin auch kurz eingenickt. Das macht wahrscheinlich etwas, aber ich kann mir nicht vorstellen, was.

Auf dem Bahnsteig dann, es war ja ein überraschend warmer Tag gewesen, anfangs Dezember, schaute ich einer gut angezogenen Frau zu, die dort, kurz nach Mitternacht, in die Fänge der dieses Mal als Gymnasiallehrer verkleideten Kontrolleure des dysfunktionalen Personennahverkehrs von Berlin geraten war. Eine Schwarzfahrerin. Sie wehrte sich vergebens.

Das Haus aus Leichen, von dem es überall in den Kritiken heißt, ist übrigens nur nebensächlich in dem Film. Und beim Schlußlied haben in meiner Vorstellung alle noch mal Tarrantinomäßig gelacht.

Erster Advent

Wenn ein Hund sich hinlegen will, dreht er sich über seiner Liegestätte noch ein paar Mal im Kreis. Wie abwesend. Verhaltensforscher behaupten, dass Hunde dann imaginäres Gras niedertreten. Vererbtes Wissen, kaum einer unserer Hunde hat doch noch direkte Erfahrung mit hohem Gras.

Ich gehe. Ich mache Spaziergänge, es sind an beinahe jedem Tag dieselben Routen. Mir fällt dann etwas ein, wenn mir zu dem, was ich dort sehe, nichts mehr einfällt. Der Wind flüstert mir nichts wesentlich zu.

Heute war Regen angesagt—hat ja auch etwas penetrantes, so eine App, die einem an jedem Morgen schon prophezeihen kann (und es stimmt zunehmend immer!,) wie der Rest meines Tages draußen verlaufen wird. Aber dann immerhin zog der Regen über den Südzipfel der Stadt vorbei. Und ich ging durch den Wald bis zum Heinrichplatz, dort war Weihnachtsmarkt. Hohe Greisendichte. Manche schon mit Mullpflaster über der Ohrmuschel: es kommt ja jetzt die Zeit des Ausrutschens und des final ins Heim kommens.

Mir fiel das Gespräch wieder ein, neulich, auf dem Truthahnessen bei den Nitsches, wo es um die Kirchensteuer ging, dass beinahe niemand mehr zahlt. Aber auf diesem Weihnachtsmarkt am Stölpchensee: die Witwen, wie, auf schöne Weise herrisch die dort ihre Waren und Speisen feilbieten wollten zugunsten von Syrien und anderswie exotischen Christenheiten. Die allüberall wie verpflichtend waltende Freundlichkeit.

MEIN SCHARLACHROTER HAUSMANTEL

Der RBB hat eine interessante Dokumentation, eine Reportage über das Hochhaus des Axel-Springer-Verlages: Die Eingesessenen mögen den nennen Turm der Lügen, oder Golden Shower Tower—all dies kommt darin freilich nicht zur Sprache, es sprechen der Feingeist auf Montage und der Greis Servatius. Als Aussenquelle Jakob Augstein im Hemd, als wahrlich widerlicher Bourgeois.

Dann wiederum erfreulich die Ankündigung des Bonnbüchleins in der Vorschau bei Matthes und Seitz: Es schaut alles extrem schön aus, möge diese Fracht usw. Kleine, wirklich kaum störend wollende SMS an den Verleger, die dieser auch tatsächlich beantworten kann trotz all seiner Verpflichtungen (Dank.)

Post auch in dieser Hinsicht von Moritz Müller-Schwefe, aufgrund des Panizza-Vorworts (ja, dieses Tagebuch wird jetzt auch bald so trist wie das von Herrndorf—nein!,) der mir den Vorgängerband von E.M. Forster schickt, wie um bekräftigen zu wollen: fühlen Sie sich doch bitte bei uns aufgehoben.

Tue ich dann. Sowieso. Von daher: gern.

LICHT

Möwen ziehen über das Haus, flamingohaft getönt vom Sonnenaufgang hinter den Gleisen. Angeblich soll in letzter Zeit sogar die Feuerwehr alarmiert worden sein, weil Greise im abendlichen Bild aus buntem Licht und brüllenden Wolken einen fernen Großbrand gesehen haben wollten.

Den Briefwechsel von Ingeborg Bachmann mit Hans Magnus Enzensberger gelesen. Einmal, da ist er dreißig Jahre alt, probiert er seine erste elektrische Schreibmaschine aus und führt ihr die Möglichkeiten des Stakkatotippens darauf vor. Sie kann es ja nicht hören oder sehen, also macht er lange Reihen aus kleinen, und dann Grossbuchstaben, schreibt dahinter, kokett, stets kokett »siehst du wohl, wie lustig das ist?« Monate später verfasst er, der ansonsten stets in Kleinbuchstaben an sie schreibt einen Brief komplett in Grossbuchstaben, damit fragend »SIND DIE GROSSEN BUCHSTABEN NICHT AUCH GANZ SCHÖN

Lustig, mit welchen Problemen man sich zu jener Zeit herumgeschlagen hat; es sind im Grunde dieselben geblieben. Einige Briefe werden mit Durchschlagpapier getippt und an diverse Adressen gleichzeitig verschickt, weil der eine nie genau wissen kann, wo der andere sich gerade aufhalten wird. Gibt ja auch jetzt Anläße, wo man eine SMS und eine EMail mit gleichem Anliegen abschickt, um es dringlich zu machen. Dann vielleicht noch einen Anruf tätigt, wenn man keine Antwort erhalten hat. Alle Wege münden in ein und derselben Person, die zwar an ein und demselben Ort sich aufhalten wird, aber trotz allem nicht zu erreichen scheint.

Noch einmal lesen werde ich das nicht, also wohin mit dem Buch? Im Feuilleton war ein eher sanft zu nehmender Aufsatz von Leander Steinkopf, eine Ermutigung, Bücher auch ruhig mal wegzuschmeissen. Über die innerlich wahrgenommene Schwelle hinweg pfeffern, raus vor die Tür. Da ist eine Art Ehrfurcht vor dem Wegschmeissen eines Buches. Eine Art Drang, es zu bewahren, obwohl man es nie wieder brauchen wird.

Kenne ich von Schuhen.

CHEFTHEORETIKER

Schlag zwölf, die Suppe köchelte schon, endlich fertig mit den Korrekturen am Bonntext. Es hat dann, es kommt halt immer anders, doch mal wieder etwas länger gedauert. Gar nicht erstaunlich, wie schwer es doch ist, Abstand zu sich selbst herzustellen. Wie Maurice Summen zum Album der Türen total richtig verlautbaren läßt: »Alles entscheidet sich im Edit.« Das Album übrigens ein Hammer mit drei M. Direkter Nachkömmling von Pornography. Aber auch Beta Band. Staatsakt scheint das Label der sogenannten Stunde zu sein und die, nun ja, etwas überkandidelte Hymne von Dietmar Dath auf Jens Friebes nicht ganz so gelungenes Werk, ebenfalls dort erschienen, rührte womöglich von den Hummeln her, die er verspüren mußte, weil das Ding von den Türen erst spät im Januar erscheinen wird. Komplett gut, die Musique läuft hier nonstop.

Jan sagt ja auch immer, dass ihm das Schneiden erst Freude bereitet. Ich bin ja im Filmischen noch längst nicht soweit, aber allmählich kann ich zumindest Verbindungen herstellen, ich identifiziere Transplantate, man könnte ja tatsächlich beim Schreiben eines Drehbuches angeben »Party wie in Nocturnal Animals, aber die Leute reden über Berlinspezifisches.«

Und a propos Jan: ich beneide ihn darum, dass er Noten lesen kann. Schickte er mir doch gestern einen Ausriß aus den Peanuts, wo Schröder wie immer an seinem stummen Flügel sitzt und schreibt dazu »Das ist nicht Beethoven!« Für mich waren es tatsächlich Notenpapiergirlanden wie immer. Also fragte ich »Sondern?«

Und er »Chopin.«

Glaubte ich ihm aufs Wort.

PUTZLICHT

Gestern wurde mir die Bedeutung des Begriffes Heimat in der erweiterten Bezeichnung des Bundesministerium des Innern enthüllt. Das war auf einer Bahnfahrt in die Innenstadt. Während des Wartens auf meinen Zug waren mir die neuen Plakate aufgefallen: »Freiwillige Rückkehr« hieß die Überschrift unter der Marke des Ministeriums »Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt!« Ein gezackter Zaun aus bunten Flaggen vieler Herren Länder wies von den Schlagworten hin auf die Webadresse www.ReturningfromGermany.de, daneben ein Hinweis à la Black Friday »Jetzt bis zum 31.12.2018 bis zu zwölf Monate zusätzlich Kosten für die Wohnung im Herkunftsland sichern.« Auf der unteren Hälfte des Plakates wurde dieser Hinweis in sechs Sprachen, beziehungsweise Zeichensystemen wiederholt: Englisch, Farsi, Französisch, Arabisch, Russisch und Paschtu.

Diese Plakate waren in jedem Leuchtkasten, auf jedem Bahnsteig entlang der Strecke der S7 ausgehängt. Bis zum Bahnhof Zoologischer Garten immerhin, wo ich aussteigen mußte, während mich Bundespolizistinnen in Riot Gear vor den enthemmt ihren verdienten Heimsieg feiernden Fans der Hertha abschirmten. Draußen das übliche: Großstadtgetriebe. Ich ging auf das Erntedankfest bei den Nitsches. Es gab Truthahn mit dem üblichen Beiwerk aus Pürrees und Saucen. Das ist nicht jedermanns Sache, hat sich aber nun einmal eingebürgert und ich weiß ehrlich gesqgt auch gar nicht mehr, was wir früher daheim spezielles gegessen haben zu Erntedank. Wobei mir ein Georgier dann erzählt hat (ein Architekt, der sich in eine in Berlin lebende Künstlerin aus Georgien verliebt hatte, und ihretwegen seine Heimat verlassen hat,) dass in Georgien um diese Zeit ein Geflügelgericht zubereitet wird, indem man ein Huhn oder etwas ähnlich delikates in einer Sauce aus pürierten Walnüssen fortwährend dreht und wendet, um es in der Nußsauce zu garen.

»It is absolutely delicious«, sagte er (ich kann leider kein Georgisch) »But very rich.« Und auch alles andere, was er mir erzählen konnte, vor allem die Walnußbaumwälder, klang einfach bloß anheimelnd in meinen Ohren.

»I‘d like to move to Georgia«, sagte ich.

»Viel Spaß«, sagte die Künstlerin.

Man versprach mir das Rezept.

AM G-PUNKT DER JEMÜTLICHKEIT

Anders grau, gelblich, anders feucht auch, fauchend: gleich auf dem Bahnsteig unter den düsenhaft die Kaltluft hereinleitenden Glasröhren zu Berlin umfing mich das Wetter, das, laut Olafur Eliasson, dem Isländer, die Natur des Großstädters ist. Bin ich demnach nicht, ich empfinde ungemütliches Wetter als unnatürlich. Es soll sich verziehen. Woandershin. Zurück in seine Dose, nach Sibirien.

Fuhr mit einem unterdrückten Schrei noch weiter in mich zusammen, als vor mir eine Don‘t-Look-Now-hafte Gestalt erschienen war in einer bodenlangen Kutte aus ultramarinefarbenem Material mit goldenen Knöpfen. In dem dunklen Loch der Kapuze machte ich vor allem einen waagerecht rasierten Balken aus. Es handelte sich demnach um Frédéric Schwilden, der, dergestalt vermummt zu einem Seniorennachmittag der CDU nach Magdeburg geschickt ward, um dort Jens Spahn auf die Nerven zu gehen. Während der kurzen Fahrt im Regionalexpress—es gibt ja, zeichenhafterweise keine normale Zugverbindung nach Magdeburg—erzählte er mir die von ihm sogenannten Schwänke aus seinem Leben als Chefreporter Politik, da ging es vor allem um Harald Glööckler natürlich, und wie der wohnt, seitdem er sich sämtliche Zähne hat entfernen lassen, um sie durch Implantate aus Panzerglas zu ersetzen.

Das Mosaik von Christoph Niemann wurde während meine Abwesenheit eingeweiht. Darauf weist jetzt ein in das Mosaik mit hineingefliestes  Schild hin, das von seinen Proportionen her—noch—ungeschlacht wirkt; von seinem Informationsgehalte her freilich nicht: Das Werk wurde »kuratiert von Ruth Ur.« Schicker Name. War mir auch noch gar nicht klar gewesen, dass man auch einzig einzelne Werke kuratieren kann. En attendant les sprayeurs.

Daheim dann eine Art Naturwunder: die Geranien haben zur zweiten Blüte angesetzt. Rot im kalten Grauen.

WOHNFORMEN DES MITTELALTERS

Jetzt tritt es schlagartig hervor, mir in den Sinn, während ich, dick eingepackt in isolierende Schichten durch die selben Straßen gehe wie noch vor wenigen Tagen und dort, überall, an den selben Stellen die Mitmenschen sehe (nicht entdecke), die auf dem Trottoir liegen oder schon auf sind, sitzen. So lange es warm war, auch nach Sonnenuntergang erträglich vielleicht, hatte das zwar etwas Elendes, jetzt ist es unvorstellbar geworden, wie sich das aushalten läßt: ein Wohnen ohne Wände und Gardinen; nichts um einen herum, das einen abschirmen kann vor den anderen, die heim gehen können (oder in ein Büro.) Auch Oskar hat, als wir zuletzt noch über Frankfurt sprachen, erzählt, dass er die an der Ringstraße direkt gegenüber des Hauptbahnhofs auf bräunlichen Matratzen lagernden Mumen beeindruckend findet. In einem Sinne von stark. Mächtig, weil er sie sich gleich als Clanchefs vorgestellt hatte. Der eisige Wind bläst von diesen Phantasien das Fleisch in Fetzen weg. Nichts bleibt.

Was ist nackter als nackt, so nackt, dass es knackt?

Alexander Kluge hat in dem Gespräch mit Michaelsen auf die Frage nach der Scham geantwortet, dass er die nie hätte. Er sagte »Nicht einmal beim Nasepopeln.« Ich schäme mich, wenn ich auf dem Weg zum Erzeugermarkt durch die Taunusstrasse abkürze, weil mir kalt ist und dort dann die Männer und Frauen in meinem Alter sehe, manche noch älter, die auf ihren schmuddelig gewordenen Ballen hocken, um nachzudenken über Geld.

Heute früh schaute ich aus dem Fenster in den blanken Hinterhof, wo (durch das Fernrohr war es mir nah,) das Eichhörnchen, einen halben Apfel zwischen den Kiefern, von einer Dachrinne aus in die durchsichtig gewordene Krone des Kirschenbaumes sprang, um seine Beute dort in einer Astgabel festzuklemmen. Akrobatik, kein Applaus. Das ist ja natürlich, gehört sich so, aber es wäre, denkt man es sich auf unsere Proportionen umgerechnet gerade, als würde ein Erwachsener (konnte nicht erkennen, ob es ein weibliches Eichhörnchen war,) mit einem Laib Bauernbrot zwischen den Zähnen von einem Hochhausdach zum nächsten springt, ohne dies Brot zu verlieren.

Dann, als die rote Apfelhälfte gesichert war, sprang es weiter, in ein Gebüsch. Darauf näherten sich Vögel, weichschnabelige Meisen, um von dem Apfel abzupicken. Zwar dementsprechend wenig nur, aber trotzdem wurde der Vorrat dadurch geschmälert. Keine Tür, keine Wände hat die Speisekammer des seidig unverwuschelten Eichhörnchens.

Bei Vertigo ist meine Lieblingsszene die, wenn Kim Novak aus dem Ankleidezimmer kommt, vollendet verwandelt, und James Stewart sagt aus seinem Sessel heraus »Komm her.« Sie ziert sich, weil sie fürchtet, er könnte sie verwuscheln, ihr das Make Up in Ordnung bringen »I have my face on.«

Dann, wenig später »Ach verwuschel‘ mich doch ein bißchen.«

IN DER KÜNSTLERKOLONIE ZUM BLAUEN HASEN

Sonntag in der Früh, auf dem Feldberg lag schon Schnee, und im Hessischen Rundfunk wurden uns »eisige Genüsse« versprochen, nahmen wir die Bahn hinaus nach Preungesheim zum Künstlerbedarfshandel, der, als Künstler kennt man keinen Ruhetag, ganz natürlich auch am Siebten Tag des Wochenlaufs geöffnet hat. Ein, hat man die visuelle Durststrecke der Gießener Landstraße gottlob vorbeifahrenderweise erst hinter sich gebracht, selbst im Klammen durchaus anheimelnde Vorort—die Schwemmländer der Taunusvorebene haben meiner Phantasie zumindest einen Spielraum zu bieten, wo sich nackte Gerippe einst mild belaubter Sträucher jetzt im Wrast wie festzuklammern scheinen, um die milchfarbene Decke sich über die dürren Zehen zieh‘n zu dürfen »nur noch ein Stündle!«

Auf dem Parkdeck eines Supermarktes stand der Wurstwaggon eines Halal-zertifizierten Imbißmannes, dessen nicht gerade ausladendes Menü unter den obligatorischen Kebap-Speisen auch eine Rubrik Rund um die Bratwurst anzubieten hatte. Dies freilich auf die hessentypische Rindswurst, per se beinahe Halal, eingekreist. Interessant, wenngleich auch ortstypisch, dass ein und derselbe Entrepreneur zugleich und in ähnlicher Aufmachung dort auch ein Menü hingeklebt hatte, um für seinen zweiten Geschäftsbereich, jetzt als Immobilienmakler, zu werben. Dort wiederholte sich der Slogan in roten Blockbuchstaben »WIR VERMIETEN AUCH! SPRECHEN SIE UNS AN

»Eine Rindswurst, bitte, mit Senf und Fritten. Und eine Wohnung, hier im Viertel.«

»Macht eintausendzweihunderteinundzwanzig Euro achtzig im Monat. Beides kalt, mehr oder minder.«

»Dankeschön.«

Ich hatte meine Inspiration aus der Zeitung empfangen. Dort hatte es ein Bild gegeben, in dem der Präsident der Vereinigten Staaten während seines Lokalaugenscheins einer Brandstätte in einer Art Wald, umgeben von Zivilistionsschrott sich mit einem Vertrauten beriet. Von der Körperhaltung her brütend. Die Aschehaltigkeit der Luft hatte die Farbfotographie auf Schwarzweißkontraste reduziert. Ideal, meiner Inspiration zufolge, für eine Verewigung im Linolschnittverfahren. Dazu stand schon der Titel fest: Donald Trump in Paradise.

Im Künstlerbedarfshandel halfen uns dann die dort rings um die Uhr auf 400 Euro-Basis beschäftigten Studenten der Städelschule mit der ihnen beigebrachten Fachkenntnis, unseren Wagen zu füllen. Daheim dann schnitten wir inspiriert in die uns stapelweis‘ verkauften Linolkarten. Es war wie beim Zehennägelschneiden. Man fegt das nonchalant vom aus Sveta Petka mitgebrachten Tischtuche—ist schließlich Künstler. Nach vollbrachtem Werk dann tatsächlich die von den Altvorderen unermüdlich berichtete Befriedigung. Sie stellt sich ein. Es tut wirklich gut, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Ein Raphaël ohne Hände—will ich nicht sein.

WILDNIS

Träume von überfüllten Räumen, in denen kein Durchkommen ist. Eisiges Strömen, der Wind raschelt im Laub auf dem Rasen wie ein Tier. Wilde Wetter, wie man es auf dem Land erleben kann, wo sich draußen alles biegt und bäumt erlebt man in der Stadt nicht. Die Häuser halten sich aufrecht. In den Zwischenräumen lebt ein Baum.

Gezähmt bis hin zum Lähmenden des Anblicks die Ausstellung Wildnis in der Schirn. Auf mich wirkte die Zusammenstellung leider so, als ob einem Generator wie dem Zufallsmodus in Apple Music dort die Auswahl der Kunstwerke überantwortet ward. Ein Sammelsurium aus allem möglichen, was irgendwie mit Bergen oder Bäumen, mit Weiten und Ebenen oder auch mal einem Tier zu tun hat. Auch leider viel von nicht so guten Künstlerinnen, über die es im Grunde vor allem zu sagen gibt, dass sie weiblicher Natur waren oder sind. Ein schönes Gemälde von Georgia O‘ Keefe, abstrakt in Wüstenfarben, das aber leider hinter Glas gerahmt gezeigt werden muss, sodass ich kaum erkennen konnte, ob sie etwa Teile des Motivs mit Klebestreifen maskiert hatte, um scharfe Kanten zu erzeugen. Und ein sehr schönes Werk aus vier Tafeln von Tacita Dean. Der Rest ließ sich im Spurt nehmen.

Die japanische Defintion der Wildnis als ein der bürgerlichen Gesellschaftsordnung enthobener Raum, wurde da von den Besuchern der Ausstellung selbst verkörpert, die, weil es ja um Tiere und Natur zu gehen schien, mit Kinderkarren ihren durch die Räume torkelnden Schnullerkindern hinterher trollten.

Vielstimmig dafür der Rapell á l‘ordre im Gästebuch des Museums. Der Ton hat sich mittlerweile, geschult im Drunterkommentieren von Internetseiten, verschärft. Es wird, von der Beleuchtung der Räume, über die Farben und Schriftgrößen der Hinweistafeln und der Temperatur der Suppe im Bistrot alles niedergemacht. In teils unverschämtem Ton. Aber immerhin: handschriftlich.

EXOTERIK

Miete Strom Gas: herrliches Lied. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um das erste vom neuen Album der Türen, das von Monika Grütters finanziert wurde im Sommer. Wenn bloß alle Staatskunst so gut werden darf, bin ich dabei.

Schlimm allerdings, regelrecht verbaselt fand ich die Sonderausgabe des SZ-Magazines, die alljährliche Kunstnummer, die 2018 Raymond Pettibon hat. Da frage ich mich halt schon, warum eine Redaktion, die in der Woche zuvor noch ein wie immer wundervolles Interview von Sven Michaelsen drucken kann, ausgerechnet zu meinem Lieblingskünstler jemanden schicken muß, der so ganz unverfroren und offensichtlich überhaupt gar nichts, kein winziges bißchen mit Kunst anfangen kann (oder auch nur das mindeste, auf Vorschulniveau, von der Kunst und den Bedingungen zur Kunstproduktion, weiß.) Da bleibt dann freilich nicht mehr übrig, als irgendeinen zusammengegoogelten Faktentrash abzugreifen. Oder um es mit Alexander Kluge zu sagen, der in der Woche zuvor mit Michaelsen sprechen durfte: »Wir sind doch beide Eisenhändler, wieviel Gramm?«

Der Bildteil natürlich eine Offenbarung. Und ich hoffte, was ich ansonsten im Gegenteil nie hoffe: Dass niemand bitte den entsetzlich spießigen Text dazu gelesen hat. Wenn der Spießer zur Kunst geht, muß er pathologisieren. Und dann ist Pettibon selbstredend autistisch, vergreist, dement et cetera. Kocht Mais mit Reis! Ich kenne das schon, dass ein Interview mißrät, nicht gut gelaufen ist. Aber dann gibt man es doch bitteschön nicht in den Druck! Oder erschießt sich zuvor.

Fragte mich auch, ob es Oda Jaune nicht längst ankotzen müsste, dass es zu ihrer Kunst nichts anderes zu schreiben gibt, als dass sie Witwe ist. Pflügte mich längst schneeblind geworden durch einen mir unendlich währenden Text, wo selbst noch jede sogenannte BU (Bildunterschrift) um das magische Wörtlein Witwe arrangiert geworden war. Und stieß dann, wie es heißt: ganz am Schluß doch noch auf den Namenszug der Verfasserin, es war ja Lara Fritzsche, preisgekrönt. Na ja, dann. Verstehe ich es halt einfach nicht, oder es mußte so sein.

Konnte dann aber mit dieser Injektion von Wut das Vorwort zu Panizza vollenden. Herrlich, wie die Freiheit dann aus mir heraus die Fingerspitzen streckt. Barthes hat ja von der Lust am Anfangen geschwärmt; die kenne ich auch. Aber die Lust am Fertigmachen empfinde ich als mindestens genau so geil.

Mein Herz klopft.

EX SITU

Mein Gedächtnis ist kein Rückspiegel, es funktioniert wie eine Diaprojektion: Alles scheint vergrößert, fiel mir dabei ein, als ich heute früh beim Öffnen der Haustüre (Handke soll seine Tochter mit der flachen Hand geschlagen haben, um ihr den falschen Begriff des Aufmachens der Fenster auszutreiben,) der Mume gegenüberstand, die dort, tatsächlich weit unter mir in ihrem Sack voll Knoblauchknollen kramend, nach ihrem Haustürschlüssel (Hausschlüssel: Zack!) wie es heißt: fischte.

Monatelang dürften wir uns nicht mehr in persona begegnet sein. Ich schaute jeweils nur herunter auf ihren Balkon, auf dem noch immer die Geranien bergeweise blühen, während die meinen in Berlin, aufgrund des harschen Seeklimas vermutlich, schon längst abgestorben sind. Und: tatsächlich ist sie noch viel kleiner, als ich dachte. Geradezu winzig, dabei aber kubenförmig, den kühleren Temperaturen angepasst, in viele Schichten eingepackt. Ganz wie es Jennifer Anniston in jener Folge Friends erklärt, was einen Trifle ausmacht: »Ganz viele Schichten.«

Gestern abend dann noch ein im Mutter Ernst, wo man uns Kotelettes brachte, die wie gefrorene Waschlappen ausschauten, braun. Von innen freilich delikat. Mit uns am Tisch saß eine Familie, so als ob gleich gefilmt würde: Der Vater im Dreiteiler aus Wien mit roter Krawatte, die Mutter in einem eng anliegenden Oberteil mit Leopardenflecken bedruckt (erbsgroße Perlen um ihren schönen Hals.) Die Tochter nun, auch modisch als ein Produkt ihrer Erzeuger. Schatten einer Krähe im Spiegel einer Hochhausfassade aus rötlichem Granit. Darüber zog ein Ferienflieger einen hellen Strich über den Abendhimmel. Da bekam ich Gerhard-Schröder-Gefühle »Ich will da rein.«

CADY NOLAND, SUPERSTAR

Vergeblich, mein Besuch der Kleinmarkthalle, wo am Mittwoch im Parterre ein Mainfischer seine Praxis öffnet. Ich fragte nach Trüschen, die im Hessischen natürlich Quappen heißen, weil ich Friederike mit dem einzigen Fischgericht der Schwäbischen Küche, den Trüschenleberle bewirten wollte. Er kannte den fraglichen Fisch unter beiden Namen. Doch obwohl, weil beinahe ausgestorben, die Trüsche in den vergangenen Jahren erfolgreich wieder angesiedelt werden konnte im Strom der Nidda, gibt es für die Quappe oder Trüsche bislang noch nicht genügend Abnehmer, um mit seiner Leber lohnend handeln zu können. Er hat ein gefliestes Lebendbecken dort unten in seinem kühlen Kellerraum. Packt auf Verlangen die darin herumscharwenzelnden Fische, Saiblinge vermutlich (ich vergaß, ihn danach zu fragen; sie hatten Punkte,) und steckt sie kopfüber in einen mit demselben Wasser, aus dem sie gerupft, gefüllten Wasser und erledigt ihren Fall mit einem Stromstoß aus einer weiß lackierten Gabel—seltsam, dass einem da der Fischtod wie es heißt human vorkommen will, gleichsam zum Mercy Seat, bloß dass halt die Fische nichts zu sagen haben. Und dass es vor allem dabei nicht qualmt aus dem Kopf des Fisches, während er innerlich gekocht wird bei seinem Unterwassertod.

Sodann, die Hasengasse hinab, betrat ich das Museum für Moderne Kunst in seinem kuchenstückförmigen Gebäude (aus Vogelperspektive betrachtet) am Rande der neuen Altstadt. Die Ausstellung der Skulpturen Cady Nolands ist über drei Etagen aufwärts arrangiert. Und mit jedem Stockwerk dort wird es eindringlicher. Der Besucher bekommt es dabei beigebracht, worum es hier geht. Wobei es sich tatsächlich unfassbarerweise um Werke handelt, die in den achtziger Jahren entstanden sind. Das läßt sich allein von den winzigen Schildern an den Wänden ablesen. Den Kunstwerken an sich sieht man es nicht an. Das hat mit unserem veränderten Verhältnis zu Amerika zu tun. Allein deren Flagge, einst ein beliebter Aufnäher auf Jeansjacken hierzulande, löst heute ein diffuses Unbehagen aus dergestalt, dass man die Farben und deren Muster nicht mehr als Popkultur wahrnehmen kann, sondern als Warnsignal.

Zur Verwendung kamen vor allem Materialien aus dem Baustoffhandel, Stangen und Schellen aus Aluminium. Es sind, alles ist über dreißig Jahre alt, deshalb keine Alterungsspuren festzustellen. Selbst die geleerten Bierdosen wirken wie gestern gekauft. Man wandelt durch ein blankgeputztes Gerippe einer Zeit. Und weil es alles derart blank, neutral und abstrakt gehalten ist, wallt der Gedanke an Blut und Gewalt und Mercy auch so gewaltig auf. Wie bei den Waterboys und ihrem skelettierten Stück Trumpets, das ja eben nicht von Trompeten untermalt wird, sondern von einem frei flottierenden Saxophon, weshalb ich beim Hören dann umso intensiver über Trompetenklänge nachdenken kann. Das fällt vor allem auf in einem der oberen Räume, wo eins dieser Horrorgestelle mit einem Schaukasten von Joseph Beuys kombiniert wird, in dem es, laut Schild, um die Direkte Demokratie geht, und in den Kästen aus verglastem Wannenblech Tauziehtaue und Boxhandschuhe mit einem schimmligen Zahnschutz der Boxer ausgestellt werden. Das wirkt antik. Die aus Aluminium gegossenen Pranger von Cady Noland, ihre Zäune, Käfige und Folterutensilien dagegen: taufrisch, immernoch einsatzbereit.

Eine Insel, auschließlich für diese Ausstellung vorgesehen, wäre der ideale Ort, um diese erstaunlich schreckliche Kunst zur optimalen Wirkung zu verhelfen. Das MMK in Frankfurt, mit seinen Jil-Sanderhaften Räumen, in denen man immer wieder von aparten Söllern aus einen Überblick sich verschaffen kann über die darunter im Licht gelegenen Flächen, ist aber beinahe ideal. Auch weil die zahlreichen Museumsaufseher hier in hübschen Uniformkitteln in Marineblau mit dem weißen Rückenaufdruck »Museum« ausgestattet sind.

Halt einfach auch ein perfekter Name: Cady Noland.

NGUOI NGUOI LOP LOP

Merke, dass ich jetzt manchmal länger vor Schaufenstern verweile, bis ich glaube, begriffen zu haben, was dort gezeigt wird, wozu.

Tatsächlich elektrisiert, vermutlich weil ich mit dem Vorwort für die Neuauflage des Textes von Oskar Panizza beschäftigt bin, hat mich die kleine Meldung in Natur und Wissenschaft, auf Basis eines in Science Robotics veröffentlichten Berichtes: Der Prototyp des automatischen Polizisten besteht derzeit aus »identischen, acht Zentimeter großen Würfeln. Jeder ist mit Rädern, Motoren und einem Mikroprozessor ausgestattet.« Die Einheiten werden von an sämtlichen Kanten angebrachten Magneten zusammengehalten. So kann die Einheit sich je nach den Gegebenheiten ihres Einsatzgebietes zu beinahe beliebigen Formen zusammensetzen. Beispielsweise zu einem flachen Gebilde, um unter einer Tür hindurch zu gleiten—wie Lacan das für sein Modell des Begehrens, des Hommelettes vorgesehen hatte; oder als hintereinandermontierte, schlangenhafte Gestalt, um in einen Raum hinter einem senkrechten Spalt zu dringen (etwa einer annähernd geschlossenen Türe eines Liftes.) Auch Treppensteigen ist der Einheit möglich durch Anformung in Z-Formation. Und wenn dann erst jeder Kubus einen Rotor erhält à la Drohne, wird eine umherfliegende amorphe Masse denkbar, schwebendes Begehren nach Lacan, das, gesteuert durch das Auge der Videoüberwachung, die sich etwa über einen durch Gassen fliehenden Räuber stülpt und ihn kraft der Magnete am Fortkommen hindert, bis er von einem selbstfahrenden Gefängnispanzer eingesammelt wird, um vor einem Gericht Künstlicher Intelligenz verurteilt zu werden.

LE NOUVEAU MONDE AMOUREUX

In Frankfurt wurde ich empfangen von Friederike, die mich bei einer Brüssler Pizza mit einem Mitbringsel von ihrer Islandreise bewirtete: ein Bier namens Lava. Jahrzehnte waren vergangen, seitdem ich selbst auf dieser Felseninsel gelandet war, aber der Geschmack des Lavabräus brachte mir unmittelbar und, wie ich es in einem Text über den Beginn der Bauarbeiten am Bonner U-Bahnsystem auf Veranlassung des damaligen Verkehrsministers der BRD, Franz-Josef Strauß gelesen hatte: rammstoßartig, auf jedenfalls total unprousthaft die Erinnerung zum laufen, wie es dort zugegangen war. Der Geschmack des Bieres war lakritzhaft und zugleich wie die Rinde vom Schwarzwälder Schinken; also dunkel, tendenziell schon schwarz (wie man sich dort, auf Island, auch den halbierten Schafskopf munden lassen kann.)

Am nächsten Morgen drängte es mich auf das Observation Deck meines geliebten Einkaufszentrum, dem sogenannten Skyline Plaza, Roman, wo es laut allüberall plakatierten Plakaten einen »Europa Weihnachtsmarkt« geben sollte. Dies war allerdings und entsprechend vollmundig mit einem Pfund Salz zu verstehen, denn es waren in den wenigen dort rings um ein verkleinertes Modell des Eiffelturmes aufgestellten Hütten lediglich diejenigen Länder Europas repräsentiert, die auch aus ihren landesküchen mit allgemeinverständlichen und obendrein rasch zuzubereitenden (vulgo frittierten) Snacks die Europa-Weihnachtsmarkt-Besucher zu bewirten sich in der Lage befänden. Und nicht etwa sähen. Von daher war Island wie es heißt a priori von der Teilnahme am Europa Weihnachtsmarkt auf dem Observation Decke des Skyline Plaza ausgeschlossen. Teilnehmen durften dafür wohl: DEUTSCHLAND, ITALIEN, UNGARN, SCHWEIZ, KROATIEN, ÖSTERREICH, SCHWEDEN, SPANIEN, FRANKREICH. Und DRESDEN. Dies aber wohl allein des Stollens wegen. Und nicht etwa, um Dresden als nationale Exklave Deutschlands zu erklären. Der all dies konzeptuell zu erklärende Leitsatz des Weihnachtsmarktes lautete indes »Europäische Länder Food-Hütten mit speziellen landestypischen Gerichten«.

Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.

VON BERLIN VIA STUTTGART NACH HEIMERDINGEN UND VON DORT AUS ÜBER BESIGHEIM UND MARKRÖNINGEN NACH FRANKFURT AM MAIN

In der Bahn, zwischen den Haltestellen Feuerbach und Neuwirtshaus saßen mir gegenüber zwei Mädchen, die eine hübsch wie selbst die junge Nastassja Kinski es nie war, und besprachen ungeniert (weil es drängte), eine Herzensangelegenheit, die wohl mit einem Zwischenfall während einer Whats-App-Unterhaltung mit einem nicht anwesenden jungen Mann zusammenhing. Ich lauschte. Und wurde ganz gerührt von der feinen, sensiblen Art wie beide miteinander sprachen. Und auch wie genau sie ihre Gefühle voreinander beschreiben konnten. Kann ja sein, dass ich mich falsch erinnere, aber ich dachte: so klar und deutlich konntest du das in diesem Alter nicht. Da hat sich etwas wichtiges getan inzwischen; ein empfindungssprachlicher Epochensprung.

Am nächsten Tag dann zeigten sich in der Frühe schon lachsfarbene Wölkchen über den Dächern, es wurde eine Ausfahrt gemacht ins Hinterland, wo an den Steillagen die Reben in schurgeraden gelben Reihen aufwärts führten wie Cord oder wie nass gekämmt. Und in den Ebenen waberten die endlosen Reihen von Spargelbüschen in einem giftigeren Gelb über den Sandböden wie Dämpfe. Der Himmel war blau. Wie es sich herausstellen sollte, war dies eine Erinnerungslandschaft meiner Eltern, in der sich Geschehen vor meiner Geburt abgespielt hatten. Ich wußte gar nicht, dass Markgröningen, ein Dorf, das ich lediglich vom alljährlichen Schäferlauf kannte, eine derart malerische Altstadt besitzt. Im zweitschönsten Fachwerkbau, dem Gasthaus zum Bären bekamen wir einen sehr guten Mittagstisch mit Rostbraten, Suppe, Bier und Salat.

Leichte Gartenarbeit unter der Anleitung des Vaters. Ein Beet sollte entstehen, wo einst der Rhododendron seinen Platz hatte. Mit zum Ende hin zunehmend schwer wiegendem Gerät (die Garage enthält davon schier unerschöpflichen Vorrat), riß und hackte ich dessen Hinterlassenschaft: sein kabeldickes Wurzelsystem, aus dem lehmigen Grund — schweißtreibend. Aber halt auch schön, mal, zwischendurch.

Die dafür bestimmten Sträucher, Johannisbeer sollten es sein, besorgten wir in einem veritablen Großmarkt, der hier, wo jeder »jeden Schritt« mit dem Auto zurücklegt, US-amerikanische Dimension hat. In jeglicher Hinsicht. Gleich im Foyer, noch vor den Blumen, gab es ein massiges Becken, in dem seehundsgroße Koi-Karpfen ihre Bahnen zogen. Das sichtbar gemachte Unterwassergeschehen zog die kleinen Kinder freilich an wie Eisenspäne, sollte aber natürlich auch kapitalisiert werden, weshalb es einen gleich neben dem Fischbecken aufgestellten Automaten gab, der nach Geldeinwurf den Kindern magische Kugeln aus durchsichtigem Plastik spendierte, in denen sich die Pellets befanden, mit denen sie dann die herrlich schimmernden Tiere füttern konnten, während ihre Mütter einkaufen fuhren (den Wagen, schiebenderweise.) Die Weitläufigkeit des Gartencenters bedingt es, dass man den Kindern eher mehr als bloß eine dieser Koifutterkugeln kauft, damit die Zeit bis zur Wiederkehr der Mutter nicht mit Blödsinnmachen vertrieben wird.

In der Abteilung für Whirlpoolbecken und Jacuzzis entdeckte ich just eben das Modell wieder, in dem ich im vergangenen Sommer im bulgarischen Jakoruda gesessen hatte mit Ausblick auf die Rhodopen. Sparkling memories. Schäumend auch.

Nach dem Einladen der Sträucher, einer mit Stachelbeeren ging auch mich mit, weil man in solchen Märkten ja immer noch etwas kauft, was man ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte zu kaufen, führte meine Mutter mich in die Sonderverkaufsschau, wo es thematisch natürlich bereits Weihnachten geworden war. Und zwar mit allem: mit Neon und Spray-Schnee und eisbedeckten Bachläufen, in denen es gewittrig flackerte wie auf der Tanzfläche von Stayin‘ Alive. Ich bin da mittlerweile unentschieden, obwohl es für mich früher undenkbar gewesen wäre und ich freilich mit nichts anderem dekorieren könnte, als mit Strohsternen und durchsichtigen Glaskugeln und Kerzen in rot. Aber wenn es dann so komplett überkandidelt vor einem sich, wie es heißt: erschließet, das sogenannte Winter Wonderland Punktpunktpunkt. Im mumischen Wohnzimmer wars doch vor einem Jahr ähnlich gewesen, fiel mir dabei ein. Bloß halt nicht ganz so üppig. Dann lieber doch karg.

In der dem Konzept dieses Supercenters eignenden Logik hinsichtlich Kundenführung, schloß sich direkt an das Weihnachtsland die Freiluftzone mit Grillgeräten an. Saisonal betrachtet wurde man also aus der Zukunft in die abgeschlossene Vergangenheit geführt. Dort verharrte ich mit dem Vater schon auch ehrfürchtig, vor allem aber heidnisch gestimmt vor einem ausladenden Altar zur Garung extrem großer Mengen Tierfleisches. Ein ganzer Koi hätte dort entspannt lagernd neben einem anderen Platz gefunden. Das Gerät nannte sich unverständlicherweise Napoleon, der ja a) kleinwüchsig gewesen sein soll, b) Franzose (keine Barbeque-Nation) und c) laut Mommsen: feuerscheu. Solcherlei diskutierend wurden wir von einer der Verkäuferinnen angesprochen, die mit einem der für das Supercenter typischen Uniformmäntel angetan war — also in grün. Und die zeigte uns nun auf ihrem Telephon, dass sie sich just heute früh erst, wie sie sagte: privat, einen dieser Napoleon-Herde gekauft hatte. Und zwar, weil wir sie fragten, warum, weil es ihre Leidenschaft ist: zu grillen. Sie zeigte uns auch unaufgefordert weitere Fotos, mit denen sie einige ihrer denkwürdigsten Fleischgerichte festgehalten hatte. Das schaute imposant aus, weil die Fleischstücke uns teilweise größer erscheinen wollten als einer der Koi-Karpfen aus dem Becken im Eingangsbereich.

Doch warum ausgerechnet dieser Grill, der mit dem Namen Napoleon?

Sie freute sich, so als hätte sie zu lange auf diese Frage schon warten müssen: »Weil ich nur bei dem eine Sizzle-Zone habe,« sagte sie und lenkte mit einer Handbewegung unsere Blicke auf ein jenseits des regulären Rostfeldes angebrachtes Gittergehäuse aus besonders hochglänzend poliertem Edelstahl. »Dort herrscht eine Temperatur von 600° Celsius. Nur bei der Hitze kriege ich mein Fleisch so hin, wie ich es haben will.«

Das Auto, in dem sie ihren Napoleon nach Hause schaffen würde nach Feierabend war ein Opel Adam, das war ihr wichtig zu erwähnen. Wir verabschiedeten uns von ihr, ohne nach ihrem Namen zu fragen und ließen sie auf ihren Feierabend im Gartencenter wartend zurück. Die Kinder standen dort noch immer und fütterten die Karpfen. Unser Weg führte uns nach den Kassen am Fruchtstand eines Türken vorbei. Granatäpfel gab es auch.

SCHALL UND WAHN

Wer hat den Laubbläser erfunden

Die ganze Menschheit ist davon geschunden

GÜLDENTHAL

Im Hohlweg am Nymphenufer ist der Boden ganz mit gelbem Laub bedeckt, hier liegt der Sommer in all seinen lichten Stunden und fault vor sich hin. Am Wegesrand ein Strauch mit Bischofshütchen, das Blattwerk hat er schon abgeworfen und zeigt jetzt seine zierlichen Blüten einzeln her wie an einem eigens für sie angefertigten Gestell. Kein Baum oder Strauch aber hat derzeit schönere Farben als dieser Ahorn, zart von Wuchs, mit seinen scharlachroten Fingern.

Wenn kein Frost kommt, bliebe das alles so in diesem Bild. Die letzten Blätter blieben hängen, bunt wie sie jetzt sind. Vor, ich habe nachgeschaut, 14 Jahren habe ich versucht einen Roman zu schreiben, Liebesgeschichte im Kunstsammlermilieu, der mißriet. Wahrscheinlich sogar mußte. Der war jedenfalls angesiedelt in einem dünn maskierten Umland à la Uckermark und dort Schorfheide in der fiktiven Gemarkung Eibenthal. Zur Erzählzeit dieser Mortadella sollte eben genau dies Naturereignis eingetreten sein: ein ewiger Nachsommer. Die Blätter waren gefärbt, aber sie fielen nimmermehr. Da war dann freilich alles möglich. Jedenfalls zu viel des Guten.

Ich habe heute morgen, nur mal so, die Heizkörper wieder abgestellt. Weil es mir zu warm war. 

Mir!

NOCTURNAL CREATURES

Kay ist tot. Sagt M. (am Telephon.) Auffindesituation: in der eigenen Wohnung. Kennengelernt hatten wir uns bei M. im Laden. Er wollte unbedingt etwas machen. Wie mir bald schien: irgendetwas. Er schien dafür kompetent. Und, wie es heißt: getrieben. Sanfte Phasen wechselten für mich unvorhersehbar in jähe Abstürze. Dann zog er sich zurück in seine Jagdgründe, eben diese Wohnung, die dunkel war, Tage waren dort wie Nächte, Wochen wurden ungeschehen gemacht. Wodka und Tavor. Alles stand voller Lilien. Den Wohlgeruch hielt ich nicht lange aus. Einmal stand ich dann allein in Bonn vor einem Verantwortlichen der Telekom, mit dem wir fest verabredet waren. Kays Sätze am Telefon, weshalb er nicht hatte kommen können, waren kaum zu verstehen. Er hatte sich halt verirrt zwischen den Lilien.

Zwei Jahre später habe ich ihn noch ein Mal gesehen, durch die Scheibe eines Cafés am Wasserturm. Dort saß er mit wieder anderen am Tisch und redete auf die ein. Weil er mit denen etwas machen wollte, irgendetwas. So lebte er seine Tage. Die Nacht war eine andere Geschichte. Starless and bible black.

IM RESTAURANT DER ZUKUNFT

Ausflug ins Brandenburgische. Das mir nächstgelegene Restaurant der Zukunft findet sich laut der Findefunktion auf der Website von Mc Donald‘s nahe Teltow, unmittelbar hinter der ehemaligen Zonengrenze. Mit dem Regionalbus dauert die Fahrt über eine Autobahn lediglich fünf Minuten bis dorthin. Es geht vorbei an der verlassenen Zollstation von Dreilinden, einer Ansammlung schöner Gebäude, deren roter Anstrich mittlerweile ins Himbeer verwaschen ist. Das Ensemble steht unter Denkmalschutz. Wahrscheinlich wird darin bald schon ein Accelerator eröffnet; oder der Skulpturenpark einer Kunsthandlung. Eine steht dort ja schon: aus dem gegenübergelegenen Waldufer ragt eine Rampe aus Beton über den Wipfeln. An deren Klippe ist ein lebensechtes Modell jener Räumfahrzeuge befestigt, mit deren Hilfe dort einst die Mauer wieder abgebaut wurde. Man hat es rosafarbend angestrichen—wohl um es herauszuheben aus den Naturfarben der Umgebung aber wohl auch, um es nicht zu weit zu treiben, mit der Lebensechtheit des Modells.

Die Restaurants der Zukunft, es gibt derzeit schon mehrere hundert auf Bundesgebiet, sind daran zu erkennen, dass die Golden Arches, das »Mc Donald‘s M« dort auf tanngrünem Untergrund steht. Auch das Gebäude unter dem Schild erinnert mit keinem Merkmal mehr an die berühmte Corporate identity: Tanngrün statt Rot, Eichbraun statt Gelb. Gleich im Eingangsbereich tritt man vor mannshohe Touchscreens, mit denen das Menü bestellt und auch noch an diesen Bildschirmen bezahlt werden kann. Diese Bildschirme gibt es zunehmend auch schon in den Filialen, die noch in rot gestrichenen Gebäuden der ersten Generation firmieren. In den Restaurants der Zukunft aber, Grund meiner Reise, werden auch neuartige Speisen angeboten: die Burger der sogenannten Signature Collection. Es handelt sich, so zeigt es die wie gewohnt appetitanregende Produktfotografie des Konzerns, um Burger, die mit dem inzwischen deutschlandweit etablierten State of the Art der Burgerherstellung mithalten wollen: schwellende Buns, muskulöse Patties, strotzend vor gemüsigem Beiwerk. Dazu kommt das für Mc Donald‘s ungewöhnliche Angebot, vermittels eines Multiple-Choice-Menüs auf dem Touchscreen die Zusammensetzung eines Burgers nach gusto zu verändern. Einzelne Spezialzutaten lassen sich sozusagen hinzubuchen, Standards können weggebucht werden. Der Garungsgrad des ungefähr doppelt so dicken Pattys (à la medium, well done, black and blue) läßt sich allerdings nicht wünschen. Aber das kommt sicherlich noch. Im Lichte der Konzerngeschichte geradezu maschinenstürmerisch erscheint die Option, sich im Restaurant der Zukunft sein am Bildschirm bestellt und bezahltes Menü von einem Menschen an den Sitzplatz servieren zu lassen.

Das Mobiliar, hell war es ja schon immer gehalten, wirkt im Restaurant der Zukunft freundlich. Die Sitzbänke und Stühle sind mit tanngrünem und eichbraunem Kunstleder aufgepolstert. Der Signature-Burger wurde in eine voluminöse Schachtel aus mattschwarzer Recyclingpappe verpackt. Im Inneren befindet sich ein vermutlich von Andrée Putman entworfenes Wachspapier, das mit einer Art-Deco-Grafik bedruckt ist. Der Burger selbst sieht verblüffenderweise exakt so aus, wie auf der Produktfotografie am Schirm. Er leuchtet von innen heraus. Schmeckt allerdings dann haargenau so, wie ein klassischer Burger von Mc Donald‘s. Was ja andererseits auch etwas beruhigendes hat.

Die Fritten, noch gibt es keine aus Süßkartoffeln, werden auf Wunsch mit einem Dip in der neuartigen Geschmacksrichtung Hot Chili serviert. Das Töpfchen ist mit einer Lasche verschlossen, die, um auf die Schärfe noch extra hinzuweisen in jenem Farbton gehalten ist, der auf der Pantoneskala als Warm Red C ausgewiesen wird. Es ist dies jener alarmrote Farbton, mit dem der Suhrkampverlag aktuell das Büchlein »Gegen Judenhass« von Oliver Polak einbinden läßt. Hüben wie drüben wirkt das aber irreführend. Der im Restaurant der Zukunft servierte Dip schmeckt marmeladig und kein bißchen hot.

TEQUILA IN YOU IS TEQUILA IN ME

Jetzt ist die schönste Phase der Laubfärbung. Der Grunewald lockt flauschig gelb und golden, teils in wächsernen Tönen, der Ahorn ist mit Puppengliedern behängt. Erntedank auch im Verlag, wo ich heute zur zehnten Stunde mit dem Fotographen zu Gast sein durfte. Es gab von der Praktikantin gebackene Kekse in Fledermausform, die waren, laut C. komplett verbrannt (ich habe sie nicht versucht.) Tee aus einer Kaffeekanne. Alle Tassen unterschiedlich geformt. Draußen war freundlich, wie es bei Sensorama einst so schön hieß. Dann große Lust, mich zu bewegen, bis ich dem müde bin. Vom Helmholtzplatz bis ans Ende der Kaiserin-Augusta-Allee. Tausende von Stolpersteinen pflasterten meinen Weg. Mancherorts Blumen. Kerzen, Grablichte. Kurz vor Sonnenuntergang, langer Fünfuhrtee meiner Seele: die Wolken, gedühnt.

HOMESICK (REMASTERED)

Und am dritten Tage erfand Gott den Wrap. Ein Stelldichein bei Cola und Broten. Es wurden Fotos gemacht, denn es gibt ja seltsamerweise keine Standfotographie mehr. Dafür wird dann im Nachhinein ein Fotograph eingeflogen und man stellt das Geschehene dann natürlich stumm nach, und das wird begründet mit veränderten Produktionsbedingungen, mit der auktoriellen Perspektive des Fachmannes für Standbilder und—mir direkt einleuchtend: mit einem anderen Licht.

Tja, und das wars dann (damit hatte es sich.)

Und ich, ich fragte mich selbst, weil wie plötzlich niemand anders mehr da war: wohin soll ich jetzt?

Da fiel mir dann als letztmögliche Option mein liebes Zuhause ein, mein Heim, der Bau mit seinen vielen Fenstern. Der Kirschbaum war ganz feurig geworden. Lohfarbend. Und die Sonne färbte die Wolken am Himmel golden. Es wurde still.

Erinnerungen, wolkenhaft, an die gestrige Nacht, als wir im Elaine’s saßen und Cornelius zu mir sagte »Joachim, Du bist ein unerträglicher Mensch, aber ich lese Deine Texte so gern.«

Da schwankte ich noch zwischen dem Impuls Nein zu sagen; ihn sozusagen förmlich anzubetteln, mich doch erträglicher finden zu müssen.
Aber jetzt ist es endlich wieder so, daß ich mich ausgesöhnt habe mit ihm und seinem Urteil in der Abwesenheit. Und daß ich einsehen kann, dass er recht hat. Dass es egal sein darf, wie man mich empfindet als Mitmensch.

YOUR PUSSY‘S GLUED TO A BUILDING ON FIRE

Roehler überrascht mich als Froschmann. In einem dreiteiligen Anzug in der Primärfarbe Grün und es ist sofort so, als hätten wir dieses Gespräch nie unterbrechen müssen. Es geht, einfach so, weiter, und ich empfinde das als angenehm, mehr noch: beglückend. Man vergißt die Kameras und die Leute vom ersten Moment an, es darf intim werden; man ist intim miteinander geworden.

Verrückt auch, also schön, wie er, Roehler, es hinkriegt, dass selbst in den Pausen, wo die Kameras schlafen, er diese Atmosphäre hält. Es ist alles, jeder Schnupfentalk, filmenswert. Er lebt auf diesem Set, das alle anderen das Leben nennen.

Erschöpfend freilich—ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt derart viel und am Stück von mir gegeben habe. Nach Drehschluß dann: vollkomen leer.

Und die Hölle für tote Kinder war voll, weswegen die Untoten durch den Prenzlauer Berg gingen, um, mit Blut um die Lippen, ihre Forderung vorzubringen: Süßes oder Saures, Trick or Treat. Und eine, ein Mädchen, ging mich an, sie hatte sich das Kunstblut in dünnen Linien über die Innenseiten ihrer Handgelenke gemalt.

Neue Bräuche

»STARLESS« BY COSMATOS

Kemp hat recht: Der Anfang ist das Beste, was man seit langem, seit Shining vielleicht gesehen hat, vor allem halt wegen der roten Schrift auf den Baumkronen im Nebel und dem Lied Starless von King Crimson darunter. Aber dann ist es halt schon bei diesem Lied so, dass es nur so lange gut ist, bis der Sänger (bei King Crimson unübersichtlich; Kemp wird wohl wissen, wer) seine Stimme erheben muß zum Refrain (und später—vermutlich hatte Sting seine Inspiration für den Englishman in New York daher; von dieser teuflisch harmonischen Kombination aus Gitarre und Klarinette—wenn die sogenannte Improvisationen losgehen, wird es unhörbar für mich;) und was die schönen Farben angeht: kaum kommt der gelbe Greifer des Baumbaggers ins Feld (man sieht ihn tatsächlich nur wenige vierundzwanzigstel einer Sekunde lang), steht dort Nicolas Cage. Und wie zum Beweis, kippt in dem Moment ein jahrzehntelang gewachsener Baumstamm um, tot.

Wobei das vermutlich beabsichtigt ist, dass ich bei Mandy noch immer an die Nase von Barry Manilow denken muß.

Anyway, das mit den Drohnen: Noch können wir uns dem Effekt nicht entziehen.

LOVE LIKE BLOOD

In der deutschen Übersetzung von Already Dead, die ich bei Erscheinen in der schönen Buchhandlung am Isartorplatz kaufte, steht bei Denis Johnson eine seltsame Wendung für das Sterben: »er ging durchs Rohr.« In der Originalsprache habe ich Schon Tot dann nie gelesen, dachte es mir aber immer als entweder down, oder up the drain. Je nachdem. Bis ich dann gestern die berühmte Duschszene in Psycho schaute, und da werden die letzten Blutwirbel mit dem Wasser in eine Nahaufnahme des Badewannenabflussloches gespült. Das Blut lebt noch, biologisch gesehen, wenn es ins Rohr gesaugt wird. Entweder also er selbst (Johnson), oder seine Übersetzerin, haben dabei an Hitchcocks Bilder gedacht. Kann es, parallel dazu, überhaupt anders gewesen sein?

Im Theater ist der Zuschauer frei, hinzuschauen, wohin er will. Da kann es am Duschvorhang heftig zur Sache gehen, aber einer vielleicht unter all den anderen schaut währenddessen auf seine Armbanduhr, oder auf das grünleuchtende Schild zum Notausgang; die Kamera erzwingt, genau dorthin zu schauen. Vielleicht finde ich aus dem Grund allein Filme unfair.

Kurz draußen, die Feuchtigkeit in der kalten Luft fühle ich nadelspitz im Gesicht. Schneien wird es aber nicht. Der Geruch der abgefallenen Blätter hat sich von Teesatz hin zu gebranntem Zucker verändert.

DEUTSCHLANDS ERSTER INSEKTENBURGER

Friederike hatte die hübsch bedruckte Schachtel neulich aus dem Supermarkt mit nach Hause gebracht, wir legten sie dann in die Tiefkühlschublade, wo sie in Vergessenheit geriet. Heute, durch die herrliche Fischsuppe in Frenzy hungrig geworden, fielen mir die Bug Burger ein. Den Slogan Deutschlands Erster finde ich eher abschreckend. Interessant hingegen, daß die eher zierlich geformten Frikadellen von einem Start-Up aus Osnabrück hergestellt werden (vertrieben über die Edeka.)

Warum Start-Up? Nun, die Firma nennt sich »Bugfoundation«. Jeder andere Hersteller von Wurmfleischfrikadellen, jeder hundsgewöhnliche Insektenfleischer würde vom Namen her bei seinen Leisten bleiben. Interessant freilich das mit Osnabrück, von den deutschen Städten eher eine der selten ins Gespräch gebrachten, wenngleich freilich mit einem gut situierten Umland gesegnet, weshalb es dort, ich glaube noch immer, ein gepriesenes Restaurant von Thomas Bühner gibt (oder gab.) Auch erinnere ich mich noch gut an die Eröffnung des Hannoveraner Schützenfestes, des größten in Europa, wie die Hannoveraner es gerne hervorheben, durch Christian Wulff im September des Jahres 2003, als der gerade Sigmar Gabriel besiegt hatte und zum Niedersächsischen Ministerpräsident gewählt worden war. In dieser Funktion hielt er seine Festrede vor den versammelten Schützen und Lüttje-Lage-Trinkern und sagte unter anderem »Hannover ist schön. Noch schöner finde ich eigentlich nur Osnabrück.«

Die Bahnhofshalle dort—in O-Town, wie die Osnabrücker vermutlich zu sagen pflegen—ist übrigens wirklich schön. Die Insektenburger bestehen zu 45% Prozent aus dem extrem fein gewolften Fleisch sogenannter Buffalowürmer, über die man kaum etwas anderes sagen könnte als über Mehlwürmer zum Beispiel. Oder die vom Besuch südostasiatischer Nachtmärkte vertrauten Bambuswürmer: weißes Insektenfleisch halt (Regenwürmer, Schlickwürmer, Tauwürmer et cetera zählen so gesehen zu den Rindern des Erdreiches, ihr Leib scheint rot.)

Man hat in den Osnabrücker Büros und Laboratorien der Bug Foundation übrigens lange an der Gewürzmischung getüftelt—das Wurmfleisch an sich schmeckt ja nach noch weniger als nach Kalbfleisch; als Texturspeise in Südostasien geschätzt, kann der Wurm aber nach Osnabrücker Rezeptur seine Knusprigkeit schlecht entfalten, wenn man ihn, um sein Fleisch zur Frikadelle umarbeiten zu können, derart sandhaft fein wolft. Nach einer im Auftrage der Bug Foundation durchgeführten Marktforschung hat sich ein durch alle Schichten hindurch breit akzeptiertes Aroma für die intensiv orange gefärbten Frikadellen aus je ne sais quoi  herauskristallisiert.

Weswegen der Deutschlands Erster Insektenburger aus Osnabrück nun wie Falafel schmeckt.

GANZE TAGE IN DEN FELDERN

Nachdem ich ungefähr zwei Drittel (die ersten) meines Experimentes im Dauerfilmeschauen hinter mich gebracht habe, kann ich folgendes Zwischenergebnis, wenn auch vorläufig, zu Protokoll geben: Mein Bewußtsein scheint nach tagelangem, 12 bis zu 15-stündigem Filmeschauen unverändert. Das Bedürfnis allerdings, nach den Sitzungen noch etwas zu schreiben, sei es auch nur eine Art von Gedächtnisprotokoll der Filminhalte, Namen von Schauspielern, Ausstattern oder Komponisten et cetera, ja noch nicht einmal die Filmtitel wollte ich aufschreiben. Mir ist, als hätte ich das Bedürfnis, das alles bloß, wie es heißt, hinter mich zu bringen.

Wobei ich das Schauen selbst nicht unangenehm finde. Doch frage ich mich schon, was mit den Leuten los ist, die vom Binge-Watching schwärmen. Früher nannten die sich noch Couch Potatoes, und ich fand das damals schon blöd.

Ein veritabler Flow, ein Zustand von Zeit und Seinsvergessenheit wie ich ihn vom, wenn es gut läuft, Schreiben im Zustand der Gnade kenne, will sich bislang auch nicht einstellen; nicht auf vergleichbare Weise. Andauernd werde ich von Gedanken herausgerissen. So dachte ich beispielsweise beim frühmorgendlichen Schauen von Caligula—der übrigens auch Cunnilingula heißen könnte—an Fritz J. Raddatz bei jener Szene, in der Peter O‘Toole, der den greisen Kaiser Tiberius spielt, mit einem schwarzen Schleier erdrosselt wird dergestalt, dass sein zum minutenlangen Bühnentod verzerrtes Gesicht unter der dunklen Gaze deutlich zu sehen bleibt. Hatte Raddatz womöglich diesen grottenschlechten Film gesehen und sich diese Szene vor Augen gehalten, als er in sein Tagebuch des Jahres 2011 schrieb, er fühle sich wie eingewickelt (oder -gehüllt?) in einen schwarzen Schleier des Vergangenen, durch den er mit nur noch einem Auge seine Gegenwart wahrnähme?

Robert Smith erzählt von den Aufnahmearbeiten zum Album Blue Sunshine seines Soloprojektes mit The Glove, dass sie seinerzeit um die 600 Filme angeschaut haben werden, um sich in psychedelische Stimmung zu bringen. Es kann also sein, dass sich der Filmgenuß musikalisch ausbeuten läßt, schreiberisch, so scheint es mir zumindest, wird die Transfusion blockiert.

Immerhin spielt das Wetter mit, beziehungsweise: verlockt es mich nicht vom Bildschirm weg und nach draußen. Auf dem See findet die Saisonabschlußregatta statt mit sehr kleinen Booten. In der Mitte des Sees wurde ein Floß verankert, auf dessen Deck eine Dixie-Toilettenhäuschen steht. Vielleicht sogar ein Aschenbecher, ich kann es von hier aus nicht so gut erkennen (und das Fernrohr ist in Frankfurt.)

Na ja, jetzt noch das Farbwerk von Alfred Hitchcock, dafür brauche ich voraussichtlich bis Montag, dann greife ich wieder zum Buch.

ELEKTRISCHE SCHAFE

Back to Berlin. Natürlich war es hier noch windiger, noch kälter und noch regnerischer. Die Bäume beinahe nackt. Und in dem Tunnel von der Bahnhaltestelle zur anderen Seite der Straße, den ich immer gerne mochte, weil darin eine auf wundersame Weise konservierte Christiane-F.-Stimmung herrschte, waren zu beiden Seiten der Tunnelwände Erneuerungsarbeiten im vollen Gang. Auf der linken Seite war der herrlich taxifarbene Fliesenbelag schon mit einer Schicht Haftputz überdeckt (chipperfieldfarbend.) Auf der gegenüberliegenden war mit einigem Abstand zur Wand ein langes Gitter bis hinauf zur Decke aufgebaut, das mit einem Sichtschutz aus Planen verhängt war. Aus dem verhängten Raume, dem schmalen, war menschliches Sprechen und putzendes Schaben zu vernehmen. Ich klopfte am hinteren Ende des Gitterschlauches auf die Plane an. Stellte sich dann heraus, dass dies Kunstflieser waren, die nach einer Vorlage des im juste milieu beliebten Illustrators Christoph Niemann ein sich über die gesamte Tunnelwand bis zur Tunneldecke erstreckendes Wandmosaik aufbrachten. Und zwar aus, die Matrix, der Grid war gewißermaßen vorgegeben durch die Abmessungen der ursprünglich aufgebrachten Fliesen: rechteckigen, dafür aber aus sämtlichen Rosatönen rekrutierten Fliesen. Vom Motiv her ergibt sich da zwangsläufig etwas pixelhaftes. Ich empfand‘s, schaute aber bloß halbfertiges: als eine Verschlimmbesserung des Tunnelambientes (vor allem wenn man sich die erhaltenen Fliesenkunstwerke in den U-Bahnhaltestellen Berlins vergegenwärtigt zum Vergleich; Anspieltip: Wilmersdorfer Straße!)

Die Fliesenleger fanden‘s natürlich gut. Weil mal was anderes. Und ganz so diffizil wie das sogenannte Richter-Fenster im Kölner Dom, obwohl vom rechteckigen Grid her schon vergleichbar, war das Motiv des Niemann-Tunnels freilich nicht.

Bleischwarz aufgewühlt der See. Auf dem Rasen am Ufer zieht ein Gefährt seine Bahnen. Unermüdlich, obwohl es stürmt wie wild. Es ist ein Mähroboter. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, schaltet er vorne zwei Scheinwerfer ein. Wozu er die wohl braucht? Um besser zu sehen ja wohl nicht. Einfach damit man sich nicht vor ihm fürchtet, weil er sich in der Dunkelheit zurechtfinden kann.

NORF BY NORTHWEST

Am Niederrhein, Klinkerfassaden soweit das Auge reicht, wie in Meran die Reben. Das amerikanische Pampasgras wächst in den Vorgärten am Straßenrand (im kommenden Jahr soll es in ganz Frankreich schon verboten werden, weil dieses Süßgras als invasive Pflanzenart, also eine, die als heimatlich charakterisierten verdrängt, gekennzeichnet ward.)

Die Gemeinde heißt Allerheiligen, die nächste heißt Gier, dann kommt Norf, dann Gnadental—das Land dahinter ist extrem flach in meinen Augen. Ich kann mich an keine derart flache Landschaft erinnern, die ich irgendwo anders auf der Welt schon gesehen haben könnte. Man kann sich zu dieser Ebene nicht in Beziehung setzen; kommt sich klein vor, entborgen. Nach allen Seiten hin ist es unendlich weit.

Am nächsten Morgen stand ich unter grauen Wolken. Und es vielen erste Tropfen. Wilde Papageien, grüne, die sich vor Jahren auf der Düsseldorfer Königsallee in den Baumkronen eingenistet hatten, es gibt sie jetzt auch hier. Exotische Schreie, dazu die von Krähen (wie daheim.)

In der Altstadt von Neuss steht ein Denkmal des Kardinal Frings, zu seinen Füßen, ebenfalls in Bronze gegossen: drei Briketts.

SKYFLOWERS

Spät im Dunkeln, nach kurzer Fahrt durch das wunderschön sich präsentierende Land in Frankfurt angekommen. Kurz vor dem Untergang zeigte sich über niedersächsischem Weideland eine einzige Wolke, zeppelinförmig. Einfach so. Und auch hier, in meiner anderen Heimat, schien es so, als wollte diese Welt sich in all ihrem Heil mir präsentieren: so traf ich, wie es heißt, on cue gerade rechtzeitig vor unserer Haustüre ein, als dort die Mume und ihre Anverwandten tütenweise Fleischtomaten aus einem Kofferraum in den Hausflur schafften (die ich zunächst für Mandarinen hielt.) Kleines Hallo.

Nach unruhiger Nacht entfaltete, also wirklich auffaltend sich über der Pyramide des Messeturms: ein sonniger Tag ohne Ahnung vom Herbst, so als wäre hier der Sommer noch immer on. Es ist warm wie vorvorgestern noch in Berlin.

In Berlin nehme ich die Treppe, hier fahre ich mit dem Aufzug. In Berlin wird die höchste Stufe am Herdschalter links eingestellt auf der Skala, in Frankfurt drehe ich umstandslos nach rechts. All dies ist mir ins Instinktive übergegangen. Ich bin in zwei Haushalten heimisch, bin, wie es in meiner Kindheit am Rande der Autobahn hieß »zwei Öltanks.«

Lese die letzten Einträge von Fritz Raddatz aus dem Jahr 2011. Da verkauft er seine Kunstwerke, es geht gerade, während ich im prallen Sonnenschein lesend sitze, um eine Skulptur von Alfred Hrdlicka, die den Gehäuteten darstellt. Als sie abgeholt wird aus seinem Garten in Hamburg, geschieht das mit einem Kran und sie entschwebt an dessen Seil gehoben auf einem Schiff durch den Alsterkanal. La Dolce Vita—so müsste eine Verfilmung seines Lebens anfangen dürfen.

Biopic, ein dummes Wort.

DIE TIERE BEHALTEN DIE RUHE

Every morning stillness meets me. Sitting on the window ledge. It calls the day to wake up. And defuse the dew drops: … .

Auf einmal war der Himmel jetzt silbern, eintönig, und es lag ein angenehm scharfer Hauch von Feuchtigkeit in der Luft.  

Der Fotograph war zu Besuch gekommen. Ich hatte ihm von der Laubfärbung vorgeschwärmt, woraufhin er ganz begeistert geschrieben hatte: »Ich bringe Schwarzweißfilme mit.«

Dann raschelten wir durch den Wald, weil ich darauf hoffte, das Wespennest vom vergangenen Sommer vielleicht leer wiederfinden zu können. Am Ufer des Sees war zwischen den Weiden ein silbriger Dunst, darüber der Himmel und ein Schwan, einzeln, war auf uns zugeschwommen, zielstrebig, und hörte damit noch längst nicht auf, sondern kam auf uns zu, zu Fuß, über die silbrigen Kiesel, den hellgrauen Strand. 

Er präsentierte sich; machte mit seinem weißen Hals mal Fragezeichen, dann wieder streckte er den auf ganze Länge aus. Welch Tier. Was für eine Erfindung auch—warum ausgerechnet diese Geburt die Evolution überlebt hatte?

»Wo ist jetzt noch gleich das Haus der Wannsee-Konferenz«, fragte der Photograph, nachdem er des Schwanens müde geworden war (und dieser wiederum auf dem ihm eigenen Wege übers Wasser in Richtung der Pfaueninsel davon gezogen war.)

Ich zeigte zum gegenüberliegenden Ufer hin. 

Dort saßen wir dann noch bis zum Sonnenuntergang auf der Terrasse des Seehasen, während sie drinnen schon den Kamin befeuert hatten. Wir sprachen über die sechs, vielleicht waren es sogar sieben Silberreiher, die wir morgens am anderen Ufer des eingezäunten, weil chemisch verseuchten Teiches gesehen hatten, wie sie uns dort ihre weißen Brüste präsentiert hatten. Und wie wir danach am Easy Rider vorbeigekommen waren, gerade noch rechtzeitig, weil Andreas da gerade die Fensterläden zugenagelt hatte, um den Imbiß winterfest zu machen. 

A Strange Day. Im Wasser fuhren geschäftig die Blässhühner herum, brachten womöglich die Ernte ein. Bald würde die Sonne auch schon wieder untergehen.

Freundschaft—wenn es anfängt, wenn man es spürt, dass sich Verbindungen schlagen.

Am Abend kommt die Ruhe wieder. Dann wird es draußen schwarz, und auf den Fensterbrettern sammelt sich der Tau.

Während ich ruhe.

LEGE ARTIS

Wie mir Wolgang Ullrich gerne erklärt und sozusagen auseinandersetzt, ist das, was ich mir von einem Beisammensein mit Künstlern erhoffe, nie dagewesen; chimärenhaft hege ich da einen Wunsch nach dem Austausch, den es, seiner Vermutung nach, vielleicht nur einmal, ein einziges Mal in der Geschichte gegeben haben könnte. Und zwar am Hofe von Rudolf dem Zweiten, der zwar ein schlechter Kriegsherr gewesen sein soll, es gab Leute, die hielten ihn für irre, aber es war zu seinen Lebzeiten halt gut für die Kunst.

Lange her, zu lange für mich, obwohl ich selbst schon ganz schön alt geworden bin. Vermutlich gehe ich deshalb (aus beiderlei Gründen) nicht mehr viel aus.

Aber dann wurde, wie in jedem Jahr, der Michael-Althen-Preis verliehen. Und ich liebe bekanntlich diese Zeitung. Als ich, auf meine Begleiterin wartend, die wie es sich gehört, verspätet war, traf ich dort in Mitte so einige, die ich von früher noch  kannte. Am Strohhalm aus meinem Campari mit Orangensaft saugend, sagte ich Hallo. Moritz wiederum, der in Begleitung von, natürlich, DJ Hell dort an der Terrasse des Cafés vorbeikam, meinte, dass er ja leider erst viel zu spät dort bei der Preisverleihung würde erscheinen können. Komma aber: Es gäbe dort ja einen handfesten Skandal. Mehr wollte er nicht verraten, es hatte wohl mit der Preisträgerin zu tun, die ich kannte: Antje Stahl.

Im Saale dann selbst war alles wie immer. Wie in den vergangenen Jahren. Man, also ich, fragt sich zwar, warum dort die herrlichen Kronleuchter mit so seltsam von den Bouroulleq-Brüdern abgekupferten Balsaholz-Körben umfasst hängen müssen, aber ansonsten ist es dort schon festlich und dem Anlass angemessen, und gäbe es diese Balsakörbe nicht, oder die Leuchtwand dort, und keine Mikrophone, dann könnte ich mich ja tatsächlich beinahe schon fühlen, als wäre ich an den Hof zu Zeiten Rudolfs geladen. Wobei da natürlich keine Künstler saßen, sondern Journalisten, die ja irgendwie ein Mischwesen haben aus Künstlertum und Politik.

Nach den üblichen Ansprachen, bevor die ausgezeichnete Autorin selbst auf die Bühne durfte, erschien dort dann der Herausgeber des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, um eine Rede zu halten. Das war ungewöhnlich für den Ablauf der Veranstaltung, die ansonsten ja immer gleich, immer wie immer war. Aber die Sache war ja die gewesen, dass eben diese Autorin vor einiger Zeit in einem anderen, nicht in dem zur Auszeichnung vorgesehenen Text über ihn geschrieben hatte, er sei nicht ganz bei Trost. Und also sagte er:

»…Kunstfeindschaft sei noch nie so gut verpackt worden wie durch mich und meinesgleichen. Wobei meines gleichen im Unterschied zu mir von Antje Stahl gar nicht benannt worden sind. Aber vielleicht kommt es eines Tages noch. Frau Stahl hätte einen Kollegen von der NZZ noch erwähnen müssen, der ähnlich argumentiert hat wie ich. Weil es ging um Kritik. Es ging um die Sache, die wir hier verhandeln. Und nicht nur, um mit der Situation hier zurande zu kommen. Ich habe das gestern erst gemerkt, dass das alles so—: nicht ganz bei Trost ist ein scharfes Urteil. Sich durch die Einsendung eines Textes für den Preis eines Zeitungsfeuilletons zu bewerben, das man der Kunstfeindschaft für fähig hält, ist außergewöhnlich. Also entweder ist das alles nicht so ernst gemeint, und wir befinden uns hier in der journalistischen Spielwarenabteilung: Hauen also tagsüber ein bißchen auf die Trommel, stoßen ein paar Jagdschreie aus und gehen dann abends einen trinken, oder es ist doch ernst gemeint, aber dann: dann müssen wir herausfinden, was das soll. Worum ging es? Es gab in den letzten Jahren, vor ein, zwei Jahren, eine Reihe von Aktionen in Museen, durch die die Frage aufgeworfen wurde, was wer malen dürfe. Und ob nicht manche Kunst aus moralischem Zweifel heraus entfernt werden sollte. Sie erinnern sicher den einen oder anderen Fall, da sich eine weiße Malerin—was ist das, eine weiße Malerin?—sich eines Bildmotivs aus der afrikanischen Geschichte bedient hatte. Sind die sexuellen Blicke des Malers Balthus erträglich? Dürfen nicht eigentlich nur Dakota-Indianer das Leid der Dakota-Indianer in Form eines Kulturteppichs knüpfen? Sind auf einem Laufband rennende Hunde in einem Kunstvideo erlaubt? Diese Fragen sind allerdings, und das ist wichtig, nicht diskutiert worden. Vielmehr wurden sie in Form von Forderungen vorgetragen, die entsprechenden Kunstwerke aus den Ausstellungen zu entfernen, in die Depots zu schieben, oder sogar, in seltenen aber extremen Fällen: zu zerstören. Ende Januar hatte die Manchester City Art Gallery das dort vielleicht berühmteste Gemälde des Hauses, Hylas und die Nymphen von John William Waterhouse, demonstrativ abgehängt. Die Abhängung geschah im Rahmen einer künstlerischen Intervention. Angeblich, um eine Diskussion über den weiblichen Körper in der Kunst und über kuratorische Entscheidungen zu eröffnen. Tatsächlich aber, das war meine Überlegung, wird durch die Abhängung hier, so wie auch in anderen Fällen, keine Diskussion eröffnet, sondern das Ergebnis einer solchen Diskussion symbolisch vorweggenommen: Das nicht so hätte gemalt werden sollen. Und das aus schlechten Gründen, nämlich so, der weibliche Körper gemalt worden ist. Jeder mag es für andere Künstler, oder vielleicht auch für die, selber durchdenken, ob das Nichtzeigen eines Werkes dazu geeignet ist, die Diskussion darüber intelligenter zu machen. Ästhetischer Streit, glaube ich, setzt die Gegenwart der Werke voraus. Und das Recht zum individuellen Ausdruck. Wer ein Bild auf Gesinnung hin prüft und nicht auf die ästhetische Qualität, scheint mir eine Komponente der Kunst zu verpassen. Ganz abgesehen davon ist die Vorstellung von der Victorian fantasy, die da gechallenged werden sollte, selbst von erheblicher Schlichtheit. Das hat nämlich dann, muß ich zugeben, mich ein bisschen geärgert an dem Urteil, unserem schönen Feuilleton fehle jeder Sachverstand. Noch sechs Tage bevor Antje Stahl uns das in der NZZ vorwarf, hatten wir einen längeren Beitrag zur Diskussion des Bildes von Waterhouse. Eine Diskussion, in der die amerikanische Kunsthistorikerin […] zuletzt davon gesprochen hatte, das Bild stelle den weiblichen Blick auf Männer dar, wie er 1893 beim Aktzeichnen an der Royal Academy, an der Waterhouse tätig war, thematisiert wurde. Dieser Beitrag blieb der einzige Beitrag im deutschsprachigen Feuilleton, der sich inhaltlich mit der viktorianischen Fantasie und deren Themen auseinandersetzte. 

Sehr geehrte Damen und Herren, das alles gehört zu diesem Abend, weil es um Maßstäbe für Kritik geht. In der Begründung des Preises heißt es, es werde ein Schreiben gelobt, das anlytische Schärfe mit einem Bewusstsein verbindet, dass man von der Kunst nicht sprechen kann, wenn man die Emotionen ausblendet. Vielleicht müsste man noch etwas Drittes hinzunehmen, um es, wenn es um Kriterien für Kunstkritik geht. Denn viele Leser einer Kritik haben die Bilder nicht vor Augen, haben das Buch noch nicht gelesen. Und das Theaterstück noch nicht gesehen, waren noch nicht in der besprochenen Ausstellung.

Und wir sagen noch.

Und wir wissen, dass wir damit eine erhebliche Hoffnung verbinden. 

Daraus erwächst dann eine erhebliche Verantwortung. Der Kritikerinnen und der Kritiker. Man könnte auch sagen, daraus erwächst eine erhebliche Verführung: Sie reden von etwas, das die anderen oft nur vom Hörensagen kennen. Zum Beispiel davon, wie Jaqueline Bisset auf einen zukommt. Neben Schärfe und Emotion ist auch ein gutes Kriterium für Kritik dass sie nicht versucht, ein Programm durchzuziehen, sondern bei den Sachen bleibt, die sie gesehen hat. Ganz egal, was zu sehen gewesen war. Ich hatte das schon bei unserem Empfang auf der Buchmesse ganz kurz zitiert. Wolfgang Herrndorf schreibt: »Wer von der Literatur etwas bestimmtes verlangt, soll es sich selbst schreiben«. Programmatische Anforderungen könne man nur an Gruppen richten, in der Literatur gäbe es keine. 

In diesem Sinne würde ich sagen, bin ich skeptisch, ob es Malerinnen und Maler gibt—als Geschlechtsgruppen. Ob es Alte und Junge gibt—als Altersgruppen. Ob es Weiße und Dunkle gibt—als Hautgruppen. Oder wie man das immer nennt. Ob es Arme und Reiche gibt als Klassengruppen in der Kunst. Ich bin sehr unsicher. Ich glaube, das gilt für alle Künste. Und man ist glaube ich kein Vertreter des L‘art pour l‘art wenn man so denkt. Und man hat, glaube ich, auch nicht den Verstand verloren. 

Es gibt eine Passage in dem Text, in dem sie etwas sagt am Schluss zu dem Unterschied, der dann dazu führt, dass bei gewisser emotionaler Aufreibung man sich wechselseitig vorwirft, »nicht ganz bei Trost zu sein«. Der Unterschied zwischen einer Auffassung von Kunst, die in ihr eigentlich Kräfte beherbergt, die selber nicht ästhetisch sind. Sie schreibt sinngemäß es gehe in der Kunst um Umverteilung in kulturellem Gewand. Sie werden jetzt gleich merken, das spielt auch in dem Text, der prämiert worden ist, eine Rolle: Es geht um Umverteilung in kulturellem Gewand. Eigentlich, glaube ich, denkt sie, es geht in der Kunst um eine Kampfsituation. 

Als ich diesen Satz las, dass es um Umverteilung in kulturellem Gewand eigentlich gehe, und dass jemand wie ich, der das nicht sieht, auf die Schiene von L‘art pour l‘art und entpolitisierter Kunst rutscht, bis hin zu solch albernen Dingen, dass ich mich für einen Maler, der 1893 Nymphen gemalt hat, interessiere—ich glaube, der Unterschied kommt daher, dass ich nicht ganz genau weiß, was da umverteilt wird in der Kunst. Das wäre eine Frage, die ich mit Frau Stahl gerne diskutieren würde: Ist es Aufmerksamkeit? Ist es Geschichtlichkeit, die umverteilt wird? Bewirkt denn die Kunst durch die Korrekturen, die sie vornimmt, oder die Programme, die sie verfolgt, in der Welt politische Veränderungen?

Das sehe ich nicht so. Ich habe einen vergleichsweise engen Begriff von Politik. Ich denke, da geht es um die Beschaffung von Mehrheiten. Um Stimmengewinne. Politik ist Entscheiden. 

Kunst richtet sich, glaube ich, oft zu sehr an die Individuen. Sowohl von den Produzenten aus, die extrem sein dürfen—das ist der Sinn des Begriffes Kunstfreiheit—als auch von den Rezipienten. Die nicht als Kollektiv angesprochen werden. 

Es wird keinem Indianer der Welt besser gehen, weil ein politisch korrektes Kunstwerk nur von den Indianern hergestellt werden kann.

Der Sinn der Kunst ist es, gute Kunst herzustellen.

Insofern sehe ich sie nicht so sehr in einer Kampfsituation. Wenn man damit nicht den Kampf um die Qualität der Kunst meint. Aber ich erkenne, dass das zwei Positionen sind, die man zu der Sachlage haben kann.

Und ich wollte Ihnen meine schildern. Und versuche im Anschluss, Frau Stahl zu überzeugen. 

Vielen Dank.«

IN BETWEEN PALAIS AND DAS LOCH

Back then, deep in the nineteennineties, when I was writing for real money—and so did almost everybody else—I had a stint working for the german leg of UFA Grundy, based in Bonn I think at that time. Or was it Cologne?

However we were four writers in one single room at that time. Storylining soap operas. And we had to show up every day to do what we had been hired to do: Master Joe Eszterhas had layed down the rules of the trade for us to bang your head against the typewriter until something materializes. And so we tried. Did our best. Whatever.

Headwriter was Julius Gruetzke, son of a famous german painter, Johannes, whom I adored, because he had done these fine drawings, portraits that were used in the last movie that had Rainer Werner Fassbinder as an actor himself. Fine title also: Kamikaze 2000. And there still was a restaurant by the banks of river Spree near the train station Friedrichstrasse where they had massive paintings of his. Paintings, both
thick with colour and paint, that displayed an excessive lifestyle of the german male, of their drunkenness and devouring that by that time seemed long way gone down the drain already.

Now Julius, son of a late artist, told me one lesson which I should always stick to (and I tended to almost did.) He went »See, I hold two apartements in Berlin. One I call Das Loch, the other one I dub as Palais.«

I did not get him in full in that time. Nowadays I seem to have understood. Whenever things got bad Julius rented out Palais and retrieved himself to the hole. 

But, as said, that was a very, very long tome ago.

LA CAPTIVE

Wie festgefroren in der Atmosphäre, was sie in Wirklichkeit auch sind, waren die Wolken in Form von Gespinsten, fadenscheinig von Beginn. An solchem Morgen greift mein Leben auf die hohe Saite um. Ich dachte: Nein, jetzt diese Stille, weihevoll, allein vom so gar nicht majestätischen Kieksen der Blässhühner akzentuiert, die störe ich nicht mit meinem Movielärm. Am offenen Fenster aber sitzen wollte ich dennoch. Und mußte sowieso noch Popcorn besorgen (Videokassetten zurückbringen gibt es nicht mehr.)

Am Olof-Palme-Ufer standen die Warnhütchen in einer Kurve quer über dem Weg aufgestellt. Dahinter gab es sogenannte Dreharbeiten, dort stand ein Cateringzelt des Unternehmens Donata (mit der gleichnamigen Ehefrau des Regisseurs Wim Wenders haben die aber nichts zu tun.) Man drehte dort irgendeinen Schmonzes fürs Fernsehen, aber der vordere Teil der Szenerie am Ufer, diesseits der Hütchen, war ja dadurch ebenfalls als abgesperrt zu betrachten, und in dieser Zone stand ich mittendrin. Mit mir zwei Männer mit Schallschutzpolstern auf den Stirnen wie Mickeymäuse (wahrscheinlich wegen der Dialogregie vom jenseitigen Teile, aus dem es ja durch Verstärker herüberschallte.) Zu beider Füße lagen dort Rohre, vorne angespitzt, die waren bestimmt mehrere Meter lang, jedes für sich, und ich sagte: »Was machen Sie denn da—Bodenproben entnehmen?« (Abb.: Emoji »Eyes Full of Love«.)

»Ja, genau.«

»Und, was kommt dort unten?«

»Wir sind jetzt erst bei zwei Meter sechzig. Bis dahin: Sand.«

»Ach schön. Haben Sie das von der Bodenverflüssigung gelesen, neulich?«

Hatten die freilich nicht. Mich hatten die Augenzeugenberichte von dem Tsunami in dieser Hinsicht mit Angstlust erfüllt: auf einer halben Seite hatte sie in der Zeitung berichtet von einem selbst für die Experten neuen Phänomen dergestalt, dass sich dort auf dieser betroffenen Insel der Boden unter der Einwirkung der Schockwellen des Unwetters wie eine Flüssigkeit gebärdet hatte. Er war in weichen Wellen an die Beobachter herangelappt mitsamt der Häuser und Palmen, hatte sämtliches in sich hinabgezogen, ohne danach noch eine Spur davon zu hinterlassen, wie unschuldig oder wie eine Sinnestäuschung und so fort. Die Erklärung der Experten, vorläufig, war, dass sich ein Boden aus Sand jederzeit auch verflüssigen kann. Weil die Reibung, die Sandkörner an sich beieinander fest hält, bei extremem Wasserdruck von tief unten her, reibungslos gemacht werden kann. Und dann gibt es zwischen denen kein Halten mehr.

Soviel zur Märkischen Streusandbüchse, der vielgerühmten. Später saß ich dann noch länger unter dem Weinlaub bei Mutter Fourage, wo mit blanken Scheren geernet wurde. Die Trauben waren genau so klein wie im vergangenen Jahr. Und wie in dem zuvor auch. Farblich schwarz. Und ich las in einem vorzüglich geschriebenen Buch aus der Tauschecke dort, das den herrlichen Titel hat Berlin, wie keiner es kennt.

Mensch Meier, schon wieder rundet sich ein Jahr.

THERE’S ALWAYS VANILLA

Wie habe ich mich bislang vor Filmen gefürchtet. Mittlerweile habe ich beinahe wirklich schon viereckige Augen. Das Format hat sich ja, gleich wovon man die abschaut, noch immer nicht geändert. Auch der Bildschirm des iPad hat, wie mein Hut, der Ecken vier. Wie das Filmbild, als es noch Streifen gab. Und in dem Gespräch von Bowie und Balthus gab es die eine Stelle, bei der ich lange überlegen wollte, wie man das anders übersetzen könnte, aber es ging gar nicht anders. Da waren sie beide kurz abgeschweift zu einem Menschen, der in einem gewissen Film eine wohl extrem kurze Rolle gespielt hatte, und in dem meiner Übersetzung zugrundeliegenden Text sagte Balthus »He is just one frame.«

Damit war also nur ein Auftauchen innert eines Filmstreifenbildes gemeint, das aber versteht ja kein Mensch, wenn ich das so hinschreiben würde; beziehungsweise, es klänge von fremder Hand eindringlich, so als wollte ich als Übersetzer noch extra darauf hinweisen, dass es den beiden um Film ginge—und da ich das die ganze andere Zeit nicht für nötig befunden hatte, dieser Art Eingriff, konnte das auch nicht die Lösung sein. So kam ich schließlich auf Er bleibt bloß für das Vierundzwanzigstel einer Sekunde. Vermutlich war das gemeint.

Um mich auf die neue Gesprächsreihe mit Oskar Roehler vorzubereiten, schaue ich endlos Filme an. Jeden Tag. Beim letzten Mal hatte mir die Zeit dafür gefehlt, da hatte ich andere Dinge zu tun gehabt, und ich dachte, dass ich die Filme, um die es damals, im vergangenen Frühjahr ging, auch so einigermaßen auswendig kannte. Jetzt aber, da denke ich das zwar irgendwie wieder, will ich besser präpariert in die Redeschlacht ziehen (obwohl es im Buche Bushidō heißen soll, dass es vor allem um den Anblick des eigenen Todes in der Schlacht geht; daraufhin hat alles bishin zur Farbe der Socken ausgerichtet zu sein.)

Wenn man viel Zeit hat, oder, wie ich, nicht mehr viel schläft, kann man guter Hoffnung sein, sich ein Filmwissen quasi literarisch reinzuschaufeln. Ich bin dann, Gaspar Noë hatte das ausgelöst (weil er in seinem so schön filmpädagogisch gebauten Film Climax zu Beginn minutenlang Interviews zeigt, die abgespielt gefilmt werden zwischen zwei Türmen aus VHS-Kassetten links, und rechterhand Büchern) bei Suspiria gelandet, wo ich dann erfahren habe, woher er das viele Rot in seinen Bildern hatte. Da hat mich aber vor allem die Musik von Goblin fasziniert, die auch ein Celeste eingesetzt hatten, das mich an den Tanz der Zuckerfee erinnert hat. Sogar von der Melodie her. Und deshalb mußte ich mir danach noch das Frühwerk von George Romero anschauen. Weil Dario Argento und Goblin dafür die Musik gemacht hatten. Und Argento wohl privat Geld zur Verfügung gestellt hatte. Dawn of the Dead hatte ich als Teenager schon einmal gesehen, aber damals nur auf einer matschigen VHS-Kopie in einem sogenannten Jugendzimmer. Jetzt war alles scharf—What a movie! Man muß den jetzt, genau jetzt noch einmal anschauen. Sich reinziehen. Gespenstisch! Durch und durch. Insbesondere diese Szene, wo sie in dem umstellten Einkaufszentrum die Schalter umlegen und die Einkaufsmusik wieder angeht, die Springbrunnen springen, und es gehen dort nur noch lauter Untote umher (und einer von denen, der bissige, ist ein ewiger Jünger von Hare Krishna!)

Wie dann der Helikopter am Schluß davonfliegt wie die Vögel in den Abendhimmel, und die Kamera bleibt zurück auf dem Dach Punktpunktpunkt

Der erste Film von Romero, Night of the Living Dead, hat noch keine Musik von Goblin. Und die Bilder sind in schwarzweiß.  Jetzt verstehe ich endlich, was Thurston Moore immer gemeint hat, mit seinem Style. Und worauf sich das Cover von Raymond Pettibon eigentlich bezogen haben sollte.

Und das Blau im Gesicht von Pierrot le fou.

KNIVES OUT, WICKED GAME

Die Gemüsehändlerin gegenüber, die eigentlich ja schon längst frei hätte für ein halbes Jahr—im vergangenen hat es derzeit schon geregnet und die Blätter waren so gut wie ˋrunter— sagt »Wer einen Ossi als Chef hat, kann sich auch erschiessen« (sie ist dort aufgewachsen.)

Die Birnen aber sind noch dieselben, Sorte Gute Louise, und sie sind einfach herrlich, reifen innert drei Tagen noch zur Gänze: die Sonne darin.

Lino indes, den ich auf dem Heimweg traf, kämpft an der anderen Front. Wie ich ihm erklären konnte: vergeblicherweise. Die Buchsbäume sterben ab. Das hatte mein Vater mir schon prophezeit, im Süden hat es wohl angefangen. Als wir im Sommer dort waren, verendete ein sehr großer, der letzte, vor unseren eigenen Augen. Das hat wohl mit einem winzig kleinen Käfer zu tun, oder einer Art Motte mit großen weißen Flügeln—auf jeden Fall unansehnlich—, deren ebenso winzige Raupen, sich exklusiv vom Wurzelwerk dieser ansonsten ja über Jahrhunderte als immergrün bekannten Hartlaubgewächse, die man zu allerlei geometrischen Gebilden stutzen kann, ernähren, um zwar nicht groß, dafür aber zahlreich zu werden.

Jetzt sind die hier. Und von den Buchsbäumen wird bald nichts mehr übrig sein. Was wohl kaum an deren hypertropher Bezeichnung liegen wird, sondern an dem exotischen Aroma ihrer Wurzelballen.

Lino hofft noch auf Gift, aber ich zitierte meinen Vater, der behauptete, dass es in ein paar Jahren keine Buchse mehr geben wird hierzulande. Und das, obwohl die ja früher noch von Mönchen europaweit rings um die Gemüsebeete angepflanzt worden waren, um die Schädlinge fern zu halten. Aber damals hatte man sich halt auch noch nicht die Schnittblumen und Gemüse aus Asien und anderswo herschiffen lassen. Für diese Schädlinge waren solche Distanzen unüberbrückbar gewesen. Das ist jetzt anders.

Hecken aus Lorbeer wären wohl eine Möglichkeit. Zumindest die Nächste.

Weil die Märkte sind riesig geworden. Es sind einfach zu viele Menschen inzwischen. Und, wie Chris Isaak singt (und Robert Smith übrigens auch) »No one really loves each other«.

Aber das Licht!

MEIN TAG DES RUHENS UND DER ENTSPANNUNG

In dieser Nacht dann leider schon nicht mehr so ausgiebig und tief wie in der zuvor vergangenen, in der ich vierzehn Stunden lang ununterbrochen geschlafen habe; wobei das nicht ganz stimmt, denn nach der längsten Zeit bin ich schon ein paar Male, vielleicht drei insgesamt, wie beinahe erwacht, aber bei jedem dieser Mal war ich, in dem Moment, als sich das Bewußtsein meldete, gleichzeitig noch so schlaftrunken gewesen und fühlte mich schwarz, dass ich mich lieber wieder sinken ließ, um weiterzuschlafen. So ging das, bis sich draußen schon die Möwen stritten, weil es hell war. Und warm. Ich machte noch einmal Limonade wie im August. Und las erst die Erinnerung eines Mädchens zu Ende, dann gleich das Vermächtnis einer Jugend hinterher. Zwei ganz schöne Bücher, die mir zueinander passend erscheinen, wie Ergänzungen, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Kulturen Europas stammen. Vielleicht waren sich die beiden Frauen, die sie geschrieben haben ähnlich, ich weiß es nicht.

Vera Brittain jedenfalls schreibt in ihrem Vorwort zur Entstehungsgeschichte des Textes, dass sie zuerst einen Roman versucht hat, dann wollte sie ihre Tagebucheintragungen aus diesen Jahren fiktionalisieren, wie sie schreibt, indem sie den Erwähnten neue Namen gibt, was dann aber scheiterte in ihren Augen, weil sich dann alles so falsch anhörte.

Erst als sie, auch weil ihr nichts anderes mehr übrig bleibt, beschließt, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, wird daraus ein Buch.

WIE SIND SIE HIERHER GELANGT, UND WARUM HÄNGEN SIE HIER HERUM?

Dann war es so, als ob der Sommer einfach noch nicht gehen wollte. Wie der Letzte auf der Party, man selbst ist schon ganz müde und will ihn aus der Türe schieben, aber ihm fällt immer noch etwas ein.

Das Gespräch mit Bowie endet so. Bloß andersherum. Auf einmal, es gibt darin auch trockene Phasen, auch Wiederholungen, wollen Sie, Balthus und seine Ehefrau, dass er, DB, nicht weggeht. Und dann diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag lang zu Gast war. Biblisch in jedem Sinn und auch sonst noch mehr. Ich habe mir Notizen gemacht. Vor allem darüber, wie wenig es eigentlich braucht, um anderen Menschen etwas begreiflich zu machen. Es ist wie mit der Kindererziehung (ach nee!): Man lebt es vor; stellt es dar. Und hofft auf das Gelingen der Performance.

Ich habe richtige Schmerzen, genauer: es ist ein Weh, das ich habe, aber das wußte ich vorher, im vorhinein, dass ich es mir damit zuziehen würde wie einen Spreißel, und totzdem. Für immer und bis alle Ewigkeit wäre ich gerne in dieser Textwelt geblieben. Aber dann fällt der Schuß, dann ist Schluß, es wird taghell und ich musste bald raus aus meinem Paradies. Nun liegt es hinten. Ich schaue es gern an. Und frage mich, wie immer: Warum kann es das mitsamt der Vertreibung nicht noch viel öfter geben dürfen in meinem Leben?

Weil wenn ich erst Patti Smith übersetzen könnte, dann stünde Jeanne erst richtig am Marterpfahle, während auf dem Scheiterhaufen zu ihren Füßen der Walkman verglüht.

Am Schluß des Gespräches geht es schließlich um die eigene Kunst. Um die haben sie stundenlang herumgeredet, freilich auf die allerkultivierteste Art. Und Bowie erzählt von einem Bild, dass er für sein Problem in sich trägt, da fliegt er in einem Flugzeug, das in der Wüste zerschellt, und er geht einfach weiter. Und Balthus sagt »Ganz  genau so muß es sein.«, und dabei fiel mit George Condo ein, den ich, das war kurioserweise in einem anderen Teil dieses Hauses, in dem ich heute lebe, und wir saßen im Hochsommer draußen auf der Terrasse, und Condo hatte sich zum Essen Rouladen mit Rotkohl gewünscht. Ich zeigte ihm meine Tättowierung, nach einem seiner Gemälde, aber das interessierte ihn nicht so sehr wie dieser Film, den er gerade gesehen hatte. Es war irgendwas mit einem Piloten, ich kann mich auch nicht mehr gut genug daran erinnern, wer der Hauptdarsteller war — wahrscheinlich Will Smith?, aber er beschrieb uns diese eine Szene, wo der alkoholkranke Pilot von den Leuten der Luftfahrtsgesellschaft aus dem Hotelzimmer abgeholt wurde, ganz einfach, weil er für sie fliegen mußte. Ich glaube, sie hatten ihm sogar Kokain gegeben, gegen seinen Rausch. Und Condo sagte, mehr sagte er nicht mehr, soweit ich mich erinnerte: »I’ve got to land the painting. Land the painting.«

Daran mußte ich denken, heute. Dass es wirklich so ist.

A PROPOS

Um 18 Uhr, nach sechzehn Minuten war es soweit, da war ich sozusagen durch mit der Übersetzung. Drei ganze Tage. Ist das denn jetzt männlich, peinlich, dieses Wertlegen auf die Arbeitsstunden, auf den Arbeitsaufwand, sollte ich das vornehm verschweigen (Fragezeichen) Aber als ich aufblickte von meinem Monitor jedenfalls, da mußte ich tatsächlich aufstehen (Er saß, aß, las) und vor dem Spiegel im sogenannten Badezimmer mich anschauen, weil ich doch ganz vergessen hatte, wer ich eigentlich war. Versunken schien ich, doch war ich derselbe geblieben, gut, bißchen abgenommen vielleicht, aber das steht mir doch gut.

Eventuell. Also eigentlich wird es nach uns noch welche geben, die, am liebsten—oder so—alles, also sämtliches ganz anders gemacht hätten. Aber ich bleibe ganz ruhig. Mir kann keiner mehr etwas, was ich da übersetzt habe, das ist einmalig. Dazu hat doch keiner mehr einen Bezug. Das fahre ich denen wie eine Raumfähre rein. Und dann erst.

Draußen riecht es zwar feucht — unangenehm schoßig, aber es ist dort schön. Die Leute geben sich locker. Ich hatte ein wundervolles Gespräch mit meiner Mutter über Telephon, da unterhielten wir uns über meine Tiere, und davor hatte ich meinen Vater am Rohr, dem es ja, wie er findet, andauernd besser geht; er fragte mich nach der Technologie, das wurde ihm bald zu anstrengend, und das kann ich nun wirklich sehr gut verstehen.

HUCH, EIGENTLICH HOPPLA

Wie plötzlich war es jetzt so, als ob die Blattfärbung eingetreten war wie über Nacht und in vollem Ornat. War das gestern, war es nicht vorgestern erst noch so gewesen, dass ich durch das grünste Laub zwischen den Haltestellen von Grunewald und Nikolassee bis nach Wannsee gefahren ward?

Plötzlich wird es bunt. So wie in dem Puzzle, das wir Zuhause einst hatten, wo aus den craziest bunten Herbstwäldern, Laub was the game, das sogenannte Schloß von Neuschwanstein aufragte, sich reckte, in blühendem Weiß.

Der Wetterdienst sagt, es wird zum Wochenende hin noch einmal richtig nachsommerlich werden. Ich darf annehmen, dass kein Polizist unseren fun stören wird (A. Schmidt).

Gibt es denn gar nichts, was Dir die Freude noch trüben könnte?

Nö, wüsste nichts. Mal schauen: Nein, ich finde nichts.

In meinem Herzen, oder so.

Klar, das mit dem Dogen von Moabit ist schon betrüblich, aber es läuft sowieso.

Man hatte mich vor ihm gewarnt. Und das beileibe nicht ohne Grund. Die Rede war von einem Verbrecher. Aber wenn man lange genug in Berlin lebt, von wem heißt es das nicht? Außerdem hatte Rainald Goetz ihn in die Literaturgeschichte eingeschrieben.

Mit seinem Klarnamen, also nicht mit seinem Stasi-Kürzel, dem eines obskur gewordenen Schriftstellers, das er mir gleich am nächsten Abend in der Paris Bar verriet, nicht ohne hinzuzufügen: Wenn Du jemals über mich schreibst, schlag‘ ich Dir die Fresse ein. 

‚Nough said. Das kümmert mich ja bekanntlich nicht: physische Beeinträchtigungen. Einmal kannte ich einen, der zum Multimillionär geworden war durch eine schwierige Erbschaft, weil seine Eltern das Aufstellen von Glückspielautomaten der Sorte Monarch gepachtet hatten für die gesamte BRD. Er sich aber als steinreicher Hippie verstehen wollte, und sich deshalb zu einem Buddhisten mit Goldrand gemacht hatte. Der hatte mir dasselbe angedroht wie neulich erst die Kanaille.

Jetzt hat er, nachdem er seine ständig sich ausdünnende Belegschaft erst nach Neujahr durch eine offenbar ihn selbst überraschende Insolvenz getrieben hatte, alle entlassen, um seiner Mannschaft kurz darauf zu verkünden, dass er noch vor der Drucklegung des aktuellen Heftes einen neuen Job würde antreten in Russland, wo er als Vorstand einer Gruppe von Luxusmodehäusern gebraucht würde. 

Das sinkt freilich ein. Ich gab es dann auf, ihn an einen Kodex zu erinnern, den er niemals verinnerlichen konnte. 

Außerdem war ich noch immer beschäftigt mit der Übersetzung von Bowie und Balthus. Da gibt es mit jeder zweiten Replik diese Aussagen, die mir märchenhafte Welten aufschließen, ganz vergleichbar mit den Waldbildern jetzt, durch die Fensterscheiben der S-Bahn betrachtet: Etwa wenn Balthus plötzlich sagt, dass es sich für die Maler, deren Namen er nicht mehr weiß, durchaus lohnen könnte, sich mit den abgesehenen Formen zu beschäftigen, um die zum Hervortreten zu bringen »weil das ist lohnend. Im Gegensatz zur Beschäftigung mit der Kommunikation und all dem, das halte ich für eine Energieverschwendung«. Und alle drei Minuten vergesse ich, dass es David Bowie war, zu dem er sprach. Und kurz darauf geht es um seine Begegnungen mit Mishima, er kannte Braque und Giacometti persönlich und es geht dann immer so weiter und immer so fort, es ist ist dabei ein historisches Dokument entstanden; man kann es interessanterweise nirgendwo mehr kaufen, und  Bowie, der die Zeitschrift besessen hatte, ist tot. Ich habe die Rechte freundlicherweise erhalten von den Erben von Balthus, es geht um fünfzig Buchseiten, aber Bernd will mit mir streiten über die Kosten für das Papier. Na ja, well, wie beide das allzu oft, mir aber noch nicht genug sagen, so ist das halt alles geworden. Ich habe jetzt ja einen wahrhaftigen Verleger. Und wenn alle Stricke reißen sollten, gehe ich halt mit allem, was ich in mir trage, zu ihm.

An dieser Stelle von mir ein Hallo! an die Entwickler bei Apple: Am Zufällig-Modus von iTunes muß bitte noch schwerst gefeilt werden. Weil der ist mir noch immer zu vorhersehbar.

Und nebenher: Morrisey singt Moonriver echt richtig schlecht. 

MORSELLEN

Wieder nix für Maxim. Den Buchpreis, sagt die Tagesschau, erhält eine Autorin, ihr Name sagt mir nichts, die einen Roman mit dem geradezu hochinteressant klingenden Namen Archipel verfasst hat. Und so schaut sie auch aus. Die sogenannte Jury lobt die schillernden Details—wo leben die denn, um etwas als schillernd befinden zu dürfen; wo halten die sich, kulturell gesehen, auf? Schon gut, ich kann es mir vorstellen. Leider. Sie, die Autorin selbst, bemüht den Vergleich zu Yoghurt in ihrer Ansprache. Schillernderweise. Nein, da hat Maxim freilich nichts mehr zu suchen (oder zu finden.) Ein Gedanke an eine Art Werk scheint mittlerweile undenkbar. Man sollte sich selbst wohl als ein Dartspieler betrachten, umgeben von alternden Flüsterteufeln, die vor allem von einer noch ganz anders gearteten Scheibe zu berichten wüßten.

Am Abend gibt es jetzt allabendlich die herrlichsten Sonnenuntergangsbilder, in die ich mich hineinfahren lasse wie in Gemälde, um dort, scheinbar natürlich, eingemeindet zu werden. Obzwar das nicht der Fall sein kann, denn die Leinwand bleibt mir sozusagen ewig fern. Das Bild bleibt eine graphische Darstellung ohne Textur wie am Bildschirm, ganz glatt. Und so bleibt mir bloß mein sehr fühlbarer Wunsch, ein Teil dieses Großen und Ganzen zu sein.

VOM FEGEN DER GURKE

Climax war auch eine Enttäuschung. Also der Film von Gaspard Noë, im wahren Leben enttäuscht die Klimax ja bekanntlich nie (Woody Allen in Manhattan: »Even my worst orgasms were right on the spot.«) Aber wenn man den Mund dann mit einem Titel so voll nimmt, und schon so schöne Filme gemacht hat wie Irreversible und Enter the Void, sollte es nicht derart drogenpädagogisch zur Sache gehen müssen.

Es gibt allerdings eine Szene, da schafft er es, mit einem verhaltenen Wummern des übrigens exquisiten Soundtracks und einer ganz eigenartigen Inszenierung der Schauspieler, wie die zum Raum vor seiner Kamera sich verhalten, die ist wirklich ansteckend.

Und ich erinnerte mich.

War im Kino am Zoo, in einer Pressevorführung mit lauter Greisen. Die fanden den Film freilich super. Na ja, vielleicht ist das ja der Weg.

PERIPETEIA

Die Literatur hat dem Denkbaren voranzugehen. Eile mit Weile. Francis Ford Coppola hat sich und seine Leute monatelang auf den Philippinen gequält, bloß dass der Schrecken an sich dann auf die Zuschauer seiner Bilder übertragen werden kann, wenn Marlon Brando »The Horror« sagt. Und trotzdem entfaltet sich die Bedeutung des Begriffs dann nicht in diesem Maße, wie es Georges Bataille allein mit Sprache in seinem Das Blau des Himmels gelingt. Der Schrecken wird ganz wirklich in dem letzten Abschnitt. Marguerite Duras hat geschrieben, Bataille bediente sich keines Stils; da bin ich anderer Meinung. Und es ist auch nicht entscheidend, finde ich. Was für mich zählt, ist, dass die Figuren dort wie eingeschlossen ganz bei sich bleiben, wohingegen die Räume und Plätze wie außer Kontrolle geraten beschrieben werden, sich einfügen in die Fugenlosigkeit der Welt, sodass ganz kurz vor dem Ende des Textes der Schrecken und der Wahnsinn erdend wirken. Zentrifugal.

Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob Ulf Poschardt, mit dem ich gestern brach, diesen Text gelesen hat. Auf jeden Fall war das, was er in seiner Zeitung über den grauenvoll kitschigen Film Werk Ohne Autor von Florian Henckel von Donnersmark veröffentlicht hatte, lupenreine AFD-Kulturpolitikprogrammatik. Es ist beschämend. Und mir fällt zur Aufheiterung allein Andreas Dorau ein, was er in Das bist nicht Du über Poschardt schreibt und singt. Ich kann noch nicht mal mehr »Typen wie Poschardt« schreiben oder denken. In seinem sogenannten Werdegang von damals bis heute ist Ulf Poschardt für mich tatsächlich singulär. Fanalhaftestens.

MASCARA MELTDOWN

Alle sind zufrieden. Wie schnell sich das wegliest, woran man tagelang schreibt. Ganz ähnlich dem Kochen: Haps, haps, pieks, pieks: alles verputzt. Zur Feier drückte ich mir eine halbe Tube Kaviarpaste aufs warme Brot. Am Boden liegen, auf den Seiten dieser Zeitung ausgebreitet, die Walnüsse, die Frank uns von seinem Stückle mitgebracht hatte. Die waren innen noch weich wie Larven, sie müssen trocknen. So wie sie da jetzt rings um die Fraktur liegen, gibt das ein schönes Bild von Ewigkeit. Aus den Lautsprechern erklingt das Movement 5 von Carl Craig. Passenderweise. Festliches Gluckern.

Im Baum, ganz oben am Stamm, bevor der sich in zwei Äste teilt zur Krone: ist das denn etwa eine Maus? So wie dies kleine Tier dort hüpft, senkrecht nach oben, kann das ja wohl kein Vogel sein.

Über was soll ich schreiben, wovon kann ich erzählen? Am liebsten, zur Abwechslung, mal nicht von mir.

And the clouds are weeping. I spoke like a child.

SEX

Jetzt weiß ich es wieder, warum mir die letzten Zeilen so schwer zu entlocken waren. Weil es die letzten sein würden. Und weil die Welt, die ich mir da selbst beschrieben hatte, eine schöne war. Jetzt ist es vorbei.

Arno Schmidt soll ja, nach seinen fünfzigtausend Jahren in der Kemmenate, mit einem Glase Weinbrand in den Händen zu seiner Frau hinabgestiegen sein. Womöglich hat er dabei Klopstock imitiert, der nach der Vollendung seines Messias geradezu entgeistert gewirkt haben soll auf seine Familie. Und war es nicht Mommsen, der sich zur Feier des Tages sogar selbst in Brand gesetzt hatte?

Eine Treppe hätte ich. Allein die Frau ist leider unabkömmlich, sozusagen verhindert. Da bleibt mir bloß der Spiegel für meinen Krystle-Carrington-Moment.

Eins gilt es zu behalten: Wer jetzt ganz einfach, wie natürlich weiterschreibt, der kann noch viele Bücher schreiben.

NUR MIT EUCH

Der Wind hängt rauschend in den Bäumen. Manchmal wird es wieder still, als falte er die Hände. Blätter fliegen vor dem Fenster vorbei, die Ahornschrauber blitzen. Am Boden liegen dicht in Kreisen um die Stämme: Eicheln und Kastanien. Eine reichere Beute als im letzten Jahr und die Regel besagt, dass es einen harscher Winter geben wird. Wo neulich erst die Leitungen verlegt wurden, spriest Gras in feinen Spitzen, gerade so, als könnte es gar nie anders, als immer nur zu wachsen, gerade, nach oben hinaus.

Ich denke an die Zeit, als wir noch nicht zusammen waren. Heute herrscht die Tinte.

ELECTRIC GUITARS

Jetzt kann ich es schon kaum mehr unterscheiden, ob die Blätter am Kirschenbaum im Licht der Sonne golden leuchten, oder ob der Goldton ihrer Färbung von ihnen selbst, durch den Beginn des Welkens hervorgebracht wird.

Gestern abend mit dem Fotographen ein Konzert von Blumfeld besucht (im Festsaal Kreuzberg). Seit unserer Fahrt nach Bonn und dem Aufenthalt dort leidet er an einer Stirnhöhlenentzündung, gegen die er große, mir überdimensioniert erscheinende Pillen eines Antibiotikums einnehmen soll. Ich brachte ihm ein Alkoholfreies Bier, weswegen mich eine an beiden Armen schwer tättowierte Frau am Tresen dort milde anblickte. Ihre milde Gestimmtheit wird sich vermutlich auf die Gesamtheit des Publikums bezogen haben. Ich hatte es mir freilich ganz anders vorgestellt in seiner Zusammensetzung. Aber gut, Brecht behält Recht, und außerdem ist es für die meisten, gesamtgesellschaftlich betrachtet, anscheinend noch besser gelaufen als für den Fotographen und mich in ihrem weiteren Leben seit ihrem ersten Blumfeldkonzert. Jedenfalls ergab sich ein sittsames Bild. Ich hatte immerhin auf einen Sitzplatz bestanden. Mitsamt einem Tisch und einer gepolsterten Bank à la Dive Bar. Im Grunde saßen wir dort wie im Großraumabteil eines ICE. Stellte sich vor uns jemand hin, um uns den ungehinderten Blick auf die Bühne zu nehmen, baten wir höflich darum, den Ausblick zu räumen. Als Jochen Diestelmeyer sein Publikum über Mikrophon begrüßte, riet er dazu, dem Babysitter rechtzeitig Bescheid zu geben, denn es könnte heute doch länger dauern. Ich zündete eine Zigarette an. Mein Nebensitzer auf der Bank, also nicht der Fotograph, der war zu meiner Linken, der Herzseite, auch Diestelmeyer hatte die Bühne von der linken Seite her kommend betreten, sondern ein Fremder, der sich uns nicht vorgestellt hatte, sagte »Darf man das?«

Ich sagte »Natürlich nicht.«

Woraufhin er »Na also« sagte. Und mich anwies, die Zigarette umgehend auszulöschen. Zwar hatte er das Zauberwort vergessen, aber ich kam seiner unmißverständlich vorgetragenen Bitte selbstverständlich sofort nach. Woraufhin er sich wieder seiner Begleiterin zuwenden konnte, die, genau wie er, den Eindruck machte, als wollte sie beim Schmusen ihren Alltag samt Kostenstellen vergessen. Jochen sang Einfach so.

Es wurde aber trotz allem ein funkelnder Abend. Als dann zum Abschluß Verstärker gespielt wurde mit dem Zitat von Prefab Sprout in der Mitte »We were quoted out of context—it was great«, dann Strobo und Lärm mit Tobias Levin, lauschte ich in Ergriffenheit. Und hatte tatsächlich und wirkliche Gänsehaut (auf den Armen, und im Nacken ASMR.) Mir war nichts peinlich. Ich war halt in die sogenannten Jahre gekommen. Als ich zum ersten Mal in Altona auf einem Blumfeldkonzert gewesen war, hatte ich platinblond gebleichtes Haar. Einst hatte ich davon geträumt, ein Rockstar zu werden. Beim Erwachen mußte ich heute früh mal wieder selbst darüber lachen, denn mein Traum war mitsamt all seinen vielen Details in Erfüllung gegangen.

PUSSY DELUXE

Erst seitdem ich Wolken fotographiere ist mir die Flüchtigkeit ihrer Erscheinungsform, das Ephemere möglicher Motive bewußt. Am Morgen sehe ich eine reizende Konstellation aus winzigen scharf voneinander abgesetzten Sahnehäubchen, wie umflossen von musivischem Blau: dann heißt es annähernd blitzschnell zum Telephon greifen, denn zwei Augenblicke später könnten die schon ineinander gelaufen sein. Gestern, die Bäume rauschten unisono, war dort oben ein zügiges Treiben. Strebsam. Es ging westwärts dahin. Der See zeigte sich dunkelgrau und hatte sogar Schaumkronen. Gelockt von einer kuriosen Plakatserie, mit der für einen sogenannten Katzendrink in den Geschmacksrichtungen Huhn, Thun, Ente oder Kaninchen geworben wurde, machten wir einen ausgedehnten Spaziergang zum Tierfuttersupermarkt. Das ist ja, wenn man kein Haustier hält, eine unentdeckte Welt vergleichbar der Autozubehörsupermärkte, wenn man kein Auto besitzt. Der Unterschied besteht dann freilich darin, dass ein Auto keine Augen hat. Wobei meine Mutter ja die Beliebtheit jenes Modells das auch sie ihr eigen nennt damit erklärt, dass ihr Fiat 500 »so freundlich aus der Wäsche schaut.« Und das stimmt, denn dieser Kleinwagen hat runde Scheinwerfer im Gesicht. Wie einst der sogenannte Käfer. Oder gar der Porsche 928, der aus seiner flapsigen Breitmaulfront zwei Froschaugen emporklappen konnte to much applause. Die überwiegende Zahl der mittlerweile beliebten PKW hat jetzt Schlitzaugen und schaut wie aus Zorros Maske geradezu feindselig, zumindest zum Äussersten entschlossen in die Welt. Die Katze auf dem Werbeplakat für den Drink aber liegt wie lasziv ausgestreckt da und nimmt die Passanten aus dunkelblauen Augen ins Visier.

Geruchlich geht es im Tierfuttersupermarkt erfreulich weniger streng zu, als ich befürchtet hatte. So lange man sich von der Hundesektion fern hält, die natürlich die ganze andere Hälfte der erstaunlich weiten Verkaufsfläche einnimmt. Die Rechtsführung der Kunden bringt zuerst einige Regalwände mit Futtermitteln für freilebende Wildtiere, die damit zur Beobachtung gelockt und dabei versorgt werden sollen. Vögel selbstverständlich, aber eben auch eine Palette von Trockenmischungen für Eichhörnchen und Igel. Dabei ein sogenannter Igelschmaus, der zur Hälfte aus als Meeresfrüchte angepriesenen Shrimps besteht. Wir versuchten uns in das Bewußtsein eines auf Berliner Territorium aufgewachsenen Igels hinein zu versetzen, der seine Schnauze in eine Porzellanschüssel gefüllt mit dem Igelschmaus hineinwühlt, um dann die ihm völlig unbegreiflich mundenden Meeresfrüchte zu schmausen. Ob ihm das bewußt werden kann, dass er da beim Schmausen etwas schmeckt, was es in seiner Welt gar nicht geben darf?

Ähnlich fühlt sich auch ein Hase, der aus seinem Wasserspender einen abgekühlten Tee schlürft Marke »Zahnwohl«. Die Verpackung der Teebeutel, deren Zubereitung auch für Katzen unbedenklich scheint, ähnelt sehr denen eines Biotees für Menschen. Eventuell könnten auch Menschen am Zahnwohl genesen, da die Teemischung laut Packungsangabe vor allem aus Birkenblättern besteht. Besinnt man sich, als in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geborener darauf, dass es einst lediglich Brekkies gab und Whiskas, so müssen die Ansprüche der Katzen inzwischen exponentiell gestiegen sein. Denn es gibt, das wurde uns in der Gestalt von vier doppelseitig eng befüllten Regalwänden vor Augen geführt, mittlerweile dutzende Katzennahrungsspezialisten, die mit veritablen Kollektionen um die heiklen Schleckermäulchen zu buhlen verstehen. Der Katzendrink selbst war in einer deutlich kleineren Dose abgefüllt, als auf dem Plakat abgebildet. Im Grunde selbstverständlich, da ja auch die abgebildete Katze keine zwei Meter fuffzig lang ausgestreckt gewesen sein dürfte in der Realität. Und Katzen mit dunkelblauen Augen dürfte es ja auch keine geben, da kann sich ihre Art auch noch so sehr verfeinern wollen. Es waren, leider, bis auf Huhn und Thun schon alle Sorten ausverkauft. Wir kauften sämtliche Restbestände auf. Eine uniformierte Angestellte beglückwünschte uns zum Kauf, da es sich bei diesem innovativen Produkt um einen wohl selbst für die Betreiber des Tierfuttersupermarktes höchst unerwarteten Verkaufsschlager handelte. Es gab sogar Beschaffungsprobleme.

In der Bio-Corner machte ein akzentuiert modisch gestaltetes Unternehmen namens Pussy Deluxe auf seine Création aufmerksam. Dabei handelt es sich um dildohaft geformte Würste in silberner Folienverpackung mit neonfarbenen (pink) Aufdrucken. Unter anderem in der Geschmacksrichtung Oktopus—aus reinem Tentakelfleisch. Die Wurst wird wohl, wir kauften sie nicht, in Scheiben geschnitten serviert. Auch ein Carpaccio wurde denkbar.

Mit zugeklemmter Nase nahm ich der Vollständigkeit halber noch die Hundesektion im Spurt. Wie in einem Retrokrämersladen werden dort die abartigsten Kadaverteile aus großen Schütten zum Selbstzusammenstellen feilgeboten. Ich dachte an die Schinderhütte hinter den Marmorklippen. Unter anderem mußte ich dort die Luftröhren von Straußen schauen (luftgetrocknet), die an die Elendströte Vuvuzela denken lassen. Oder, für die Freunde von Leatherface: Rindsfellschnauzen. Das sind, unfasslicherweise, die samt Fellumgebung abgerissenen Nasen von toten Kühen. Es muß schon einiges schief laufen in der persönlichen Entwicklung eines Menschen, dass er seinem Hund einen Sack mit solch barbarischen Leckerli füllt.

Gut gekühlt, meint Friederike, schmeckt der Katzendrink wie eine gute Fleischbrühe ohne Salz. Sie genehmigte sich allerdings nur den ersten Schluck aus der Stewardessendose (Methode Feuerzangenbowle.) Nun heißt es warten auf eine Katze. Also dass eine vorbeistreunt. Auf dass sie etwas kosten darf, was es in ihrer bescheidenen Welt bislang noch nicht gegeben hat.

DAS BLAU DES HIMMELS ÜBER BERLIN

Wenn der Wind falsch steht, also richtig, duftet es am Morgen vor der Station Zoologischer Garten nach Tier. Warum halten wir Tiere in Zoologischen Gärten? Mittlerweile, bei einem Eintrittspreis von 18 Euro, freilich um mit ihnen Geld zu machen. Aber ist das nicht die ständige Antwort auf alles?

Ich finde das enttäuschend, gleichzeitig zieht es mich hin zu einer perversen Haltung gegenüber meiner Gesellschaft. Ausbeuten und sich ausbeuten lassen — irgendwie ergibt sich daraus eine 69, was dann ja wiederum meinem Sternzeichen entspricht.

Abends saß ich im Palmschatten—eines Kastanienbaums—mit Henning, und wir sprachen unter anderem über diesen Dokumentarfilm, der ihm in den Räumen der Brasilianischen Botschaft vorgeführt ward, der hauptsächlich von Marc Fischer handelte. Dann, aus der vergangenen Nacht, der grandiose Auftritt von Dirk von Lowtzow als Sänger vom Sunshine Reggae mit schief aufgesetzter Blondhaarperücke in dem Bio-Pic über Rudolph Moshammer.

Um 19 Uhr 30 sagte ich »So, jetzt muß ich arbeiten.«

Und er: »Ich auch!«

Wir gingen verschiedene Wege. Ganz gut, wenn man weiß, was man zu tun haben sollte. Es verleiht einem Struktur.

AND ALSO THE TREES

Am Nachmittag ein erholsames Gespräch mit meinem unsichtbaren Zweiten, dem ich gratulieren konnte, dass er zum Verleger des Jahres erkoren ward. Ob er auch zum Verleger meines Jahres werden wird: das soll sich weisen. Naturgemäß konnte er wiederum mich überraschen mit seiner wie harmlos gestellten Frage, wann ich ihm den Text liefern würde. Ich machte auf Künstler, und kündigte allfällige wie handelsübliche Überschreitungen der von ihm gesetzten Frist an. Da sagte er mit ein und demselben Lächeln »Kommt freilich überhaupt gar nicht in Frage, wir haben doch einen Vertrag«. Beim Griff zur ortsüblichen Rhabarberschorle verhängte er mir ein zweiwöchiges Ausgehverbot. Endlich! So einen Verleger hatte ich mir womöglich noch nicht einmal insgeheim, sondern recht offen, schon immer gewünscht.

Ging danach schnurstracks mit dem Fotografen und Anne vors Souterrain, wo wir das Ende meiner selbstverschuldeten Freiheit in gebührlichem Maße feiern konnten. Kebapträume wehten durch die Stadt.

Am Morgen dann stand das Update auf iOS12 bereit – leider ohne das versprochene Seifen-Emoji. Aber es gibt eine irre App, die Maßband heißt, und mit der ich, das darf der Zweite, der gottseidank unsichtbar ist, nicht wissen: den ganzen Tag vertrödelt habe. Auf dem iPad Pro ist es eine Lust, damit Räume zu kartographieren. Geradezu ein Hammer (sic) ist dabei die Funktion, dass die Darstellung sich sozusagen merkt, was man schon abgemessen hat. Und wenn ich dann, wie in einem Film, durch den Raum schwenke, sehe ich auf dem Bildschirm die zuvor abgemessenen Strecken graphisch dargestellt. Der Prozessor erkennt auch automatisch meßbare Flächen. Und somit weiß ich jetzt endlich, dass ein leeres Blatt in Din A 4 einen Flächeninhalt von 660 Quadratzentimetern beschreibt.

AUS DEM DACHSBAU

Mittags war es dann soweit: Umgeben von den an der Schattenmauer in der Russenhocke schmausenden Arbeitern, die machten eine Pause mit AU, hatte der Vorarbeiter meinen Lino auf die Mitte des Rasens geführt, um ihm die Premiere des Wunderwerks vorzuführen. Ich verfolgte das Geschehen von einer höheren Neugierde geleitet und wartete freilich auf das Kommando »Wasser marsch‘!«

Doch blieb es still, während dort ringsum aus den in die Grasnarben vergegrabenen Düsen die Strahlen zu parabelförmigen Kurven in die Luft gepresst wurden. Als Mann hegt man ja zum Spritzen aller Art ein freundliches Gefühl. Walfischphantasien kamen auf.

Lino hingegen kratzte sich am Hinterkopf—was täte ich anderes? Vom Oknophilen heißt es bei Michael Balint, dass »er selbst seinen Henker noch umarmt.« Nehme mal an, sein Gefühl war dementsprechend dem meinen, als mir 1997 eine der drei Sekretärinnen von Franz-Josef Wagner ein eierkartongroßes Modem des Fabrikats Robotics mit auf die Dienstreise gab, zusammen mit der Weisung »Dann brauchen Sie mich nicht mehr anrufen, um mir ihren Text zu diktieren«. Kurz nur währte die Freude über die technologische Neuerung. An den Spätfolgen laboriere (und oriere) ich heute noch umso mehr.

Dann aber fing ein Zweitaktermotor an, ganz grässlich sägende Geräusche von sich zu geben. Das war die kabellose Zweigschere, mit der sich ein malerisch schwitzender Gärtner im Holzfällerhemd an den Formschnitt der Heckenbuchen geschickt hatte. Warum nicht gleich nackt, bei dem schönen Wetter?

Ich stellte sofort Die Großen Weißen Vögel an, um das zu übertönen. Mein Nachbar machte sich nur von einer Jutetasche begleitet auf zum Steg, um auf seinem Boot das Weite zu suchen (und nicht zu finden, vermutlich, denn der Wannsee ist ja leider sehr klein.) Auf der Tasche stand in Kartoffeldruckbuchstaben DEINE MUTTER.

Wenn ich sterbe, soll meine Seele aber auch nicht zu den Sternen fliegen. Dort ist es furchtbar kalt. Wobei man seit Neuestem wissen sollte, dass das Weltall nach Petersilie duftet.

GRABUNGEN

Als Kind hat mich die Erzählung Ephraim Kishons vom Blaumilchkanal fasziniert und ich kann mich noch immer kaum bremsen, da es jetzt in der sogenannten Wirklichkeit direkt vor meinen Augen passiert: es kommen ja wirklich an jedem Morgen, kurz nach dem Aufgang der Sonne, wenn ich meine Augen aufklappe, jede Menge Männer, bewaffnet mit Vesperbroten, um dann mit viel Höho den unschuldigen Rasen mit Spaten und Motorfräsen zu attackieren. Denselben Rasen, den ich vor ein paar Tagen noch so liebevoll gepflegt. Lino selbst hingegen läßt sich so gut wie überhaupt nicht mehr blicken. Ist ja auch unschön, wenn einem die eigene Überflüssigmachungsmaschine so indiskret vor Augen geführt wird. Wobei die Männer wohl rufen würden, dass man erst mal schauen muss, ob es überhaupt klappt, wenn es denn mal fertig ist.

Und das interessiert mich: Was, wenn aus diesen kilometerlang im Erdreich verlegten Schläuchen nichts kommt, wie verlangt? Was, wenn sich, beispielsweise, der Rasen dann bloss bläht, schliesslich platzt und in den Himmel hinauf eruptiert?

Unappetitlich.
Mein Nachbar hat vorsorglich ein asiatisch anmutendes Kindermädchen eingestellt. Vermutlich eine Koreanerin. Sie schaut anmutig aus, wenn sie so, ganz in Schwarz, mit ihrer weitrandigen Nickelbrille die Terrasse fegt. Mit einem Reisstrohbesen, natürlich.

ARKTISCHE RADIESCHEN

Vor meinem Fenster fängt es sich an zu bewegen. Und zwar an jedem neuen Morgen, denn dort gräbt man jetzt den Blaumilch-Kanal. Sie attackieren die Grünflächen mit Fräsen. Angeblich soll so die neue Bewässerungsanlage entstehen. Ich bin ja leider keine Krähe, aber die Krähen hüpfen zwischen den platinenhaft in den Grundriß meines Lebensraumes gefrästen Bildes herum, so dass ich denke, dass es dort, in den Gräben für sie etwas zu holen geben muß. Vermutlich Würmer.

Im Vorübergehen entdeckte ich dann kurz vor dem schottischen Traditionscafé eine neue Möglichkeit, etwas andersartiges zu essen. Dort war nun in einem Häuschen am Straßenrand, wo in den vergangenen Jahren ein rotgesichtiges Schwulenpaar extrem überteuerte Flammkuchen feilgeboten hatte, ein polnisch grundierter Imbiß eingezogen. Ich fühlte mich vor allem von den prominent angepriesenen Bratwürsten direkt aus Polen angezogen.

Am Herd stand ein Greis, mit einer Frisur, wie man sie eigentlich nur von Perücken her kennt. Auf der von ihm betreuten Bratfläche lagen so einige der von mir begehrten Würste. Sie schauten extrem gut aus. Ich bestellte mehrere. Aber diese, meine, Bestellung schien in Vergessenheit geraten. Jedenfalls ließ mir die die Wartezeit genug an Muße, darüber nachzudenken, warum ich eigentlich nicht davon leben könnte, irgendetwas zu essen, um darüber zu schreiben. Weil das ja eigentlich exakt die Verwertungskette darstellt, der ich mich sehr gerne anheim geben würde. Neulich las ich anläßlich des unerwarteten Todes von Jonathan Gold, dass der wiederum eines Tages auf einer Busfahrt beschlossen hatte, sämtliche Snackpoints entlang dieser Buslinie abzufressen. Und daraufhin — Bang! —: Pulitzer Prize.

Und eigentlich will ich doch nur wissen, wie das zu finanzieren wäre, dass ich um die Welt reisen könnte, um alles auszuprobieren; und um davon zu berichten; beziehungsweise: wo? Weil das ist ja das einzige, was mich interessiert. Anscheinend. Aber das in Echt.

Was Patrick Bahners heute in der Zeitung schreibt, anläßlich des morgigen Geburtstages von Jürgen Dollase, es ist der siebzigste: dass sie bei dem ersten Treffen auf dem Parkplatz gar keine Vorstellung haben konnten, wie der (Dollase) denn aussehen könnte, weil er ja, wie sie annehmen mußten, unendlich reich war.

However. Der Pole wiederum war um diese Uhrzeit herum schon zu stark angetrunken, um mir noch meine Bestellung erfüllen zu können. Als die Würste dann, nach einer halbherzig angedrohten Schlägerei, endlich vor mir abgesetzt wurden, waren sie freilich köstlich. Begleitet von lustlosen Spritzern aus Cocktailsauce und einem süßlichen Ketchup. Mayonaise und sogar etwas Senf waren auch dabei.

Bei Martina & Moritz ging es heute um Essen für Menschen mit nicht sehr viel Geld.

PS Neulich hatte ich das Geräusch, das die Schiffsrümpfe bei der von der Wasserbewegung verursachten Reibung an den Kaimauern als quietschend beschrieben. Das war nicht präzise. Das hierbei verursachte Geräusch ist vielmehr zu beschreiben mit den Worten Woody Allens aus seinem oskarprämierten Film »Manhattan«, wenn er dort, in der ersten Nacht seines Umzugs in eine vermeintlich preiswerte Wohnung sich gegenüber seiner noch minderjährigen Freundin beschwert: »Hörst Du das Stacey? Das klingt doch, als ob der Typ dort oben eine Posaune spielt; nein, als ob der seine Posaune zersägt!«

BANTEAI SREY

Es wird jetzt schon sehr früh dunkel. Und sehr früh werde ich müd.

In einem letzten Aufbäumen gegen das Regiment der nun kommenden Jahreszeit habe ich beschlossen, bis zum kalendarischen Jahreswechsel am 31. Dezember meine kurzen Hosen zu tragen. Ausschließlich!

Das ging auch ganz gut, bis ich dann heute am Nachmittag ausgerechnet Klaus Stockhausen begegnete, mitten auf dem Rosenthaler Platz, der natürlich mit mokantem Gesichtsausdruck mein sogenanntes Outfit kritisierte dergestalt, dass ich also entweder mir längere Strümpfe suchen sollte, oder aber etwas längere Hosen. Er selbst, Stockhausen, hatte einen flauschigen Pulli an, der ihn—overknees—das Strickbild eines Flamingovogels mit Schnurrbart spazieren führen ließ.

So ging ich weiter durch die—seitdem ich in Berlin lebe: mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit vergewaltigte Innenstadt. Der radikal unhöflich geführte Bioladen am Weinbergsweg macht jetzt, das ist einem Pamphlet an der Fensterscheibe zu entnehmen, auch bald zu (weil ihnen der Gewerbemietvertrag gekündigt wurde.)

Beinahe alles wurde schon entschieden, bevor wir geboren wurden. Einst hing ein Zeppelin aus Beton von Sarah Lucas an eisernen Kabeln über dem Innenhof in der Sophienstraße, wo in einer Wandecke noch immer ein Schild mit dem eingeprägten Zitat von Bazon Brock hängt. Über den Tod. Sie haben einen Werbefilm über all dies, über uns alle gemacht. Der war ein voller Erfolg. Aber nichts mehr von alledem existiert. Nichts mehr ist noch da.

Später sprach ich mit Katja Eichinger über all dies. Auch über Kubrick. Und über das Schreiben, das Spielen und über Carl Stone. Über den nicht mehr existierenden Zeppelin, und wohin er sich wohl verzogen hat.

12. SEPTEMBER 2018

Ist jetzt das Licht bloß die Zeit, die über sich selbst nachdenkt, oder die Zeit bloß das Licht—ich finde das Zitat aus dem spanischen Gedicht nicht mehr, habe wohl einen Tab zuviel geschlossen und damit war es fort. Unauffindbar geworden.

Am See, den ich vermißt hatte (und wie!), was mir erst klar geworden ist in dem Moment, als ich dort wieder einchecken durfte: in meiner Sphäre, mit der ihr eigenen Kulisse aus Licht und Geräuschen: dem Quietschen der Schiffsrümpfe, irgendwie rostig, dem Kicksen der Blässhühner, dem Rauschen der Schnellstraße; des Schlurpens der Wasser, und, verweht, die Automatenstimme, weiblich, von den Bahnsteigen her gegenüber. Die Auren der Flutlichter aus den benachbarten Gärten. Ein langer Strahl spiegelt sich vom Ruderklub am gegenüberliegenden Ufer kaum zitternd bis auf die Mitte des Schwarz.

Sky is a sea of darkness, sagt Sun Ra. When there is no sun. Der Saturn hat Ringe, der Jupiter einen Fleck. Nach Carl Orff haben sie einen Asteoriden benannt. Angeblich wünschte sich Stanley Kubrick, dass Herr Orff ihm die Filmmusik für die Odyssee im Weltraum schreibt. Aber Orff fand sich dafür schon zu vergreist. Wie Arthur Jafa behauptet, gab es in der ersten Schnittfassung noch eine Erzählstimme über dem gesamten ersten Teil, der auf der Erde spielt, die vor allem die Funktion des Schwarzen Monolithen erklärte. Wie heute bei Terrence Malick!

Und, jetzt geht das los: das wie über Etagen herabklopfende Fallen einzelner Eicheln, die auf ihrem Weg nach unten an den Ästen und am Stamm selbst, aber auch am Eisen meines Balkongitters orffsche Klänge erzeugen. Holz auf Holz.

Ich weiß übrigens noch ganz genau, was ich gestern vor 17 Jahren gemacht habe; wo ich mit wem und im einzelnen war.

VON BERLIN ÜBER HAMM NACH BAD GODESBERG UND ÜBER BONN UND KÖNIGSWINTER ZURÜCK III

So weit ich mich erinnern kann hat es schon immer einzelne Wörter gegeben, die auf mich magisch wirkten; das nicht allein durch ihren Klang beim Ausgesprochenwerden, sondern schon von ihrem Schriftbild her und also beim bloßen Gedanken an ihre Gestalt. Eines davon war Königswinter. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich das Wort zum ersten Mal in ausgesprochener Form mitbekam (Verkehrsfunk), oder ob ich es doch, was mir naheliegender scheint, in einem Theaterstück von Botho Strauß entdeckte. Lesenderweise. Ganz sicher habe ich aber niemals eine Aufführung von Bekannte Gesichter, Gemischte Gefühle besucht.

So standen wir dann also am letzten Tag unseres Aufenthalts in Bonn am Ufer und warteten auf unsere Einschiffung nach Königswinter. Das angeblich modernste Motorschiff Europas sollte Rheinfantasie heißen. Als es dann kam, schaute es aus wie ein schwimmender Plattenbau. Wir waren ungefähr zweihundert Passagiere, die sich durch erstaunlich breit eingerichtete Rolltreppen und Fahrstühle befördert, auf dem Oberdeck verteilten. Es gab jede Menge Stühle aus grellblauem Plastik, von denen man sich nehmen durfte. Jeder saß bald, wo er wollte. Wie von allein ergaben sich Reihen. Da auch der Boden des Decks in dem freibadhaften Blau der Stühle lackiert war, dachte ich mir zunächst die bunten Menschen weg und dann an Herbert Fritsch. Das linksrheinische Ufer zog in optimaler Geschwindigkeit vorüber. Geräuschlos. Es gab keine einzige Möwe, von denen ich am Morgen erst noch eine gesehen hatte, die in aller Frühe auf dem minimalistisch gehaltenen Glockenturm der St.-Cyprianskirche auf dem goldenen Kreuz gelandet war, bloß um dort dann, in Weiß auf Gold vor blitzblauem Himmel einen weißen Strahl in den Wind zu scheißen. Der Fotograph, dem es mittlerweile den Umständen entsprechend besser ging, also vergleichsweise schlecht, sagte »Ist dir aufgefallen, dass die Menschen in Deutschland Wert darauf legen, dass es unaufhaltsam vorangeht mit ihnen? Man sagt Guten Morgen, fragt, wie es geht und sie sagen ‚Ich bin gut durchgekommen.‘«

An der Kaimauer von Oberkassel stand in mannshohen Buchstaben JANKA ICH LIEBE DICH. Kurios, dass ich denke, das diese Inschrift noch aus den achtziger Jahren stammt (wegen Janka.)

Königswinter hingegen nicht bloß eine Enttäuschung (Brecht hat halt Recht), es war dort einfach nur schlimm. Und das trotz des herrlichen Wetters. Es waren ja, das wurde uns erst an Land klar, sämtliche Passagiere mit uns gekommen. Die blauen Stühle wurden allein fortgeschippert. So also fühlt man sich als Traube. Wobei ich kenn’s ja. Einmal war ich schon in Peking. War fürchterlich und soll nie wieder vorkommen.

Das Vorantrippeln vorbei an leergeräumten, oft schon arg verstaubten Ladenfenstern machte dem Fotographen Lust auf eine Brezel. Doch gerade als wir, offenbar um eine Mülltonne herum, in die Fußgängerzone der Altstadt von Königswinter am Fuße des sogenannten Drachenfelsen geschleust werden sollten, sprang dort ein jüngerer Mann in weißen Sportklamotten von seinem Stuhl auf, um sich mit einem anderen, dort mitten in der Fußgängerzone Aufgebauten, anzubrüllen. Beide standen offensichtlich unter dem Einfluß der unseligen Ostdroge Crystal Meth. Der weiß Gekleidete hielt bald seine Tochter, ein kleines Kind, vor sich wie einen Schild, um sich vor den Kampftritten des anderen zu schützen. Die Kellnerin, selbst noch ein Kind, mußte das mitansehen. Wir auch. Und die anderen legten die Tortengabel beiseite. Ich dachte an das Stück von Milo Rau, das ich in der vergangenen Woche an der Schaubühne gesehen hatte. So ähnlich ging es hier zu. Ein Mexican Standoff von allen mit allen. Aus einem Friseursgeschäft kamen zwei Männer mit Türsteherfrisuren; bei dem einen war erst die eine Seite frisch gemacht. Denen gelang es natürlich, den einen, der dem Geschrei zufolge Dealer war, der mit dem Kind war sein Kunde, nach weiter hinten in die Altstadtgasse abzudrängen, wo sage und schreibe der Gesangsverein Gemütlichkeit mit Th (seit 1862) schon seit dem Morgengrauen sein traditionelles Herbstfest mit Rievkoche samt handgemustem Apfelbrei im bläulich schimmernden Halbschatten eines hierfür eigens aufgebauten Zeltes abhielt.

Die Brezel war schrecklich. Wir schauten andauernd auf die Uhr. Bis auf zwei Frauen, die eine im weinroten Hijab, die andere in samtigem Grün, die wir fortan Backbord und Steuerbord nannten, gab es absolut überhaupt gar nichts zu sehen. Interessanterweise schien die Rheinfantasie mit dem Strom deutlich schneller unterwegs als bei der Hinfahrt nach Königswinter. Ruckzuck waren wir zurück in Bonn.

VON BERLIN ÜBER HAMM NACH BAD GODESBERG UND ÜBER BONN UND KÖNIGSWINTER ZURÜCK II

In Bonn war es nicht bloß vergleichsweise ruhig. Schön war bei der Einfahrt nach Bad Godesberg aber noch der Ausruf einer Passagierin gewesen, die aus dem Fenster schauend die Graffiti an den Fassaden bewundert hatte »Die haben hier überall diese Wandmalereien!«

Im Kanzlerhotel, wo wir im Vorjahr schon abgestiegen waren, fanden wir alles unverändert. Die beiden in Gold gerahmten Gesichtsaufnahmen der Altkanzler Kohl und Schmidt: unbebrillt hingen sie als Kustoden zu beiden Seiten der silbrigen Aufzugstüre. Man nickt ganz unwillkürlich. Kurios, dass es in diesem Themenhotel an dem Glas der Duschkabinen einen ätzgravierten Bundesadler hat.

Der Rhein ist mir ja zu breit. Oder zu flächig? Jedenfalls gefallen mir die Proportionen nicht. Der Neckar hingegen wirkt schlank, geradezu sehnig auf mich (was auch daran liegen kann, dass ich an einem Nachmittag im Teestüble am Brückenkopf bei Ludwigsburg beinahe im Neckar ertrunken wäre, weil mir beim skinny dippin‘ für den Rückweg vom anderen Ufer schlagartig die Kraft ausgegangen war, und wenn mich nicht der starke Marcus kraft seiner starken Arme ans Land gerettet hätte.) Die Spree wiederum — man mag es sich denken.

Klare Sache, dass wir nach dem Arbeitstag den Abend in jenem in ganz Deutschland einmaligen Restaurant verbrachten, das in Form eines altkaiserlichen Pagodenschiffs, einer veritablen Dieseldschunke, am linksrheinischen Ufer ankert. Der mit einem speziellen Humor begabte Ober dort liess uns am sogenannten Table Number One platznehmen. Worauf ihn der Fotograph als Brother Number One begrüßte (und diese Anspielung auf die jüngere Geschichte des mit China in absolut keinerlei Art und Weise auch nur irgendwie in Verbindung zu bringenden, aber halt zumindest ebenfalls asiatischen Zwergenstaates Kambodscha kam anscheinend gut an.) Später dann, beim Pflaumenwein, erzählte uns der Chinese von seinen Zuchterfolgen mit den Koikarpfen, von denen die teilweise kindsgroßen Prachtexemplare in einem unverdrossen sprudelnden Indoor-Teich gleich hinter meiner Lehne dümpelten. Besonders einer, dessen schwarzer Leib mit pikant orangenfarbenen Schuppen gemustert war, hatte es mir angetan und während ich noch mit Appetit das Schweinefleisch nach dem Rezept von Paul Newman mit Stäbchen in mich hineinschaufelte, bekam ich die Anfangsszene aus Eat Drink Man Woman nicht aus dem Sinn, in der ein ähnlicher Fisch in aufrecht stehender Haltung mit siedendheißem Erdnußöl arosiert wird.

Selbst auf dem Heimweg ins Hotel — der Fotograph erzählte mir, da wir unter bedecktem Nachthimmel über den schwarzen Rhein wandelten, von dem Sternenschauspiel über der Toskana, wo selbst die Milchstraße zu sehen ist wie sonst nur in Ostafrika — dachte ich an dieses herrliche Fischgericht, das mir entgangen war — wieder einmal, weil ich mich nicht zu fragen getraut hatte. Dabei war ich ihm, an Bord des Pagodenschiffs mit dem schönen Namen Ocean Paradise am Table Number One so nah gewesen wie noch nie zuvor.

VON BERLIN ÜBER HAMM NACH BAD GODESBERG UND ÜBER BONN UND KÖNIGSWINTER ZURÜCK

Freitags in der Frühe los in einem überraschend gut gefüllten Zug in Richtung Westen. Ich reiste mit dem Fotographen und im Grunde bedeuten solche Reisen im Gespann vor allem einen erhöhten Betreuungsaufwand, denn Fotographen sind ja, geradezu im Gegensatz zu Schreibenden nicht andauernd mit ihren Gedanken an die Arbeit beschäftigt; die entstehen bei ihnen situativ, also wenn sie auf der Suche nach Motiven sind. Und dann, im direkten Gegenüber branden sie auf. Während einer Fahrt dorthin aber haben sie sozusagen frei und können sich über alles mögliche Gedanken machen. Dass sie unterwegs aus dem Fenster schauen und ab und an etwas aufnehmen mit ihren Fotoapparaten, kommt anscheinend nicht in Frage. Vielleicht hat das mit ihrem professionellen Anspruch zu tun, weil sie halt besser einschätzen können, dass sich ein Schnappschuß nur selten rentiert. Vielleicht aber machen sie auch innerlich Aufnahmen, von denen ich dann nichts mitbekommen kann, weil der gehirnliche Auslöser nicht klickt. Ich bin schon mit verschiedenen Fotographen unterwegs gewesen und sie alle hatten unter anderem gemeinsam, dass die anfallsartig unter Appetit zu leiden hatten, der dann umgehend gestillt werden mußte, sonst bekamen sie schlechte Laune. So aß der Fotograph zuerst ein Hörnchen, dann ein mit Schinken und Käsecreme gefülltes Baguette, aber wie die kleine Raupe war er noch immer nicht zufrieden; seine Laune beschrieb er lakonisch als Melancholie.

Als das Zugfenster ihm Bilder aus seiner Geburtslandschaft zeigte, brachte das nur kurzfristig eine Aufhellung seiner Gemütslage, woraufhin er bald noch tiefer in seine beredte Schwermut versank. 

In Hamm wurde es kritisch. Da stieg unter Krakehlen eine Gruppe alternder Männer zu uns ins Großraumabteil und besetzte die verbliebenen Plätze. Es war erst halb zehn Uhr, aber die Männer waren schon ziemlich betrunken. Da sie in heftigem Dialekt ihren Frohsinn verbreiteten, sagte der Fotograph, dass er sich der Situation nicht mehr gewachsen fühlte. Es handelte sich nämlich, so erklärten mir das die Beschwipsten unter reichlichem Schultergeklopfe, um eine von ihnen sogenannte »Frühstücksrunde.« Aus zwei gewaltigen Kühlkoffern wurde gleich flaschenweise Weißwein ausgepackt, den sie aus ganz kleinen Gläsern, kaum größer als ausgeblasene Hühnereier, kippten. Von einem ins Gepäckfach geschobenen Rollkoffer baumelte eine erstaunlich leistungsfähige Boombox über unseren Köpfen herunter, die über Bluetooth mit einem der Mobiltelephone aus der Frühstücksrunde verbunden war. Die Musik, ich hielt es für einen Bootleg des Clan of Xymox rieb den Fotografen nur noch zusätzlich auf.

»Ist das Helene», rief er in die Runde, woraufhin der mindestens zweihundert Kilogramm schwere Truchsess der Truppe, den wir insgeheim das Monster nannten, mit der ihm eigenen Fröhlichkeit eine Bestätigung ausstellte, indem er mir durch bloßes Antippen das rechte Schlüsselbein zerbrach wie einen Zweig.

»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte der Fotograf sotto voce. Die mittlerweile lautstark und aggressiv vorgetragenen Beschwerden der übrigen Passagiere perlten ebenfalls ab an der sauerländisch grundierten Trutzburg rheinischen Frohsinns. Der Beschwerdeführer, ein Hänfling mit Hornbrille und Undercut à la Joko Winterscheidt, drohte mit einem Hubschraubereinsatz der Bundespolizei. 

Ziemlich geschafft von dem psychischen Streß liefen wir um die Mittagsstunde im Bahnhof von Bonn-Bad Godesberg ein.

Dort schien freilich die Sonne.

»WENN DAS SCHÖNE NICHT WEHTUT, KANN MAN ES KAUFEN«

Am Morgen hatte der See erste Nebel. Die Sonne geht früher unter, das merke ich jetzt, es scheint mir plötzlich. Karin, die lange Jahre vor allem lang meine Agentin war, verriet mir einst, als ich noch nicht bereit dafür war, eine ihrer Lebensweisheiten: »Männer fallen die Stufen des Alterns hinunter, Frauen gleiten über das Geländer hinab.«

Ich habe ein wunderschönes Buch auf der Straße gefunden. Es stand da, möglicherweise für mich, zwei Morgende und Abende schaute ich es im Vorbeigehen an. Heute traute ich es mir, es mitzunehmen. Niemand schaute mir hinterher. Es handelt sich um ein Schulbuch aus den Sechzigerjahren, hergestellt, vor allem gestaltet in einem Großgraphischen Betrieb aus dem Besitz der Lübecker Nachrichten. Allein das, diese Information ficht mich an. Denn jetzt, wo Print angeblich schon komisch riecht, nicht mehr funky ist, ist mein Appetit auf die Hochzeiten schier unermesslich geworden. Wie schön man damals noch schrieb! In dem Buch werden Lehrinhalte vermittelt über Asien und Afrika. Es macht mir eine riesige Lust zu reisen, denn der Rest der Welt scheint auf eine maßlose Weise unbekannt. Neger sind dort Neger, ihre Lebensweise wird mit sprachlicher Pinzette geschildert. Dies alles ist noch nicht lange her. Beim Absatz über Äthiopien kamen mir die Tränen. Den Verfall dort habe ich ja bezeugt und mein Gefühl beim Anblick war damals wie bei einer heruntergefallenen Schüssel. Dann, beim Wiederlesen des Zeitzeugnisses wurde es noch mehr so.

Im dunstigen Licht, das im schönsten Buch von Hermann Lenz schlicht als Herbstlicht beschrieben ward, kam ich an einem geparkten Polizeiwagen vorbei. Einem Mannschaftstransporter. Und vor dem standen zwei Beamte in Riot gear, umspielt von einer Art Schäferhund mit schwarzer Maske. Das hat mich schon immer interessiert, also probierte ich aus dem Stande ein kurzes Interview. Zunächst gaben sich die Männer aggressiv, dann aber hatten sie wohl festgestellt, dass ich mich wahrhaft für ihr Tier interessierte. Und also ist es dann so, dass ein Polizeihund ganz jung schon aquiriert wird, um für seine Aufgabe ausgebildet zu werden. Diese ist, bei diesem Fall »beißen, wenn man es ihm sagt; außerdem schnüffelt er Sprengstoff«. Als Belohnung bekommt er dann einen Ball, um zu spielen. Und nicht etwa Leckerli, wie ich es angenommen hatte. Daraufhin fragte ich, ob das Tier, das währenddessen befehlsgemäß brav auf dem Pflaster lag mit gefalteten Pfoten, auch ein Privatleben habe. Der Hundeführer – das ist ein besoldeter Beruf offenbar – sagte: »Ja, selbstverständlich! Ich nehme ihn nach Feierabend mit nach Hause, dort lebt er. Wir gehen dann Gassi, ganz normal, wie mit allen anderen Hunden auch«.

Ich fragte auch noch dem großen weißen Hund, von dem meine Mutter uns erzählt hatte, der aus Anatolien stammt und extrem aggressiv sein soll. Die Profis lehnen den aber ab: das ist ein Hütehund, für den Dienst bei der Bundespolizei nicht zu gebrauchen.

Der andere hält sich eigener Aussage nach zwei Chihuahuas. Rein privat, zum Vergnügen.

DJELEM, DJELEM

Ein Lebenszeichen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin: Durch die Bild-Zeitung lässt er verkünden, dass er, Michael Müller, außerirdisches Leben für möglich hält.

Meine Mutter hingegen lässt mich wissen, dass Frieder, ein sogenannter Kater, der meiner Ansicht nach eine Katze ist, wobei er vermutlich durch eine Kastration wahrlich bisexuell gemacht ward (von Dr. Money im Johns Hopkins Hospital gar?), jetzt täglich ins Haus eindringt, um nach uns, den abgereisten Gästen, die ihn trotz Verbots mit Ei und Sahne bewirtet hatten: schreit.

Ich habe endlich die verborgene Website entdeckt, auf der die Interviews von André Müller zur Verfügung gestellt sind. Ich will sie für Waahr gewinnen, aber seltsam war es schon, an die AOL-Adresse eines Verstorbenen zu schreiben. Wobei ich ja, als Marc Fischer gestorben war, also als er schon tot war, noch eine Freundschaftsanfrage von ihm auf Facebook bekam. Sollte André Müller mir antworten: wundern täte es mich nicht.

Abends wird es jetzt allmählich schon zu kühl für kurze Hosen.

VON HEIMERDINGEN NACH BAD MERGENTHEIM UND ÜBER BURTON-ON-TRENT ZURÜCK NACH FRANKFURT UND BERLIN

Die Amseln sind nicht verschwunden, erklärte mir mein Vater am Telefon. Sie haben sich derzeit in die Wälder zurückgezogen, weil sie in der Mauser sind.

Seinen Anruf nahm ich im Salon zur Goldenen Schere entgegen, der mir mittlerweile zum Stammfriseur geworden ist, obwohl ich viel zu selten in Frankfurt bin. Während mir dort das spärlich gewordene, dennoch wie unverdrossen sprießende Haupthaar in Form gebracht wurde, dachte ich an all meine Friseurbesuche an all den Orten auf der Welt nach, weil sie mir seltsamerweise prägnant und wie plastisch in Erinnerung erhalten waren. Möglich, dass es den Kunden von Prostituierten allüberall ähnlich geht. Das Haareschneiden ist ja ein intimer Vorgang. 

Einmal, das war in den Neunzigerjahren, als es in Manhattan noch ein veritables East Village gab, besuchte ich dort einen Salon, der wurde von armenischen Greisen betrieben. Die schäumten mir den Bart mit einem intensiv nach Lavendelöl duftenden, angewärmten Schaum ein, um mich zu rasieren – und bei ihnen selbst war das mit Blue rinse bishin ins Lila getönte Haupthaar wie eine synästhetische Entsprechung gewesen von diesem Lavendelduft.

Später dann, so fiel es mir ein, befand ich mich einst am östlichsten Zipfel des Hornes von Afrika, in der Stadt Harar, die unter anderem als Fourth Holiest City of Islam (nach Mekka und Medina und Jerusalem und so weiter) berühmt ist, auch als Wohnort des Dichters Arthur Rimbaud, aber vor allem und möglicherweise auch deswegen für das dort angebaute Rauschkraut Qat, ja: man nennt die Gegend dort sogar La Bordeaux of Qat.

Ganz plötzlich, die Straßenszenen waren ja dementsprechend abschreckend gewesen, verspürte ich den dringenden Wunsch, mich rasieren zu lassen. Begleitet von Eva und Ingo betraten wir einen dort ortsüblichen Stall mit Lehmwänden in der schneckenförmig angelegten Innenstadt. Der Barbier war schon drauf. Es stand ihm der Abschaum des grünen teehaft gekauten Rauschgemüses vor den Lippen, und über meinen ihm gegenüber geäußerten Wunsch, nämlich mich von ihm mit der Klinge rasieren zu lassen, erschien er uns selbst vor allem am meisten erstaunt.

Ernst Jünger hat hier von einer »höheren Neugier« gesprochen, die uns in eine solche Lage verlockt. Jedenfalls musste der Mann zunächst einen Buben schicken, um am nächstgelegenen Souk eine Rasierklinge zu kaufen. Für ihn wird die Rasur eine weit mehr psychedelische Erfahrung gewesen sein, denn für mich.

Auch gut war Istanbul. Überhaupt der arabische Raum, wo mir in Beirut, ausgerechnet beim Abschaben im Kehlbereich andauernd Ausschnitte aus der New York Times vorgezeigt wurden, in denen man die jüdischen Gewalttaten unter Kissinger dokumentiert sah.

Das dauerte Tage, während derer ich mich in meiner Heimat entspannen musste, um all dies vergessen zu können, was ich hier und dort schon gesehen und erlebt hatte.

Meine Mutter fürchtete sich – völlig zu recht – vor den Wespen, die allgegenwärtig waren. Bloß fragten wir uns: Wo kommen die her?

Dann, es war nach einem herrlichen Mittagsschlaf, fiel mir plötzlich die Erzählung von Poe ein; die mit dem Brief. Und mein Blick landete auf dem sogenannten Insektenhotel, das gleich über dem Springbrunnen an einem hölzernen Sichtschutz hing. Als meine Mutter dann, sie ist gegen das Gift von Bienen und Wespen allergisch, den Nebel aus der Sprühdose dort in den Eingangsbereich – die Lobby – hineinverströmen ließ, purzelten ihr Dutzende der schwarz-gelb gestreiften Spießgesellen entgegen. Manchmal ist es halt doch ganz leicht.

Am Sonntag dann besuchten wir den Vater in seiner Kurklinik im Wald über Bad Mergentheim. Acht Wochen waren es nunmehr schon her gewesen, dass er aufgrund seiner anfänglich noch lustigen Gelbfärbung von uns entfernt worden war. Wir gingen zusammen was essen. Und es tat mir weh, ihn alleine dort zurücklassen zu müssen (so, wie es Eltern wohl weh getan haben muss, ihre Kinder bei anderen zurücklassen zu müssen, um sich um ihre eigenen Geschäfte kümmern zu können.)

Abends fuhren wir immer ins Stückle, und ernteten von den Mirabellen und Äpfeln so viel, dass er, bei seiner Heimkehr am Mittwoch, noch das Gefühl des Erntesegens erhalten würde, obzwar er in diesem Jahr nichts mehr selbst noch ernten können wird.

Als wir dann in Birmingham landeten und über die Landschaft der Grafschaft (vielleicht war’s auch umgekehrt,) fuhren, war mein Blick noch immer landwirtschaftlich geschärft. Also sah ich vor allem die herrlichen Wiesen und Rasen, die Hecken, das Strotzen der englischen Natur. Bei der Hochzeit in der Kathedrale von Leicester betete der Priester dann vor, dass die beiden sich in richer and in poorer times ertragen sollten.

Nehme mal an, dass letzteres eintreffen wird.

Burton after sunrise, Britain before brexit: wenn das Licht stimmt, ist das Land einfach herrlich. Ich habe noch nie solch schöne Szenen geschaut. 

Burton-On-Trent ist eine Brauerei-Metropole. Zudem wird hier angeblich die Aufstreichpaste Marmite abgefüllt. Von beiden, meiner Befürchtung nach extrem geruchsintensiven Prozessen, war an diesem zurückliegenden Wochenende nichts zu spüren. Glücklicherweise.

Im Junkspace, also in einer Shopping Mall, das war am Nachmittag des Sonntags vor dem Abflug, kauften wir einen bluetooth-fähigen Hasen aus weißem Gummi, der einen silbrig vergitterten Lautsprecher bleckt. Wir saßen dort in der Einkaufshalle und der Hasenlautsprecher spielte London Calling.

Es hat, obwohl viele der dort flanierenden Greise so auffällig wie primitiv an den Unterarmen tättowiert waren, außer uns niemanden sonst interessiert.

DAVID GUETTA ON DRUGS AT TOMORROWLAND

Lange Zeit war ich der Gefangene des Dogen von Moabit, aber jetzt endlich rollt der Zug hinaus in die Welt. Am Bahnhof warten die Stare auf Bestellungen. Sie singen um Burger wie Mister Bojangles.

Der Star, Vogel des Jahres 2018 und somit ein Punktpunktpunkt unter den Vögeln: Ich liebe seinen Gesang. In meinen Charts auf Platz zwei nach dem des Amselhahns, noch vor dem der Nachtigall. Neulich, es wird ja jetzt kühler und auch früher dunkel am Abend, sah ich sie (die Stare) bei ihren Herbstmanövern; noch erst in kleinen Geschwadern. Doch schon als pulsierende Wolke am Himmel zwischen den Bäumen. Die sind noch voller Laub. Alles noch.

Katja Eichinger hat ein schönes Album aufgenommen mit Rem Koolhas. Manchmal schadet Geld halt doch nicht. Mir übrigens keinesfalls. Als ich nachts mal anfallshaft sehr viele Filme von Rainer Werner Fassbinder hintereinander angeschaut hatte, dachte ich mir: Du findest die Filme von Rainer Werner Fassbinder ja doch gar nicht total schlecht, wie Du immer und andauernd behauptet hast. Du hast sie halt bloß zur falschen Zeit angeschaut. Und jetzt kommen sie Dir recht. Wenn Du damals schon gewußt hättest, dass man Textflächen auch auf Statuen laden kann, wäre Dir Tristesse Royale nicht missraten als Theaterstück.

Angeblich gibt es vielerlei Gründe, aus denen heraus ich mich privilegiert fühlen dürfte. Ich kenne einen: ich reise mit dem Prototypen einer Seife im Gepäck.

22. AUGUST 2018

Eine Feder schwebt durch das windstille Blau zwischen Baum und Fenster und ich weiß nicht, ob da jemand sein Kissen ausgeschüttelt hat oder ob die von einer Krähe stammt, die sich ihr Gefieder putzt.

ANDROID PIE

Über Nacht wurde ich reich beschenkt. Das Update der Systemsoftware meines Telephons enthält nun endelijk, endelijk die Erweiterung der Emoji-Palette. Und eben dort, im Sektor der Glocke erwartete es mich: BAR OF SOAP, das Seifenemoji. Es ist einfach nur köstlich geraten. Mich spricht vor allem sein delikater Farbton an, ein Rosa mit dem genau richtig dosierten Anteil an Gelb. BAR OF SOAP gefällt mir sogar in seiner zugrundeliegenden Form, dem Maschinenzeichen U+1F9FC ausgesprochen gut. Leider kann ich meine Freude über die neue Ausdrucksform nur mündlich oder schriftlich mitteilen, denn ich kenne praktisch niemanden, der nicht ein iPhone benutzt. Bis dort die Erweiterung der Palette zur Verfügung gestellt wird, vergehen noch einige Wochen, bis dann im Septemberritual von Cupertino die Novitäten für Apple-User präsentiert werden (und rituell ein Update des Betriebssystems.)

Bis dahin bleiben mir die neuen Ausdrucksformen—es gibt auch Bakterien, eine Petrischale mit Pipette, einen Magneten—einzig zur Ougenweyde in der splendid isolation mit meinem verpönten Gerät. Schade, aber toll, wie Rocko Schamoni zu sagen pflegte. Ich kann mich noch an eine Zeit in den neunziger Jahren erinnern, als die vereinzelten Besitzer von Apple-Computern sich in einem Star-Wars-Sinne als Widerstandskämpfer gegen ein übermächtiges System begriffen. Einer hatte auf seinem Laptop einen rebellischen Bildschirmschoner installiert. Der produzierte den Slogan In a world without fences who needs Windows and Gates.  Aber wie das halt so läuft bei Systemkämpfen: Irgendwann ist man bei der falschen Partei.

One more thing: Im Sektor der Flaggen ist es zwar etwas unübersichtlich, aber außer der Piratenflagge ist anscheinend nichts neues hinzugefügt worden. Eine aber fehlt immer noch (hüben wie drüben), dabei gibt es sie schon so lange, wie ich auf der Welt bin: Die Flagge der Roma (o styago le romengo), ein braunes Wagenrad auf grasgrünem und azurblauem Grunde. 

DISRUPTED PATTERN MATERIAL

In der Tagesschau wurden Ausschnitte aus einer Rede von Donald Trump gezeigt. Er will den Militäretat aufstocken um 720 Milliarden Dollar, um »the biggest and deadliest« Streitkräfte auf dem Planeten zu besitzen. Die Kameras fuhren über andächtig lauschende Soldatengesichter sämtlicher couleur. Sie erhalten zwei Komma sechs Prozent mehr Sold. Bei solchen Aufführungen gibt es keine Sperrfrist für die Veröffentlichung. Auch wenn über ungelegte Eier geredet wird. Und es vieles noch gar nicht gibt. So wollen, verkündet der Präsident, die Streitkräfte der Vereinigten Staaten eine Armee im Weltraum aufbauen. Das erinnert mich an meine Kindheit, da gab es diese Gutenachtgeschichte schon einmal, unter dem Präsidenten Ronald Reagan. Der Spiegel hatte ein Cover, da war der blaue Erdball zu sehen und darüber schwebte das Space Shuttle. Die Ladeklappen hatten sich geöffnet und eine Lafette feuerte einen mit dem Lineal gezogenen Laserstrahl auf eine russische Rakete ab. Der Illustrator hatte sich wohl direkt bei James Bond und Moonraker Ideen für seine Zeichnung geholt. Denn das bewaffnete Space Shuttle war wie das real esistierende, zivile Raumschiff: weiß. Eine Kampfversion müßte aber matt in schwarz lackiert werden. Das ist die Camouflage zwischen den Sternen. Im Weltraum taucht man als dunkler Monolith aus finsteren Weiten herauf. Schwarz mit weißen Pünktchen vielleicht sogar. Wie es bei Vicor Hugo heißt: L’hydre-Univers tordant son corps écaillé d’astres.

DON'T DREAM IT'S OVER

Es ist etwas unangenehm geworden, sich Kinofilme anzusehen, die noch längst nicht in den Kinos angelaufen sind. Das Ritual sogenannter Pressevorführungen wartet mittlerweile mit Sicherheitsvorkehrungen in Form von Einverständniserklärungen auf, um die nackte Erscheinung des Filmes mit der Furcht vor dem Hochverrat zu paaren. Als ich gestern am Nachmittag den neuen Streifen von Florian Henkel von Donnersmarck vorgeführt bekam, wurde ich zweimal, erstens per EMail im Vorhinein, dann noch einmal mündlich vor Ort darauf hingewiesen, dass während der Vorführung Nachtsichtgeräte eingesetzt würden, um eventuell insgeheim mit ihren Telefonen mitfilmende oder snappende Zuschauer dingfest machen zu können. Die Taktik hat freilich etwas ungewollt Komisches in Anbetracht der Tatsache, dass der vorletzte Film des Regisseurs bekanntlich Das Leben der Anderen hieß.

Die sogenannte Sperrfrist des neuen läuft noch bis zum Ende der Pressekonferenz nach seiner Premiere in Venedig. Bis dahin sind selbst mir nicht, es ist niemandem erlaubt, etwas dazu zu sagen, was uns dort gezeigt worden war.

Auf einer übergeordneten Ebene aber denke ich seitdem einmal wieder darüber nach, warum eigens für einen Film angefertigte Kunstwerke, auch Performances und Installationen, eben doch nicht als Kunst wirken, sondern wie Dekoration.

Als ich nach drei Stunden wieder ans Licht durfte, fing es an zu tröpfeln durch das geschlitzte Sonnensegel über dem Sony Center am Potsdamer Platz. Kinder hatten sich entkleidet und planschten dort in dem Bassin der Fontäne.

Das Leben war schön

DIE SEGNUNGEN DER NUDEL

Daniel Martinez ist zurück. Wir begegneten uns zufällig. Und zufällig dort, vor dem kleinen Café, wo wir uns beim letzten Mal verabschiedet hatten, vor zwei Jahren, vor einem erst: ich weiß es nicht mehr. Er ist viel kleiner, als ich ihn Erinnerung behalten hatte. Viel zarter auch von seinem Wuchs. Er hat sich die Haare zu Stoppeln rasiert und hellblond eingefärbt. Seit seiner Abreise aus Berlin hat er es in Kalifornien nicht lange ausgehalten. Sein Land hat sich in etwa so verändert, wie er es mir damals, beim Morgenkaffee prophezeit hatte. Da lag die Zeitung vor uns auf dem Tisch mit der Nachricht, dass Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt ward.

Doch auch hier hatte sich ja einiges verändert während seiner Abwesenheit. Der Betreiber des Hotels hatte, ermüdet vom andauernden Protest der Antifa vor seinem Restaurant schließlich aufgegeben und seitdem gibt es dort ein politisch hasenreines Restaurant, die Trattoria Del Lago. Komplett mit weißen Gipsstatuen und einem kleinen Außenlautsprecher, der die klassischen Weisen auf den Vorplatz überträgt. Tja, und wenn the moon hits your eye like a big pizza pie, kann das halt bloß Liebe sein.

Bevor Daniel hierher zurück kehren konnte, hat er eine Zeit in Italien verbracht, wo die Rockefeller Foundation ein kleines Schloss auf einem Hügel besitzt, für das sie Arbeitsstipendien an amerikanische Künstler vergibt. Im Dorf leben außerdem noch dreißig Ureinwohner. Es ist dort ungefähr so wie hier, findet er, allerdings halt ohne die Nähe zu einer Stadt.

Rings um uns herum mühten die Leute sich ab, ihre Burger und Tarteletts zu verspeisen, ohne dabei von den zahlreichestens umherschwärmenden Wespen belästigt zu werden. Da gibt es mehrere selbst erfundene Strategien, die sämtlich zur Fruchtlosigkeit verdammt scheinen: die einen schlagen um sich, die anderen beugen sich zum Biss in die Kost unter die Tischplatte, einige rennen mit dem Burger in der Hand vor den Insekten davon und suchen ihr Heil im Genuss auf der Flucht. Ich erzählte Daniel von meinen Forschungen zum Ortolan-Ritual; und dass es für die Wespenphobiker auch eine gute Möglichkeit wäre, sich zum Essen im Freien gänzlich unter eine tischtuchdeckengroße Serviette zu begeben. Und wir lachten, als wäre es erst gestern gewesen.

Ein paar Wochen lang kann er nun hier verschnaufen auf seiner Flucht vor der Heimkehr ins Reich. Er überlegt aber wohl, sich hier niederzulassen. Deutschland sei ideal als Exil.

RALF DAHRENDORF BEI DER VORSTELLUNG SEINES PORTRAITS, 1984

Beinahe zufällig – während Recherchen im Internet weiß ich ja nie, wohin die Reise führen wird, weshalb ich auf die mir eingebaute Wünschelrute vertrauen muss – stieß ich durch einen Hinweis auf einen Text, mittlerweile obskur geworden, weil im Internet selbst nicht verfügbar, der mir, aufgrund der natürlich dort verfügbaren Kommentare, vielversprechend erschienen war: David Bowie schreibt über seine Begegnung mit Balthus. Angeblich, so die Kommentare, war der daraus hervorgegangene Text, geschrieben von Bowie selbst, zwanzig Normseiten lang.

Das hat jetzt mehr als zwanzig Stunden gedauert, bis ich diesem Text habhaft werden durfte. Zahlreiche Telefonate, das erfreulichste dabei mit René Kemp, ganz einfach, weil wir dann sekundenschnell über die Malerei an sich und den darum sich molluskenhaft zusammenziehenden Markt, der wiederum und sowieso, genau, sprechen konnten.

Am Nachmittage dann erhielt ich einen blassblauen Scan des Artikels, der ja einst, im Jahre 1994 erschienen war. Zur Lektüre desselben zog ich mich in das Baumkuchencafé zurück, das eigentlich ganz ungemütlich ist, aber was ist schon gemütlich in Moabit?

Besonders ungemütlich wird speziell mir dort der Aufenthalt gemacht, weil der einzige Promi unter den Besuchern ausgerechnet der jüdische Publizist Hendryk »M.« Broder zu sein scheint, mit dessen gerahmten Kolumnen der Vorraum zu den Waschräumen behängt wurde. Broder hat bekanntlich mich in den späten Neunzigerjahren mit einer beispiellosen Schmutzkampagne zu überziehen versucht, auf deren traurigem Tiefpunkt er im Spiegel behaupten durfte, ich sei ein Nazi. Weswegen meine arme Mutter sich lange kaum mehr trauen konnte, auf die Straße zu gehen. Denn zu der Zeit hatte der Spiegel noch Impact. Später dann, sehr viel später, begegneten wir uns persönlich. Mittlerweise war ich erwachsen geworden. Und er (Hendryk M. Broder) hatte sich beim Verlag Axel Springer fest anstellen lassen. Man nennt das goldene Hochhaus in der ehemals Koch-, heute Rudi-Dutschke-Straße auch Journalistenfriedhof. Eines Tages, es war um elf Uhr, traf ich ihn an der Espressobar. Er befummelte seinen Laptop. Ich stand vor ihm auf und sagte: »Herr Broder: Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch für mich.« Er tat ganz verwirrt, machte auf Künstler.

Das Gespräch von Bowie und Balthus ist exzellent!

Auf dem Weg ins Café, den vierfarbigen Ausdruck in der Umhängetasche, war es mir, als hätte ich Gold.

BIG YELLOW TAXI

In der Frühe führte mein Weg mich am Innenministerium vorbei. Dort kniete, anders als sonst, ein Mann vor dem an der Außenfassade angebrachten Bundesadler. Der übliche Schriftzug indes fehlte. War abmontiert worden. Mit einer Bohrmaschine setzte der Arbeiter zusätzliche Löcher in den hellen Stein. Auf einem Stück Waschfilz lag unsortiert eine große Menge lateinischer Schriftzeichen aus Bronze. Sogar ein Komma war dabei, und als ich am Abend, inzwischen war die Außentemperatur um 10 Grad auf 34 angestiegen, war der Schriftzug befestigt: BUNDESMINISTERIUM DES INNERN, FÜR BAU UND HEIMAT. Dazu wurden freilich zwei Zeilen gebraucht, die dem Bundesadler aus der linken Schwinge streben wie Strahlen. Das Redesign ist im Inneren des Innenministeriums nicht machbar, da der über dem Portal des zweckhaft gehaltenen Gebäudes eingravierte Schriftzug auch über die Legislaturperiode hinaus ein als BUNDESMINISTERIUM DES INNERN vorsieht. Wobei: wer weiß, womöglich sehe ich dort in der nächsten Woche einen Steinmetz am Werk?

Bei den Temperaturen erschallt aus dem benachbarten Gefängnis, der Justizvollzugsanstalt von Moabit ein jammervolles Lied, es kommt aus den Kehlen der dort Eingesperrten, die hinter ihren Gittern zu ihren vor der hohen Mauer ausharrenden Angehörigen singen. Man kann es ihnen nicht verbieten.

Nach dem Innenministerium mit dem neuen Namen, in dessen aufwendig umzäunten Park seit neuestem ein Bienenhaus steht, kommt das Restaurant Paris Moskau, ein Relikt des alten Berlins, das in einem mittlerweile auch relikthaft wirkenden Fachwerkhäuschen residiert. Momentan aber Betriebsferien hat. Und dann kommt auch schon der Biergarten gegenüber des Kanzleramtes gelegen. Auch dort sind Betriebsferien angesetzt. Nicht aber im Biergarten, der vor allem bei Touristen aus den Vereinigten Staaten beliebt ist, die hier ihre Sitten zur Schau tragen. Eine Dame in Begleitung kam aber schlecht mit den Wespen zurecht. Sie schrie panisch und verlangte ihren »fucking pig’s knuckle« ungestört essen zu dürfen. Kein Problem für ihren Mann, ich denke mal sie waren aus Oregon, der seinen Vaporizer auspackte, den auf die höchste Stufe gestellt einsetzte dergestalt, dass er ihr ausladende Dampfwolken über die Haxe blies, um so die Insekten zu verleiden. Selbst in die Maßkrüge setzte er seinen vom Nikotin geschwängerten Dampf. Gar nicht auszudenken, zu was dieser Mann fähig wäre, wenn seine Frau sich, sagen wir mal: vor der Belaubung der Kastanien fürchten müßte. Andererseits kam so etwas Disko-Stimmung auf im Biergarten gegenüber des Kanzleramtes. Bei frühabendlichem Sonnenschein.

Dietmar Dath schrieb gestern in der Zeitung innerhalb einer Rezension eines Horrorfilmes, der nur verstreut in die Kinos kommen wird, er hätte dem Streifen »mehr Kinodunkel« gewünscht.

So in der Art.

DER LEIDENSCHAFTLICHE GÄRTNER

Es ist so heiß, dass die Reiher zu Fuß über den Steg in den Garten kommen, um sich flamingohaft in den Baumschatten zu stellen. Eine Waschmaschinenladung trocknet während einer Stunde an der Luft (nach Sonnenuntergang). Ich bin früh aufgestanden, um den Rasensprenger anzudrehen. Lino ist für zwei Wochen nach Portugal geflogen und ich darf all seine Ämter übernehmen. Der Bewässerungsvorgang dauert stundenlang, da kann ich meinen Hal-Ashby-Phantasien nachgehen. Ich finde es extrem befriedigend zu gießen. Mähen hingegen würde ich nur ungern wollen. Von daher ist ein auschließlich gießender Gärtner mein Traumjob. Vor allem auch weil man nebenher noch ausreichend Zeit zur Verfügung hat, um, beispielsweise, zu schreiben. Lino schreibt allerdings nicht, er schaut gerne Fußball. Wie der Gärtner bei Hal Ashby.

Wie Lino mir erzählte, arbeitet er seit seinem zwölften Lebensjahr. Ganz einfach aus dem Grund, weil er neun Geschwister hat und die weiterführende Schule in Portugal zu jener Zeit gebührenpflichtig war. Sein erste Tätigkeit war Autoreifen aufpumpen. Er hat eine abgewinkelte Zeigefingerspitze an der rechten Hand, weil ihm am ersten Arbeitstag ein Bedienungsfehler am pneumatischen Wagenheber passiert war und die Karosse anstatt wie befohlen in die Höhe gepumpt zu werden, auf seinen Zeigefinger abgesetzt ward. Da aufgrund einer Kette von Missverständnissen der Notarzt nicht eintraf, befreite sich der junge Lino selbst aus der Klemme, indem er seinen Finger herausriss. Auch Krankenhausaufenthalte waren gebührenpflichtig. Direkt erholsam war dagegen der mehrjährige Militärdienst, den Lino als Soldat auf der Schokoladeninsel São Tomé absolvieren konnte, weil Portugal damals noch Reste eines Kolonialreiches unterhielt. Einer seiner Brüder hingegen wurde nach Angola kommandiert und dort war es wohl fürchterlich. Auf der Schokoladeninsel wurde Lino mit der Verwaltung der Waffenkammer beschäftigt. Wo es einerseits ruhig zuging, aber gleichzeitig auch Ordnungliebe gefordert war und die ist auch heute noch (zwischendurch war er lange Zeit Koch, unter anderem für den Prinz von Norwegen, der seine Stockfischkroketten mit Genuss verspeiste) gefragt, denn ohne Ordnungliebe kann man nicht nur schlecht, sondern überhaupt gar nicht Gärtner sein. Oder wie Rudolf Borchardt über den im Greisenalter vom Kriegsherr zum Gärtner von Split gewandelten Kaiser Diokletian schreibt: »Draußen war nur wilde Welt.«

Donnerstag soll es ein Gewitter geben. Dann habe ich frei.

AKKUSTIK UND SCHWINGUNGEN

Frühmorgendliches Telefongespräch mit meinem Vater. Es geht ihm hörbar besser. Seltsam, dass man das in der Stimme wahrnehmen kann – wenn man sich kennt. Er berichtete mir von der Segnung durch seine Schmerzmittelpumpe, die er selbst bedienen darf. Und zitierte die Rolling Stones: Sister Morphine. Aufgenommen im Juli 1968, veröffentlicht im Februar des darauffolgenden Jahres. Zwei, bevor ich zur Welt kam. So lange sind die beiden schon verheiratet. Als meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal sah, war sie fünfzehn.

Es fühlt sich wohl so an, dass »zehn Minuten nichts passiert, dann dreht sich alles«, acht Stunden später erwacht man aus erfrischendem Schlaf. Ohne Erinnerung an ein Traumgeschehen.

Vor dem kleinen Café gegenüber schaut ein Mann in kurzen Hosen in die Speisekarte und sagt: »Alter Schwede. Sind wir hier in München, oder was!«

Vom sogennanten Junggesellenabschied bleibt ein mit goldfarbenem Lametta besetzter Hut auf dem Tisch zurück. Und da muss ich freilich an Der große Gatsby denken.

ELEANOR RIGBY

Meine Mutter sagt, dass sie einen Apfel ernten konnte (Jakob Fischer), der ist 650 Gramm schwer.

Und mein Vater, sagt sie, hatte heute Morgen einen seiner berüchtigten Niesanfälle: 20 Nieser, und es tat ihm nicht weh.

FIZHEUER ZIEHEUER

Für die aktuelle Ausgabe der Metamorphosen hatte ich über meinen einzig guten Lehrer in 13 Jahren geschrieben. Als das Heft aus der Druckerei kam, war der Umschlag gelb. Jörg Rager, so hieß der Lehrer (Deutsch und Geschichte) hatte uns am Beispiele vom Tod in Venedig die Verwendung einer sogenannten Symbolfarbe in einem literarischen Werk analysiert. Dort färbt sich ja, anfänglich mit den Zahnreihen des Mahnenden in München, die Welt zunehmend gelblich ein: Strandfarbe, Plakatfarbe und immer so fort. Für Rager war das ein Zeichen für die Hinfälligkeit des Beschriebenen; wohl auch, weil dort im Venedig der Erzählzeit die Cholera umging.

Dann passierte das mit meinem Vater. Ich empfinde es noch immer als Wunder, dass, oder wie er das alles überstanden hat. Mittlerweile darf man ja sogar auf der Intensivstation telefonieren. Und manchmal plaudern wir somit am Nachmittag.

Nachts schaute ich mir die Premiere des Lohengrin an auf 3Sat, weil ich auf die Ausstattung von Neo Rauch gespannt war. Alles in Blautönen, der Hauptmann lagerte vorhersehbarerweise auf einem M.C.-Escher-haften Dreigestirn aus keramischen Isolatoren, die ich als Kind so ansprechend, wie zum Ablecken schön gefunden hatte. An seinem Kostüm waren hinten dran lange Insektenflügel befestigt wie bei Flip, dem geigenden Grashüpfer in den Zeichentrickfilmen der Biene Maja, der alten Nazi-Schickse.

Donnerstags fuhr ich abends extra ins Westend hinaus, um mir von den Pichelsberger Höhen die Mondfinsternis anschauen zu können. Aber ausgerechnet an dem Abend war es am Himmel bedeckt. Das nächste Mal soll sich das in dieser Form wieder in einhundertzwanzig Jahren ereignen. Vermutlich bin ich dann aber schon tot.

Am Sonntagmorgen ging ich in den Wald. Dort hatten, am kleinen Strand in der Bucht, die Raver einen veritablen Sauhaufen hinterlassen, von dem ich mich angeekelt abwenden musste. Und ich ging, von dort aus, quer durch das Unterholz an einem sich nackt auf einem Plastikstuhle sonnenden Greis zurück. Bei einem Stapel gefällten Pioniergehölz entdeckte ich auf dem Waldboden liegend ein Etwas, das mir wie ein kostbar von Händen gefertigter Lampion schien. Aus geschöpftem Papier, meliert in Grau.

Ein Wespennest, dachte ich. Das wäre so schön dort bei mir auf der Treppe. Aber gerade als ich mit beiden Händen zugriff, vernahm ich aus dem Inneren des Papierballons ein Krispeln. Ließ das Gebilde rasch fallen, doch es war zu spät. Auch dass ich rannte, konnte mich nicht vor dem Zugriff der Soldaten retten. Einige bissen sich in meinem Wadenfleisch fest.

Erstaunlicherweise verspürte ich kaum Schmerzen. Doch ist das Gewebe dort unter meiner Haut seit heute fleckenweise in dunklem Violett eingefärbt (und wenn ich in die Knie gehen will, spüre ich das Hinderliche der Schwellung wie Holz.) Möglicherweise bin ich, da ich am vorvergangenen Wochenende im Garten meiner Eltern barfüßig in eine Biene getreten war, immunisiert gegen das Insektengift.

Die Geranien setzen sehr schön zu einer zweiten Blüte an.

STÄRKE

Die Bäume wurzeln tief. Weil niemand sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern scheint, gibt es vereinzelt nun an die Stämme geheftete Zettel, die Handschrift deutet auf Kinder hin, worauf darum gebeten wird »einen Eimer Wasser« hinzuschütten.

In den vergangenen Tagen, in Baden-Württemberg war es noch heißer, scheint es auch in Berlin ziemlich heiß gewesen zu sein. Schon als ich dort aus dem Flugzeug ausgestiegen war, spürte ich den anderen Duft. Und auch das Licht war—mit seinen ganz anderen Schatten: ja, ich war es gewohnt; ich konnte mich daran erinnern: das war Heimat für mich.

In dem Umfeld des Krankenhauses, in dem mein Vater noch immer, wie es heißt: liegt, gab es durch die breiten Fenster nur die herrlichsten Felder zu sehen. Auf der Terrasse der Cafeteria dort, die keinen Namen hat, aber von der es heißt, dass zu der auch, am Abend, die Einwohner der Stadt hinaufsteigen, um am äußersten Rande des Gebäudekomplexes einen Drink zu nehmen, schaut man auf eine für das Strohgäu klassische Streuobstwiese, und dahinter ergießt sich dann ein Strohblond bis zum Horizont. Ab und an hebt der Rettungshubschrauber ab in Richtung der vielen Autobahnen. Er steuert dann unter den Starkstromleitungen durch und das soll uns vielleicht auch daran erinnern, in welch diffizil empfindlichen Gewebe wir uns Tag für Tag sicher fühlen wollen.

Drei Farben Gelb: ich hatte ihn mir gelber vorgestellt, und von daher, nicht nur von daher, war es auch gut, dass wir uns von Angesicht zu Angesicht anschauen durften. Und Umarmen auch. Schreiben ist das eine, die direkte Gegenüberschau hat mir zumindest eine Bekräftigung gebracht. Wie lässig er mit den zahlreich an seinem Unterarm befestigten Schläuchen umgeht! Als wir ein Eis aßen, auf der Terrasse mit Ausblick auf die Wiese, an deren Ende es einen niedrigen Käfig gibt mit einem viel zu groß gewachsenen Hasen drin, sagte er »Eis ist das Schmalz der Seele.«

Immer abends sprengten wir dann den Garten, in seinem Sinne. Kurios, wie so etwas, ohne dass man darüber auch nur sprechen müsste, einem ins sogenannte Fleisch und Blut übergeht.

PLANET HASE

Also sind meine Ohren, die ansonsten für Schmerz so empfindlich sind, ebenso meine Einfallstrichter für den Trost. Ich habe die vergangenen zwei Tage mit dem Abhören des Bandes verbracht, auf dem Malakoff Kowalski mit Chilly Gonzales über die hölzerne Muschel mit dem in schwarz und weiß gestreiften Saume spricht. Das war wie eine Zuflucht, aber dann, gegen Ende des Textes fiel es mir ein: weshalb ich das so beherzt übersetzen konnte. Weil die sich ja annähern wollten in ihrem Gespräch! Suche nach Verwandschaft. Ein Ursprung der Philosophie. Wo ich doch ansonsten nur mit Künstlergesprächen zu tun habe, wo es um Abgrenzung, um das gegenseitige Herausarbeiten der feinen Unterschiede geht. So also Freundschaft. Größe. Und das Lauschen von Solo Album 3 versagte ich mir bis zum Abschluß der Arbeit—wie einst als Kind, wenn ich mir die besten Bestandteile des Tellers bis zum Schluß aufgespart hatte.

Morgen geht es um fünf Uhr in der Frühe dorthin zurück: zur Familie. Von freudiger Erregung kann ich leider nicht sprechen.

Dabei leuchtet es hier golden aus dem Gebüsch.

IN DUBIO OREO

Dann, doch und leider, sehr ernstes Telephonat mit dem Vater. Er spricht von seinem Bett aus, ich kann ihn dabei nicht sehen, weil die Versorgung mit Internet dort im Strohgäu noch immer zu dürftig ist für Skype. Wenn man, wie er jetzt zwangsläufig, den Chirurgen zuhört, kann man ja gar nicht anders, als den Eindruck zu gewinnen, dass das Innenleben des menschlichen Körpers größtenteils verzichtbar ist und im Zweifelsfall folgenlos entfernt werden kann.

Indes hatte ich, innerlich quasi am anderen Ohr wiederum andere, die sich beklagen mussten, dass auf dem sogenannten Shooting von Suçuk und Bratwurst die Credits für Balenciaga, meinem Beisein zum Trotz, nicht deutlich genug herausgekommen sind auf den Bildern. Dadurch entstehen freilich druckterminliche, wie sogar darin eingeschriebene, finanzielle Probleme.

Mein Vater, dabei wohl aus dem Krankenhausfenster schauend, berichtete dann von einer Joggerin, die derart langsam vorankommen würde, dass selbst er noch »auf seinen Händen« schneller sein. Würde.

Und er fragt mich: Warum machen wir das alles eigentlich?

Ja.

AN BACHES RANFT

Am Freitag noch standen gleich hinter der Stadtgrenze die Weizenfelder im Wind. Die Halme neigten sich mit der Fahrtrichtung, so als zögen sie mit. Jetzt, kurz nach dem Sonnenaufgang, nur drei Tage später sind alle schon abgemäht. Ballen liegen über den bleichen Flächen verteilt.

Ich kann den Duft der staubenden Süße noch durch die Scheibe des Wagenfensters riechen. Aus der Erinnerung an soundso viele Sommer im Garten am Rand eines Feldweges. Die Felder dort waren freilich geschwungen. Vom Feldweg an, ging es, gefurcht wie Cord, über Hügel hinweg bis an den Waldrand, wo, von Kiefernschatten vor der Sonne beschützt, Wiesen möglich wurden.

So dachte ich eben auch an den lichten Platz an der Bockenheimer Laube, den Friederike mir am Sonntagabend gezeigt hatte: in einem Souterrain im Lofthouse-Stil mit eisernen Sprossenfenstern, der Innenhof überdacht von Geißblatt-Winden und Wein. Es hatte geregnet, am nächsten Morgen würde es wieder regnen: so war das Licht in dem Moment. Kein Strahl der nicht grünte, oder zumindest golden war. Und im Hintergrund, nur wenige Meter entfernt, alles schon dunkel, beinahe schwarz. 

In der Nacht war ich um kurz nach drei Uhr aufgestanden, um die Jalousien herunterzulassen, da war der Himmel eintönig himbeerfarben und es leuchtete einzig die von Neonröhren umrissene Pyramide auf dem Messeturm. Das Dach gegenüber hatte Mickeymouse-Ohren, Silhouetten der Parabolantennen dort auf dem First.

Am darauffolgenden Abend, ich hatte gerade dem Eichhörnchen eine Schale mit Erdnüssen und Pinienkernen gebracht, schallte ein irres Gelächter durch den Hof. Das steigerte sich noch, und als ich oben in der Wohnung angelangt war, hatte das Geräusch schon die Form einer Wehklage angenommen. Weibliche Stimme, wir dachten an einen Verkehrsunfall. Womöglich ward ein Kind überfahren, und die Mutter brüllte den Himmel an. 

Als wir, dem Geräusch folgend, am Spielplatz eintrafen, saß dem dort gegenüber die Mume im Kreis der Leute vom bulgarischen Supermarkt. Die diskutierten etwas und hatten sich von dem nun schon sehr deutlich vernehmbaren Schreien scheinbar nicht aus der sogenannten Ruhe bringen lassen. Es wurde ausgestossen, das konnten wir nun sehen, von einer sehr dicken, weiblich wirkenden Person, die seltsam wulstig deformiert auf dem höchsten Plateau eines Klettergerüstes wie drapiert lag. Direkt vor der Mündung einer von dort oben abführenden Rutschröhre aus Blech, in deren dunkle Mündung sie hineinschrie, was ihrem ohnehin durchdringenden Kreischen noch zusätzliche Resonanz verlieh. Der Eindruck des wulstig Deformierten, dessen wir uns bei ihrem Anblick nicht erwehren konnten, wurde vor allem durch die Beschaffenheit ihrer Lagerstätte bedingt: es handelte sich nämlich um ein Klettergerüst aus Kunststoffseilen, die miteinander verknüpft waren dergestalt, dass sich daraus insgesamt ein Gebilde in Form und auch von der Struktur des Eiffelturmes ergibt. Ich kletterte gemeinsam mit zwei anderen Männern dort hinauf, was gar nicht einfach war. 

Als wir die Schreiende erreicht hatten, zeigte sich diese nicht ansprechbar. Auch nicht, als wir sie mit Wasser aus den zu uns heraufgereichten Flaschen bespritzten. Erst als ich eine dieser Flaschen über ihren Oberkörper entleert hatte, fing sie an, um sich zu schlagen. Dann schlug sie mit einem Mal ihre Augen auf, wurde ganz still und beantwortete unsere Fragen. Mittlerweile war auch der Notarzt eingetroffen. Seiner Aufforderung, zu ihm herunterzusteigen, kam sie nicht nach. Auch als die bald darauf eintreffenden Polizistinnen die noch immer dort in dem Seilgeflecht Liegende aufforderten, nun das Gerüst zu verlassen, rief sie denen zu, sie würde es vorziehen, dort oben zu bleiben. Auf die Frage des Notarztes, was es mit dem Schreien auf sich hatte, antwortete sie: »Klettergerüst, es mußte sein.«

Später, da war es schon dunkel, hörten wir noch einmal ihr Schreien. Dieses Mal aber brach sie ihr befreiendes Ritual schon nach wenigen Minuten ab.

ALARMSTUFE GELB

Aber jetzt war es so, dass es tatsächlich diese Gelbfärbung seines Körpers war, die meinem Vater das Leben gerettet haben wird. Denn bei einer mehrstündigen Durchsuchung unter Narkose wurde dann doch ein Tumor entdeckt, der, hätte er nicht eine von seiner Galle abgehende Leitung blockiert, unbemerkt hätte weiter wachsen und womöglich ins umliegende Gewebe hätte streuen können.

In der Nacht wachte ich bald nach Mitternacht auf. Draußen rauschte der Regen, das ging bis zum Morgengrauen so weiter, und als ich um acht Uhr auf die Bahn wartete, strömte das Wasser breit über die Bahnsteigkanten als Wasserfall. 

Mittlerweile darf man offenbar selbst im Krankenhaus jederzeit Anrufe auf dem persönlichen Mobiltelephon empfangen. Das war vor ein paar Jahren noch anders. Aber so konnten wir am gestrigen Nachmittag ein sehr schönes Gespräch miteinander führen. Fachsimpelten dabei etwas über das Wundermittel Disoprivan, mit dem ich ja auch schon gezwungenermaßen meine Erfahrung hatte machen dürfen und mein Vater sagte, dass er es jetzt sehr gut verstehen könnte, warum »Michael Jackson und diese Jungs«, das zum Zeitvertreib eingenommen hatten. Man kommt halt so angenehm hypnotisch drauf und, so betonte mein Vater: es bleibt keinerlei Kater zurück von diesem Trip.

Dann schwärmte er von der mikroskopisch kleinen Sonde, die derweil tief in sein Innenleben vorgedrungen war, während er noch von der Substanz hypnotisiert gelegen hatte. Dass dort aus dem Sondenknopf des Winzlings noch eine weitere, noch feinere Spitze, die zudem noch mit einer  Kamera mitsamt Mini-Scheinwerfer ausgestattet, bis in den vom Tumor verstopften Kanal seines körpereigenen Röhrensystems vorausgeschickt ward—all dies gesteuert vom Operateur vor seinem Bildschirm, der den Apparat vermittels zweier Joysticks gesteuert hatte.

Das ist meinem Ingenieur, dem nie etwas zu schwör war, ein Vergnügen—zu recht—dass er nun selbst zum Nutznießer einer Spitze des technologischen Fortschritts wird. Obzwar der Anlaß ja alles andere als erfreulich ist.

STAMME ICH AM ENDE VON DEN SIMPSONS AB?

Meine Mutter schreibt, da war die Sonne gerade erst aufgegangen, dass sie meinen Vater ins Krankenhaus eingeliefert hat. Er ist wohl am ganzen Körper »so gelb wie eine Banane.« Schmerzen tut ihn das Gallenproblem aber nicht. Und bald steht ja auch schon das Fest der Goldenen Hochzeit an—ist das also, mit dieser seiner Gelbwerdung, ein Vorzeichen?

Ich mache mir trotzdem Sorgen. Auch wegen Andy Warhol. Matt Groening, das läßt sich googeln, behauptete angeblich, dass er seine Simpsonfiguren mit gelber Hautfarbe ausmalen ließ, um Aufsehen zu erregen inmitten eines Stromes von Fernsehbildern, die ja, Disney inklusive, sich bis dahin noch am RGB-Schema orientiert hatten.

Ganz in Gelb also im Real life—trippy! Wobei die Grundhautfarbeneinstellung der Emojis ebenfalls eine gelbe ist.
Man müßte gelb schreiben können.

MIT EZRA POUND AM FENSTER

In meinem Traum sah ich Jean–Paul Belmondo von hinten, und er war, bis auf eine kurze Hose, die blau war, nackt. Das blieb die ganze Zeit im Traum über so, dass er nackt war. Und dennoch wußte ich, dass es Jean–Paul Belmondo war, den ich da sah. Er machte mehrmals, immer wieder einen Trick, da ließ er sich aus einer breiten Schachtel Gitanes eine der filterlosen Weißen zwischen die Lippen schnalzen. Auch das sah ich, doch weder die Lippen, noch sein Gesicht. Er hatte Haare auf den Schultern, die waren rötlich. Und einen Flaumkreis dort, auf der gegenüberliegenden Seite des Nabels, wo bei den Menschen einst das Schwänzchen war.

Als ich erwachte, war mir schwindelig. Dies aber nicht von dem Traum. Ich erinnerte das Tiefdruckgebiet aus Skandinavien, das in der Wettervorhersage angekündigt worden war. Jetzt werde ich also auch noch wetterfühlig.

In der Stadt war es warm. Ein Kind raschelte mit Lindenblüten und sagte »Leider ist jetzt Herbst.« Igor begrüßte mich mit »Endlich. Nach sieben Jahren.« Ich war ja tatsächlich zum ersten Mal seit seiner Eröffnung im Café Giro zu Gast.

Am Samstag hatte mir Jan ein neues Reich gezeigt. Es liegt am Priesterweg, wo es eine sehr schöne Bahnstation gibt, die wie eine verkleinerte Ausgabe des Bahnhofs Wannsee ausschaut und gerade deshalb, ihrer Kompaktheit wegen, so schön. Und dahinter, es kostet Eintritt, also liegt das Reich, das aus einem ehemaligen Rangierbahnhof der Reichsbahn besteht und nun hat man dort über die Jahre Birken und Robinien durch die Gleise und Schwellen hindurch wachsen lassen. So ist ein dichter Wildwald entstanden und auf dessen Lichtung steht eine Lokomotive in all ihrer Kolossalität, auf der man herumklettern kann, obwohl es laut einem Schild streng verboten ist. Aber das merkt niemand, denn das Eintrittsgeld für das Reich entrichtet man bei einem Automat.

In dem Biergarten dort, schon wieder draußen, wurden wir von einer jungen Frau bedient, die hatte eine helle Haut mit sehr vielen Sommersprossen. Sie verstand alles falsch und brachte immer irgendwas, und aufgrund ihres Akzents hielten wir sie obendrein für eine Dänin, aber sie war, wie sie uns auf Nachfrage hin sagte: aus Namibia. Später saßen wir noch lange im Garten und verfeuerten so ungefähr einen halben Baum in der eisernen Schale, weil es ja kalt war. Und kalt leuchteten die Sterne, vor denen Wolken vorüber getrieben wurden vom Nachtwind. Und alles übrige war schwarz. Am Tag darauf wurde in Klagenfurt diskutiert, ob man einen Sternenhimmel nun als kristallin beschreiben durfte, oder. Und draußen rauschten schon wieder die Bäume.

Vor dem Giro sitzend sprachen wir über Wolken und Augen. Über Wetterfühligkeit, James Mason und die Studio-Theorie von Claudius, She Tied a Yello Ribbon, Struktur, Mahler in der Kirche, wie Leute sich zu sterben wünschen und warum. Und setzten so ein Gespräch einfach fort, das beim Spaziergang durch den Wald, am Feuer und am Telephon angefangen ward; eigentlich geht es doch bloß um Unaufhörlichkeit.

Berlin so groß, auf manchen Strecken läuft die Gültigkeit einer Fahrkarte noch vor Erreichen der Endhaltestelle ab, weil die Gültigkeitsdauer auf eineinhalb Stunden in Fahrtrichtung begrenzt ist. Kurz vor Schluß fährt der Zug ohne Zwischenhalt acht Minuten durch den Grunewald, draußen nur Grün, noch.

Hier wohne ich.

EIN GEDICHT VON BOBBY KONDERS

So langsam habe ich mich auch von dem Schock erholt, auf den Straßen und überall sonst auch jedes Wort verstehen zu können. In Bulgarien waren wir beinahe immer von einer Sprache umgeben, die wir weder lesen noch verstehen konnten. Man ist nicht allein, aber es geht einen nichts an. Von daher klingt das interessant, was Diedrich Diederichsen in Spex von der Platte Jan Jelineks schreibt, die wohl ausschließlich auf den Lauten zwischen zwei Worten aufbaut, die er aus Gesprächsaufnahmen herausgeschnitten hat (und zu denen er dann auf dem Synthesizer improvisiert.) Aber auch, was Klaus Walter auf der nächsten Seite zur Funktion von Titeln in der Musik schreibt: Das Aufschließende, daß der Titel ein Bestandteil der Musik sein kann. Ein Bestandteil des Textes zumindest. Ein Teil des Textes aus Klängen und Worten.

Das Lied von der Erde habe ich mir bis heute nicht angehört, weil ich es mir monströs vorstelle. Als ich mir Disintegration kaufte, konnte ich mir unter dem Titel überhaupt gar nichts vorstellen, ich kannte die Bedeutung des englischen Wortes nicht und damals konnte man ja noch nicht im Laden, dem Schallplattenhaus Lerche auf der Königsstraße von Stuttgart, vor dem Regal stehend googeln. Aber das Cover zeigte Blumen im Dunkeln und dazwischen ein altersloses Gesicht. Als ich Stunden später daheim angelangt war mit dem mysteriösen Wort in der Hülle, war die Musik dann genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Und wie sie, glaube ich zumindest, dem Buch Hysteria zugrundeliegt.

Musste danach erst einmal ein Kilo Kirschen entsteinen. Heute geht ein schöner Wind.

FRIVOLITÄTEN

Aber immerhin kann ich mit Büchern mein Fernweh stillen und »wenn beim Lesen die Augen sich weiten, die Ohren sich spitzen« die Eintönigkeit dieser Stadt ausblenden. Einer meiner Spürhunde hatte angeschlagen, um mir das Eintreffen des schon seit Langem gesuchten Bandes von Werner Fischer zu vermelden. Und zwar, doppelte Freude, in der Erstausgabe und vom Verfasser signiert.

Auf Fischer war ich durch Vincent Klink aufmerksam gemacht worden. Der hatte in einem Absatz von seinem Vater geschrieben, dass der für ein einziges Essen in Fischers Ritz nach Berlin gefahren war. Eines von drei Vorworten in »Köstlichkeiten Internationaler Kochkunst« stammt von Rudolf Katzenberger, bei dem wiederum Klink gearbeitet hatte (in Rastatt) und so weiter und so fort.

Am Rande der Übergabe erhielt ich vom Antiquar die Information, das Fischer zwar längst tot sei, aber in den achtziger Jahren noch ein Rezept entwickelt hatte für die Lufthansa. Es handelte sich um eine Sauce Béarnaise, die mikrowellentauglich war.

Da war seine Kochkunst schon aus der Mode gekommen, das Ritz geschlossen. Was, wie ich seit neuestem wirklich weiß, sehr bedauerlich ist. Es sind nicht unbedingt nur die extremen Rezepte, für die Fischer berühmt war und für die er, wie es heißt, die Zutaten von Zoodirektoren zugeschanzt bekam. Der mit über hundertfünfzig ganzseitigen Farbtafeln illustrierte Band zeugt geradezu von einer unvorstellbaren, einer atlantidischen Opulenz, die selbst das legendäre Selbstportrait mit zwölf Laiben Brot und einer Wanne Walderdbeeren vor offenem Kamin des Paul Bocuse aus seinem zur ähnlichen Zeit veröffentlichten La Nouvelle Cuisine beinahe zwinglianisch wirken läßt.

Werner Fischer ist zu einer Zeit, als das noch extrem teuer war, viel gereist. Seine Kochkunst hat Einflüsse aus Asien und Afrika. Vor allem aber konnte er schreiben. Herrliches Dokument.

DAS SOMMERMÄRCHEN

Es ist Modewoche in Berlin. Die Sonne scheint, und der salzlettenhafte Antennenstab des Fernsehturms sticht in ein makelloses Blau. Das ist jene Jahreszeit, in der man als Einwohner sich die Wachspropfen aus der Illias wünscht, aber, da es die außerhalb der Fiktion nicht gibt, dann Satzfetzen mitanhören muß á la »und aus dem Kundenzimmer, wird dann irgendwann ein Kinderzimmer…«

Eine Versprechung. Ein Versprechen war es, im Nachhinein aber nicht wirklich, als ich, 1996 aus Hamburg kommend, dort aus St. Pauli, hierher zog. Eine Weile lang hatte man uns Zugezogenen versprochen, dass sich Berlin ändern würde, sobald etwas Geld investiert würde; dann, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, anläßlich der Krise in den Medien nach dem 11. September hieß es, dass die Veränderung mit den sogenannten Startups der digitalen Wirtschaft zu erwarten stünden; als die Startups sich in Berlin niedergelassen hatten, hieß es, man müsste nun nurmehr noch abwarten, bis diese wirtschaftlich erfolgreich würden.

All dies ist, aus meiner Sicht, schon sehr lange her. Und der Bürgermeister von Berlin, nach einer Reihe von Bürgermeistern wie Diepgen, Momper und Wowereit, schaut nicht nur so aus wie er heißt, er wirkt sich auch genau so aus.

Vermutlich freut es ihn nicht einmal; wahrscheinlich versteht er das auch nicht, die sogenannte Dimension dessen, dass es nun, zur Modewoche, langbeinige Männer in Radlerhosen gibt aus dem Ausland, die sich vor einem Altenheim in Mitte fotographieren lassen in neonfarbenen Plateauschuhen. Er kennt die Geschichte Berlins seit der Loveparade wahrscheinlich nur von dem her, was ihm als politisch gewichtig erschienen war; die Loveparade als Event (jetzt ist es halt der Karneval der Kulturen.) Den Stoß ins Muschelhorn von Dr. Motte hat er nicht vernommen. Auch nicht nachgearbeitet—warum auch! Höchstwahrscheinlich ist Michael Müller nicht einmal auf Instagram angemeldet, um die Hashtags seiner Stadt, #Berlin checken zu können. Zuzutrauen wäre es ihm.

Sohn eines Druckers. Immerhin!

Einst, als ich in diese Stadt zog, war die Torstraße noch die unschönste im Zentrum. Heute hat dort Rafael Horzon, den Bürgermeister Müller normalerweise zum Ehrenbürger ernennen müßte, seine angebliche Aufnahme in das Designmuseum von Vitra zu Weil am Rhein begiessen lassen. Das ist doch eigentlich ein Vorgang für diese Stadt. Doch waren außer dem Bürgermeister nur alle möglichen anderen Bürger vor Ort.

Jan nennt, wannimmer ich über die Stadt klage, »die Menschen« als einen Grund für mein weiteres Hiersein. Und am vergangenen Samstag, als wir dort rings um ein Lagerfeuer saßen, war das auch so. Da fielen goldene Sätze, und ich konnte mir ein Leben ohne die Zusammentreffen mit Claudius, Thilo, Irina und Malakoff auch nicht vorstellen. Dies aber nur momentan und von daher kurz, denn wir treffen uns ja so gut wie nie; im Grunde sind es zwei Male im Jahr.

Später holte ich die Urlaubsbilder ab, es waren erstaunlich viele gelungene dabei. Es bringt doch viel, wenn man auf Film fotographiert und sich von daher auf wenige Aufnahmen beschränken muß. 36 Motive in zwei Wochen: So also war das. So schauten wir aus.

PAUCA SED MATURA

Beinahe eine ganze Woche hatte es dauern sollen, bevor meine Seele zu mir heimgeflogen kam. Sie schwelgte dort wohl noch in den Wäldern und Gassen, im Gefieder der Kirschbäume und auch im Holunderbusch, in der Mähne des nassgeregneten Pferds.

Gestern dann, vor dem eigentümlichen Lokal an der Skalitzer Straße, wohin Götz eingeladen hatte, um seine Zusammenarbeit mit einem sogenannten Tuner zu feiern, fühlte ich ihr allmähliches Eintreffen. In den Pissoirs dort lagen Skorpione aus dunklem Kunststoff. Aus den Lautsprechern des Waschraumes tönte Motorengeräusch. Als ich meine Tischdame fragte »Why did you travel so much«, sagte sie: »I was raised in a religious cult.«

Ich sehnte mich nach der schönen Armut.

CHÀO SOFIA

Dieses Mal wohnen wir nicht im Stadtzentrum, sondern im Viertel der eurasischen Botschaften mit Blick auf den Hausberg. Von den Fenstern aus sind Einblicke in das Leben der anderen möglich, weil hier viele die Küche in den von mit Scheiben verglasten Balkon verlegt haben. Eine Nachbarin von gegenüber schaut am Samstagabend lange in das innere Weiß ihres Kühlschranks und schließt dessen Türe dann wieder, um in einen Topf auf der Herdplatte zuerst etwas Milch, dann den Rest aus einer Tüte Zucker zu schütten. Mit dem Topf in Händen schlurft sie in den schattigen Teil der Wohnung zurück. In der Küche schräg darüber thront eine Katze in ägyptischer Pose auf dem Kühlschrank und blickt mich an. Ein Empire State Building ragt vor dem Waldrücken auf. Seine Kantigkeit wird bei Sonnenuntergang mit einem Haufen dunkelroter Glühbirnen hervorgehoben. Drunten in den Straßen ist es schattig und grün. Elstern streiten sich in den Linden. Beim Überqueren der langen Hauptstraße zeigen sich aus der Ferne die goldenen Kuppeln der Kathedrale.

Seltsam, dass mir diese Welt des Wenigen vielfältiger vorkommt, nicht reicher, als das, was ich vom Leben in Berlin verinnerlicht habe. Trotz tagelangen Herumstreunens in Sofia und Bansko keinen vernünftigen Buchladen gefunden. Und der Besuch im angeblich besten Plattenladen war unerfreulich. Der Besitzer zögerte auch, uns überhaupt hereinzulassen. Als wir uns kauflos verabschiedeten, schien er direkt erleichtert. Auf dem Markt gibt es Himbeeren und riesige Pilze.

Für das Museum der Militärgeschichte sollte man mehrere Stunden einplanen. Die Ausstellung zeigt Exponate aus sämtlichen Epochen. Es geht im Ergeschoss los mit ersten Versuchen, aus Stein und Holz tödliche Waffen und Rüstungen herzustellen, dann gibt es bald schon Dolche und Schwerter, erste Uniformen aus Wolle und Filz. Ausladende Schlachtengemälde aus der Zeit des siegreichen König Boris, dann liefert Krupp aus Deutschland vernünftige Kanonen. Beim Betreten des Saales, der den Verlauf des zweiten Weltkrieges nachzeichnet, gesellt sich eine Museumspädagogin zu uns, um die Rolle Bulgariens speziell vor und nach dem 6. September 1944 zu erklären: Dem König gelingt es da nämlich, inmitten der letzten Schlachten, sein Land aus dem Pakt mit den Faschisten zu befreien, und Bulgarien auf die Seite der Sowjets zu schlagen. Es sind Fahnen zu sehen, auf denen die Hakenkreuze mit kreisförmigen Stücken aus weißem Fahnenstoff übernäht wurden, auf die wiederum der rote Stern appliziert wurde. Die in die Griffschalen der Dolche, auf die Schäfte der Bajonette, auf die Holme der Gewehre eingeprägten oder -gravierten Hakenkreuze mussten freilich in der Hitze des Rückzugsgefechtes bleiben, wo sie waren. Vorangegangen war eine Bombardierung Sofias durch die allierte Luftwaffe. An der Wand des Museums sind Abbildungen eingestürzter Gebäude in körnigem Schwarz-Weiß angebracht. Und um das Geschehene drastisch zu verdeutlichen, wurde an dieser Stelle des Raumes die tatsächliche Deckenverkleidung dramatisch heruntergerissen, so als habe sich der Qualm einer Phosphorbombe erst gestern verzogen. Kurz vor zwölf Uhr am Mittag werden die Besucher zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert, weil dann die Angestellten zu Mittag essen. Nach einer halben Stunde darf man aber wieder hinein.

Draußen geht man unter freiem Himmel zwischen sämtlichen Panzern und Pontonlegern, Flugabwehrkanonen und Boden-Boden-Raketen, Hubschraubern und Schützengrabenbaggern, mobilen Radarstationen, Torpedogeschützen und Seeminen herum, die jemals vom bulgarischen Militär eingesetzt wurden. Das gefällt freilich den Kindern, die hier von ihren Vätern herumgeführt werden. Das Klettern auf dem von der deutschen Bundeswehr gestifteten Düsenflieger Tornado, Schrecken meiner Kindheit mit seinem Schallmauerknall, ist aber verboten. Look don’t touch, wie bei Schmetterlingen – sollte generell für alle Zeit und alle Menschen, insbesondere aber für die Erwachsenen gelten. 

Im Ersten Weltkrieg, die waren auf der zweiten Etage ausgestellt, gab es Gasmasken für Pferde und Hund.

Nah bei unserem Haus in dem Viertel gibt es eine Kindertagesstätte in der gleichen Bauweise, wie ich sie aus dem grünen Viertel hinter dem Alexanderplatz Friedrichshain kenne. Im Spielgarten hier ist ein kleines Schiff aufgestellt, in dessen gelb lackierter Kabine zwei Steuerräder nebeneinander angebracht sind. Damit sich die Kinder nicht streiten, weil beide Kapitän sein dürfen. Und trotzdem fällt mir dazu ein, wie sich beide dann anschreien und hauen, weil der einer von beiden bestimmt in die falsche Richtung lenkt.  

EUMOLPIAS FILIPPOPOLIS THRIMONZIUM PLUNDIV FILIBE PLOVDIV

Muss sich diese Stadt, die für das kommende Jahr zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde, denn eigens zu diesem Anlass herausputzen? Wir finden: nein. Grün wie Sofia, dabei aber straßenweise mit Obstbäumen bestanden, die gegenwärtig zum Backen von knusprigen Mirabellenkuchen, zum Einkochen von Marmeladen oder Kompotts aus Maulbeeren, Mispeln und diversen Sorten von Kirschen einladen, dazu eine wie das Volk der Bulgaren selbst aus verschiedenen Einflüssen zusammengeführte Architektur, die teils noch römische Ruinen zeigt, zwischen barocken Fassaden, dann wieder Renaissance, Wienerisch anmutender Jugendstil, bloß halt ohne die florale Ornamentik, sowie zeitgenössisch Verspiegeltes und immer mal wieder dazwischen die schlecht gealterten Reste der Zweck- und Prachtbauten (die also auch bloß zweckdienlich gemeint waren), der 1989 zum Ende gebrachten Diktatur. 

Weil Plovdiv vor über 8000 Jahren am Ufer der breit und träge fließenden Maritza errichtet wurde, segeln noch heute die Möwen über den Dächern der Innenstadt. Sie sind zu erstaunlich unterschiedlichen Lautäußerungen im Stande. Vom scheinbar panischen »Oh! Oh!« und einem trötenden Klagelaut, als würde eine Gans mit dem Trichter gemästet, bis zum, so scheint es uns: höhnischen Gelächter – und dies übrigens, vielleicht ja zum ehrenden Andenken Fitzgeralds: sogar im Dunkeln. Selbst nachts fliegen die Möwen durch das schlafende Plovdiv. Wenn zuvor aber die Sonne untergeht, sitzt man am Besten auf jenem Hügel inmitten des ältesten Teils der Altstadt am Boulevard Septemvri, wo seit 5000 Jahren die Reste einer Tempelanlage herumliegen, auf denen man gut sitzen kann. Dann geht der Blick weit über die schöne Stadt, und hinter dem neu gebauten Teil fängt sehr bald schon das Grasland an. Der Himmel ist hoch und weit zugleich. Mit den letzten Strahlen der Sonne fängt sich in den Flügelspitzen der Möwen das Gold. Dann will man selbst lossegeln, notfalls mit einem Drachen oder an einem Gleitschirm, um über den Dächern die eigenen Kreise zu ziehen, so wie sie. Rot blinkend steigen sogar hier, in der künftigen Kulturhauptstadt Europas und der Kulturhauptstadt von Europas ärmstem Land die Drohnen auf. In Banskos Wäldern waren sie verboten. So haben wir uns schließlich den Traum vom Fliegen dennoch so einigermaßen erfüllen können, 2000 Jahre nach Ikarus; halbwegs, oder wie es jetzt heißt: virtuell. 

Gestern, am späteren Abend, vermischte sich das jammernde Tröten, ihr Kreischen und Lachen mit einem aus dem antiken Stadion herüberwehenden Klagelaut, dem im regelmäßigen Abstand von ein paar Minuten vielhundertfach applaudiert wurde. Was sich für unsere Ohren zunächst anhörte wie eine Coverband, war aber der veritable Sänger Sting, der hier ein Konzert unter freiem Himmel gab. Und damit schloss sich wiederum ein Kreis, denn als wir im vergangenen Nachsommer im Schwarzwald die sandsteinerne Klosterruine besucht hatten, war dort gerade alles vorbereitet und eingerichtet worden für ein Open Air in der Klosterruine feat. Sting. Er ist ja von Haus aus Gymnasiallehrer. Vermutlich von daher seine Vorliebe für kulturhistorisch aufgeladene Kulissen. Die Katzen von Plovdiv jedenfalls zeigten sich heute früh ungewöhnlich scheu, geradezu verschreckt, als wir ihnen unsere Futtergaben darbringen wollten. Wir erklärten es uns dann aber so, dass sie noch durch das Gejaule des jazzenden Greises verstimmt waren. Durch gutes Zureden und beharrliches Aufhäufen der Trockenfutterpellets der Marke Clever gelang es Friederike dann bald, die Blockaden zu lösen. Auch bei Katzen kommt der Appetit mit dem Essen. Und es kann halt nicht jeder wie Orpheus singen. Davon wissen Katzen nichts. 

IN BANSKOS WELT

Ursprünglich hatten wir nicht vorgehabt, nach Bansko zu reisen. Aber seitdem wir von dem Whirlpool in Jakoruda aus auf die schneebedeckten Gipfel des Piringebirges geschaut hatten, war der Wunsch, dort auch sein zu dürfen, stark. Bansko, der Ort, ist zudem die vorletzte Haltestelle der Rhodopenbahn. Und das milde Bier, das uns an dem ersten Abend vor dem Kiosk an der Autobahnbrücke in Sofia ausgeschenkt ward, das Bier von den Bergen, wird auch dort gebraut.

Durch die Lage direkt am Fuße des dramatisch aufragenden Massivs, der vielen Steilhänge wegen, ist Bansko vor allem unter Wintersportlern beliebt. Doch zumindest die Altstadt ist auch spirituell aufgeladen. Die Häuser im Ortskern rings um die Kirche zur Dreifaltigkeit, auf deren schlichtem Turm aus Feldsteinen gemauert ein Storchennest eher hängt als steht, sind im sogenannten Bulgarischen Wiedergeburtsstil erbaut. Der Begriff bezieht sich auf die Epoche nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft, die mit der Wiedervereinigung Bulgariens im Jahre 1848 (diese Zahlenkombination sieht man häufig und überall im Land als Graffiti) ihr endgültiges Ende fand.

Zu unserem Glück hatten wir ein Zimmer in der direkt der Kirche gegenübergelegenen Pension Dedo Pene erhalten. Als wir dort eintrafen, fand auf dem Kirchplatz gerade eine Hochzeitsfeier statt. Und zwar mit ganz ähnlicher Musik von Trommeln und Klarinetten, wie sie uns im vergangenen Jahr auch von dem Garagenhof in Frankfurt zu Ohren gedrungen war, als dort bekanntlich in der weiteren Verwandschaft der Mume eine Hochzeit gefeiert ward. Nun schloss sich hier in Bansko damit ein Kreis. Es schließen sich hier sowieso andauernd Kreise. Und manchmal kommt es mir schon so vor, als ob ich vielleicht doch vom bulgarischen Blute bin. Vieles hier rührt mich auf eine tiefgehende Weise. Anderes scheint mir auf seltsame Art vertraut, verständlich, dabei verstehe ich noch immer kaum ein Wort und kann mir auch das Wort für Danke nicht merken, weshalb ich mit dem ebenfalls zulässigen, noch aus der Osmanischen Zeit verbliebenen Merci antworten muss.

Das Zimmer im Dedo Pene zum Beispiel war mir vom ersten Augenblick das Zimmer schlechthin. Mir war, als ob ich solch ein Zimmer schon immer gesucht hätte; als ob ich viele Jahre lang auf dem Weg war in dieses Zimmer zurück: ein niedriger Raum aus verschiedenen Hölzern. Mit Fenstern am Boden, deren Scheiben in klaren Farben zu einfachen Mustern gefügt. Die Bohlen rings um das niedrige, feste Bett mit dem bestickten Kopfteil waren mit Lammfellen belegt. Ein uralter, von seinem multifunktionalen Aufbau her raffinierter Ofen (und zwei Steckdosen) als einziger Hinweis auf die technische Welt. Der Baustil der Bulgarischen Renaissance sieht hinter dem Wohnhaus einen von Mauern umfassten Innenhof vor. Sämtliche Gänge des Hauses münden in überdachte, die Fassade umlaufende Balkone aus schlicht beschnitztem Holz, von denen aus man bei Regen in wollene Decken gehüllt in den Innenhof hinein und auf die dunstigen Berge schauen kann. Die Atmosphäre ist tibetanisch. Es gibt viele Katzen. Da in Bansko in der grünen Jahreszeit eher so gut wie kaum etwas los ist, kauft man sich eine Tüte Katzenfutter der Marke Jungle und füttert die in den Gassen und Gärten streunenden Katzen, was nicht nur nicht verboten, sondern von den Einwohnern gern gesehen wird. Ein bulgarisches Pendant zum in unseren Städten populär gewordenen Urban Gardening

Heute früh sind wir im Frühtau mit der Seilbahn bis weit in das Gebirge hinein auf 1800 Meter gefahren. In der Regenzeit fährt diese Seilbahn nur einmal am Tag hinauf. Außer uns waren damit nur die Waldarbeiter unterwegs. Nach einer knappen Stunde des Wanderns erreichten wir die berühmte Schlangenkiefer, ein Solitär der Pinus Heldreichii, deren Alter von den Bulgaren auf 1300 Jahre geschätzt wird. Es ist der älteste Baum in Bulgarien. Er ist so alt wie das Land selbst. Eine Schulklasse hatte sich um den Stamm des greisen Riesen versammelt. Ein Kind nach dem anderen wurde vom Lehrer vor dem Nationalnaturdenkmal fotografiert. Bald darauf fing es zu regnen an. 

In der enorm gemütlichen Taverne am Kirchplatz, die 1720 errichtet wurde, wo man bei Sonnenschein unter einem üppig tragenden Kirschbaum sitzt, wurde uns neulich ein für diese Gegend typisches Gericht serviert: eine Art Raclette aus geschmolzenem Käse, darauf ein Kompott aus den Kirschen vom Baum im Hof. Der Kellner, in der mit rot und weiß bestickten Tracht auftretend, dabei seiner Persönlichkeit mit einem Orden, dessen Plakette das Gesicht Stalins zeigte, Ausdruck verleihend, raunte uns beim Servieren noch zu: »It’s more of a gourmet thing.« Trifft im übrigen auch auf ein Hauptgericht auf der fantasievoll zusammengestellten Speisekarte zu: Ein Hase, in einem ganzen Kürbis gegart.

Morgen geht es nach Plovdiv. Dort soll es um 30° Grad haben. Dann werden die fernen Erinnerungen an ein städtisches Leben wiederbelebt.

MIT CARL FRIEDRICH GAUß BERGAN ZU DEN POMAKEN VON SVETA PETKA

An Bord der Rhodopenbahn fuhren wir bis zur Station von Sveta Petka, die am Saum eines Hochwaldes an einer Wiese lag. Dort stand ein braunes Pferd unter einem Holunderbusch. Von der namensgebenden Siedlung war nichts zu sehen, also folgten wir dem einzigen anderen Fahrgast, der hier mit uns vom Zug abgestiegen war. Er war uns schon während der knapp einstündigen Fahrt aufgefallen, weil er die Seiten seines Oktavheftes mit den immergleichen Zeichen gefüllt hatte – anscheinend denen der Ziffer Neun – bis er von einer der mitreisenden Pomakenfrauen, die vom Markt in Velingrad nun mitsamt der ihnen verbliebenen Fantaflaschen, gefüllt mit Ziegenmilch, zurück in ihre Dörfer reisten, darauf angesprochen ward, ob er ein Musikant sei. Diese Frage hatte er, so dachten wir, bejaht. Und bei seinen Ziffern würde es sich demzufolge um Noten gehandelt haben. Wobei: Ganz sicher konnte man sich da nie sein, da die Bulgaren ja mit dem Kopf wackeln, um ein Ja zu bekräftigen und umgekehrt mit dem Kopf nicken, wenn sie verneinen; manchmal, so hatten wir es auch schon erfahren, wollten sie einem mit ihrem Wackeln und Nicken aber widerum das Umgekehrte bedeuten. Eindeutig wurde es nie.

Nun, da wir gemeinsam von den schmalen Gleisen der Bahnstrecke, vorbei an dem einsamen Pferd, rasch in den steilen Wald hinein strebten, fragten wir unseren Wanderkumpanen, ob er als Musiker dort in das Pomakendorf eingeladen war. Er widersprach leicht empört: »Ein Musikant? Nein. Ich bin Mathematiker.« Und zog, wie um sich auszuweisen, eine in Blau eingebundene Broschüre hervor, deren Titel ein Porträtbild von Carl Friedrich Gauß hatte. Hiervon entspann sich nun, dabei wir feste bergan liefen, ein längerer Vortrag seinerseits, von dem wir kein Wort verstehen konnten, da er auf Bulgarisch gehalten wurde. Zeit, den Übersetzer aus dem Beutel zu kramen, hatten wir keine, denn es ballte sich schon seit unserer Ankunft eine bleierne Wolkenschicht über den Wipfeln der Kiefern des Waldes um uns herum. Und unserer Erfahrung nach würde das in wenigen Minuten zu einem deftigen Gewitter führen – nicht umsonst war es in den Rhodopen so unnachahmlich saftig und grün. Unseren Begleiter focht das aber nicht an. Unsere erschreckten Gesten gen des ballenden Graus wischte er weg, bloß um uns dann wieder eine anders aufgeblätterte Seite seiner Broschüre vor Augen zu halten, um so auf eine weitere Delikatesse im reichen Werk des Princeps hinweisen zu dürfen. Einmal, das war vor einem steinernen Waldbrunnen, aus dem direkt aus dem Fels entspringendes Mineralwasser geschöpft werden durfte, nutzte er die eilige Trinkpause sogar dazu, mit einem Stöckchen jenen Stern mit 17 Strahlen in den Waldboden zwischen unseren Füßen einzuzeichnen, für dessen Berechnung Carl Friedrich Gauß unter anderem gerühmt ward. Und gleich nach der nächsten Biegung des steilen Weges kündeten erste Müllberge vom Beginn der pomakischen Siedlung. 

Wir erreichten das Zentrum des entlang einer Landstraße errichteten Dorfes, da fielen schon Tropfen. Der Mathematiker hatte sich von uns vor dem Tore des Schulgebäudes verabschiedet. Hastig war er dort die Stufen eines sich unter den Kiefern emporwindenden Weges hinaufgesprungen. Die blaue Broschüre in der Hand. Das Dorf schien ausgestorben. Rings um die Moschee, deren Minarett ungefähr sechs Meter aus dem Boden empor ragte, gab es einige kioskhafte Hütten aus Wellblech, an der Rückseite der eiförmigen Agora war die Terrasse eines Cafés, das geschlossen hatte. Doch unter den Sonnenschirmen, die in den Rhodopen auch verlässlichen Schutz vor dem Regen bieten sollen, fanden wir Platz. Nun war es an der Zeit, den vorbereiteten Satz auf dem Display des Übersetzers vorzuzeigen. Der Betreiber des Cafés las unseren dort auf Kyrillisch formulierten Wunsch nach einer Übernachtungsmöglichkeit heute, hier in Sveta Petka ab und machte direkt abwehrende Handzeichen. Unsere weiterführenden, im höflichen Tone eingetippten Bitten lehnte er durchgängig ab. Anstelle deren verwies er uns auf den Nachbarort Yundola. Dort gäbe es immerhin ein Hotel. So ging das einige Zeit hin und her. Mittlerweile wurden in dem Café die Fensterscheiben mit einem bunten Besen geputzt. Eine Pomakin legte uns mit sanfter Geste zwei Päckchen Salzletten auf den Tisch. Und als ein lautes Knacken aus den hoch oben an dem Minarett befestigten Megaphonen den Gesang des Muezzins ankündigte, fiel einem der vor dem Café sitzenden Männer der Kopf in den Nacken und seine Lippen klafften dunkel und weit. Hier würde sich, eventuell, übermorgen etwas in unserem Sinne ergeben. So aber blieb uns nach einem Blick auf den in weiser Voraussicht am Bahnhof von Velingrad abfotografierten Fahrplan der Rhodopenbahn nur noch den Weg zurück durch den tropfnassen Wald bergabwärts zu nehmen, um den letzten Zug nach Jakoruda noch erwischen zu können. Hier fanden wir Herberge im Hotel Sonnenschein, für dessen Buchung wir auf booking.com prompt beglückwünscht wurden, da es sich um ein Hotel in der Topkategorie der Hotels in Jakoruda handelte. Es war das erste und einzige Hotel am Platz. Der Ort selbst, das Hotel sollte sich eineinhalb Kilometer außerhalb befinden, war unauffällig. Beinahe schläfrig über die für rhodopische Siedlungen typische Lethargie hinaus. Auf der Suche nach einem regionalen Snack betraten wir eine von Zeltplanen überspannte Baracke, in der einige junge Frauen vor Blechtellern, überhäuft mit Pommes Frites, saßen. Unsere auf dem Übersetzer leuchtende Frage, ob es hier etwas Warmes zu essen gäbe, wurde vehement nickend verneint. Ich hielt einer von ihnen den Übersetzer hin, verbunden mit der Frage, wo wir denn hier etwas essen könnten. Ihre Spracheingabe wurde von unserem Gerät wie folgt übersetzt: »Unter der Brücke nach links unten sind die Wangen des Restaurants.« 

Wir fanden dort einen von zahlreichen Schirmen der rhodopischen Brauerei überdachten Bereich mit Tischen und Stühlen. An einem saß ein veritabler Zwerg. Der Mann war nur etwas über einen Meter hoch gewachsen, sprang aber behende umher und tauschte als erste Amtshandlung, die auf dem von uns ausgewählten Tische die feucht gewordenen Servietten gegen einen trockenen Stapel aus. Bald wurde uns von einer Frau aus dem Inneren des sagenhaft dekorierten Flachbaus eine Suppe serviert, aus deren würzig trüber Flüssigkeit, die obendrein auch noch nahrhaft, weil reich an tierischen Fetten war, unsere Löffel eine schier unendliche Vielfalt an in Stücken geschnittenen Innereien zu Tage schöpfen durften. Die Brotscheiben wurden mit 10 Cent pro Stück abgerechnet. Die Suppe war nur wenig teurer. Auch fand ich dort, im Inneren des Flachbaus, bald darauf einen starken Freund, der, selbst für einen Bulgaren, ungewöhnlich muskulös vom Wuchse war: sein Nacken allein durfte, wie ich es vor unserer Abreise noch in dieser Zeitung in einem ähnlichen Zusammenhang gelesen hatte, dazu geeignet sein, ein Passagierflugzeug zu ziehen. Und auf Vermittlung dieses bulgarischen Riesen, der Zwerg lauschte unserem Gespräch gebannt, fuhr alsbald, denn ein reguläres Taxigewerbe war in den Wangen dieser Stadt noch unbekannt, ein junger Mann in einem Passat vor, der uns dann zum Hotel Sonnenschein kutschierte.

Dort war schon ein Whirlpool aufgebaut, in dessen heiß blubberndem Mineralwasser wir mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel hinter Bansko saßen. Bis zum Eintreffen einiger englischer Greise, die uns mit dem für diesen Menschenschlag leider üblichen Betragen den Aufenthalt im Sonnenschein vergällen würden, hatten wir fortan eine herrliche Zeit. Einmal, da wurden wir beim Botanisieren in den Sümpfen hinter dem aufgegebenen Wellnesszentrum vom Starkregen überrascht, mussten wir unter einer kleinen Brücke Zuflucht nehmen. Dort saßen wir dann beinahe zwei Stunden lang auf einer Schäferbank an einem beständig anschwellenden Strom, der mich am Schlusss die einzigen Schuhe kosten sollte, die ich für diese Reise mitgeführt’. Aber herrlich war’s, wie der Regen hier zu beiden Seiten wasserfallhaft herunterrauschte. Die gelben Dolden der Königskerzen leuchteten aus dem dunstigen Grau. 

MIT DER RHODOPENBAHN VON SEPTEMVRI NACH VELINGRAD

Sofia ist die grünste Hauptstadt in Europa. Dieser Eindruck ergibt sich interessanterweise nicht beim Flanieren entlang der mehrspurig befahrenen Boulevards, die es selbstverständlich gibt, sondern beim Blick in die davon beständig abzweigenden Seitenstraßen, die dicht mit alten Laubbäumen bestanden sind. Man fühlt sich dort hineinverlockt und geht dann unter Alleen zwischen den Häusern hindurch bis zur nächsten Verzweigung, wo es in alle drei Richtungen und scheinbar für immer so weiter geht. Bald hinter der Kathedrale des Heiligen Alexander Nevski, die mit ihren vergoldeten Kuppeln Zeugnis gibt vom einstigen Goldreichtum Bulgariens, wird es mit den Häusern links und rechts des Baumschattens noch einmal besonders schön. Das Viertel beherbergt in seinem Zentrum die Botschaft der Vereinigten Staaten, was sich unter anderem am wie plötzlich erscheinenden reichhaltigen Vorkommen teurer Limousinen und SUV erkennen lässt. Erste Schaubäckereien mit Kühlregalen voller aus Deutschland importierter Demeter-Produkte und den Fruchtsäften von Van Nahmen bedienen die Nachfrage einer gehobenen Käuferschicht aus Expats, deren Suche nach glutenfreiem Backwerk oder laktosefreien Milchersatzprodukten überall sonst in Sofia ergebnislos verlaufen müsste. Dabei sind es gerade die herrlichen Milchprodukte, insbesondere der sagenhaft sahnige, dabei stichfeste Joghurt, der für die bulgarische Ernährungsweise stehen könnte, sollte und steht. Nicht umsonst ist die oberste von drei Farbschichten der Landesflagge milchweiß.

Und dann eben das Grün. Kaum hat der von einer Diesellokomotive angeführte Zug den selbstbewusst überdimensionierten Hauptbahnhof von Sofia verlassen, geht es an menschenleeren Bahnsteigen vorbei hinaus vor die Tore der Stadt. Hier gibt es in abwechslungsreicher Folge die monströsesten Industrieruinen aller Zeiten zu bestaunen. Einst, vor, wie es deren Verwitterungs-, Verrostungs-, Entfensterungs-  und Einsturzgrad nach scheint, sehr langer Zeit, müssen hier gewaltige Produktivkräfte nur eben noch so in Hallen gepfercht und dort unter Dampf gesetzt worden sein; heute schweigen sämtliche Räder nur still und dazwischen gedeiht der Essigbaum. Bald darauf tröpfelt die Architektur rasch aus und weite Flächen ozeanischer Getreidefelder oder solcher mit Mais rollen ins Bild vor den Fenstern. Die Traktoren oder auch Mähdrescher, die für die Ernte auf solchen Ländereien benötigt würden, kann man sich von ihren Dimensionen her kaum noch vorstellen. Eventuell werden dann hunderte von normalgroßen Fahrzeugen dicht an dicht nebeneinander einherfahrend eingesetzt – wer weiß. Was bleibt, ist der Eindruck eines mächtigen Bodens. Und durch die heruntergezogenen Abteilfenster weht heiße Luft herein. Am Horizont stehen die Berge im bläulichen Dunst.

Wofür steht das Rot?

Bei der Anfahrt auf Septemvri – die Stadt ist im Bulgarischen tatsächlich mit dem Namen des Monats benannt – lassen sich Störche sehen. Erst einige wenige Exemplare, die vereinzelt durch die Fluren staksen, dann, mit den ersten Industrieruinen, sind dort auch Nester, wie wir sie bloß noch aus Büchern kennen: dick und scheibenrund, vor allem stets in größtmöglicher Höhe auf erkalteten Schloten, auf dem Arm eines Krans, dessen Turm schon bis auf halbe Höhe von den Schlingpflanzen vereinnahmt ist. Hier, am Bahnhof von Septemvri, der genau so aussieht, wie man sich einen Bahnhof im bulgarischen Hinterland vorstellt, kann in die fabelhafte Rhodopenbahn umgestiegen werden. Eine der wenigen Eisenbahnen auf Schmalspurgleisen, die es noch gibt auf der Welt. Der Zug steht schon bereit: drei Waggons und eine Lokomotive rumänischen Fabrikats, von deren Karosserie die rote Lackfarbe in breiten Schuppen malerisch abblättert. Der Motor läuft sich warm. Vor dem Bahnhofsgebäude gibt es einen eindrucksvollen Ulmenhain, in dessen Schatten es sich angenehm auf die Abfahrt warten lässt. Ein Greis versucht, drei Gurken auf dem verbogenen Gepäckträger seines Fahrrades zu befestigen. Ansonsten ist es leer und still.

Bahnfreaks mag die Spurbreite der Rhodopenbahn begeistern. Uns gefiel daran, dass man zwischen den Abteilen auf den Trittbrettern stehend im Freien reisen darf. Es war außer uns beiden nur noch ein weiterer Passagier an Bord. Und der Schaffner, glücklicherweise nicht halb so streng wie der im Darjeeling Ltd. Auch beherrschte er das Kunststück, vor dem Halt an einer der kleinen Stationen unterwegs, bereits während der Einfahrt vom vorderen Teil des fahrenden Zuges aus auf den Bahnsteig zu springen, um dort dann schon eine Zigarette rauchend zum Stehen gekommen zu sein, bevor der Zug selbst es ihm erst gleichtun konnte.

Außerdem wird man während der eineinhalb Stunden von einem mal mehr mal weniger reißenden Gebirgsbach begleitet; es gibt steile Hänge, felsige Gipfel, und weitgehend haben mich die ersten Ausläufer der Rhodopen hier an Norditalien erinnert und ans Tessin. Der Baumreichtum ist enorm, vor allem gibt es aber Eichenwälder, so dass ich mich fragte, wie es mit dem Trüffelvorkommen in Bulgarien ausschaut. Wenn der Zug in einen Tunnel fährt, sollte man den Atem anhalten. Dann heizt sich die Atmosphäre um das Trittbrett herum blitzartig auf, als ob einer die Backofenklappe aufgerissen hat im Dunkeln und der Dieselqualm verpestet die Luft.

Vier Stunden würde der Zug auf diese Weise noch weiterfahren, um dann am Ende gerade etwas mehr als 100 Kilometer hinter sich gebracht zu haben. Das Haar voller Insekten stiegen wir von der Rhodopenbahn ab. Es war noch hell, und noch immer sehr warm. Velingrad, unser erstes Etappenziel und somit Basislager für die Expedition, schaute dann doch ziemlich genau so aus, wie man sich »The Spa Capital of The Balkans« vorstellt. Trotz der allgegenwärtigen Geranien. Und die Erinnerungen an die Straßen von Sofia, obwohl erst einen Tag alt, erschienen uns so farbig wie in die Ferne gerückt zugleich.

SOFIA

Jetzt, nachdem ich hier am Rande der Hauptstadt vor einem Kiosk mit Blick auf eine Autobahnbrücke mit der Gastfreundschaft der Bulgaren, wie es heißt, exemplarisch Bekanntschaft schließen durfte, ist die Mume für mich gestorben. Ich muss sogar annehmen, dass sie selbst überhaupt keine Bulgarin ist; beziehungsweise, dass die Mume, gerade deswegen, aufgrund ihrer unbulgarischer Umtriebe schließlich von der Volksgemeinschaft der Bulgaren ausgespieen ward wie ein unverdaulicher Bissen.

Diese Erkenntnis, die für mich eine heilsame Wirkung hatte, verdankte sich der Lethargie einer Busfahrkartenverkäuferin am alten Flughafen von Sofia. Diese hatte uns, aus dem Inneren ihres schartigen, auch schattigen Blechhäuschens heraus, zwei Tickets für einen Bus verkauft, der uns, anstatt zur Métro wie verlangt, zu eben jenem Kiosk am Stadtrand brachte. Ansonsten leistet die Translate-App von Google sehr gute Dienste.

Wir wurden dort, vor diesem Kiosk sitzend, in eine Runde aufgenommen, die am Nachbartisch wohl schon eine Weile getagt hatte. Dies war, wie ich es aus Istanbul kannte, mit einem Blick an der Anzahl der auf dem Tisch verbliebenen aber schon geleerten Flaschen abzulesen, mit deren Pracht der Wirt die umliegenden Zecher, aber auch Passanten wie uns, zum eigenen Konsum anstacheln will. Ansonsten konnte man hier ja so gut wie garnichts entziffern. Besagte App übersetzt aber zuverlässig sämtliche kyrillischen Schriftzüge, die man dem Telefon vor sein Kameraauge hält. Das Bier, es stand also »Bier vom Berg« auf dem Etikett, mundete mild. Mild heißt mek. Dieses fachkundige Geschmacksurteil aus deutschem Munde wurde am Nachbartische mit Heiterkeit aufgenommen. Vom nahen Marktstand unter der Autobahnbrücke wurde Schweinefleisch in einer Tüte herangeschleppt und vom Kioskwirt erst plattgeklopft, dann kleingeschnitte und auf seinem Elektrogrill gebraten. Man isst es zum Bier. Ohne Brot oder andere störende Beilagen. So lernten wir also eine erweiterte Familie von Anwohnern aus diesem Viertel rings um die Autobahnbrücke kennen. Man kann in die Übersetzungsapp auch hineinsprechen und sie zeigt die übersetzten Sätze auf dem Display an, aber bald wurde zu solchem Zwecke die Mume dieser Familie herbeitelefoniert, sodass sie wenige Minuten später mit uns am Tische saß. Sie nämlich war ihr Leben im Kommunismus lang als Übersetzerin tätig gewesen, erzählte auch von zwei deutschen Männern die sie gleichzeitig geliebt hatte, Stefan im Westen und Peter im Osten, und heute, mit beinahe 70 Jahren, arbeitet sie an der Rezeption eines Sofioter Hotels. Neben ihr Platz genommen hatte zu dieser Stunde ein mächtig gebauter, vom Wesen her stiller Mann, der dann aber erzählen konnte, dass er der Sohn eines Popstars war. Seine Mutter hatte wohl eine eigene Musikrichtung begründet, die so ähnlich wie Estrala genannt wird. Er sprach etwas Deutsch. Weil er eine Zeit seines Lebens nahe Köln als Tubaspieler gearbeitet hatte. Und zwar im Fantasialand.

FRANKENFURT

Die westliche Trasse bleibt den Juni über gesperrt wegen Bauarbeiten. Die einzige Verbindung nach Frankfurt führt jetzt über Erfurt, eigentlich die privilegierte Sprinterstrecke, doch muß man dort umsteigen. Schade, dass es dort, am Hauptbahnhof von Erfurt, nach 20 Uhr keinen mehr gibt, der mir Bratwürste verkaufen will. Ausgerechnet die Bratwürste, das einzige, was ich an Thüringen typisch fände und pop, gibt es dort nicht. Lange Schlange vor Mc Donalds.

Der Bahnhof wird von der Abendsonne durchflutet. Die Menschen hier haben Piercings und ausladendende Tättowierungen im Steißbereich, wie man es sich vorstellt. Es ist jetzt schon eine Epoche lang her, seit dem Mauerjahr 1989, und ich kann es noch immer nicht glauben. Es rührt, rüttelnderweise an meinem Heimatbegriff. Was übrigens, abseits der Würste, auch die Brunnenkresse betrifft: Die wurde hier, im Erfurt des 19. Jahrhunderts, für die Franzosen angebaut und gezüchtet, weil die in ganz Frankreich verfügbare Ernte nicht ausreichte für den Appetit auf Brunnenkresse in der Grande Nation—was ich sogar noch vom heutigen Standpunkt her verstehen kann, denn auch mein Appetit auf dies delikate Sumpfgemüse ist groß. Wie ich also lese, gibt es nur noch einen landwirtschaftlichen Betrieb in der Schweiz, der heute noch Brunnenkresse anbaut. Jedenfalls berichtete das Jakob Strobel Y Serra, dessen Restaurantkritiken ich eigentlich vom Fachlichen her ablehne; doch findet sich manchmal unter all seinen Perlen halt doch etwas brauchbares.

Es hat 38° Celsius, das meldet die altmodische Digitalanzeige über dem Schuhladen auf der Münchner Straße. Vor dem Café Mozart läßt es sich aushalten. Ein Paar, beide ganz in Orange gekleidet, beide mit arschlangem Haar—seltsam, dass Du dann gleich an »Sekte« denkst. Wärst Du in den Vereinigten Staaten zuhause, wäre die Assoziation »Todestrakt«.

Bei Samen Andreas gibts Mädchenaugen. Ich hätte schon gerne eine Mitschrift des Blumenhändlers, bei dem Farid Bang und Kollegah ihr Gesteck für Auschwitz in Auftrag gegeben haben.

Morgen geht’s los.

Clareana

Eine EMail von Julia Kristeva, eingetroffen kurz nach Mitternacht, kann ich gar nicht anders lesen als zeichenhaft. Vorbei sind die Tage des Dämmerns in der Talstation. Nun geht die Reise endlich los.

Ich bin gespannt auf die hoffentlich so ganz anderen Vogelstimmen beim ersten Morgengrauen in Sofia. Einmal, da erwachte ich nach einem zwar sehr komfortablen, aber doch halt auch langen Flug mit der Nachtmaschine von Barcelona nach Lima in einem Hotelzimmer dort in San Isidro. Hinter den gelben Vorhängen standen die Balkontüren offen und draußen herrschte ein unheimliches Geschrei. Ich nahm meine Tablette ein, Diamox, und schaute durch einen Spalt: Das Haus war am Rande einer wunderschönen Grünanlage, dem Park El Olivar erbaut. Auf dem Rasen gingen in dunklem Grün gekleidete Gärtner umher. Die Rasenmäher stießen mopedhaft bläuliche Wolken aus. Und die dunklen Kronen der Bäume waren all überall mit grasgrünen Vögeln wie von Früchten besetzt. Es gab nur diese grünen Vögel. Und diese Vögel hatten nur diesen einen Schrei, den sie in einem ihnen gemeinsamen Rhythmus ausstossen konnten. So wurde mir ihr Atmen sichtbar gemacht.

Diamox, ein Mittel gegen die Höhenkrankheit, hat die Nebenwirkung, das sich der Geschmackssinn verwirrt. Selbst ungemischte Informationen wie die Süße des Zuckers kommen als etwas vollkommen verzerrtes im Bewußtsein an. Ich bestellte mir einen Käsetoast mit Coca Cola zum Frühstück. Nichts schmeckte wie etwas, das ich zuvor schon einmal probiert hatte. Auch Milch nicht. Zusammen mit dem Bild der grünen Vögel vor Augen war ich in Peru in einer anderen Welt.

Água

Terra

Fogo

Ar

Serbelnde Palmen

In der kleinen Bar hinter dem Zunfthaus Zum Rüden erzählte Sébastian von der Lage in Nizza. An der Côte d’Azur hat sich eine fremde Art von Käfern verbreitet, die tief in die Stämme der Palmen eindringt und dort im Kern durch Fraß derartig Schaden bringt, dass bloß noch Fällen bleibt.  So ist wohl, so Sébastian, von der Allee am Boulevard des Anglais entlang bis schließlich in sein privates Zentrum, dem Garten seiner Urgroßmutter, der rings um eine ebenso uralte Palme angelegt ist, binnen weniger Monate eine Kindheitserinnerungslandschaft durch Rodung stark beschädigt worden. Der Käfer, so vermuten die Franzosen, wurde aus Asien eingeschleppt. Wie wohl auch eine nun in den Alpes Maritimes ansässig gewordene Hornissenart, die aus Japan stammt, braun ist, und stark pelzig, vor allem aber ungefähr doppelt so lang und stark wie die europäische. Von der wiederum weiß man—woher genau, die Quelle, war Sébastian nicht en détail bekannt—dass die Japonica Nr. 1 zusammen mit einer Lieferung von Keramikgeschirr aus Tokyo nach Marseille eingeschifft worden war. Versehentlich. Gut möglich, dass es mit dem Palmenbeisser ähnlich gelaufen ist.

Het Melkmeisje

Kaum war ich ein paar Tage verreist, verändert sich die Wohnung bis zur Unkenntlichkeit. Aber klar, die Fensterputzer waren da. Es ist ja dem Kalender nach Frühling. Zeit für den sogenannten Frühjahrsputz. Sämtliches von den Fensterbänken steht nun auf dem Fußboden in Stapeln. Es sieht so nicht unbedingt besser aus, so wie ein Mensch, der sich einer Schönheitsoperation unterzogen hat auch nicht jünger wirkt, aber anders. Ich zweifle, ob ich die Bücher denn jemals wieder auf die Bänke zurück räumen sollte. Andernfalls brauchte ich wohl ein Bücherregal. Und einiges kann, von diesem Zustand der Lagerung aus betrachtet, mit endgültiger Wirkung der Wohnung verwiesen werden. War mir, an den angestammten Plätzen aufbewahrt, nicht aufgefallen. Wie denn auch—von Peter Sloterdijk erhielt ich einst den Haushaltstip, dass man sich die meisten Möbel bloß anschafft, um sie zum Verschwinden zu bringen (durch Abnutzung deren Reize im alltäglichen Gebrauch.) Gilt demnach auch für Steine und Federn, getrocknete Blüten, Münzen, Baumrindenstücke, ausländische Kronkorken, Herbstlaub, vollgeschriebene Notizbücher, Bruchstück vom Schwanz eines aus Elfenbein geschnitzten Krokodils, getrocknete Babyquallen, Schneckenhäuser, Taschenfahrplan der Heidekrautbahn, Wachswürfel geknetet aus Babybelhüllen, eine elektrische Kakerlake, zwei sehr trockene Zweige, Seifenschachtel, Amseleierschalen, Blässhuhneierschalen, Schwaneneierschalen, Kormoraneierschalen, versteinerte Kamelkotperlen, Murmeln, Schrotkugeln, Schnur.

»Wie der Hirsch nach frischem Wasser, dürstet es mich nach Reglement«, schrie(b) Alfred Krupp in sein Tagebuch. Bei James Joyce war es noch eine Seife, die morgens am Himmel empor steigt. Wegen Sunlight, so hieß die Seife (Sunlicht bei uns.) Und heute—eine Tiefkühlpizza?

Mein Nachbar schickt eine Einladung meiner Eltern zu ihrer Goldenen Hochzeit per Post an mich. Weil die irrtümlich, obzwar von meiner Mutter Hand korrekt adressiert, bei ihm eingeworfen ward. Wir wohnen, wie gesagt, in direkter Nachbarschaft, parallel nebeneinander, Tür an Tür. Irritierenderweise hat die Person, die im Literarischen Colloquium die Briefumschläge beschriftet, eine der meiner Mutter sehr ähnlich sehende Handschrift. Der Effekt, in dem ersten Umschlag einen, wenn auch kleineren, aber mit identischer Adresse in sehr ähnlicher Handschrift beschrifteten Umschlag zu finden ist zumindest quasiliterarisch.

Dann saß in der Bahn direkt neben mir ein Mann mit drahtlosen Ohrhörern, die mit seinem Telephon verbunden waren, sodass ich gut beobachten konnte, was er damit hörte. Er durchsuchte das Angebot an Podcasts und sein Suchwort war »Zeitungen«. Da gab es aber nur Angebote der taz. Daraufhin versuchte er es mit »Zeitschriften«. Auch da sah es mau aus. Innerlich seufzend gab er dann »Sales« ein und begann dann wohl einem Motivationskurs zu lauschen. Dieser Mann war als Leser noch nicht verloren. Allerdings halt nicht im klassischen Sinn. Ihn dürstete, sich Zeitungen anzuhören.

Mußte mir gleich eine Zeitung kaufen und ganz durchlesen. Als Gegengewicht zu dieser Welt.

Die aufgehobene Fesselung ans Irdische

Mit der Schwarzwaldbahn von Baden-Baden bis nach Konstanz: in den Tälern hingen die Kirschbäume voll mit den gelb-roten Kirschen zwischen dem dunkelgrünen Blattwerk, auf den Wiesen lag zum Trocknen wie ausgebreitet das gemähte Gras—auch Heu wird gemacht.

Um den Bodensee herum durch Kreuzlingen bis nach Frauenfeld. Was wohl die Einwohner von Kreuzlingen gefürchtet haben im zweiten Weltkrieg und davor? Dass die Deutschen über die Grenze brechen werden; dass sie, wie die Laoten im Vietnahmkrieg, angeblich versehentlich bombardiert würden? Im Thurgau dann ein Sommerwetter bester Qualität.

Wir saßen im Zelt des Turf-Clubs an einem Tisch mit dem Präsidenten des Thurgaus, der sich als Turi Schallenberg vorstellte. Der am Nachbartisch postierte General des Schweizer Militärs hatte ein Namensschild an seiner dezent dekorierten Brust, von dem hatte ich geglaubt, denselben Namen abgelesen zu haben—ob sie beide Brüder seien?

Nein. Der General heiße Schellenberg, sagte Schallenberg »Me I am Soundmountain. He is Bellmountain.«

Zum Mittagessen gab es Tafelspitz und Kalbshackplätzli mit Schupfnudeln. Dazu Pilzsauce. Später Fruchtstängeli, Kaffee. Ich hielt dem Pferd vom vergangenen Jahr die Treue (Nimrod). Sentimentalitäten zahlen sich nicht aus. Verlust: 20 Franken. Nimrod jagt als dritter durchs Ziel (von vieren.)

Abschluß wie im vergangenen Jahr: Das gemeinsam gesungene Thurgaulied um 16 Uhr. Eine Abgeordnete der SVP steckt uns den Liedtext zu. Die am unteren Ende des Leporellos aufgedruckte Parteiwerbung (ein von Strahlen umkränztes Schweizerkreuz geht hinter den saftigen Hügeln des Thurgaus auf) trennen wir freilich ab. Mir überreicht Präsident Soundmountain noch kassiberhaft ein auf Mikrofiche ausgedrucktes, unparteiisch-neutrales Exemplar. Auf Nachfrage behauptet er, die Hymne seines Kantons selbstverständlich auswendig singend zu beherrschen; den Mikrofiche-Spickzettel trage er überdies rein vorsorglich für Fälle wie diesen, wie mich, in der Innentasche seines Jacketts bei sich. Allerdings muß hierzu festgehalten werden, dass er dann bei tatsächlichem Absingen des Liedes den Text vom Display seines ebenfalls in der Innentasche seines Jacketts mitgeführten Smarties ablas. Zumindest die Strophen. Denn der Refrain des Thurgau-Liedes, das, wie es uns unter anderem vom Präsidenten des Turf-Clubs Heinz Belz, aber halt auch von General Bellmountain und vom Landespräsidenten Soundmountain glaubhaft versichert worden war, wichtiger sei als die Schweizer Hymne, lautet auf »La La La, La, Làlà-là, La La«—heiter, aber auch andachtsvoll. Allerdings gibt es halt 21 Strophen.

Bei Sonnenuntergang dann noch am Uthoquai im Zürisee gebadet. Und am nächsten Tag, der noch viel heißer wurde, in der Limmat. Gleich hinter dem Stauwerk, wo wir uns im smaragdklaren Wasser des Flusses bis in den sogenannten Rechen hinein treiben lassen konnten, wieder und wieder. Ein Kletterer stieg dort vom Ufer aus in Badehosen an der Fassade eines Fabrikgebäudes hinauf, stellte sich auf den schmalen Sims eines zugemauerten Fensters und sprang dann in einem Back flip in die Flut. Applaus, als er nach ein paar Augenblicken seinen Kopf durch die Wasseroberfläche steckte. 

Diese Freiheitsgefühle entstehen nur während des Sommers in der Stadt.

Ye-Me-Lê

Die Sonne geht kurz nach vier auf. Manchmal ziehe ich die Vorhänge nicht vor die Fenster, wache dann, wie heute, zu dieser Stunde auf. Wie damals in Afrika.

Kein einziges von Menschen gemachtes Geräusch, kein Auto. Von links her das von mir als majestätisch empfundene Krähen der Krähen. Das klingt für mich so, als könnten die damit den Erdball überziehen. Weil es wie ein Echo klingt. Dazwischen, sozusagen, vernehme ich für mich sogenannte dumme Lautäußerungen: Meisen und Stare, die einfach bloß melden, wo sie sitzen; dass ihnen der Platz dort gehört.

Der Nachtigallenhahn, er hat wohl noch immer nicht einen Geschlechtspartner gefunden, grölt ohnehin die gesamte Dunkelheitsphase hindurch bis in diese Stunden— allerdings in seiner musikalischen Sprache, die mir alles andere als belästigend klingt. Es wird ja nie langweilig. Seine Melodie kann er endlos und anscheinend fantasievoll variieren.

Dann erscheint bald in der Mitte des allgemeinen Konzerts ein Amselhahn mit seinem Lied, das ich mir nicht merken können werde, weil er es endlos, aber für mich niemals nachvollziehbar interpretieren kann. Und dennoch erkenne ich es, erkenne ich ihn daran, sogleich.

Sie alle werden bald tot sein. Und es werden andere Sänger und Schreiproduzenten und Vogelmelodieninterpreten kommen, die ihren Platz einnehmen werden in den Baumkronen vor meinen Fenstern. Für mich als User wird das keinen Unterschied machen. Sie werden singen den universal song of the birds.

Blackbird sings in the dead of night
Take this broken wings and
Learn to fly

Dazu braucht er eine vergleichsweise riesige Gitarre.

Lino hat sich im Innenhof einen kleinen Platz eingerichtet, da stehen zwei Liegestühle im Schatten. Vor zwei Jahren hat seine Frau die Lunge eines anderen Menschen (ob von einer Frau, oder von einem männlichen Wesen, weiß ich nicht) eingenäht bekommen. Seitdem können sie nicht mehr in die Heimat verreisen zum Urlaub. Ich fragte ihn gestern, ob er meine Geranien gießen könnte, weil ich heute ins Thurgau verreise (Pferderennen). Lino sagte: Gerne. Ich mag Blumen.

Journal

Die 21. Ausgabe der Metamorphosen beschäftigt sich mit dem Tagebuchschreiben. Liest sich ausgezeichnet, wünschte, all diese Autoren würden auch weiterhin öffentlich schreiben. Marc Degens beispielsweise ißt Tortellinisalat? Da hätte ich gerne das Rezept. David Wagner erwähnt ein Telefonat mit seinem Verleger, da geht es um ein von dem offenbar ins Wagnersche Manuskript hineinfantasierte Geschlechtsorgan mit teleskopischer Funktionsweise. René Kemp: Wir können die Tiere im Zoo nicht befragen, wer von den Tierpflegern gute Arbeit macht.

Worldwide Tagebuch: einfach das Interessanteste, das es gibt.

Lob des Schattens

Oasisch temperiert soll es in diesem islamischen Paradies sein, zu sarazenisch- seldschukischer Stimmungsmusik weht ein allenfalls lindes Lüftchen, kühlende Getränke werden gereicht und eine stattliche Anzahl Jungfrauen steht allzeit bereit. ( Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 29.09.2001)

Ursprünglich hatte ich nachschauen wollen, ob es oasisch heißen müsste oder oatisch. Die Dienstfertigkeit von Google hat natürlich, wie sämtliche Dienstfertigkeit, etwas verführerisches. Ob man dies nun klein zu schreiben hat, oder doch groß, um überhaupt verstanden werden zu können—und schon befinde ich mich im schönst denkbaren Wissensstrudel. Wie gestern, als ich, ursprünglich meiner Entspannung dienend, auf dem Bett lag und mit einem Mal brummte es weiter hinten im Raum. Eine Hornisse war durch die geöffneten Fenster hereingeschwebt und fand den Weg nicht mehr nach Draußen. Wohin sie, das Insekt, der Ordnung der Dinge gemäß hingehört. Anstatt mit dem iPad nach der Hornisse zu schlagen, wie es sich gehört nach alter Väter Sitte, schaute ich durch das iPad nach, was es zu Hornissen an sich zu lernen gibt.

Mittlerweile hasse ich das iPad ein bißchen. Würde viel lieber mit der Schreibmaschine ins Internet.

Denke aufgrund des Wetters wie ein Fotograf wohl denkt: Das Licht ist zu direkt. Grell. Es leiden die Farben. Unter Markisen sitzend stimmt mein Bild. Bierkutscher, die Ureinwohner Berlins, schuften. Sie rollen die Fässer von ihren Lastwägen herunter. Im Trottoir öffnen sich eisern beschlagene Klappen zu den Bierkellern. Diese Klappen und die von dort aus in die Unterkellerungen führenden Schächte gab, es gibt sie sogar heute noch, vor den Lokalen in New York.

Herr Mohn

Ursprünglich wollte ich nur diese eine Stelle wiederfinden, aber dann las ich mich gestern wie es heißt fest in Abfall Für Alle, und nachdem ich bemerkt hatte, das so schon einige Stunden an mir vorübergezogen waren, gab ich mich dem Werk hin und las es also gestern noch einmal komplett. Mit Gewinn, weil man ja jetzt bequem alle im Text erwähnten Namen und Fremdtexte googeln kann. Das vertieft die Lektüre oder erweitert sie (je nachdem, wie man als Leser den hinter den Seiten gelegenen Textraum sich vorstellt.) Fraglich, ob Rainald Goetz heute diesbezüglich Verknüpfungen einsetzen würde an solchen Stellen. Das wäre, auch das dokumentiert sein Text ja ausführlich, im Jahr 1998 aufgrund der technischen Entwicklung noch kaum möglich gewesen.  Und gestern saß ich unter dem Kastanienbaum und googelte ohne Snafu oder Modem und Kabel, einfach so, im Hypertextuellen Raum herum. Der freilich zu Teilen auch ein paratextueller war.

In Berlin hat man ja früher gern den Taxifahrer gefragt, wenn man etwas wissen wollte über das alltägliche Leben. Mittlerweile sind für mich Spätibetreiber die bessere Adresse. Haben sie doch, wie der Maler Jörg Immendorf das für sich einfordern wollte »Stets die volle Palette des Lebens vor sich.« Zumindest größtenteils. Und, das ist ja das schönste, auf gar keinen Fall repräsentativ. Ich frage mich immer, warum die keine einzige der Zeitungen lesen, die sie im Ständer feilbieten. Den ganzen Tag wird geskyped oder Serien auf dem Telefon angeguckt. Als ich heute früh hereinkam, sagte der Mann in Moabit, dessen Namen ich nicht weiß »Du Armer!« zu mir, damit bezog er sich auf mein T-Shirt, das mit dem Zeitungskopf der Frankfurter Allgemeinen bedruckt ist. 

Ich fragte, warum. Er sagte: »Mußt Du Geschenke anziehen.« 

Ich erklärte ihm, dass es sich mitnichten um ein Werbegeschenk handelte, sondern um ein von mir eigens in Auftrag gegebenes T-Shirt. Weil ich ein Fanboy dieser Zeitung bin. 

Verstand er nicht. Kann ich verstehen.

Reishase

Im Weltspiegel wurde über den Stand der feministischen Bewegung im Reich der Mitte berichtet: der Slogan Me Too ist dort natürlich per Dekret verboten. Wer ihn hinschreibt oder eintippt, kommt in Haft. Aussprechen aber ist erlaubt, deshalb lautet der Slogan unter Chinesen jetzt halt »Reishase«, weil das Wort für Reis wohl wie me klingt und das für Hase wie too. Aufmalen darf man den Slogan auch, es waren Bilder zu sehen von einer Schüssel Reis und einem miffyhaften Hasen daneben. Selbstverständlich vor rosafarbenem Hintergrund. Signalfarbe der Aufständischinnen weltweit.

In seinem Eintrag zum 6. Juli 1998 schreibt Rainald Goetz: »Neulich waren in der E-Mail folgende zwei Zeilen:

Du: ich werde ein Kind von dir bekommen.

felicitatis

Danke. Das ist eine Frau aus Frankfurt, mit der ich dreimal telefoniert habe, weil sie eine Radiosendung mit mir machen wollte, und ich sagte, okay, einmal im Jahr mache ich eine Radiosendung mit Text und Musik, wieso nicht mit ihr. Gut. Dann rief die mich in der Praxiszeit an und steuerte auf so komische Themen hin, mit Traum, Bett, hoppla. Und ich sofort: entschuldigung, wir kennen uns doch gar nicht, das ist mir unangenehm, wiedersehen. Nach der letzten Praxis-Veranstaltung kam sie zu mir her, hallo, ich bin Felicitas, und ich dachte gleich, alles klar. Vier Sekunden, fertig. Jetzt kriegt sie ein Kind von mir. Und daran soll man sich dann wohl erfreuen und erheitern und das lustig finden. Super Witz. Ich glaube, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in beide Richtungen komplett gerecht verteilt vorkommt. Und dass es alles auch viel weniger schlimm ist, als dauernd behauptet wird. Au, da gibts jetzt Aufschreie, bei sexuell TÄTLICH belästigten Frauen. Wenn ich sage, dass so eine Mail für mich schlimmer ist, als wenn mich jemand REAL sittlich und intim berührt, das gilt nicht. Das IST aber so.«

Sonntag

Nebelkrähen nehmen ein Sonnenbad. Dazu legen sie sich auf einer Lichtung flach hin wie Hühner und breiten die Flügel über den Rasen. Der Schnabel sperrt. Vermutlich dient das der Kühlung.

Im Supermarkt ein neues Fabrikat von Hühnereiern entdeckt: Der Anbieter Spitz & Bube verspricht »Von Legehennen ohne gekürzten Schnabel/ Aufzucht der männlichen Küken/ nur echt mit cremefarbener Schale.« Die Eierschalen sind tatsächlich ecru, was in dem puderblauen, in ein mauve tendierenden Karton schön zur Geltung kommt. Auf dem Etikett des Kartons wird behauptet, die Schalenfarbe wird von den Hühnern der Rasse Sandy erzeugt »Unsere Sandys sind besonders robust und vital und neigen weniger zu Verhaltensauffälligkeiten wie z.B. dem gegenseitigen Bepicken.«

Ein optimiertes Legehuhn also, duldsam. Ob ihm der Farbton für seine Eierschalen gleichsam mit programmiert wurde? Frank Schirrmacher hat mir im Herbst 2001 am sogenannten Rande der Frankfurter Buchmesse erklärt, wie ich mir, gentechnologisch gesehen, die Zukunft vorstellen muß: Seiner Meinung nach würde es bald eine Art Schreibmaschine geben, auf der die Eltern die Charaktereigenschaften ihrer künftigen Kinder eintippen könnten. Da ist ihm vielleicht die Fantasie durchgegangen, oder er hat etwas aus seiner beruflichen Erfahrungswelt auf die Wunschliste für wissenschaftliche Durchbrüche projiziert. Andererseits, im Angesicht der mit genetischem Warenzeichen verfärbten Eierschalen der Sandys: Vielleicht lassen sich bald auch schon Bratwürste aus fair produziertem Fleisch dadurch kenntlich machen, dass diese Würste lavendelgrau schimmern. Weil die Schweinerasse, aus der diese Würste hergestellt wurden, ein blaßlila Fleisch haben wird. Blut muß ja nicht zwangsläufig rot sein. Das weiß man von den Käfern.

Weniger angetan, direkt schnöd fand ich die neueste Errungenschaft der Lebensmittelchemie. Im selben Markt wurde nämlich Ahoj Brause in Dosen feilgeboten. Meine freilich durch Katharina Thalbach induzierte Vorfreude wurde durch das Tasting fundamental enttäuscht. Der Waldmeistergeschmack, eine beim zugrundeliegenden Original durch sämtliche Darreichungsformen—Pulver, Brocken, Stäbchen—erfrischende Köstlichkeit, schmeckt plump und zäh. Dazu kommt, dass die angebliche Brause nicht sprudelt, sondern blubbert.

Wie es unter Wienern hieße: ungustiös. 

The Joy of Text

Vor dem Sonnenuntergang, ich saß unter einem Kastanienbaum, da fühlte ich schlagartig ein juckendes Zappeln an meinem Hals. Wischte das weg—und auf der grau lackierten Tischplatte lag gelandet eine grasgrüne Raupe. Ganz klein. Durch den blinden Handschlag, den meiner Hand, schien der eine Teil ihres wursthaften Körpers gelähmt. Ich schob ihr die Stiftspitze hin, dass sie da draufkrabbeln sollte. Das gelang ihr aber nicht. Sie würmelte hilflos in Halbkreisen über den Tisch.

Das tat mir leid. Ich wußte nun nicht: soll ich das zur Lebensunfähigkeit verletzte Tier zerquetschen? War das meine Pflicht, da ich es aus Unachtsamkeit erst in diese scheußliche Lage gebracht hatte. Ein Dilemma für Buddhisten.

Die Spatzen hier sind ja auf Croissantkrümel spezialisiert.

In einem Artikel über Froschzüchter hatte ich gelesen vom großen Aufbruch in den den Vereinigten Staaten im Umkreis des Schwarzen Freitags, als der Verzehr von Froschschenkeln noch etwas Gewöhnliches war. Fleisch war Fleisch, ein Proteinlieferant. Als das zentrale Problem für die durch die Annoncen eines Betriebes für Froschfleisch in Dosen rekrutierten Froschbauern sollte sich dann erweisen, dass Frösche ausschließlich lebendiges Futter zu sich nehmen. Was in der Folge bedeutete, dass die Froschmäster vor allem mit der Herstellung lebendiger Maden und Würmer et cetera beschäftigt waren. Zusätzlichzu den sich andauern vermehrenden Fröschen auf ihrer Farm. Die Ratio von Futtermenge zu Frosch lag hierbei übrigens bei 3:1, da ein Frosch in etwa drei Jahre lang genährt werden mußte, bis er die erforderliche Schlachtreife erreicht hatte. Es gibt historische Aufnahmen, da sieht man in weiß gekleidete Frauen mit weißen Häubchen auf an langen Rinnen stehen in einer Froschschenkelverarbeitungshalle; abgetrennte Froschschenkel in Dosen sortierend.

Alles kann zur Szene werden, wenn man ein paar mal hintereinander im Theater war. Vergleichbar mit andauerndem Lesen, dann schaue ich mir manchmal auch dabei zu, dass ich beim Gang durch die Straßen eine Speisekarte redigiere, einen Schreibfehler auf einem Firmenschild korrigiere. Ich bin dann noch ganz in der Schrift.

Extrem wird es in einer Überkreuzung von beidem, wenn ich, wie derzeit, ein Buch lese, in dem es um theaterhaftes im Leben aus einer anderen Zeit geht, ich dazu aber auch obendrein noch ins Theater gehe. Ian Buruma beschreibt seine Eindrücke aus den Pornokinos im Tokio der siebziger Jahre, wie er dort verkleidete Männer trifft mit verschmiertem Lippenstift quer übers Gesicht, die ihn ehrfürchtig grüßen.

Dann sitze ich am Mittag, vermeintlich aus einer Laune heraus, in einem dubiosen Lokal, das von glänzend frisierten Malayen betrieben wird, die mir eine krude Kost aus warmgemachten Sushi in viel Sauce mit Stücken von Bananen und Litchi servieren. Beim Bezahlen hält einer von ihnen, es gab keine anderen Gäste außer mir, ein kupferfarbenes Funkmikrophon in der Hand und fängt, noch während ich mit ihm rede, an, zu einem Karaoke-Track aus seiner Herkunftskultur zu singen. Ordentlich Hall auf der Stimme. Und die anderen schauen mich an, sagen »He is a superstar!«

Später, da war der Eintrag schon beinahe geschrieben, schwebte die Raupe, von der Tischkante an einem seidenen Faden herabhängend im Sonnenlicht. Wie Leonard Cohen geschrieben hat: Your body is a golden chain, my body is hanging from.

Fifty Shades of Greis

Am Sonntagmittag erschienen weiße Tüpfel am Blau, flüchtig, mit langgezogenen Schlieren dazwischen, als müssten sie gleich wieder los. Im Wald ging ein schöner Wind, der Sandweg warm, eine Kiefer quietschte wie eine Schloßtür auf einer meiner Märchenplatten.

Im Gastgarten des Ausflugslokals wurde schon gegessen, der Wind fuhr dort durch die Hecke und ich fühlte mich sanft geschaukelt. Am Nebentisch ging es um den neuen Pfarrer, er spricht undeutlich. Und die Speisekarte wirft eine Frage auf: Was denn ein Ofenschlupfer sei? Erklärte ich freilich gerne. Es gab eine neue Kellnerin, die hat eine Stimme wie Kimmy Robertson. Die, nach ihrer Rolle als Polizeireviersrezeptionistin in Twin Peaks, später noch einen Staubwedel in einem Film von Walt Disney sprechen sollte. Das war also ein erstes Zeichen. Dann aber brachte sie mir die Käsespätzle, die ich dort immer bestellte, und ich fand die mißraten. Die obere Schicht eingetrocknet, wie unter dem Salamander verpennt. Darunter ganz lustlos. Offenbar hat dort also auch noch der Koch gewechselt. Wieder ein Schneckenhaus mehr, in das der falsche Krebs eingeschlüpft ist. Und ich fragte mich, ob der innere Qualitätssturz meines ehemaligen Lieblingslokals damit zusammenhängen könnte, dass ich den Grünen Baum einst meinem Nachbarn für einen Ausflug anempfohlen hatte — wider meines Empfindens hatte ich mich dazu hinreissen lassen! Denn wo dessen Saum das Land bloß streift, vergeht bald alles Leben.

Aber das Sitzen unter den Greisen dort tat mir gut. Ausgerechnet dort sollte ich erste Lieferungen erhalten. Mir fielen die ersten Sätze ein für den Roman. Das hat ja leider wieder ewig und drei Tage gedauert. Als ob ich es nicht besser wüßte. Weiß ich doch, aber trotzdem ist die Wartezeit sogenannter Inkubation eine Quälerei. Die sollte nun zumindest gemildert werden. Und vom Kirchturm kam um zwei das Glockenspiel »Geh aus mein Herz und suche Freud.«

Kaufte dann auf dem Nachhauseweg der Mutter Fourage vier hängende Geranien ab, rote. Ihrer Ansicht nach die einzigen Gewächse, die auf meinem Balkon gedeihen könnten. Dort geht, was wohl am Wind vom See her liegt, sonst alles ein: sogar Lavendel. Auch Rosmarin. Hatte freilich auch in dem Fall den Nachbarn verdächtigt. Bislang aber blühen die Pflanzen fleißig auf seit ihrer Ankunft in der windigen Bucht.

Her rüya evinde bir kalp ağrısı

Seit zwei Tagen ist der Himmel leer. Der Farbton läge auf dem Cyanometer ungefähr zwischen 17 und 18, genauer kann ich es nicht messen, weil es zwar Abbildungen der historischen Skala gibt, aber noch keine Umsetzung als App. Abends waren wir wieder im Theater. Auf dem Weg dahin dachte ich, das wird am Himmel gelegen haben, dass es ein Fehler war, nicht nach Cagnes zu fliegen. Einfach so, für einen Nachmittag dort, gar nicht erst bis zum Meer, sondern einfach vor der Petit Bar sitzen und schauen, wer noch alles lebt. Dann den Sonnenuntergang auf dem Platz vor der Burg, die grünen Berge. Das Licht der Straßenlaternen, eine Katze, die Frösche, dann Bett. Es stand mir dies alles farbig und wie greifbar vor Augen, die Welt dort ist abrufbar in mir geblieben. Und trotzdem zieht es mich hin? Eine Heimat also.

Joachim Meyerhoff spricht seinen Monolog am Anfang zu leise, wie einige Zuschauerinnen finden. Er wird in den nächsten Stunden nicht lauter sprechen, aber allmählich verstehen sie ihn besser. Das Gehör wird angespitzt dergestalt, dass man viel später sogar ein Lied von Abba meint zu hören. Die Musik wird, während Joachim Meyerhoff von ihr spricht, derart leise abgespielt, das sie nur zu ahnen bleibt; wird mitgemeint. Prima le parole!

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das gehen könnte, aus Die Welt im Rücken ein Stück fürs Theater zu machen. Meyerhoff erzählt einfach das Buch. Stundenlang. Und die Inszenierung ist so gut, dass ich noch lange, heute morgen schon wieder, als erstes, darüber nachdenken kann, ob dieser eine letzte Tischtennisball, der kurz vor dem Dunkel aus der illuminierten Synapse auf den Bühnenboden fällt, als ein Mittel zu viel war. Ob man den nicht besser weggelassen hätte. Andererseits fand ich genau das halt grandios.

Die Jagdgewehrproblematik.

Nach dem Mitternachtswürstchen (Paris Bar) dachte ich im Taxi, was ich an Weisheit beisammen hätte fürs Totenbett, falls ich übermorgen stürbe. Mir fielen ausnahmslos Haushaltstips ein.

در هر خواب یک قلب

Beinahe wie eine Hostie überreichte mir Jan das Feuilleton vom Mittwoch, seiner Ansicht nach das gelungenste seit Urzeiten. Ich hatte die Ausgabe dieser Zeitung verpasst, und als ich sie an dem Abend noch kaufen wollte, war sie überall ausverkauft. Der Vorabdruck von Michael Angeles Schirrmacher-Biografie geht gut rein, oder wie der Sommelier Billy Wagner in seinen Zeiten im Rutz an der Chauseestraße es über einen Wein zu sagen pflegte: »trinkig«. Und Jürgen Kaube schreibt über die Empörungsmechanik um die Fußballspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özul: »Klugheit ist von den Spielern sicher nicht bewiesen worden. Wer sie als Erwartung an Profifußballer heranträgt, muß mit Enttäuschungen rechnen. Deswegen haben sie ja Berater.«

Und gestern ging es in dem Stil weiter. Patrick Bahners berichtet vom Strafprozeß gegen den Musikhochschuldirektor Siegfried Mauser, dem sexuelle Nötigung in zwei Fällen vorgeworfen wird. Die Zeugin berichtet, der Angeklagte habe versucht, sie mit einem Kuss mundtot zu machen. Angeblich habe er bei dem Kuss mit seiner Zunge ihr Zäpfchen berührt. Ein Sachverständiger muß klären, ob so ein Zäpfchenkuss physisch möglich ist. Die Aussage der Zeugin über ihr Erlebnis mit der Zunge aus der Mundhöhle des Direktors lautet »Es ist wie ein Dolch, der in sie hineinfährt.« Und Bahners schreibt: »Der Opernsängerin ist es ganz natürlich, auch schreckliche Erlebnisse in opernhafte Bilder zu fassen.

Las dann gestern noch in Hermann Argelanders Der Flieger, eine in den siebziger Jahren wohl erstmalige Beschreibung der über Jahre währenden Psychoanalyse einer narzißtisch gestörten Führungskraft. Hat bei Suhrkamp mehere Auflagen erlebt. Im Vorwort heißt es »Manche Autoren vermuten im narzißtischen Charakter die Persönlichkeitsstruktur der Zukunft.«

Schirrmacher werde ich mir heute besorgen. So verfügbar auch die George-Biografie von Thomas Karlauf, die mir bei Erscheinen nicht wichtig war, auf die ich jetzt aber durch den Vorabdruck Lust bekommen habe.

Der lustige Kapitän beschallt die Bucht mit Small Town Boy.

हर सपनों में घर में दिल का दर्द होता है

Beim gesprochenen Wort fällt es mir schwer, meine Fantasie im Zaum zu halten. Gesprochenes wird, wenn ich mich nicht zügele, in meinen Ohren zu Musik. Von daher glaube ich, dass sogenannte Audioports mir den Untergang des Sprechtheaters bedeuten. Gestern schaute ich mir mit Jan einen Woyczeck an, im Haus der Festspiele. Da waren gleich sämtliche Schauspieler mit dem Verstärker verbunden. Das Bühnenbild bestand in einer den Raum ausfüllenden Schallplatte, auf der sie entgegen der Drehrichtung der Scheibe beständig bergan gingen. Dabei, und wir hatten uns beim Blick auf den Plan noch gewundert, wie man den Text auf drei Stunden Spielzeit bringen könnte, rezitierten sie die Worte recht unverbunden und beinahe einzeln über Mikrophon. Und das auch nicht einfach so, mechanisch, sondern auf diese manierierte Weise, wie ganz zu Anfang der Volksbühne die Frauendarstellerinnen von Frank Castorf angeleitet worden waren zu artikulieren. In dem Fall wurde also die Darmstädter Herkunft des Autoren Büchner mit einem die-Cabanossi-abbeißenden-Kunst-Hessisch ausgestellt.

Zur linken und zur rechten Seite der Scheibe, die sich nach einer halben Stunde auch mal in die waagerechte Position kippen ließ dergestalt, dass die Leute nun auf einer Ebene vorangedreht wurden, waren die Musiker einer kleinen Band plaziert, die den Text mit einem Klangteppich unterlegten. Im Hintergrund schnaufte die Nebelmaschine. Das halte ich ja schon in Filmen kaum aus, wenn pausenlos Melodien die angeblichen Stimmungen illustrieren sollen. Dafür gibt es in Filmen halt wenigstens noch etwas zu sehen. Das Ganze schien mir wie eine Satire auf das sogenannte Regietheater, aber inszeniert von jemandem, der vielleicht selbst noch nie in einer als solches bezichtigten Aufführung gewesen war, sondern das Konzept aus der Zeitung erfahren hatte. Ich schämte mich beinahe meines banalen Empfindens. Ich hatte ja auch den vielgelobten Fernsehfilm Spätwerk, in dem Henry Hübchen einen Schriftsteller spielt, nicht gut gefunden. Allein wie er da vor einer Schulklasse seine Berufung erklären musste — weil er, da selbst noch Schüler, ein Stotterer war, der sich, um nicht von den anderen für seinen Sprachfehler gedemütigt zu werden, gezwungen sah, seine Mitteilungen an die Welt auf kleinen Zetteln aufzuschreiben. Trank freilich stark. Wohnte in einem mit Mid-Century-Stühlen eingerichteten Haus am Meer usw usf. Bald danach verließen wir den Raum.

Gingen dann noch in ein herrliches Restaurant, wo Brahmanen bedienten, die keinen Ramadan halten, aber von sich aus niemals Alkohol zu sich nehmen, auch kein Fleisch. Einer brachte uns einen Schnaps in winzigen Bechern aus Kupfer, der absolut widerlich schmeckte. Noch schlimmer als Blutwurzel oder Enzian. Auf Nachfrage: wird aus Cashjewnüssen gebrannt.

Tempat Wudhu

Auch Indonesier halten also Ramadan. Das wurde mir erst bewußt, als ich zum Mittagessen in das am kleinen Park gelegene Restaurant mit dem kuriosen Namen Nusantara eingekehrt war. Absichtlich war ich aus dem Grunde nicht, wie sonst oft, in die Huttenstraße zum Al Reda gegangen, weil ich mich unbehaglich fühlen müßte, wenn ich da im Angesicht der Fastenden, die mich bedienen, äße. Dann aber bemerkte ich die überall und kreuz und quer durch den schattigen Innenraum des Nusantara geklebten Zettel, auf denen selbstgemalte Pfeile in Richtung eines ominösen Tempat Wudhu wiesen. Den Pfeilen folgend hinter der Tür der Herrentoilette angelangt, klebten dort die Hinweisschilder dicht an dicht und führten mich bis an die Wand zum Innenhof, wo, um eine Ecke herum vor Einblick geschützt ein niedrig angebrachtes Waschbecken, ungefähr auf Höhe meiner Kniescheiben hing es da, den Zielpunkt all der vielen Pfeile bedeutete. Rings um das Becken waren nun noch weitere Zettel angebracht, auf denen nur einmal noch das Zauberwort Tempat Wudhu geschrieben stand. Aber auf den anderen: »No Toilet!« und »Please Don‘t Use«. Auf einem Schemel türmten sich Gästehandtücher in bunten Farben. Das war also ein Platz, eigens für die rituellen Waschungen der muslimischen Gäste eingerichtet und reserviert. Auf den Spülkästen der Toiletten verteilt standen kleine Gießkannen aus Plastik. Ein Brauch aus tropischen Gefilden. Auf dem Tresen gab es neben einer roten Holzskulptur zweier schöpfenden Hände eine Lautsprecherbox, deren Membran von einem bläulich pulsierenden Leuchtring eingefasst war.

Heute früh las ich bei Thor Hanson vom einzigen Vogel, der geigen kann. Musste ich sofort ergoogeln (den Sound). Im Gegensatz zu Tempat Wudhu. Da ließ ich meine Fantasie so lange wie auch nur möglich walten. (Keats)

رمضان

Die schönen Tage von Eltville sind nun zu Ende. Betrübt fuhr ich zurück nach Berlin. Der Himmel dort gab meine Stimmung wieder. Doch will ich nicht undankbar sein. Am Abend traf ich mich mit Anne zum Cocktail, und sie hatte mir ein Geschenk mitgebracht: eine wunderschöne Ausgabe von Ein Tropfen Nektar, dem wohl maßgeblichen Handbuch zur Bienenhaltung in der DDR. Autor war Günter Grimm.

Die Bar, in der wir dann noch etwas über das Leben philosophierten, während es draußen schon wieder zu pladdern anfing, war in einer ehemaligen Apotheke eingerichtet. Die Apothekenschränke, die Salbentiegel und ein Mörser standen noch wie einst als Dekoration in den Regalen, dazwischen die Flaschen, und über den Verkaufstresen von gestern wurden nun von bärtigen Männern die Getränke gereicht. Essen kann man dort auch, im hinteren Teil, wo in einem Kasten an der Wand, das wusste ich von einem anderen Besuch des Lokals, eine Dose mit der Aufschrift Pyramidensalbe steht. Ich dachte an die Gartenwirtschaft des Weinguts im Rheingau zurück, wo alles noch so wie es durch das Jahrhundert hindurch geblieben. In der umgedeuteten Apotheke am Oranienplatze (im gegenübergelegenen Kaufhaus befindet sich seit vergangenem Jahr ein von Münchnern betriebenes Hotel, dahinter lockt Kuchen Kaiser, aber wie lange noch; beziehungsweise: wie lange noch als solcher?), war selbst die Speisekarte vorraussetzungsreich abgefasst: Stand dort als Hauptgericht angekündigt »Kalbfleisch Ei Semmelbrösel Kartoffeln« kam dann aber trotzdem nur ein Wiener Schnitzel mit Pommes Frites an den Tisch.

Im Restaurant der Familie Hasir in der Adalbertstraße wurde hingegen unter alter Flagge mächtig ausgebaut. Der Gastraum ragt nun von der Oranienstraße an bis beinahe in den Männerclub namens Möbel Olfe hinein. Es sind aber noch immer dieselben Kellner, die in dem nun extrem verbreiterten Saal bedienen. Alles Nachfahren jenes ersten Monsieur Hasir in Berlin, der dort, in einer engen Futterluke unter dem Viadukt des Bahnhofs Zoo den Döner Kebap erfunden haben soll. Vermutlich durch Abschauung der Deutschen Gepflogenheiten: Deutsche essen ungern Spieße. Sie essen gern gefüllte Brote. Am liebsten im Gehen.

Noch driften die altgedienten Kellner etwas planlos durch das unübersichtlich gewordene Inselsystem der zu vielen Tische. Und müssen nun zum zweiten Mal in ihrem Leben hier in Kreuzberg eine Fremdsprache erlernen. Kaum ist ihnen das Deutsche geläufig, haben hier nämlich die Englischsprechenden die Oberhand gewonnen. Auch wenn freilich wie eh und je der eine oder andere Landsmann seine Ayse hierhin ausführt, wenn es etwas feierlich zu besprechen gibt. Die amerikanischen Männer tragen keine Vollbärte. Und die mit den Bärten fragen nicht nach Döner Kebap.

Auf dem Heimweg las ich statt im Bienenbuch lange mit über die Schulter einer Verschleierten auf deren Display. Sie scrollte sich durch eine mindestens fünfzig Zentimeter lange Whatsapp-Nachricht, in der ihr dargelegt werden sollte, weshalb nun der Ramadan doch später beginnt. In dem sehr schön formulierten Text war von einem Ratschluß der Gelehrten die Rede, von einer Sternwarte in den Vereinigten Staaten. Und von vielerlei anderer altertümlicher Dinge mehr.

Frightened Rabbit (Scott)

In den Orangerien der Herrenhäuser Gärten von Hannover gibt es einen Granatapfelbaum, der wächst in einem Topf, und den rollen sie in jedem Frühjahr hinaus vor die Türen der Glashäuser ins Freie auf den Vorplatz. Schätzungen gehen, ziemlich präzise, auf eine Schenkung aus dem 17. Jahrhundert zurück, als, so wissen wir es es aus einem Briefwechsel, dieser Baum, damals noch Keimling, den Welfen als ein Geschenk aus Venedig geschickt worden war.

Hier auf dem Tisch steht seit Wochen ein Strauß von Pfingstrosen in diesen herrlich japonaisen Farben, der einfach nur noch schöner wird mit jedem Tag. Nachts schließen sich die Blütenballen, das haben wir gestern erst wie durch Zufall entdeckt.

Als ich anfang des Jahrhunderts für einige Monate in München wohnte, gab es um diese Zeit in den Jahren auf den Hauptplätzen, also beispielsweise dort, wo einst das Postamt war und heute ist da Louis Vuitton, die als Bauersfrauen verkleideten Verkäuferinnen von Christrosen, die hatten teils auch Spargelbündel im Angebot, und die gaben mir beim Kauf eines Straußes noch den Tip mit, einen Kupferpfennig, bald darauf hieß der Cent, in das Vasenwasser plumpsen zu lassen. Dann »lebten« die Schnittblumen länger. Und das stimmt, wir machen das in der Familie noch bis heute so, es wirkt.

In der Tagesschau geriet gestern schlagartig der Schauspieler Ben Becker ins Bild wie eine Mahnung. Er stand dort, in der Übertragung vom Berliner Bebelplatz, im Hintergrund die ehemalige jüdische Bank, heute »Hotel de Rome«, und zum Gedenken an die Nacht der Bücherverbrennung las er, Ben Becker, Paul Celan. Lief für mich irgendwie auf beinahe das Gleiche heraus.

Pfingstrosen haben wir aus China. Wie ich las, wachsen sie dort in Bambushainen. Kann mir kaum vorstellen, wie schön das wohl gewesen sein mag, dort zu wandeln — und aus dem in grün längsgestreiften Stangenschatten leuchtet dort, und dann wieder hier, malvenfarbend, ein lappiges Bündel der Blütenblätter heraus. Wie Briefe.

A little piece of you/ The little peace in me/ Will die

Mit meinem Besten, dem Silbrigen von Rimowa, in einem Zug, der durch blühende Rapsfelder rollt — beinahe ganz mein Humor. Call me Walter Scheel. Deutschland ist so schön kurz vor Sonnenuntergang. Also dieser deutsche Ausschnitt der Welt. Unsere Welt wird dann schön.

Bäume, die, mit ihren niedrig angesetzten Kronen, wie abgeschnitten aus dem hohen Gras der Wiesen ragen. Ein paar Menschen haben sich um den Spiegel eines Sees herum versammelt. Sie haben Stühle mitgebracht.

Und wenn aus den gelben Farbflächen auch noch Windräder aufragen und sich leicht drehen im Wind, der im Speisewagen des ICE durch die Klimaanlage simuliert wird, oder synchronisiert wie auf einer Tonspur, bloß wie könnte man dies Verfahren dann gleich wieder benennen?, muss ich natürlich an Christian Kracht denken, der einst schrieb, Deutschland sei »eine große Maschine, die sich selbst herstellt«.

Jetzt hält er ja nach dem Pfingstwochenende die Poetikvorlesung in Frankfurt. Etwas, das ich schon immer gern machen wollte, was ich erstrebte. Aber ich bin auch gespannt, wie er die abhalten wird. 

Ansonsten soll es ja hageln morgen in Berlin. Und zwar am Nachmittag, wie sich die Leute auf der Straße erzählen. Von daher freue ich mich doppelt auf die vielen schönen Tage in Frankfurt. Vor allem dann im Rheingau, am Sonntag, da ist dann Muttertag. Will dort, in der Weinpump’ auch mehrere Stunden lang ununterbrochen essen. Im vergangenen Frühjahr hatte ich in einer ähnlichen Gaststätte eine panierte Fleischwurst, die ist mir unvergesslich geblieben; von der träume ich noch.

Allerdings hat Dagmar mir gestern einen Knaller der baltischen Küche aufgetischt (Im Stammschloß ist heute ein Trader Joe’s), da wird ein ganzer Laib Brie waagerecht halbiert und mit einer Mischung aus Mascarpone und Trüffelspänen gefüllt. Danach kommt der Brie-Deckel wieder obenauf und man schneidet sich Stücke heraus nach der Methode Torte. Schmeckt genial! Man gerät bald in schlaraffische Raserei. Phantasie des eigenen Körpers als endlos expandierendes Gefäß. Aber das bleibt ein Wunsch, erzeugt vom Gehirn, das ja tatsächlich so etwas zu sein vorgibt: ein endlos expandierendes Gefäß.

Würde ich mich selbst vorbereiten auf den Vortrag meiner Poetologie? Kann ich mir nicht vorstellen. Einfach loslabern. Wer hat, der hat, sagt meine Mutter.

Ein Springender Brunnen

»Die Japaner nehmen die Oberfläche ernst«, schreibt Ian Buruma in seinem A Tokyo Romance »Sie drängen gar nicht erst nach einem Inneren. Vermutlich aus Respekt vor dem Individuum.«

Sprach mich extrem an. Ich habe auch keinen Mut, nachzufragen. Vermutlich bin ich der schlechteste Journalist. Mehr und mehr Analogien des Japanischen fallen mir ein bei der Lektüre seines Buches zum Schweizerischen, an dem ich noch immer hart zu beißen habe. Beispielsweise gab es einmal dort diese Szene, als ich Beda um seine Unterschrift bitten mußte für ein Facsimile, das vom Layout gebraucht wurde. Und er warf es hin auf ein Blatt Papier, in seiner von mir längst gewohnten Schrift, aber dann stand dort: Achermann Beda. Meinen Einwand, dass dies nicht zulässig sei, beziehungsweise, dass ich den Schriftzug zerschneiden lassen würde, um die für deutsche Leser gewohnte Folge aus Vorname und Nachname herzustellen, ließ er nicht gelten. Stattdessen erzählte er mir von einem Turnier des Schwingens, der Schweizer Abart des Ringens, bei dem die Gegner ja auch auf diese Weise aufgerufen würden. Also steht im Heft jetzt »Achermann Beda.« Mir hat das imponiert.

Ich denke, es war Christian Kracht, der im Vorspann eines seiner Bücher einen kalifornischen Maler zitierte mit »Surface is an illusion/But so is depth.«

Bei Ian Buruma geht es freilich noch weiter mit seinen Schilderungen aus dem Tokio der siebziger Jahre. Wie einfach das alles noch war — auch ich kann mich noch an die achtziger Jahre erinnern, als man permanent jemandem vorgestellt wurde, auf Partys landete, dort wiederum von anderen angesprochen wurde und so fort. Das alles, das Miteinander, ist kompliziert geworden. Er schildert eine Szene, in der Kurosawa Araki eine Reklame für Whiskey aufnehmen muß, um Geld zu verdienen. Und in dem er, Ian Buruma, als Statist angeheuert war. Und wie er den im Hintergrund erstarrten Lavasaum des Fujijama beschreibt: das ist schon schade, das so etwas heute nicht mehr geht.

Im Orakelhain, fragend

Wann kommt der Emoji mit Bejkeles? Wann einer mit Kippa? Der Launch des längst angekündigten Seifen-Emojis (ein rosafarbenes Stück, das Schaumblasen trägt) wurde auf die zweite Jahreshälfte verschoben. Da frage ich mich doch, wie einst Walter Kempowski angesichts eines ihm zum Nachtisch des Mittagessens servierten Kirschpuddings ohne die von ihm vermisste Vanillesauce: Warum?

Jetzt setzt man sich schon wieder gern in den Schatten. Wo die Brise durch Millionen kleiner Birkenblätter streicht. Bei einem frühmorgendlichen Spaziergang entlang des Bundestagsufers waren die Dolden an den Kastanienbäumen dort malvenfarben aufgeblüht. A rare sight. In Zürich stand der Baum auf dem Vorplatz des Studios noch kurz vor der Vollendung. Als ich zwei Jahre zuvor schon einmal auf Montage gewesen war, hatte ich Yves, den getreuen Yves, nach dieser mir selten und kostbar erscheinenden Blütenfarbe gefragt — ob dies eine spezielle Kastanienart sei? 

»Der blüht so, in dieser Farbe, weil Beda das will.«

Es gibt so einen Baum, allerdings ist er noch jung und seine Äste reichen kaum aus, um wirksam Schatten zu spenden, auch bei mir draußen an der Uferpromenade. Von wo aus die Fährschiffe über den sogenannten See abgehen. Dort kann man, an den Wochenenden, eine unterhaltsame Mischung aus Gästen aller Art studieren. 

Ein Waschhaus gibt es auch. Zumindest was die Abteilung für Herren anbetrifft, sollte man sich beim Betreten des für deutsche Verhältnisse gut in Schuß gehaltenen Innenraums aber auf eine Sonderbarkeit gefasst machen. Dort tagen, gleich hinter der Bezahlsperre und hier direkt in dem von außen nicht einsehbaren Bereich um das Pissoir einige Männer rings um einen Monobloc-Gartentisch aus weißlichem Plastik und spielen Schach. Tritt man als Neuzukömmling herein, wird man freundlich, aber latent offensiv abgeschätzt. Es stellt sich heraus, dass es sich um Angehörige einer Generation von Hubert-Fichte-Lesern handelt. Insbesondere die Palette scheint ihnen wegweisend. Und so fragen sie, wer das Buch kennt, wird sich an Jäckis Erlebnisse dort in dem Hamburger Nachtlokal erinnert fühlen, ob man »Die Uhr aufgezogen wolle«.

Der humorige Kapitän des Ausflugsdampfers draußen, von dem ich neulich schon schrieb, akzentuiert die Frage, ob nun bewußt oder unbewußt, aber auf jeden Fall passenderweise mit einem dreifachen Tuut.

Die Krakauer mit Senf ist ganz okay. Alle jammern über den Lindenstaub.

 

Dominus providebit

Im Äther weben die Düfte von Kiefernharz und Boden. Der Flieder blüht in seinen Farben. Zu zweit rollen die Nachbarn eine raschelnde Topfpalme auf die Terrasse. Damit die auch mal die Sonne sieht.

Sände. Ins Strandbad ziehen sie ein, wie bewaffnet mit Wurfzelten und Schirmen. Unaufhörlich lappen die seichten Wellen des Wannsees am Land. Gestern noch, auch das ist Berlin, saß ich mit Eugenio Alphandery im Schatten eines Gingkobaumes. Der herrliche Greis zeigte mir eine seiner toskanischen Zigarren, deren Tabaksblätter, wie er betonte, seit jeher von toskanischen Mägden auf deren bloßen Schenkeln gerollt werden. 

»Und ich hoffe, dass die zuvor ein Peeling gemacht haben.«

»Oder womöglich ist das ihr Peeling«, sagte ich.

Herzliches Gelächter. Ja ja, der Sommer. Was der erst aus uns macht.

Und wenn die ganze Welt aus Kirschen wäre—wohin bloß mit den Steinen?

Disco Devil

Unter sich bezeichnen die Schweizer unser Land als den Grossen Kanton. Noch niemals zuvor in meinem Erwachsenenleben war ich so lange in der Schweiz gewesen. Vor allem hatte ich noch nie zuvor so viele Tage als Gastarbeiter für sie arbeiten dürfen. Das mit dem Kanton war nur ein Teil vom Geheimwissen, ich hatte über die zwei Wochen noch einiges mehr davon ansammeln können. Denn mit einem Mal, ich kann den Moment der Öffnung präzise benennen mit dem Abend, da ich zu dem Buffet eingeladen worden war, hatten sich selbst diejenigen von ihnen, die ich, beispielsweise Beda, schon länger nun als zwanzig Jahre kannte, sich mir als zutraulich gezeigt. Und das, wie es mir Jan einst über die Funktion des Geschlechtsverkehrs für Beziehungen beigebracht hatte: veränderte alles.

So weiß ich nun, analysiert anhand eines zwar kleinen, jedoch für mich repräsentativen Samples von Schweizern aus Zürich, dass deren abhaltende Haltung aus dem Hineingeborensein in ein Volk von Tourismusbetreibern sich verstehen läßt: »Lass ja niemanden, der bei dir zu Gast ist, in dein Herz, denn du wirst ihn verabschieden müssen; und wahrscheinlich nie mehr wiedersehen dürfen.«

Nach alldem, was wir danach noch miteinander erlebt hatten, ging mir dieser Spruch nicht mehr weg. Ich sah sie, meine schweizer Freunde, von da an in einem neuen Licht. Verbunden damit, sie nie an meinem Verlustigwerden leiden lassen zu wollen.

In der Bahn dann, wir hatten soeben die Grenze auf badisches Gebiet überquert, schaute ich durch die Fenster auf die Spargelplantagen. Auf grünende Bäume. Und allzu bald änderte sich auch in dem ununterbrochen dahinfahrenden Zuge der Ton, so dass ich mich nun endlich zuhause angekommen fühlen musste. Doch fühlte ich einen inneren Abstossungsprozess. Ich hatte, ganz klar, im Paradies gelebt für zwei Wochen. Was mich jetzt erwartete war die Heimat, war Deutschland, es war der Grosse Kanton, aber: warum bloß konnte ich diese Heimkehr nicht als eine solche empfinden? Warum war mir, innerlich, eher zumute nach einem einzigen, heillosen Saubannerzug?

Bei der Einfahrt nach Esseda spürte ich die Frühlingsluft. Und Friederike eröffnete mir, dass die Mume gestorben war — vermutlich, denn sie hatte am Morgen eines der uns wohlbekannten Kopftücher im Container für Plastikabfälle gefunden (und zum Beweis fotographiert.)

Immerhin also sachgerecht entsorgt. Wir fragten uns natürlich, ob es jetzt spektakuläre Trauerrituale dort in der unter uns gelegenen Wohnung geben würde, die ich mitschreiben könnte. Ihre uns vertrauten Plüschpantoffeln standen allerdings wie eh und je vor der mumischen Wohnungstür.

Es schlossen sich daran an die herrlichsten Tage. Ich stand ja noch immer sehr stark unter dem Eindruck meines Hausbesuches bei Lee Scratch Perry in der Wallfahrtsgemeinde Einsiedeln. So saßen wir tagelang auf dem Balkon, tranken Campari und lauschten den alten Aufnahmen, die er noch in seinem Black-Ark-Studio auf Jamaika produziert hatte.

Lucifer, son of the mourning/I‘m gonna chase you out of earth!

Die Schweiz steht auf der Tabelle des Humanity Development Index auf dem zweiten Platz. Übertroffen hier bloß noch von Norwegen. Die Bundesrepublik Deutschland folgt auf Platz 3. und zwischen der Schweiz und dann Deutschland kommt, wie es scheint, sehr lange nichts. Von daher will ich mir gar nicht vorstellen, wie es in den Vereinigten Staaten zugeht, denn die werden auf elfter Stelle geführt. Ich hatte diese Liste erst nach meiner Abreise entdeckt, ansonsten wäre ich £$P wahrscheinlich noch einmal ganz anders entgegengetreten. Jamaica steht ja eher auf einem dreistelligen Platz im HDI. Er, Lee Scratch Perry, ist ja nach all seinen Fahrten noch immer er selbst geblieben, wie es mir schien. Und dass er nun dort in den Bergen lebt, irgendwann auch dort sterben wird wahrscheinlich, das muss ihm doch wie ein Wunder erscheinen, oder? Wie dieses Wiedergeborensein, von dem er bisweilen spricht.

Bei der Heimkunft in Berlin: Immerhin Hauptstadt der Kastanienblüte. Und in den Straßen des Bergischen Viertels blüht der Rotdorn. Das weckt Erinnerungen an die Sommer auf Gut Ostergaard in Steinbergkirche, eingebettet in die Rapsfelder rings der Geltinger Bucht. Nachts dann die Nachtigall ab ein Uhr. Hat wohl noch immernoch keine gefunden. Wir zählen schon Mai! Im Aquarium des kleinen chinesischen Restaurant, das es seit mir unwirklich scheinenden 25 Jahren schon geben soll in meinem Viertel, dreht ein Schulbushaft (amerikanisches Modell) gefärbter Fisch seine Runden um eine gefühlvoll winkende Anemone, die wie ein Wischmopp ausschaut.

Wahrscheinlich, dachte ich bei mir, war der beste Satz, den Bret Easton Ellis bislang verfasst hatte, doch der letzte in Glamorama.

Und eigentlich war ich wie dieser Fisch.

Schale Chüpli Stange

Ein Bildschirm verstellt mir die Sicht nach draußen. Beinahe war ich versucht, das geliebte ß durch ein ss zu ersetzen. Niemand hatte mir gesagt, dass es in der Schweiz andere Tastaturen gibt. Ganz kurios: mit zwei übereinander angelegten Tasten für die Umlaute. Einer eigenen Taste für das ç. Und das ß ist eben nicht vorgesehen. Das mußte mir erst eingerichtet werden. Dafür kam eigens ein freundlicher Techniker.

Ach, überhaupt die allgegenwärtige Freundlichkeit. Obzwar oder obschon uns neulich erst in einer nächtlichen Szene vor einer Bushaltestelle ein Fan der Grashoppers androhte, jeden Anhänger deutscher Mannschaften totzuschlagen »So bin ich halt.« Ohne Ausrufungszeichen. Nicht ungefährlich also, bei allem Komfort.

Der aber zeigt sich als immens. Heute war ich beispielsweise Zeuge einer Begebenheit, als eine Frau der Kellnerin 70 Franken als Trinkgeld zu geben bereit war. Diese aber lehnte die Gabe freundlich dankend ab. Ich fand mich zwiegespalten, weil ich selbst diese Franken nur zu gern eingesteckt hätte. Allerdings bin ich jetzt schon so weit helvetisiert, dass ich mir die Forderung versagte, weil ich ja keinerlei Leistung erbracht hatte, um dies Trinkgeld verdient zu haben. Als ich Enea später von meinem Erlebnis erzählte, sagte er »Welcome to Switzerland.«

Ich will vielleicht nicht mehr nach Deutschland zurück.

Das Buffet

Zu Mittag fielen dann erste Tropfen. Und durch die geöffneten Fenster wehte der Duft des Petrichor herein bis zu uns hinauf in den zweiten Stock. Man hatte mir angekündigt, dass es zum Nachtessen ein Buffet geben würde, hier, im Studio. Das Ganze wurde immer und immer wieder erneut angekündigt, so dass ich es bald nicht mehr erwarten konnte, bis es endlich so weit war.

Dann, kurz vor achtzehn Uhr an diesem Tag, kamen, leise auftretend, zwei Frauen zu mir in den Raum. Man isst hier um diese Zeit zu Abend. Man isst ja auch um 12 Uhr zu Mittags, und das zweite Frühstück heißt, der Uhrzeit nach z‘nüeni.

Der Computerschirm wurde weggestellt, das Telefon auf den Fußboden geräumt. Die eine entfaltete eine bestickte Decke, die andere hatte schon die Gläser zur Hand. Käse, Leberkäse, ein Tomatensalat, saure Gürkchen, sowie einige Brote — hell und dunkel gebacken —, wurden rings um die Vase mit Feldblumen aufgereiht.

Im Kreise der Mitarbeiter wurde dann zu einem Schweizer Abend willkommen geheißen. Wir fassten uns, sitzend, einander an der Händen, und alle anderen sangen das Schweizer Lied, dessen Text ja, wie ich da noch nicht wusste, einst von Johann Wolfgang von Goethe, und das nicht ohne Fehler, verfasst worden ward.

Dazu gab es Rotwein aus Italien. Nach zwei Stunden des gemeinschaftlichen Schmausens stand Beda auf und rief: „Auf, schaffe! Sonst bleiben wir sitzen.”

Beinahe so rasch, wie auf meinem Schreibtisch das Buffet entstanden war, wurden seine Reste auch wieder fortgetragen.

Die Frösche quakten wie gewohnt, bis ich zu Hause angelangt war.

Sunshine Reggae

Am Morgen nach dem Sächsilüüte brach der Sommer an. Der »Böögg« genannte Schneemann, dessen Kopf mit Pyrotechnik angefüllt worden war, explodierte 20 Minuten und 30 Sekunden, nachdem sein imposanter Scheiterhaufen in Brand gesteckt ward. Dem Glauben nach war darin eine Prognose für einen weniger guten Sommer zu erkennen. Aber seitdem hat es an jedem Tag 28° Celsius. Und die Stadt offenbart ihre Wunder.

Nächtelang glaubten wir, die schnarrenden Geräusche aus dem Landstrich hinter unserem Haus dürften von Vögeln stammen. Fremdartigen, schweizerischen Vögeln, die sich dort nachts in ihrem vermuteten Schlafbaume stritten. Bis wir dann heute früh eher zufällig herausfanden, dass es auf einer Wiese zwischen den Häusern einen Froschteich gibt, in dem hunderte Laubfrösche ihren Geschäften nachgehen. Quakenderweise. Was sich, aus hunderten Froschblasen herausgedrückt tatsächlich so anhört wie klapperndes Geschrei.

Der Fahrkarteautomat akzeptiert unter anderem Bitcoins. Der Fahrkartenentwertungsapparat knabbert präzise einen Streifen aus der Sechserkarte. Das hinterläßt einen mit befriedigenden Gefühlen. Man freut sich schon auf das Entwerten, wenn es bald schon wieder soweit ist. Morgen soll es angeblich Regen geben. Schaut gar nicht danach aus. Es liegt Schnee auf den Alpen.

On verra.

Dreadlock Holidays

Sehe das alles hier in einem noch einmal ganz anderen Schmelz angesichts meiner morgigen Abreise nach Zürich. Ich hasse das Reisen nicht, ich finde das Ankommen schön (und die Minuten dazwischen verdränge ich »wie ein Mann«.)

In Einsiedeln, nah bei Zürich, soll es einst eine Kapelle gegeben haben, die dann, aus bis heute ungeklärten Gründen, Feuer fing, und insofern bis auf ihren Sockel herunterbrannte, dass dort heute bloß noch die verkohlte Madonnenfigur steht. Man sagt, dass auch darin ein Grund zu finden ist, weshalb der Gott des Dub-Reggae, der sogenannte Upsetter, Lee Scratch Perry, mittlerweile dort, also in Einsiedeln, wohnt. Ich habe mit ihm eine Verabredung. Obzwar ich Reggae nicht mag. Aber er ist eine für mich interessante Person. Zeitweilig, so las ich, trug er um den Hals eine Kette, an der baumelten neben dem obligatorischen Hakenkreuz auch noch das Aral-Signet, sowie eines für »Peace«.

Am 20. März diesen Jahres wurde der Meister, der so ziemlich alles erfunden hat, wozu man heute tanzt, 82 Jahre alt.

Dieses, kaum viel mehr, besprach ich heute mit Anne, während auf dem Vorplatz die Greise flanierten. Plötzlich kam dort eine Dreiergruppe aus Sikhs auf uns zu. Die trugen Turbane in den Farbtönen Himbeere, Dark Lavendel und Neon spazieren. Da wurde es mir, als hätte ich nun endlich meinen Stil für die letzten Jahre gefunden. Anne wiederum zeigte mir auf ihrem Telefon ein Tutorial, wie man sich einen solchen Turban wickelt (man braucht einen Türknauf!)

Schon kompliziert.

Outpost

Eine Wolkenschicht hält vom Licht der Sonne die im warmen Teil des Spektrums wahrgenommenen Strahlungen zurück. Alles erscheint viel zu hell erleuchtet. Stählern. Mich stört es nicht, wenn Die Toten Hosen in dem Text ihres Songs »Wannsee« ihr lyrisches Ich davon fabulieren lassen, mir die Wasser vor dem Fenster anzünden zu wollen (vermittels einer darauf treibenden Schicht aus Öl à la Karl May.) Sind doch bloß Lyrics. Schön, dass es Dichter gibt. Es würde eine vielleicht nicht schönere, aber eine andere Welt, in der alle ihr Augenmerk auf die Dichtenden wendeten.

Der schwer herzkranke Kioskbesitzer hier hat aufgegeben. Der Betreiber des Russenhotels steht eigenen Aussagen zufolge kurz davor. Neulich haben ihm die Antifa-Aktivisten sämtliche Fenster an der Vorderfront eingeschlagen. Die waren in komplizierte, denkmalgeschützte Rahmen gefügt. Die Reparaturkosten sind wohl immens. Er schwört nun — zu wem? — die AfD nicht mehr beherbergen zu wollen. Er schwört ab. Vermutlich halt ist es zu spät.

Ich stelle mir ein Leben als Betreiber des Kiosks vor meiner Tür viel zu idyllisch vor. Die Tage über säße ich dort hinter dem Tresen und läse in dicken Romanen. Über dem Eingang stünde in einer Schrift wie Russisch Brot, aber vergoldet: O U T P O S T.

And Justice for All

Beim Eistütenlecken schauen Frauen wie Männer gleich blöd aus. Gilt übrigens auch für Cunnilingus. 

Dass Reichtum schön macht, beziehungsweise, dass vor allem die gutaussehenden Menschen zu Geld kommen, das läßt sich ganz einfach dabei feststellen, wenn man in der mittlerweile ohnehin teuren Hauptstadt einen Spaziergang von einem elenden Viertel, beispielsweise Moabit auf nach dem sogenannten Mitte unternimmt. Bald nachdem man die triste Schlitzfassadenblockarchitektur des Regierungsviertels hinter sich gelassen hat, scheinen dort die Wege und Gassen gleich weiter; insbesondere bei solcher Wetterlage auch sonnenduchflutet. Und das Volk hier trägt Mode. Die Frauen haben Baseballkäppies auf dem Kopf.

Hinhören tut weh — so man empfindsam ist. Denn es geht halt vor allem um Reiseaktivitäten, mit denen man vor anderen, denen das freilich egal ist, prunken will wie mit Orden. Es ist, so scheint’s, ein jeder zweite hier Kunsthändler; zumindest Ermöglicher, oder eine Fürsprecherin der Kunst. Eine größere Gruppe von Interessenten hat sich hier entschieden, in den Ideenraum Kunst hinauf zu diffundieren. Nicht traditionell, aus der Verzweiflung an der eigenen, materiell spürbar gewordenen Armut heraus, sondern aus Überdrüssigkeit, aus dem konkret verspürten Frust an der gläsernen Decke des eigenen Denkens heraus. Dort war immer nur noch Geld; und wenn man sich angestrengt hatte: noch ein bißchen mehr davon. Kunst also wie ein endloser Nachmittag in einer Badewanne, die einem die Ödheit des eigenen Daseins als ein dem Kapitalismus, eventuell Postfordianismus’ ausgelieferten Subjekts verschwiemelt. Angenehmerweise?

»Wer von Euch beiden ist kreativer?«

Es geht um das Smart System natürlich, das wird hier ausgebreitet und, ganz offen: diskutiert. Das Smart System verlangt nach einer andersartigen Methode, und von daher hört man an jedem Tisch hier eine Leier, die besagt, dass ein Verzicht auf Räumlichkeiten, das Hinaufladen der geistigen Kapazität der Galeristen in die Cloud mitsamt aller Werke das sogenannt Nächste Große Ding wird. Wozu noch Miete? Es wird gelogen, dass sich die digitalen Balken biegen. Die Verkrustungen abschüttelnd löst sich der Verein allgemein auf. Kann man sich den Kunstwerksbesitz in Form von Dateien vorstellen; eventuell an den Wänden des Sammlers dargestellt auf eigens hierfür exklusiv verplombten Supersizescreens?

Am Nebentisch sitzt Slavoj Zizek. Und Bobby Roth schreibt alles mit.

Klassischer Kitsch

Erspriessliches Selbstgespräch nach der Methode Johannes Gross in jenem Biergarten am Magnus-Hirschfeld-Ufer, der ja der teuerste ist in ganz Berlin — noch teurer als der am Schlachtensee —, weil man von dort aus einen unverstellten Blick genießen kann auf das am gegenübergelegenen Ufer gelegene Bundeskanzleramt. 

Vom besten Platz aus, unter schüchterner Frühlingssonne, hat man die Aussicht auf eine den Wahlberlinern gut vertraute Eigenheit der Architektur der Stadt: die Brandmauer. Wobei es sich um eine ungeschlachte Mauer ohne Fenster handelt, die einem dann den Ausblick auf das Wahre und vielleicht Schöne trutzig verstellt. Aber sie muß angeblich sein. Im Falle des Kanzleramtes, sein Architekt ist längst vergessen, wurde diese Mauer noch an ihrer Oberkante mit einem Dreiviertelkreis verziert, aus dessen Ausschnitt etwas hervorlugt, dass an ein nordrhein-westfälisches Gesamtschulprojekt aus den frühen Achtziger Jahren erinnert. Der Slogan der CDU hallt noch immer nach »Kann nicht schreiben, kann nicht lesen: Bin in Nordrhein-Westfalen zur Schule gewesen.«

Sowieso wirkt der gesamte Bau wie im Delirium entworfen. Vermutlich auch deswegen all diese Blöcke, die eine Gedankenflucht des Architekten sozusagen erden sollten. Und wie hineingebissen wirken auf uns Heutige die wie aus Verzweiflung in den Beton der Blöcke eingelassenen Glasfronten. Gut, in einem fensterlosen Bunker regiert es sich wahrscheinlich auch schlecht. Wobei die direkt nebenan benachbarte Botschaft eben dies behauptet. Dort gibt es keinerlei Fenster. Auf dem Tresor weht aber die schöne Kreuzflagge im Wind.

Und dahinter, so als wäre der zu Ostzeiten mühsam finanzierte Sockelstab nun endlich weggeschnitten, ragt die Kugel des in Wahrheit elend weit entfernt stehenden Fernsehturms der ehemaligen DDR heraus. Auf der silbrig schimmernden Kugel zeigt sich zu jener Stunde auch die Reflektion des Sonnenlichtes in Form eines Christenkreuzes, was, glaubt man dem ostdeutschen Urban Myth seinerzeit als Subverversion des eingesperrten Architekten und als Signal an seine eingesperrten Mitdeutschen galt.

Im Biergarten gibt es ausschließlich nur wenig attraktive Vögel. Hauptsächlich Spatzen und Stare (die vom nahen Hauptbahnhof einfliegen). Nicht einmal Amseln. Geschweige denn Rotkehlchen. Man ernährt sich von heruntergefallenen Brezelkrumen und Resten der Aufbackbrötchen, die mit den »Uohriginohl Biährgoarten Klassikern« verkauft werden.

10. April

Die Knospen am Kirschbaum haben sich über Nacht geöffnet. Das habe ich gespürt, noch vom Bett aus, ohne hinzuschauen. Im Schlaf war mir so gewesen, als ob ich selbst aufblühte. In meinem Traum hat mir eine Maus das Frühstück serviert. Sie brachte einen Haselnußkern für uns beide, den sie, das Messer sah ich dabei nicht, in dünne Scheiben schnitt wie von einem Laib. Mir schmeckte das ganz ausgezeichnet und ich fragte die Maus, woraus denn diese dünnen Beläge gemacht waren, mit denen sie die Scheiben belegt hatte.

»Von der Schnecke«, sagte die Maus.

Seasons In the Sun

Aus dem Waldsaum ragen die Arme von Kränen wie Siegerfäuste: Jetzt werden die Segelboote aufs Wasser gesetzt. Der Fährmann von nebenan hat Humor. Vor seiner ersten Fahrt am Morgen spielt er Engelbert Humperdinck über die Bordlautsprecher Pleeeeease release me, let me go! Um 7 Uhr 30. Hat er dann losgemacht, läßt er Udo Jürgens laufen, Griechischer Wein, was wirklich zum Bild passt, wenn sein strahlend weißes Schiff auf dunkelblauem Grund den Kurs auf Kladow nimmt.

Über dem Pflaster im Hof dreht sich raschelnd Laub im Kreis. Ab und an ist in den Ritzen ein winziger Krater aus Sand zu entdecken. Durch dessen Mündung geht es hinunter ins Reich der Ameisen. Und Lino hat die Maulwurfsvertreibungsanlage aus dem Keller geholt.

Der Easy Rider ruft. Wie einst der Monopteros. Am Wegesrand blüht schon der Blaustern. Mahonien stehen kurz davor. Überall Knospen.

»Hallo Andi, wie geht‘s; wie war der Winter?« Kurz durchzählen: wer von den Greisen aus unserer Runde hat anscheinend nicht überlebt?

Andi erzählt wieder mal die Geschichte vom Brand und der Wiederaufrichtung seines Traditionssaisonimbiß anno 1963 wie es seit neuestem mit dem Lötkolben eingebrannt auf der Kante des neuen Vordaches steht. Gibt jetzt auch Süßkartoffel frites. Ich denke an den geklauten Buddha, an die liegengebliebene Querflöte und natürlich auch an den Brand. Gemeinsam gehen wir ins nun schon dritte Jahr hier draußen.

Bei einem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf, schreibt Arno Schmidt.

The Chocolate Room, 1970

Meine Haut trinkt das Licht der Sonne. Es mundet ihr wie Kakao anscheinend, was sie mir durch ihre Färbung signalisiert.

Durch den Spalt fiel eine Wespe auf das Fensterbrett. Sie sah schon ausgewachsen aus, bewegte sich aber kaum und nur wie mühselig. Vermutlich war es für sie noch zu kalt. Ich weiß nicht: schlüpfen die in dieser Größe? Überwintern sie; wo? Auf dem Chitin zwischen den Flügeln wuchs oder lag eine Substanz in Form heller Fasern, so als schimmelte sie dort. Da ich nichts anderes zur Hand hatte legte ich ihr ein Lesebändchen hin aus einem Buch, auf das sie krabbelte. Daran zog ich das Insekt, das sich nun, da es aufwärts ging in die Höhe, festklammerte dergestalt, dass ich es auch durch glöcknerhaftes hin- und herschwingen mit dem Lesebändchen aus dem Band kaum abschütteln konnte. Dann aber stürzte die Wespe ab und wurde von der Erdanziehungskraft erfasst. Träge wie sie war, brachte sie es nicht mehr fertig, ihren Rotor anzuwerfen, um vor dem Aufprall noch durchstarten zu können. Wir werden uns wahrscheinlich wiedersehen.

Für eine Ausstellung in Venedig denkt Ed Rusha sich den Chocolate Room aus: Die Wände im Inneren des Pavillons werden schindelhaft mit Papieren verkleidet, deren Oberfläche mit einer Schicht Schokoladenmasse bedruckt worden sind. Man konnte den Duft schon von weitem wahrnehmen. Ameisen machten sich auf, um dort einzudringen. Was ihnen, aufgrund ihrer Winzigkeit durch allfällige Lücken und Spalte in der Konstruktion des Bauwerkes natürlich gelingen sollte.

Ich bin seit dem Ostersonntag von neuem sensibilisiert für das Thema. Wir waren zu Gast in einem Bienenhaus im Licht und Luftbad, wo uns eine herzhafte Imkerin einen sehr guten, weil auch von seinem Stile her leicht bizarren Vortrag hielt. Sie fing an mit dem Satz »Bienen gibt es in dieser Form unverändert seit 120 Millionen Jahren.« Da schwirrt einem der Kopf. »Sie dürfen sich Bienen nicht als Individuen vorstellen. Das ganze Volk ist das Individuum.«

Nach der unvermeidlichen Kostprobe des dort erbeuteten Honigs ging es über eine Weise hinüber zu dem Bienenhaus, in dem die Organe so einiger Individuen ihrer Arbeit nachgingen. Man durfte dafür einen sogenannten Schleier aufsetzen. Am Straßenrand vor dem Bienenhaus blühten schon Sträucher und die Bienen pendelten zwischen den duftenden Ballen und den briefkastenhaften Einflugsschlitzen ihrer Behausung. Eine Arbeiterbiene lebt maximal drei Monate, weil das Einbringen der Nektarernte mit all den Flugmeilen derart ermüdend sich auswirkt auf den Organismus dieses Organs des Individuums Bienenvolk.

120 Millionen Jahre an der Spitze einer Evolution.

Osterspaziergänge

Mein Mantel riecht noch immer nach dem Osterfeuer, das wir in Riedberg beschaut hatten; von dort aus gab es einen tollen Blick auf die Skyline. Ein Retortenviertel. Ich finde die Idee eines Retortenviertels eigentlich net so schlecht. Von dort aus, von Riedberg aus, geht der Blick weit über den nächtlichen Fluss, er zeigt die Skyline.

Die Bauten dort, ich nehme mal an, es gab dort zuvor kaum Häuser, sahen insgesamt aus, als sei dies gesamte Viertel aus einem 3D-Drucker geboren. Da war ein Greis, er behauptete, Banker gewesen zu sein. Und ich fragte: »Bad Banks gesehen?

Er, freilich: »Ja.«

Und ich: »Stimmt das so?«

Er: »Alles genau so.«

Angeblich ist dieser Mann, der angeblich Jahrzehnte gearbeitet hat für diese Bank, deren leuchtendenden Umriss wir anschauen können, währenddessen wir uns mit ihm unterhalten im Lichterschein des Osterfeuers, dort, in Frankfurt-Riedberg, ein Banker. Beiläufig räumt er unsere Bierflaschen ab und verspricht, neue zu holen. Die Flammen des Feuers nehmen uns in Beschlag. Kurz drängt er sich noch herein: Ich hab ganz plötzlich einen Termin in Fulda!

Die Pfandflaschen sind fort. Er auch. Es ist alles Betrug.

Das Flimmern der Tage

Mit den Wurstbroten und einem Stück vom Apfelkuchen gab ich Friederike am Morgen auch den Text für die Metamorphosen mit in der guten Hoffnung, dass sie mir ein Redigat gönnen wird. Wird sie. Schmidt hat, das war freilich zu einer anderen Zeit, die ideale Ehefrau des Schriftstellers als Kombination aus Schreibmaschine und einem Geldautomaten definiert; those were the days.

Ein Redigat unter Liebenden ist natürlich eine heikle Angelegenheit; heiklissimo sozusagen, in dem Geist meiner Zeit. Und aber dennoch bin ich gespannt auf ihre Striche. Meiner Erfahrung nach findet der sehr gute Lektor ja exakt diese Stellen, die ich selbst schon beim Wiederlesen verzichtbar fand, oder schlampig geschrieben, aber dann, aus Schlampigkeit, sozusagen stehenließ, allein aus dem Grunde, weil sie dort schon so schön stehen wollten. Aus Entkräftung auch oft. Nicht zuletzt weil das im Feuilleton und in artverwandten Sektoren geforderte Durchgearbeitetsein von Texten mir halt zu bäckersmäßig klingt im Hirn.

Apropos: ich werde am Nachmittag ein Hefezöpfle anfertigen, das sich, wie es heißt, gewaschen haben soll. Aus den Teigresten wird für die Mume ein dies noch von mir einzufärbende rote Ei umkränzender Sockel gebacken, den wir ihr dann am Sonntag vor unserem Kirchgang nebst einer kyrillisch beschrifteten Karten überreichen wollen. So will es der bulgarische Brauch, angeblich. So soll es denn sein in unserer Wirklichkeit.

Im Geäst des Kirschenbaums, heute früh, als niemand dort war, den Tau von den Wiesen zu lesen: Annäherung eines Amselpaares. Lohn des Gesangs eines Amselhahns in der Frankfurter Innenstadt.

Orra Perkins

Karfreitag in Frankfurt: Im Hinterhof schallt leise Rapmusik. Und es dröhnen die Flugzeuge.

Zum Frühstück brieten wir uns die aus Zürich mitgebrachten Enteneier (eingeführt klingt schräg.) Wie kann es sein, dass eine solche Köstlichkeit nach einer Verordnung in der Europäischen Union nicht gehandelt werden darf? Der Geflügelhändler auf dem Wochenmarkt schüttelte darob mit dem Kopf; aber nur milde, freilich, denn er freute sich ja gleichermaßen über diese ihm dadurch eröffnete Möglichkeit eines, wenn auch kleinen, Exportgeschäfts.

Gleich als ich zum ersten Mal, das war im Brown‘s Hotel in Mayfair, dem ältesten Hotel in der Stadt, wo auch schon Agatha Christie nota bene ihren High Tea einzunehmen gepflegt haben soll, gebratene Enteneier zum Frühstück bekam, war mir klar, dass die Eier von Enten nicht allein von ihrer Füllmenge her denen von Hühnern sozusagen haushoch überlegen sind. Der Grund liegt vor allem in einem bei den Enteneiern vergleichsweise höheren Fettgehalt in der Masse des Dotters (12%.) Die Eierspeise mundet ungleich cremiger (im Brown‘s werden sie mit Portulakgemüse und in Nussbutter gewendeten Shrimps serviert.)

Den restlichen Tag über werde ich einen Text abfassen über das Tagebuchschreiben, der in den Metamorphosen erscheinen soll. Herr Müller-Schwefe wartet schon. In beinahe weiser Vorraussicht habe ich mir dieses Mal schon im Vorwege die maximale Textlänge schriftlich bestätigen lassen. Nicht dass es wieder Ärger gibt wegen Übersatz.

Im Volkshaus am Helvetiaplatz in Zürich-Aussersihl

Dort sitzt es sich natürlich sehr gut. Beda präsentierte und währenddessen es draußen eher lustlos zu regnen schien (der Wochenmarkt auf dem Helvetiaplatz war des Karfreitags wegen vom Freitag auf den Gründonnerstag zurückverlegt worden außer der Reihe), besprachen wir, die wir drinnen und dort auf dem wärmenden Heizungskasten am großen Fenster Sitzenden, die direkt anstehende Fotoproduktion. Denn es ist ja nicht mehr lange hin bis zum Sechseläuten, dem einzig autochthonen Feiertag der Schweiz. Dann wollen wir – mittlerweile sind unsere Kunden auch der Meinung: müssen wir die Sprengung des sogenannten Böögg, einer Art Schweizer Burning Man Spektakel – bloß halt viel älter; von daher auch traditioneller (»währschaftig«) –, konkret: eines mehrere Stockwerke hoch aufgeschichteten Scheiterhaufens mitsamt dem an dessen Spitze montierten Mannes aus Rinde, der in seinem Inneren aber ganz und gar mit Pyrotechnik ausgestopft wird – vermutlich handelt es sich also um ein mit Farid Bang vergleichbares Modell – in noch nie zuvor dagewesener Weise von Fotografen fotografieren lassen.

Gut, als das dann vom Tisch war, die im Volkshaus natürlich sehr schön sind, weil dort, im Volkshaus ja sogar die Flurwände mit schottisch kariertem Flanell bespannt sind, sprachen wir beim Stanser Ziegenragout (»Giggli«) noch lange über die Osterhasen. Die Schokoladenhasen sind ja in der Schweiz ein veritabler Wirtschaftsfaktor, eine Commodity, von daher kennt sich jeder Schweizer damit aus wie bei uns in Deutschland unter Deutschen vergleichbar mit dem Kurs der Deutschen Bank, oder dem Preis für einen VW.

Beda nun, als Innerschweizer, dort aus Stans, ist nun freilich ein eher untypischer Schweizer. Er riet mir zum Kauf des ultraklassischen Hasens bei Max Chocolatier. Die von mir favorisierten Häsli bei Läderach kannte er gar nicht — oder wollte sie nicht erst wahrhaben! Die Studiohilfe pflichtete mir allerdings, wenn auch verstohlen bei. Auch sie wußte also das formschöne und irgendwie animierend wirkende Modell »Cleo« von Läderach zu schätzen, das es in diesem Jahr obendrein noch in dem Sonderaroma Himbeere gibt.

Worauf sich alle einigen können: Sprüngli*. Na gut, wenig überraschend. Aber so ist es halt dort, unter Eidgenossen. In der Schweiz.

*Die in dieser Saison mit einem weißen Hasen mit Maracuja-Geschmack gegen den Läderachschen Himbeerbomber zu punkten trachten. Da rätsche ich freilich: »Hopp Sprüngli!«

Im Café Grundmann

Durch Leipziger Wesen sollte ich schlußendlich genesen. Am Palmsonntag war dort das Wetter genau so, wie es der Brauch verlangt. Die Stadt hatte sich seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr, der von seinem Charakter her mit einer Stippvisite vergleichbar gewesen war, stark verändert. Vieles, vor allem die Atmosphäre und wie die Einwohner sich kleiden, erinnerte mich jetzt an ein Berlin vor zwanzig Jahren, das ich noch gekannt habe, das aber seit nachfolgend dem Jahr 2008 unwiederbringlich verschwunden scheint.

Auf Fahrrädern fuhren wir durch den Clara Zetkin-Park, wo auf der Brücke viele Menschen saßen, bis hinunter nach Connewitz, wo wir uns auf der Laderampe des legendär gewordenen Rewe-Markts eine Vita Cola teilten. Die schäumte lebhaft und hatte ein zitrisches Aroma. Von den Gebäuden her ist vieles schon fertig, manches aber zum Glück noch nur halb, so dass ich noch gedankenlösende Lücken fand im Text dieser Straßen; dort wieselte meine Fantasie hinein. Ganz leer, es war schließlich Sonntag, war der Platz vor dem imposanten Tempel des Bundesverwaltungsgerichts. Verwaltung mit L—als Eselsbrücke, dass Du nie mehr vergisst, wo das Bundesverwaltungsgericht seinen Sitz hat.

Vor dem Maître sitzend, einer Leipziger Paris Bar, und später dann eben auch noch im Café Grundmann sprachen wir beim Schnitzel über die Zeitumstellung. Warum hat die, wenn schon, im Schlaf stattzufinden? Tags müßte das angesagt werden, mitten im Tag. Beispielsweise zur elften Stunde. Wie eine Schweigeminute dergestalt, dass es beinahe jedem, der dann das Zurückspringen seiner Displayuhr vor Augen geführt bekommt, oder gar noch selbst am Kronrädchen schrauben muß, bewußt gemacht wird, dass in diesem Moment nun die Zeit von uns neu eingerichtet wird. Und wenn es einem dann abends noch fühlbar anders licht erscheint, dächte man an den Moment, da die Stunde geraubt wurde, anders zurück.

生き甲斐

Malakoff sollte mich heilen. Doch als die Stunde seines Konzertes unwiederbringlich nahe gerückt war, fühlte ich meinen Körper noch immer nicht annähernd hergestellt an meine Form. So blieb ich, obschon des Liegens müde, hier.

Nachdenken, so gut es ging, über den Zauber des live. Könnte ja »My First Piano« einlegen, abspielen lassen, hören — simultan zu der Stunde, da er es den anderen vorspielte — doch würde das nicht das selbe; warum? Zeitigen war hier ein passendes Wort. Manchesmal hatte ich die Tagesschau um 20 Uhr verpasst, um sie mir dann, zu einem nachgerückten Zeitpunkt, aus der Mediathek vorführen zu lassen. Ungleich schal war dabei mein Genuß gewesen. Gefühl der Konserve allein durch mein Wissen, dass mir all dies vor soundso vielen Minuten noch live gesendet worden wäre, wenn nicht. Hätte können — ich als ein Satellit war zu spät aus dem Kernschatten aufgetaucht für das Signal.

In Der Stunde zwischen Frau und Gitarre erzählt Clemens J. Setz von der natürlichen Faszination seiner Protagonistin für Livesendungen. Ich habe das Phänomen damals, bei meiner ersten Lektüre, als zwar fremdartig, dabei aber nicht unangenehm, als ein zukunftsweisendes empfunden. Mittlerweile, es hat sich etwas verändert, verstehe ich.

Ich legte dann Horace Silver ein, That Heelin‘ Feelin‘, während Malakoff, gar nicht weit weg, sein Konzert spielte. Und wachte auf, die sogenannte Playlist lief ununterbrochen bis zum Sonnenaufgang durch meine nächtliche Bewußtlosigkeit mitsamt ihren Träumen hindurch zu: Kenny Rankin »Like a Seed«.

22=III

Endlich mal sieht es draußen so aus wie ich mich fühle: Nasse Flocken treiben durcheinander im großen Grau. Um die Augen herum schaue ich so aus wie der Zentralbankspräsident. Doch die Krise scheint überwunden. Meine Reparatur hat 14 Stunden gedauert. Man hatte mich eigens dazu in einen ungewöhnlichen Tiefschlaf versetzt. Könnte gerne noch weiterschlafen, aber was soll das! Ein Vogel, der Fieber bekommt, muss weiterfliegen und Körner finden, sonst wird er verhungern; bei dieser Temperatur kann es vor Anbruch des nächsten Tages so weit sein (zu spät).

Bisschen Ephedrin wäre schön.

Inner engineering

Es fing mitten in der Nacht an, genau nach vier Stunden: ich wachte schwitzend auf, dazu kam das Gefühl eines eingeschränkten Sichtfeldes (obwohl es dunkel war). In der Frühe dann ein Weh in den Knochen. Spannen der Haut. Wenn ich nichts zu tun hätte, wäre es gar nicht so unangenehm. Man schleppt sich. Fern vertraut, woran es liegt. Bin kein Kind mehr.

Aufwärts aus der Grube, kurzer Höhenflug dann zu Mittag, mit dem Genuss einer Knochensuppe mit Bandnudeln und Chili. Zwei Stunden später aber lagen mir die Lider wiederum schwer auf den Linsen. Es ging nicht mehr. Kurios, dass mich dann am meisten beschäftigt, von wem ich es wohl haben könnte; wer mich angesteckt hat. Scheint für mich ein Verbrechen, krank gemacht zu werden. Und dass ich mir nie Sorgen mache, weil ich davon ausgehe, am nächsten Morgen wieder gesund zu sein. Bloß schlafen müsste ich, dann wird garantiert alles wieder wie vorgestern sein. Und wehe, wenn nicht. Wehe wem? Mir.

Heumilch und Birkensäfte sollen mich heilen.

Frühlingsanfang

Über Nacht ist der See zugefroren. Auf das Eis fällt Schnee, vielleicht ist es auch Graupel, den man ja bloß aus dem Autoradio kennt.

Die meisten Menschen, denen ich je begegnet bin, denen ich je begegnen wollte, sind nun tot. Kein schönes Gefühl.

»Tod in Berlin«—Wie dünn Der Spiegel geworden ist! Bei uns zuhause gehörte der Spiegel zum Guten Ton. Ich erinnere mich an ein telefonbuchdickes Produkt, mit dem ich mich im Klo einschloß, um mir in aller Ruhe die Holocaustgeschichten anschauen zu können. Wenige Fotos damals noch. Schwarzweisse Judenleichen. Ja, damals legte man noch Wert darauf, dass Bad und Klo in getrennten Räumen untergebracht sind.

Spatzen, eigentlich Sperlinge, kommen anscheinend erst dann angeflogen, wenn es sich lohnt. Seitdem ich meinen Balkon zum All You Can Eat ausgebaut habe, fliegen sie andauernd an wie Easy Jet. Aber, auch hier wie die »Orangenfarben gefiederte Flotte«: können sie weder auf der Sitzstange der Futtersäule platznehmen, noch aus dem Meisenknödelgefängnisturm etwas picken. Spatzen sind unverwöhnte Abfallfresser. Sie nehmen‘s vom Boden. Hauptsache reichlich. Das wird auch im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße (sic!), mithilfe eines noch aus DDR-Zeiten stammenden Schaukastens plastisch gemacht. Dort heißt die Überschrift Vögel in der Stadt.

Nach einem so kurzen wie strengen (dafür liebe ich sie) Telefonat mit Friederike habe ich verstanden, dass man die Meisenknödel von ihren sie umgebenden Netzen befreien muss, indes die Vögel sie verspeisen können. Jetzt läuft‘s. Der Kleiber sogar überkopf. Am Abend war in dem Knödel eine Grube. Sah aus wie der Todesstern.

Supermarktologie

Wunderbar, wie sich rein durch die Lektüre eines Buches meine Wahrnehmung verändert. So japanisch hier. Im Rewe war alles voller Hasen. Eigentlich war ich zum Kauf antibakteriell beschichteter Schwämme gekommen, doch was sahen meine vom Katerfrühstück mit Christian Boros noch ganz glasigen Augen: die Zahnfee von Playmobil.

Die Zahnfee hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Das heißt im Grunde gar nicht, denn als ich noch Haide war, gab es keine Zahnfee. Meinen ersten ausgefallenen Milchzahn hat mir mein Vater auf ein Stückchen Watte in einer Schachtel Welthölzer gebettet. Und dorthinein kamen dann auch alle anderen.

Die Zahnfee als Modell einer Idee wird von Playmobil hergestellt in Form einer leicht untersetzten, blondhaarigen Frauengestalt mit grünlich irisierenden Libellenflügeln. Die scantily clad nubile hat B-Körbchen, ums Dekolleté (V) hängt ein Amulett in Form eines Backenzahns. Rock ist mini in weiß, ziemlich thothaft, eher ein Gürtel, sie trägt nichts drunter — natürlich, unter Elfen braucht es keiner Unterwäsche. Bißchen viel Make-up vielleicht. Keulenförmige Oberarme, arms in the style of her aera* — macht freilich Yoga. Beigegeben sind ein Zauberstab, mit dessen von einem Stern gekrönter Spitze sie den Verlustschmerz ausgefallener Milchzähne lindert. Sowie ein aufklappbarer Schrein, ebenfalls in Backenzahnform, der an seiner Vorderseite mit dem selben Emblem verziert wurde wie auch der zahnweiße Minirock der Fee. Es handelt sich dabei wie selbstverständlich um einen Stern.

Mülltüten vergessen. Aber was funkelte dort beim Betreten der S-Bahn auf einem vom Sonnenlicht beschienenen Sitzplatz? Eine Münze (fünf Zloty). Zahnfeeglaube hat prompt gewirkt.

* Douglas Coupland

Im Reich der Sinne

Ein prachtvoller Tag, von seinem Anblick her. Die Sonne strahlt, der Himmel auch, und der Spiegel des Sees gibt das in einem tiefdunklen Blau wieder. Hinaus konnte ich allerdings nicht, denn es ging ein eiskalter Wind. Vom nächsten Baum aus leuchtete die geschwellte Brust des Gimpelhahnes pfirsichrot. Der wollte freilich zurück an die Futtersäule und zieh mich, so als hätte ich mich zu verziehen, wann immer ich mich davor stehend am Fenster der Balkontür zeigte.

Ich ließ mir ein Bad ein. Und las, bis das Tageslicht versiegte, in A Tokyo Romance, einem Buch von Ian Buruma, in dem er sich an seinen jahrelangen Aufenthalt im Japan der Siebzigerjahre erinnert. Da geht es gleich zu Anfang um die Farbenwelt der fremden Stadt. Unter dem azurfarbenen Septemberhimmel stellt der Fremdling fest, dass die ihm bekannten Holzschnittgrafiken der Japaner wohl nicht, wie von ihm angenommen, aus künstlerischen Gründen in poppigen Tönen gedruckt worden waren. Jetzt sieht er, dass die Lichtverhältnisse dort in Tokio tatsächlich so sind.

Ich stellte mir vor: ganz ähnlich wie hier, wie heute nur, an diesem Tag.

Er beschreibt ein Café, das hieß Versailles und befand sich in einem Souterrain in einer hektischen Gegend. Die Einrichtung der fensterlosen Räume bestand aus vergoldetem Louis XIV-Mobiliar, Kronleuchter klimperten, die Wände bestanden anscheinend aus Marmor und halb erblindeten Spiegeln. Aber in Wahrheit war dort drunten alles aus Sperrholz und Plastik gemacht. Wie er erzählt, saßen die Japaner stundenlang im Versailles und dazu spielte vom Tonband Richard Claydermann.

»Schau«, sagt zu ihm ein Freund, ein Amerikaner, der schon ein paar Jahre vor ihm nach Tokio gezogen war »Um in Japan leben zu können, mußt Du Romantiker sein. Jemand, der sich selbst zu kennen glaubt, wer sich nicht in Frage stellt, oder über seine Bestimmung rätselt, wird es hier nicht aushalten. Die radikale Andersartigkeit der Kultur wird bald unerträglich. Für den Romantiker aber, der sich den Variationen des Möglichen aufgeschlossen zeigt, steckt Japan voller Wunderbarem. Du wirst zwar niemals ein Teil davon werden. Aber genau das wird dir zur Freiheit verhelfen. Und Freiheit ist wichtiger als Nationalität. Hier kannst du nämlich zu dem werden, der du sein willst.«

Das Versailles gibt es längst nicht mehr. Ian Buruma vermutet, dort sei mittlerweile eine Filiale von Starbucks eingezogen. Oder aber das gesamte Gebäude exisitiert schon nicht mehr. Alles ist möglich. Denn hier, so der Autor, ähnelt Tokio auch Los Angeles. Er zitiert Christopher Isherwood, der einst, aus Berlin kommend, die Hinfälligkeit der Architektur von Los Angeles mit Befreiung empfunden hatte. Die Häuser sind nicht für die Ewigkeit entworfen, sie sind nicht für die Ewigkeit gemacht, weil auch die Menschen nicht ewig da sind, um in dieser verfallsgeweihten Architektur zu leben.

Badend fragte ich mich, ob diese eine Ähnlichkeit vielleicht daher kommt, dass Tokio und Los Angeles am gleichen Wasser gebaut sind. Am Pazifik, der wie ein blaues Lebewesen alles in sich hineinzieht, was in seine Nähe kommt. Vor meinem Fenster, der See wie ein Segeldrache, der flach am Boden liegt und niemals hochkommt. Auch wenn ihn, wie heute, der Eiswind zum flattern bringt. Die Abendsonne glitzernd darin. Amaterasu.

Call me by your username

Weiß auf den Flächen. Mit eineinhalb Kilogramm Körnermischung im Rucksack durch die Stadt nach Hause. Ich kaufe ja sogar mein Vogelfutter in Frankfurt, weil es so etwas Schönes wie die Samenhandlung Andreas in ganz Berlin nicht gibt. Eigentlich lebe ich dort. Zumindest im Geiste. There is no place like home.

Wenn man die Kunst wirklich liebt, so sehr liebt, wie ich, sagte mir einst Gerhard Merz, dann bleibt man bei jedem Pflastermaler stehen. Ich habe es ihm damals schon nicht geglaubt. Aber in dem Moment, da er es mir sagte, war es lustig und irgendwie auch schön. Also behielt ich es bei mir. Bis dann, wenige Monate darauf mir Malcolm McLaren auf dem Punkerkongress in Kassel noch seine letzte Weisheit anvertraute: »Gallery openings are the nightclubs of the 21st century«.

Am Mittwochabend dachte ich an beide, McLaren und Merz, als ich im ehemaligen Postamt in der Goethestraße (Berlin) bei Max Hetzler war. Gezeigt wurde eine Ausstellung der neuen Gemälde von Julian Schnabel und Albert Oehlen. Schnabel beherrscht, das fand ich dort heraus, die Kunst, sich einen schwer auszusprechenden Vornamen über den Abend hinweg merken zu können. Als wir uns sehr viel später in der Paris Bar verabschiedeten, sagte er »Goodbye, Joachim« zu mir. Zu Michael Michalsky, dem Modeschöpfer, der ebenfalls anwesend war, sagte Julian Schnabel »I’m glad that you’re gay«.

Aus der New York Times vom 13. März 2018

CORRECTIONS

An article on Friday about how tax cuts are affecting working-class voters in Ohio misstated the number of times Matt Kazee voted for Barack Obama. He voted once for him, in 2008.

An article on March 6 about the actress Olivia de Havilland’s lawsuit against the television network FX and Ryan Murphy Productions over her portrayal in a docudrama rendered incorrectly the name of a video game. It is Band Hero, not Hero Band.

An article in the march 3-4 edition about europe being colder than the North Pole misstated an effect of climate change. Melting sea ice in the Arctic is causing more snow to fall in Siberia, scientists say; there is not a »lack of snow« in the region. Also, a picture caption in the article, relying on incorrect information from the photo agency, gave the wrong location for a Jeff Koons sculpture. It is in Bilbao, Spain, not San Sebastián.

An essay on Feb. 23 about Iceman, a gay Marvel superhero, misidentified the author of a scene depicting a conversation between Iceman and another character, Kyle. The author is Christos Gage, not Marjorie Liu.

A review in the Feb. 10-11 edition about the book »Hippie Food«, by Jonathan Kauffman, misidentified the owner of Stonyfield Farm. It is now a subsidiary of Lactalis, the French diary company; it is no longer owned by Danone.

An article in the Feb. 3-4 edition about the actress Nina Hoss referred incorrectly to the role Ms. Hoss has in the play »Returning to Reims.« Her character is called Katy; she is not unnamed.

11.3.

Erster Zitronenfalter im Garten. Alle Fenster geöffnet. Brise wie am Sommerabend. Bloß nicht übermütig werden! Morgen hat mein Vater Geburtstag (75).

La femme de Djin

Bei Indern und Japanern schaut ergrautes Haupthaar schlicht am besten aus. Bei indischen Frauen wirkt es dann manchmal wie Marmor.

Und obwohl es in der Nacht zuvor noch Nebel gehabt hatte wie einst in den Verfilmungen von Edgar Wallace (Die Toten Augen von London), erwachten wir bei erwartungsvoll geöffneten Fenstern zum Konzert der Vögel grande.

Dann den sonnigen Tag im Bett verbringen zu dürfen: Luxus. Eis aus der Schale, gekühlte Getränke — der Winter ist ausgetrieben und kehrt nimmermehr zurück. Später dann zusammen Call me by Your Name anschauen, und währenddessen eine maximale Anzahl weicher Eier an den genau richtigen Stellen verspeisen zu können — geht es noch besser?

Na klar. Es geht ja immer noch immer noch besser. Beispielsweise dann Einigkeit zu erlangen, dass es der greisenhafte Darsteller des Greises ist, der uns als wahrer Star erscheint. Wie er den atmenden Fisch überbringt. Auch weil wir uns dann die Vorgeschichte seines Castings ausmalen können. Wie er das Fahrrad als repariert melden darf (und dabei werden drei Dosen aus Aluminium von Illy ins Bild gerückt, die es meiner Ansicht nach in jener Form in den achtziger Jahren auch in Italien noch nicht gegeben hatte, woraufhin sich ein Diskurs entspinnen kann, wie wir beide sind); später, er tritt dreimal auf, klassischerweise, zeigt man ihn ausruhenderweise im Grase. Und es geht über das eigene Ableben, den Tod.

Ansonsten ein sehr guter Film (Die Pfirsichszene!!!)

Dann heute aufgewacht bei dröhnendem Regen. Aber dieser eine Tag bei Sonnenschein und Wärme war ein Geschenk. Ausflug ins Araberviertel entlang der Huttenstraße. Die Greise diskutieren den Tatort: »Im Koma kriegst Du kein Wunschmenü.«

Wenig bis kaum beachtet: passiv rauchen müssende Hunde.

Wenn ich von Friederike besucht werde, halte ich es in Berlin ganz gut aus.

A New Error

Unvermutet auf Otmar Jenner gestoßen, der mittlerweile Science Fiction schreibt. Wir kennen uns aus seiner Kriegsreporterphase, Otmar behauptet sogar von noch viel früher her, aus einer Hamburger Diskothek. Er bittet mich, für seine Lesung zu bleiben, aber ich kann nicht, weil ich anderweitig verabredet bin. Zudem interessiert mich Science Fiction nicht. Und sein für mich denkwürdiger Auftritt in der Hamburger Aussegnungshalle, als er dem in einem Sarg unter einem Blumengesteck, das in Form des Logos der Zeitschrift GQ gehalten war, liegenden Marc Fischer versprach, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, war mir damals schon hinreichend science-fiction-mäßig erschienen. Sad.

Draußen blinkt der Oranienplatz blitzend blau, links und rechts der Fahrrinne nähern sich die Polizeibeamten in Riot Gear. Die Frauen, die anläßlich des Frauentages demonstrieren, schwenken Fahnen mit dem Logo des Kurdischen Widerstands YPG, aber das scheint hier toleriert. Schade, so wird keine der Fahnenschwenkenden Dramaqueens verhaftet und das Drama fällt aus. Tja.

An der Bushaltestelle wird der knapp zuvor abgefahrene Doppeldecker als Hurensohn verflucht. Na ja.

Oskar Roehler schreibt mir seine vernichtende Kritik an Untitled in einer SMS: Er findet die weibliche Figur (Julia Speer) nervig. Er charakterisiert sie als großmütterlich und hätte sich an ihrer Stelle »eine raumgreifende Blondine gewünscht«. Na gut.

Von einem — ausgerechnet lilafarbenem — Transparent an einer der von Gentrifikation akut bedrohten Fassaden grüßt eine blaßblaue Handschrift ins Nichts: »Es lebe der Frauenwiderstand von Afrin—Mit queerfeministischen Grüßen aus Berlin«. En marche!

In der Früh ein Gespräch mit dem Fachmann der Gartenfirma, die auf dem Nachbargrundstück die schönen Kiefern abholzen mussten. Er findet es bitter. Die alten Bäume waren kerngesund. Bitter vor allem halt, weil die Bäume weg mussten, weil sie dem neuen Besitzer nicht gefielen. Neue Bäume, auch wieder alte, sozusagen trinkreife sind schon bestellt und werden aus Hamburg mit dem Schwerlasttransporter angeliefert. Zuerst wird aber noch das Haus abgerissen. Die Erben lassen eine Tiefgarage bauen.

ثالوث الظلام

Luc Besson hat mir erzählt, dass er auf die Idee der Liebe als fünftem Element, das den Säulen der Gesellschaft hinzugefügt werden muss zwecks Rettung der Welt, durch sein Studium der Dunklen Triade gebracht ward. Der ja, neuen Erkenntnissen zufolge, der Sadismus hinzugefügt werden muss, um aus der Dunklen Tetrade den ultimativen Erfolgstypen hervorzubringen.

Die New York Times hat heute eine lustige Reisereportage von einem Mann, der in einer dieser unbekannten chinesischen Städte ein paar Klösschen verspeist und kurz darauf wird ihm fürchterlich schlecht. In einer Apotheke verlangt er nach Medikamenten, die geben ihm ein nachgemachtes Opioid, weil er Amerikaner ist, aber er hält es für ein Antidiarrhoikum, weil er die Schrift auf der Schachtel nicht lesen kann, das Zeug folglich falsch dosiert und stirbt. Keine Ahnung, wer den Text zu Ende geschrieben hat.

Aus dem Heidelbeergebüsch bricht ein Fuchs und fängt an zu sprechen. Er ruft: »Chaos regiert!«.

Bergab mit meinem Besten

Hermann Lenz hätte es, nicht nur vermutlich, Mit den Augen eines Schweizers übertitelt. Aber, und genauso ist es halt: Im Radio hörte ich im Taxi zum Aeroport noch diese Sprachmeldung, dass ab sofort den freilaufenden Katzen in der Schweiz ein Kastrationsgebot verordnet wurde, um den streunenden Tieren das allgemein verbreitete Leiden durch die unkontrollierte Vermehrung zu ersparen. Und gleich danach die Meldung, dass der Chocolatier Lindt-Sprüngli seinen Gewinn auf 450 Millionen Schweizer Franken steigern konnte.

Dann, nach etlichen, vor allem für mein Land, Deutschland, peinlichen Pannen landet der sogenannte Flieger mit uns allen drin in Tegel. Und gleich beim Hinauskommen (war beinahe beleidigt, dass ich von der hübschen Zollbeamtin mit der Maschinenpistole umgehängt nicht herausgezogen ward‘ aus der Masse der dieser Hauptstadt Entgegenströmenden), schaute ich auf die Misere wie sonst beinahe bloß in Afrika in eines der (wenigen) Klosettbecken: die Berliner, alles Menschen. Den meisten von ihnen ist es allerdings nicht (mehr?) anzusehen.

Selbiges dann im Busverkehr. Wie lustlos, wie geradezu anarchistisch gesinnt hier die Leute ihren Dienst ableisten, der ihnen doch nota bene die Miete bezahlt. Fand mich beinahe glücklich, als ich von den Dealern am Kleinen Tierpark umschwärmt mich fand.

Abends dann ein Gespräch mit Oda Scheps in der Volkswagen-Erlebnis-Lounge Unter Den Linden. Sie, eine Chopin-Expertin, hat die schönsten Lieder von Scooter eingespielt und trägt sie wohl auch live vor.

Wohlan! Währenddessen setzt draußen ein ausgesprochen matschiger Schneeregen ein.

Betrachtungen eines Politischen

Mit mittelmäßiger Laune zum Abendbrot nach Zürich geflogen. Im Grunde war es Demut. Die Schweiz ist, hier gleich nach Frankreich, die Nation, in deren Land ich am häufigsten zu Gast war in meinem Leben. Und hier ist alles, das vergesse ich, wann immer ich wieder in Deutschland heimkomme, heil. 

Der Effekt ist ein anderer, als bei einem Heimkommen aus Frankreich. Das wird mit der zum Verwechseln ähnlichen Sprache zu tun haben, aber es ist halt auch der look and feel der Schweiz, das mir ein extrem schlechtes Gewissen macht; alles irgendwie ähnlich; alles in einer irgendwie geglückten Variante von Zuhaus.

Ich kann hier an der Straßenbahnhaltestelle eine tättowierte Bergbauerntochter nach der richtigen Endstation fragen, und bekomme von ihr eine Antwort. Vor dem Späti, weil gerade die Sonne scheint, bittet mich der Spätibetreiber um Verzeihung, weil ausgerechnet heute sein Kartenlesegerät defekt ist und er nur Bargeld annehmen kann für seine Bedienung (er hält die New York Times neben der Frankfurter Allgemeinen in seinem Sortiment). Publikum und deren Ausdrucksweise aber ganz genau so wie vor den Spätis von Stuttgart, Cagnes-sur-Mer oder Berlin.

Später dann, als ich mit Il Gordo im großen Saal der Kronenhalle saß, bestellte ich die Bratwurst, für 30 Euro, die mir vom Kellner im weißen Kellnerjackett ohne ironisches Zwinkern mit zweimaligem Service aufgetan wurde. Die Ehrenanstecker an seinen Revers behielt er dabei ebenfalls an. Mir ist schon klar, dass das meiste hier mit dem Zahngold der toten Juden aufgebaut wurde. Und aus der Portokasse der Diktatoren und Steuerhinterzieher aus aller Welt. Ich weiß auch, aber darüber sprechen wir nie, obzwar unsere Freundschaft heute ins 23. Jahr geht, dass die Freunde des Il Gordo, die freilich allesamt Schweizer sind, mich auf Italienisch, auf Französisch und einer auch auf Rätoromanisch, im Eidgenössischen als Sauschwaben bezeichnen. Aber mir ist halt auch klar, dass von denen keiner seine Bratwurst in der Kronenhalle mit Karte bezahlen würde, wenn er sich das nicht mehr leisten könnte. Was unter Schweizern schlicht heißt, dass auf dem Konto noch ausreichend Franken liegen, um nötigenfalls die eigene Beerdigung zahlen zu können.

Problem der Schweiz: kaum Künstler. Aber die Vögel machen dieselben Geräusche. Es wird Frühling, zweifelsohne.

The Winner Takes it All

Später, beim Verlassen des Waldes, fand ich auf den grell erleuchteten Gehwegplatten das erste Tagpfauenauge in diesem Jahr. Es saß dort und hielt seine Flügel mit der Schauseite offen, ventilierenderweise. Sind das Sonnenkollektoren? Mein Vater hätte ihn, beim Anblick des Insekts, einen Metterschling genannt. Von ihm habe ich vermutlich meine Lust an der Sprache. Von ihm und von Arno Schmidt. Ich habe zwei Väter. Ich bin zwei Öltanks.

Im Wald: Ein Vogel bahnte sich zwitschernd seinen Weg durch den Parcours aus bloßen Stangen. Schnirren eines weit entfernten Spechts. Meisenmachos behaupteten ihre Plätze durch leuchtturmhaftes Tsitsi-Bäh. Nur die Krähen sangen noch das Winterlied. Einen anderen Text können die sich nicht merken.

Es muss um diese Zeit im Jahr gewesen sein, dass Ernst Ludwig Kirchner und die Artverwandten ihre Bilder malten - zumindest ihre Inspirationen dazu empfangen haben, mit den bläulichen Baumschatten und dem glühenden Grund. Im Gasthaus Grüner Baum hängen einige davon. Auf einem ist ein abenteuerlich ausgefurchter Weg hin zur Kirche auf dem Montmartre zu sehen. Ein anderes zeigt einen ländlich gekleideten Mann, der, mit einer Pfeife zwischen den Lippen, auf einer Stehgeige streicht. Ich bin wie einer dieser Wirtshausmaler. Meine Bilder werden niemals im Louvre gezeigt. Was ich malte, ist zu flüchtig gewesen, zufällig. Vielleicht kenne ich auch einfach die falschen Leute.

Beim Verzehr meines Beutelsbacher Filettopfes mit Spätzle stellt sich Behaglichkeit ein. Draußen noch immer die Sonne, die Glocke am Kirchturm schlägt um 12 Uhr nicht Geh aus, mein Herz, sondern einfach bloß Läuten. Mir ist das recht, da wird mir die Schwere des Gerätes akkustisch fassbar gemacht; nichts lenkt mehr davon ab, wenn der Glockenkelch gegen den Schwengel stößt.

Indes füllt sich der Gastraum mit Greisen. Am Nebentisch unterhält sich ein Vater mit seinem Sohne, dem er, das stellt sich während des Weinflaschenverkostens, des Durcheinanderbringens der Menüreihenfolge und etlichen Extrawürsten heraus, die von ihm selbst begründete Immobilienberatungsfirma noch zu Lebzeiten überantwortet hat. Aber der Sohn schlägt sich wacker. Zumindest klingt es danach. Der Vater, ganz in Bronze gekleidet, hat die Kopfform von Nick Knatterton. Und einen Mund wie ein Bankomat. Gleich spuckt er Scheine aus.

En attendant les Barbares

Ist vermutlich eine Generationenfrage, aber ich verspüre ein schlechtes Gewissen, wenn ich am Vormittag den Fernsehstream anwähle. Es erscheint Kapitän Blaubär, den gab es zu meiner Zeit als legitimer Rezipient der Sendung mit der Maus noch nicht; damals war es der tschechoslowakische Maulwurf, der mit seinem terrazzohaften Maulwurfshaufen und vor allem auch mit seinen piepsenden Geräuschen meine Ästhetik maßgeblich geprägt haben wird. Wenn ich mir dagegen nun den Käpitän Blaubär anschaue: schaut aus wie ein mittelprächtiger Wärmflaschenüberzug. Ich mache drei Kreuze.

Die Sonderausgabe der Tagesschau zum Abstimmungsergebnis der Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Großen Koalition beginnt pünktlich um 8 Uhr 50 mit der Nachricht, dass es zu einer Verschiebung kommen wird hinsichtlich der Verkündigung des Abstimmungsergebnisses. Die Sendung ist auf 40 Minuten angesetzt. Moderiert von der seltenen Kirsten Gerhard, es berichtet Bettina Scharkus aus Brüssel; in Berlin steht Tina Hassel vor einer Statue von Willi Brandt. Gegen 10 nach 9 lässt sie in ihre Rede einfließen, dass die Gerüchte besagen, die Abstimmung sei zugunsten der Großen Koalition verlaufen. Das nimmt freilich die Spannung. Another 20 minutes to go. Tina Hassel ist als Reporterin der alten Schule freilich just a camera in front of a camera. Mit einem nervös gemeinten Augenzwinkern raunt sie, dass auch Kevin Kühnert noch eine Ansprache halten wird. Doch, so gibt sie zu bedenken: bereite der sich zur Stunde noch auf seinen Auftritt vor. Durch diesen rhetorischen Trick entsteht bei mir unweigerlich ein von Tina Hassel induziertes Bild des nackten und schwer muskulösen Monsters namens Kevin, das unterdecks bei Kapitän Blaubär von diesem nur mühevoll und vermittels schwerer, ölverschmierter Ketten im Zaume gehalten werden kann.

Den Rest erspare ich mir. Die totale Zeitgenossenschaft ist halt leider nichts für mich. Am Freitag hingegen, auf dem Geburtstag von Nina, setzte sich zu später Stunde Malakoff noch an den Flügel, der dort glücklicherweise zur Verfügung stand, und spielte Anin Goldkind, wie ich es schon viele Male von seinem Album gehört hatte. Nur war es jetzt live, die Melodie entstand vor meinen Augen und in meinen Ohren. Ich habe seine Hände gesehen.

Chabos wissen, wer die Baba ist

Unser in liebevoller Arbeit zusammengestelltes Märzenstagsgeschenk für die Mume kam nicht so gut an wie von uns erhofft, berichtet Friederike. Das heißt: Man weiß es nicht. Hier ganz genau so, wie im bulgarischen Volksglauben beschrieben, handelt es sich bei der Mume um eine launische Dame, die zu besänftigen ein Wagnis bleiben wird. Dabei hatten wir doch, zumindest meinten wir uns in dieser Hoffnung bestätigt, mit unserer Geschenkekaskade im vergangenen Jahr schon einen schönen Schritt auf sie zu getan (hinsichtlich einer freundlichen Verständigung). Doch war es wohl so gewesen, dass nicht einmal die Mume selbst oder halt ihre Tochter die Türe aufgetan, um unser Geschenk zu diesem für Bulgaren wichtigen Tag entgegenzunehmen. Nein, es war eine uns bis dato vollkommen fremde Person, die dann beinahe grußlos im Flur der mumischen Mietung gestanden hatte, um die mit einem Märzenbändsel umgarnte Chocolatière nebst beigefügter Grußkarte mit einem imposanten Storchenbilde als Motiv entgegenzunehmen gekommen war.

Da frage ich mich doch, warum. Wobei es in Indien zu solchen Gelegenheiten heißt: A gift well given is a gift received. Und so bleibt mir der Trost, dass ich mit meinem Kyrillischen Fortschritte mache. Was sich uns bei der anstehenden Expedition in die Rhodopen vermutlich als hilfreicher erweisen wird als irgendwelche Verwandten der Mume dort, die uns dann letztendlich doch nicht zu sich nach Hause einladen würden, oder wenn, dann zu einem utopischen Preis.

Eine Brotscheibe mit noch sehr kalter Butter bestreichen im Übrigen: very zen. Ich tue das und gleite beiläufig in eine nipponische Vorstellungswelt: An jedem Morgen muss der schwere Fang des Schlafes an Land gezogen werden. Zwei Eichhörnchen jagen sich aufwärts, rundherum um einen Stamm.

森林浴

Die Erben des Nachbarn haben sämtliche Bäume auf dem Grundstück abholzen lassen. Auch den Alleebaum vor der Gartentüre. Die Kiefern waren siebzig Jahre alt. Die zu Walzen zersägten Stämme liegen festgefroren auf der weißen Erdoberfläche herum. Das jammervolle Bild begleitete mich fortan durch den Tag.

Bei Minustemperaturen friert am Ostbahnhof die Weiche ein. Die S-Bahnen verkehrten nur noch im 20-Minuten Takt und so stand ich, gemeinsam mit den anderen, auf dem schattigen Bahnsteig unter der Warschauer Brücke, bis endlich dann der Zug das Gesindel aus Bernau und aus Königswusterhausen herankarrte. Beinahe 25 Jahre in Berlin – ein Vierteljahrhundert! – und ich bringe es noch immer nicht fertig, »Du Fotze zu sagen. Denken kann ich es. Auch stimmlos vor mich hin artikulieren. Aber über die Lippen bringe ich es nicht.

Marie Antoniette sagt, wenn der S-Bahnverkehr zum erliegen kommt, sollen die Leute halt Taxi fahren.

Bis abends war ich voller Wut. Doch die klare Luft umfing mich, sodass ich nicht explodieren konnte. An der letzten Station fuhr dann ein Bus heran, doch nahm der Fahrer nun sein Recht auf eine Pause wahr. Wir, die draußen das Verstreichen seiner Pause erwarteten, konnten ihn in seinem Gehäuse aus Schummerlicht und Wärme anschauen, wie er, hinter dem Steuerrad sitzend, in einem Formularblock sinnloste.

Auch Berlin: Die Leute nehmen es hin. Man wandte ihm den Rücken zu, um sich zu unterhalten.

Später, beim Auspacken des Stifte-Etuis war die Tinte im Füller gefroren.

мартеница

Tröstlich, wenn sich bei stetig fallender Temperatur das Fernweh nach frühlingshafteren Gefilden um die Ecke stillen lässt. Im bulgarischen Supermarkt werden jetzt gleich in dem ansonsten leer geräumten Bereich hinter der Eingangstüre die hübschen Marteniza-Bändsel angeboten. Hierbei handelt es sich um miteinander verzwirnte Wollfäden in den Farben Rot und Weiß, an deren Enden sich winzige, aus dem selben Material geflochtene Püppchen befinden. Ab dem Tag der Martenizi sollen diese um die Handgelenke getragen werden, um die Ankunft des Frühlings herbeizubitten. Dann nämlich, wenn der erste Storch sich zeigt, die ersten Blüten an den Obstbäumen hervorplatzen, wurde, so der seit über 1300 Jahren währende Volksglaube der Bulgaren, die Baba Marta gnädig gestimmt. Diese mythische Baba, eine Großmutter à la Frau Holle im Grunde, wird als unfreundliche, launische Frau beschrieben, die Einfluss auf die Wetterlage besitzt. Unter Bulgaren zählt die Baba zu den Geistern, ich stelle sie mir freilich vor wie die Mume, gekreuzt mit Gundel Gaukeley.

Seltsam, dann aber auch wieder nicht (seltsam), dass in den exotischen Supermärkten Deutschlands noch immer lediglich die importierten Standardwaren verkauft werden, und nirgendwo, noch nicht einmal bei den Asiaten, der überall sonst in Deutschland florierende Trend zum Handwerklichen und Althergebrachten Einzug gehalten hat. Auf der landwirtschaftlichen Messe für Genuss und Lebensart beispielsweise, die wir gestern auf dem Frankfurter Messegelände besuchten, waren auf dem Vorplatz der Hallen natürlich etliche Foodtrucks aufgestellt, deren hinter den hohen Tresen in Hip-Hop-Kluft gekleidete Verkäufer ihre handwerklich hergestellte Burritos, Burger und auch Spareribs aus dem Smoker-Ofen abzugeben hatten. Allerdings gab es auch Lebendware zu betrachten. So wurde in einem von unten her beheizten Stallgefährt eine kleine Herde süßer Ferkel ausgestellt, die dort um einen Futtermehldispenser geschart mit friedlichem Gesichtsausdruck schlief. Die Tierkinder waren, obschon recht riesig, gerade mal drei Monate alt, wie die Craft-Züchterin zur Auskunft gab. Eine zeitgenössische Wiedergängerin der Madame Bovary äußerte, dabei auf die Hinterteile der in makellosen Marzipannuancen dargelegten Schweinchen deutend, ihren für die Besucher einer landwirtschaftlichen Ausstellung obligatorischen Zweifel an der artgerechten Aufzucht dieser Burger in spe: »Warum sind denn die Schwänzchen derart kurz!«

»Berechtigte Frage« sagte die Züchtersfrau. »Die wurden nach der Geburt gekürzt.«

»Aha!« rief Madame Bovary 2.0 und schaute hart, aber fair in die Runde, die außer uns aus lauter Kindern bestand, die teils versonnen an ihren Schnullern saugten wie Maggie Simpson, bloß halt nicht in gelb.

Die Versicherungen der Züchterin, dass sich in den Endstücken der Schweineschwänzchen keinerlei Schmerzrezeptoren befinden, diese also quasi wie Wurstzipfel avant la lettre zu behandeln sind – und: behandelt werden dürfen, brachten nichts zum Einverständnis. Die Bovary hatte ihren Punkt gemacht.

Drinnen dann, in den Hallen, ging es weniger ländlich zu als erhofft. Vor allem viel Tinnef, und wenn artisanale Lebensmittel, dann Senf, Würste oder Honig. Und Schnaps. Wie im Mittelalter! Erfreulich allerdings die Initiative des Lippischen Kulturmarketings, der einzigen Spezialität der seit unserem Bielefeld-Aufenthalts auch uns sehr am Herzen liegenden Kulturlandschaft des äußeren Ostwestfalens, dem sogenannten Pickert, zu größerer Beliebtheit zu verhelfen. Ein Greis verkaufte die zur Zubereitung des nahrhaften Fladens nötige Mehlmischung in handlichen Säcken zum günstigen Preis. Eine Pickertkönigin, Lisa die Erste, die leider nicht angereist war, grüsste von einem Plakate her mit dem für Ostwestfälinnen typischen Blütenkranz auf dem flachsblonden Schopf; einen Stapel Pickertfladen, wie amerikanische Pfannkuchen auf dem Präsentierteller ihrer Hand.

Frankfurt, schmeiß den Gasherd an

Die ganze Stadt ein Skigebiet. Lupenreines Sonnenlicht sticht aus dem blauen Himmel. Im Hinterhof piepsen die Vögel, die Hauptstraße rauscht. Überlebenslust.

Parallel dazu gestern Abend in der Kunsthalle Schirn: Wir erklommen bei eisiger Temperatur die hohe Außentreppe und begegneten dann dort auf dem schmalen Grat Carl Jakob und David, sodass sich die Einlassprozedur angenehm und kurz gestaltete (es gab einen aus langen Kronzacken geformten Stempel auf die Hand). Es war der zweite Donnerstag seit der Eröffnung der Jean-Michel-Basquiat-Retrospektive. Immer an den Donnerstagabenden wird dort der Crown Club geöffnet. Die Idee ist, dass die Besucher der Ausstellung durch eine Seitentür in den Club gehen können, um von dort aus, bei Bedarf, auch wieder in die Ausstellung zurückzudiffundieren. Die Ausstellung ist natürlich extrem schön. Der Club selbst ist einfach bloß schwarz: Decke, Wände, Boden und die Anlage freilich auch. Very instagramable, wenn dann der Chardonnay auf den Carbonlack tropft. Bei der Schirn hat man das komplett verstanden und vom social media impact her ist die Basquiat-Retrospektive inklusive des Crown Clubs featuring Dandy Diary ein Triumph. Ein Ausstellungsbesuch, aber halt auch ein Aufenthalt auf der Tanzfläche ist ja zunächst ein Anlass, um sich und die anderen vor Kunstwerken oder inmitten von Tanzenden zu fotografieren oder zu filmen, um diese Fotos und Filme dann wiederum den Umstehenden auf dem Display vorzuführen. Man erlebt etwas, um davon erzählen zu können. Ein Diskothekenbesuch oder der einer Ausstellung als eine Art Diaabend –  bloß live.

Als einziges Möbelstück ist im Crown Club ein großer Papageienkäfig aufgestellt. Von seinem Inneren aus ließ sich das Geschehen ideal beobachten. Es trat dann Joey Bargeld auf. Er trug ein weißes Sweatshirt mit dem Aufdruck Persil, darunter ein T-Shirt mit den Logos von Rewe, Penny, Supreme, Marvel und Obey. Schon bei seinem Hit Drogen kam es zu hysterischen Spitzen. Auch gut: seine Interpretation von Was hat Dich bloß so ruiniert. Totaler Abriss. Museum zersägt.

Danach durften wir leider nicht nach Hause, denn parallel dazu sollte mitten in unserem Viertel die alte Fliegerbombe entschärft werden, auf die man genau gegenüber von jenem Wasserhäuschen gestoßen war, vor dem ich im letzten Sommer so einige schöne Stunden mit Alexander und Herbert und den anderen verbracht hatte. Die Operation war für 23 Uhr angesetzt und das gesamte Viertel wurde deswegen evakuiert. So fanden wir uns mit den übrigen Anwohnern ein im Auffanglager, das in einer leerstehenden Messehalle eingerichtet ward. Dort standen hunderte Tische in langen Reihen, im hinteren Teil des Raumes standen Feldbetten bereit, für all diejenigen, die schlafen wollten. Es gab drei verschiedene Arten Würstchen: Rind, Wiener und Bock. Alles makellos organisiert und trotzdem blieb es eine sehr unangenehme Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn wir von nun an für eine sehr lange Zeit in diesem Auffanglager bleiben müssten. Dort mit all unseren Nachbarn, die wir ja mehrheitlich gar nicht kannten, zusammenleben müssten, weil es anders gar nicht mehr ging.

Gespenstisch ging es vor den Türen auf dem von Flutlichern beleuchteten Vorplatz zu, wo die Feuerwehrleute und Helfer in den violetten Uniformen der seelischen Notfallhilfe herumstanden und das Ende der Aktion erwarteten. Da hallte vom Schauplatz der Entschärfungsaktion die Lautsprecherstimme des Einsatzleiters herüber. Ansonsten, es war schon beinahe Mitternacht, blieb es draußen wie drinnen beunruhigend still.

Are »Friends« Electric?

Besinnlicher Abend, der damit seinen Anfang nehmen sollte, dass ich den Novizen entließ. Dies auf seinen eigenen Wunsch hin, da er, aus meiner Sicht nun leider vor der Zeit, seine Ausbildung für abgeschlossen hält. Wir waren auf dem Weg ins KaDeWe, dort waren wir beide lange nicht gewesen, doch gab es dort gestern die Präsentation eines Schuhs von Jimmie Choo, den Virgil Abloh umgestaltet hatte, und den, so meinte zumindest Michie Gümbel, sollten wir uns unbedingt anschauen kommen. Am Brunnen auf dem Breitscheidplatz, den, wie jedermann weiß, der Bildhauer gestaltet hatte, der auch die Hand mit Uhr zu verantworten hat, fühlte sich der Novize an einen Brunnen erinnert, den es einst, in seiner Kinderzeit noch auf der Zeil in Frankfurt, gegeben hatte, der aber später eilig abmontiert worden war. Nicht so hier auf dem Breitscheidplatz, hier blieb rings um die kaputt gebombte Kirche samt ihrem überschätzten Anbau von Egon Eiermann und dem durch die eine Szene aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zu Ehren gekommenen Europacenter einfach alles stehen, auf dem Flachdach des Letzten dreht sich, durch den verstorbenen Daniel Josefsohn festgehalten, ein Mercedes-Stern wie auf dem Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs - bloß dass der halt fraglos sehr viel schöner ist. Da er mich darum lieb gebeten hatte, gab ich dem Novizen noch ein Gleichnis mit. Es stammte, wie beinahe alle meine Gleichnisse, aus meinem Leben. Einst war ich in der heiligen Stadt am Mekong, Luang Prabang, wo es sehr viele Tempel gibt. Der schönste dort steht auf einem spitzen Hügel, an dessen Fuße einige Kinder im Schatten herumlungern. Sie bieten kleine Käfige an, die rund wie Bälle sind und aus Bambusspänen geflochten. Darin sitzt jeweils ein kleiner Vogel, von welcher Art weiß ich nicht, irgendetwas dort Heimisches. Man kauft dann also vor dem Aufstieg zu dem Tempel einem dieser Kinder einen Gitterball ab und trägt den Vogel darin bis hinauf zum Tempel, um das Tier dann, so will es dieser Brauch, im Innenhofe freizulassen. Der Vogel fliegt in einem weiten Bogen über die sich bis zum waldigen Horizont erstreckende Stadt aus lauter niedrigen Gebäuden von denen hier und da die dünnen Rauchsäulen aus Holzkohlenfeuern aufsteigen. In Wahrheit aber fliegt der Vogel nicht davon, sondern umkreist den Hügel bis zu jenem Punkte, wo ihn das Auge seines Gönners nicht mehr schaut. Um sich dann unten bei den Kindern im Schatten niederzulassen, die ihn alsbald wieder einfangen, um ihn erneut in einen Käfig einzuzwängen. Der Sinn des Rituals besteht im Freilassen des Vogels durch den Mensch, nicht in der Befreiung des Vogels. Es verbessert das Karma. Zumindest glauben das die Buddhisten von Laos. Und nicht bloß dort. Beim Goldenen Tempel von Bangkok hatte ich ähnliches gesehen, dort aber mit Fischen.

Der Schuh, den man uns in einer für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Kammer zeigte - die Angestellten trugen weiße Uniformen, die von Virgil Abloh in der für ihn typischen Schrifttype bedruckt worden waren - stand auf einem weiß gestrichenen Sockel wie ein archäologisches Exponat. Er war glänzend schwarz, aber mit einem transparenten Schrumpfschlauch aus Gummifolie überzogen. Zu trinken gab es eine grüne Limonade mit Basilikumgeschmack.

Den Ingenieuren der Seele ist nichts zu leicht

Am Sonntag erschien auf einem kleinen Platz im Feuilleton die Geschichte vom Tod des letzten Karolinasittichs im Zoo von Cincinatti. Cord Riechelmann erzählt vom Vogel namens Inca, dem letzten seiner Art, der an einem Donnerstag, oder aber an dem darauffolgenden Mittwoch, im Februar des Jahres 1918 für tot erklärt worden war. Bisschen wie im Anfangssatz des Fremden also von Albert Camus, die Faktenlage. Cord Riechelmann schreibt: »Die im Zoo mit ihren letzten Individuen ausgelöschten Arten machten es möglich, sich überhaupt vorzustellen, was Aussterben heißt und wie es vor sich geht. Ein Vorgang, der jetzt ganz profan beschrieben werden konnte: Ein letztes Tier seiner Art stirbt, und mit dem toten Körper ist die Form auf immer verschwunden und kehrt nie wieder. […] Damit war eine der bis heute schwierigsten Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie anschaulich geworden, nämlich dass der Prozess der Evolution irreversibel ist.«

Die Wiederbelebung ausgestorbener Figuren wie den Berliner Obstweibern, von denen E.T.A. Hoffmann seine Vettern schwärmen lässt, gelingt mir selbst in der Schnellen Quelle nicht mehr gut. Dort ist das dargestellte Leben als Berliner roh und ungehobelt, aber halt nicht mehr so wie einst beschrieben, als »mit dem Berliner Volk eine merkwürdige Veränderung vorgegangen ist. Mit einem Wort: das Volk hat an äusserer Sittlichkeit gewonnen; und wenn Du dich einmal an einem schönen Sommertage gleich nachmittags nach den Zelten bemühst und die Gesellschaften beobachtest, welche sich nach Moabit einschiffen lassen, so wirst Du selbst unter gemeinen Mägden und Tagelöhnern ein Streben nach einer gewissen Courtoisie bemerken, das ganz ergötzlich ist.«

Den Text über den Karolinasittich, der mit einer hübschen Lithografie von einem Pärchen dieser ausgestorbenen Art illustriert war, schneide ich aus dem Papier der Zeitung mit einer Schere. Ich habe mittlerweile eine ziemliche Sammlung von Scheren, alle Neuzugänge waren Geschenke meiner Mutter aus den Nachlässen. Jede Großmutter hinterließ mir mindestens eine Schere. Ich gebrauche sie viel, ich schneide viel aus. Vielleicht sollte ich mal an die Zeit schreiben. Was mein Leben lebenswert macht: Ausschneiden ausgestorbener Arten mit einer Schere meiner toten Großmutter. Oder halt selbst was verfassen für die Zeit, Abteilung Z, einen Essay mit dem Arbeitstitel Lob der Schere. Wer ausschneidet, hat mehr vom Lesen. Wie ich zuletzt den Aufsatz von Lorenz Jäger über das Jahr 1968 in Deutschland, als hier eine Große Koalition regierte, wie er im ersten Satz schreibt: »Von Technikern und Denkern des Politischen«. Schnipp schnapp.

Die großen weißen Vögel

Vom Seifenkauf heimkommend, begegnete ich im kleinen Park bei den Schiffsanlegestellen einem Blässhuhn, das, so hatte ich die noch nie gesehen, mit einigen seiner Artgenossen an Land herumstand. Da blieb ich stehen, setzte meine Tüte ab, um ein Foto aufzunehmen. Das Blässhuhn watschelte auf mich zu, als ob es um mein Vorhaben wüsste, hielt dann in einigem Abstand zu mir inne, verharrte in einer Pose, so als ob es genau wüsste, dass so seine grotesk überdimensionierten Füße am besten zur Geltung kommen. Denn in der Tat hatte ich es auf ein Bild, das diese Füße zeigen würde, abgesehen. Als ich die Aufnahme auf dem Display betrachtete, legte das Huhn seinen Kopf schief – vielleicht war es ja auch ein Hahn, man kann die vom Gefieder und den Farben und den Körpergrößen identisch aussehenden Geschlechter lediglich am Klang ihrer pickenden Rufe unterscheiden – so als ob es nun mein Einverständnis suchte; mehr noch, so als kennte es die Aufnahme, die ich von ihm und seinen Füßen gemacht. Als ich die Tüte aufnahm, kehrte es um und ging fort, um sich mit den anderen wieder wie zuvor mit Tierhaftem zu beschäftigen.

Ich war versucht gewesen mit ihm zu sprechen. Aber nicht, wie das die Besitzer von Haustieren tun, wobei es ihnen um eine Kommunikation des tierhaften Verhaltens nach anderen Menschen geht, sondern wirklich so, als könnte das Blässhuhn mich verstehen. Im Grunde wollte ich mich bei ihm entschuldigen, dass ich seine Füße lustig finde. Je länger man sich mit Vögeln beschäftigt, desto dringlicher schreibt man ihnen menschliche Eigenschaften zu. Man sucht sie einzugemeinden, um sie zu verstehen; um eine Erklärung zu haben für die seltsam einfühlsame Beziehung, die zwischen Mensch und Vogel entstanden ist. Das Rotkehlchen beispielsweise, das an den Nachmittagen auf meinen Balkon vorbeikommt, um dort vom Boden Reste aufzulesen, die den anderen Vögeln von den Futterplätzen heruntergefallen waren, springt ruhelos herum und schaut mich dabei ständig an. Nicht unbedingt nervös, das sind die flatterhaften Meisen, auf mich wirkt es scheu. Als fragte es mit jedem Blick aus seinem schwarzen Auge, ob es darf, was tut. Ob ich gestatte. Und auch wenn es von seiner Form her kaum anders auf mich gebaut wirkt als die Meisen oder Spatzen, so ist es wohl nicht in der Lage, wie diese anderen Arten, die hängende Futtersäule anzufliegen, um dort auf der Stange Platz zu nehmen, um sich mit den Körnern direkt zu bedienen. Am Boden ist sein Platz, ein Reh der Lüfte. Er scheint ihm zugewiesen.

Des Vetters Eckfenster

Am Abend vor der Nacht an deren Ende die Freilassung Deniz Yücels aus türkischer Haft verkündet wurde, stand ich am Tresen einer typischen Berliner Kneipe, der Schnellen Quelle in Moabit, die sich, wie jedermann weiß, genau an der Kreuzung zweier viel befahrenen Straßen befindet. Jede für sich genommen eine nicht nur sogenannte Verkehrsader, wobei die eine von beiden, die Straße mit dem Straßennamen »Alt Moabit« sogar für sich genommen eine Zeichenhaftigkeit für unsere Republik beanspruchen dürfte, da sie vom Reichstag am neuen Hauptbahnhof vorbei entlang der Justizvollzugsanstalt bis beinahe hinaus zum Flughafen führt, um zwischendrin – und wie es in ihrer Natur halt eingeschrieben steht – auch an der Kirche des Heiligen Johannes nicht Halt zu machen, in deren wunderschönem Innenhof sich noch der letzte Maulbeerenbaum befindet. Letzter von den vielen, die einst der Industrielle Borsig hatte setzen lassen im damals noch so genannten Tale Moabs, um so, wie er hoffte, eine heimische Seidenproduktion anzukurbeln. Was misslang.

Die Fensterscheiben dort in der Schnellen Quelle sind, so sie nicht in goldener Fraktur auf rotem Grund mit den Worten »Frühstück«, »Schnaps«, und »Wein« bedruckt wurden, verhängt. Einzig die verglaste Eingangstüre gibt, wenn auch verschwommen, die Mauerschau von eventuellem Tageslicht. Es spielt bei denen, die dort drinnen stehen, keine Rolle. Die Schnelle Quelle, eine der letzten Gaststätten dieser Art in der Stadt, ist kein Ort des absichtslosen Verweilens. Wer dort eintritt, trinkt sich fest.

Interessant bleibt aber das Interieur. Wie auch in der Faulen Biene, die es bis vor kurzem noch im Westhafen gab, hat sich in den Regalen hinter dem Tresen der Schnellen Quelle kurioses Gerümpel angesammelt bis hin zu jenem Anblick heutzutage, den Anna Viebrock sich nicht ausdenken könnte. Und über all dem prangt ein Schild, auf dem in Blockbuchstaben aufgedruckt verboten wird, Haschisch und Marihuana »in jeglicher Form« zu konsumieren. Die Jünglinge im Hinterzimmer, die dort am Billardtisch die Ticker aus dem auf der anderen Straßenseite gelegenen Park, dem Kleinen Tiergarten, mit Kokain und Heroin versorgen, ficht das nicht an.

Plötzlich aber wummerte es bläulich durch die gläserne Tür. Eine elend lange Eskorte dunkler Autos mit Motorradstaffel zog dort draußen vorbei. Und wird auch sonst nur das nötigste gesprochen in der Schnellen Quelle, so wurde, da war noch nicht das letzte Blaulicht abgedampft, allseits diskutiert: Doch doch, da sei der türkische Staatsbesuch soeben vorbeigefahren. Dann kommt wohl morgen der Yücel aus dem Knast.

Am darauffolgenden Abend, nach 20 Uhr, sprach dann Ulf Poschardt in der Tagesschau.

物の哀れ

Als ich nach Hause kam, probte der Amselhahn sein Lied. Er saß weit oben in der Buche, irgendwo dort im nackten Geäst. Entdecken konnte ich ihn nicht, aber hören. Die Luft war kalt, es roch nach Schnee, der Vogel sang den Frühling.

Entscheidungen sind, wenn sie nur lang genug zurückliegen auf einem von mir selbst gedachten Weg, alt und kaum verstreut und wie verwittert – wie Kirschblütenblätter.

Dort liegt, es ist schon viele, viele Jahre her, meine Begegnung mit Peter Berthold. Wir gingen damals durch sein kleines Land bei Radolfzell. Der Bodensee war nicht zu sehen vor lauter Bäumen. Der Professor, ich hatte ihn nach seiner großartigen Vorlesung aufgesucht, die bei Supposé erschienen war, stand dort wie ich in Gummistiefeln und erzählte, wie auch schon auf der CD, von seiner Liebe zu den Vögeln. Ich hatte ihn mir genau so vorgestellt. Mit diesem Bild, in dem ich, beim Hören seiner Stimme von dieser CD, auch schon enthalten oder inbegriffen war. Die Wiese roch, es war ein feuchter Morgen. Professor Berthold zeigte in die Weite seines Landes mit einem halbaufgegessenen Leberwurstbrot.

Ich war damals ganz woanders als heute. Und hatte dennoch ein Gefühl, das sagen wollte: frage ihn. Wir redeten über die Ausrüstung der Vögel, Cryptochrome, die physischen Hintergründe des Vogelzugs. Ich hätte dort bei ihm bleiben wollen, sollte das fragen, traute mich aber nicht.

Wehmut angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge, die nicht verblassen wollen. Wie diese eine Entscheidung, die ich nicht habe treffen können. War es nur die eine? Wohl kaum. Aber es kommt mir so vor. Wo? In meiner Erinnerung. Wo also? Ich weiß es nicht.

Bücher, die noch nicht erschienen sind, lese ich wie Bücher, die längst erschienen sind.

V

Die Gänse fliegen nach Sibirien zurück. In einer Pause der Verkehrsgeräusche, im dunklen Himmel über mir und, wie es schien, dort über den Wolken: Quaken und Kreischen. Ich nehme an, sie orientieren sich an den Geräuschen der Vorausfliegenden. Und die Vorausfliegenden achten auf die Geräusche der Schlusslichter – ob die zu leise werden und den Anschluß zu verpassen drohen. Ich erinnere mich an den Herbst: Auch hin nach dem Niederrhein flogen sie nachts. Und an die Zeit vor acht und sieben Jahren als ich in Prenzlauer Berg wohnte und nachts wach wurde vom Dröhnen der Transall-Maschinen. Die flogen, wie es mir schien, knapp über dem First nach Afghanistan.

So viele Geschichten, und trotzdem würde ich Berlin nie als Heimat bezeichnen. Meine Heimat ist das Strohgäu in Baden-Württemberg. Durch meine Heimat werde ich mit dem Dasein verknöpft.

Everything counts

Am Rande des Hansaviertels am Tiergarten steht eine bizarre Skulptur. Vor etwas über einem halben Jahr habe ich sie entdeckt, seitdem bin ich ihr mehrmals pro Woche begegnet, aber gewöhnen konnte ich mich an ihren Anblick so gut wie nicht. Manchmal, nicht immer, aber wenn ich in Gedanken bin und mich innerlich nicht kurz auf die Begegnung vorbereite, durchfährt es mich: »Oh, die Skulpur!«.

Es handelt sich um sogenannte Kunst im öffentlichen Raum. Da gibt es freilich kaum schön anzuschauende Beispiele. Jedenfalls was Kunstwerke aus dem 20. Jahrhundert betrifft. Mir fällt da aus Deutschland eigentlich nur ein Stabile von Alexander Calder vor der Buchhandlung Wittwer in Stuttgart ein, eine Bronze von Henri Moore in Bonn, die Feldkapelle von Peter Zumthor in Mechernich, wobei ich mir da schon gar nicht mehr sicher bin, ob das noch Kunst im öffentlichen Raum sein soll oder schon Architektur. Die beste Kunst im öffentlichen Raum stammt von Fischli & Weiss (aus dem Jahr 1987): ein irritierend maßstabsverkleinertes Bürogebäude mit drei Stockwerken, das weder schön noch hässlich ist, sondern einfach nur verkleinert. Man kann es irgendwo in der Stadt aufstellen, dort fällt es nicht groß auf, aber halt doch und als Passant denkt man über Häuser nach. Es heißt auch so: Haus.

Besagtes Standbild an der Altonaer Straße aber kann nichts als Kunst sein, denn wozu sonst könnten zwei zu einem mannshohen Stapel aufeinander aufgetürmte Würfel aus Beton gut sein, auf deren Oberkante sich eine sehr große, senkrecht und dabei scheinbar aus dem Nichts herabgefahrene Hand mit ihren Fingerspitzen sich an dem obenaufliegenden der beiden Würfel zu schaffen macht dergestalt, dass der sich vermeintlich, aber eben nur vermeintlich, es handelt sich um ein trompe l‘oeuil, im Griff der bronzenen Fingerspitzen (die gesamte Hand besteht aus Bronze) über Eck gedreht zu haben scheint? Und dazu kommt, mich stört es, befindet sich in der ärmellosen Manschette der Hand noch eingelassen eine rechtwinklige Anzeige einer Digitaluhr mit roten Ziffern, die nicht etwa die Fantasieuhrzeit im Staate Utopia anzeigt, nein, dort leuchtet stets die korrekte, deutsche, für den Betrachter an der Hansastraße zutreffende Stunde.

Zeit kommt dann auch zur Rettung dies missratenen Dings. Zeit und Internet. Noch vor wenigen Jahren hätte ich einen extremen Aufwand betreiben müssen, um herauszufinden, was es mit diesem Kunstwerk auf sich hat. Erst hätte ich einen Greis finden müssen, der sich mit Kunst im öffentlichen Raum auskennt, dann einen, der Bescheid weiß über Videoclips aus den achtziger Jahren. Nun weiß all dies der Multigreis: Das Kunstwerk heißt also Hand mit Uhr und stammt aus den siebziger Jahren. Von einem Bildhauer, den man heute nicht mehr kennt. Anscheinend musste er seinen Wirkungskreis auf Westberlin beschränken, kannte dort wohl jemanden im Senat, denn auch der abgrundtief hässliche Brunnen am Breidscheidplatz geht auf sein Konto. Die Hand mit Uhr wurde in den achtziger und neunziger Jahren mit Graffiti besprüht, der Hand wurden die Nägel silbern lackiert, die eingebaute Uhr wurde beschädigt usf. In dem makellosen Zustand, in dem ich sie dann erst entdeckt habe, gibt es sie erst wieder seit wenigen Jahren. Die Skulptur wurde tatsächlich restauriert. Allerdings nicht originalgetreu, denn ursprünglich war der obere der beiden Würfel wohl auch noch mit roten Fliesen umkleidet.

Kunstgeschichtliche Bedeutung erlangt die Skulptur aus meiner Sicht einzig durch die vorletzte Einstellung in dem Videoclip zu Everything Counts. Da sieht man die Musiker von Depeche Mode die Hand mit Uhr umtanzen. Der Himmel über Berlin ist blau. Und in der nächsten Einstellung zeigt die Kamera das Strandbad am Wannsee. Ein Schwenk übers Wasser, am Ufer entlang, da sind viele Bäume. Hier wohne ich.

Das rote Waldvögelein

Kurios, wie ich, wann immer es problematisch zu werden droht, mich auf mein Alter beziehe. Ich bin auch nicht mehr zwanzig, dreißig, vierzig. Und wie ich, sobald es gut geht, vor allem mein Alter vergessen kann.

In der sagenhaft spannend erzählten Geschichte der Koalitionsverhandlungen, aus den letzten Stunden, ist mir ein Satz im Gedächtnis geblieben. Er hat sich eingebrannt. Geschildert wird eine Szene, in der Angela Merkel, nachts, im sechsten Stock der CDU-Zentrale auf den Gängen umhergeht in eine rote Wolldecke gehüllt.

Ich war noch nie dort, im Konrad-Adenauer-Haus. Ich stelle mir die Wände dort auf den Gängen vor mit einem Holz verschalt wie im ICE. Das Notlicht ist an und wirft einen matten, grünlichen Schein auf diese Wände. An dem einen oder anderen Türrahmen steht ein Mann im weißen Hemd und schaut auf das blau leuchtende Viereck seines Telefones. Am Ende des Ganges ist ein Fenster, in der dunklen Scheibe spiegelt die in eine rote Wolldecke gehüllte Gestalt ihr Gesicht.

Könnte ich malen, malte ich das.

Entre nous le déluge

Der Kleiber pfeilt heran und klammert sich im Mauerwerk fest, noch während ich die Futtersäule befülle. Woher er weiß, dass ich das mache? Ich stelle mir die kleinen Vögel als Kurzsichtige vor. Mir ähnlich, aber riechen wird er es nicht können wie ein Hund. In der Borte über dem Schnabel sind bloß zwei winzige Löcher. Noch nie einen witternden Vogel gesehen. Lauschend wohl eher, wenn sie den Kopf schräg legen vielleicht; wenn sie ruckartig herumfahren, zusammenfahren – verständigen tun sie sich, wie Menschen, über Geräusch.

Ob’s stumme Vögel gibt, als Behinderung, ohne Stimmbänder geboren oder halt taub? Jetzt weiß ich jedenfalls wie der Kleiber tönt, wenn er hungrig ist und ihm meine Intervention an seiner Nahrungsquelle zu lange dauert. Er lässt es aus dem nackten Geäst des Kirschenbaums ertönen, in dem er drängelnd umherhüpft, wie ein Mensch nach vier Bier ohne Klo. Es zwitscht, aber schnalzend. Klingt nach der Entsperrmelodie eines BMW. Da um diese Jahreszeit generell wenig gepiepst und gezwitschert wird, lockt sein Geräusch umgehend die Gimpelgang herbei, die stets zu dritt unterwegs ist. Zwei Hennen und ein Hahn, dessen rosenfarbenes Brustschild zu glühen scheint (von daher wirkt er auf mich stolz).

Am anderen Ufer ist ein Saum von vielleicht fünf Metern Breite schon fest gefroren und weiß. War das letztes Jahr (ich glaube, ja), dass ich um diese Zeit auf dem Schlachtensee spazieren gehen konnte, bis mich eine Frau von der anderen Seite quer übers Eis hinweg anbrüllte: »Sind Sie wahnsinnig?« Nicht dass ich wüsste, zumindest brülle ich keine wildfremden Menschen an.

Der Abschnitt nach der kleinen Brücke, ein Kanal bis nach Teltow, auf dem man an wärmeren Morgen gut angeln kann, ist komplett zugefroren und beim Ruderclub spielen drei Hockey. Die Russen werfen das Brot, das sie selbst nicht mehr essen wollen, von der Brücke aus in den Wind. Vor ihnen steht eine Wolke aus Möwen, die danach schnappen, und wer nichts abbekommt, kreischt. Die Russen rufen Russisches. Unten, bei ihrem Zeltplatz, hängt eine Jeanshose steifgefroren im Wind.

Das Gute am Reichtum in Deutschland ist vielleicht auch, dass es für Tiere eigens Futter gibt in Läden, die darauf spezialisiert sind, Tierfutter zu verkaufen. In ärmeren Gesellschaften, die ich kennengelernt habe, ist das Tierfutter und das Essen der Armen dasselbe. Was bedeutet, dass die Tiere sehr viel Glück haben müssen, um etwas davon abzubekommen oder stibitzen zu können. Zum Beispiel Knochen, Fleischabschnitte, Schalen oder altes Essen, das weggeworfen wird, beziehungsweise weitergegeben. In Deutschland und ähnlich gestellten Gesellschaften können sehr arme Menschen noch immer zuerst Tierfutter essen, bevor es dann von dieser Stufe aus noch eins weiter nach unten geht. Auch fragte ich mich, denn der Kilopreis ist sehr günstig derzeit, ob man aus Blumenzwiebeln etwas zaubern könnte? Ich kenne das ja prinzipiell von meiner Stengelbeißlust her, die mich in der Vorweihnachtszeit beim Anblick der Amaryllis ergreift.

Von den Asiaten lernen heißt: Es ist alles essbar und schmeckt gleich, aber gleich gut, mit der Hilfe von Sojasauce, Fischsauce, Chilischoten und Reis.

Apfelbaum und Tanne

Bei -7 Grad malt der Morgen mit den schönsten Farben. Lichtblau oben, lichtblau unten auf dem Wasser bis an das taube Grün des Rasens. Magisch, wenn dann am großen Haus auf der gegenüber liegenden Seite sämtliche Fensterscheiben den Glanz der roten Sonne reflektieren. Im Spiegelbild zeigt der See allein die Fenster, es schaut aus, als ob es hinter ihnen brenne. Also unter Wasser eigentlich. Und am Ufer treiben, dünn wie Folien, die ersten Schollen.

Den Vögeln geht es gut. Heute steht im republikanischen Kalender der Tag zur Feier der Hippe. Ein in Vergessenheit geratenes Gerät. Um drei Uhr hatte mich Friederike angerufen, um mir von ihrem Albtraum zu erzählen, danach konnte ich lange micht mehr einschlafen. Nicht des Anrufes wegen, sondern weil mir gleich darauf bei meinem Einschlafen aufgefallen war, dass es bei meinem Traumgeschehen, so wie es sich anließ, nun ebenfalls auf einen Albtraum hinauslaufen würde. Weswegen ich beides abzubrechen beschloss: Träumen und Schlaf.

Im Wikipedia-Eintrag zur Hippe, mancherorts auch Häsle genannt, stieß ich auf die bemerkenswerte Anzahl von Stadtwappen, in denen dieses Werkzeug abgebildet ist. Also identitär. Urwüchsige Hippe, warum hat man dich bloß zur Seite gelegt? (Die Machete hat ja immerhin, durch aus die Machete noch wertschätzenden Kulturen nach Deutschland eingewanderten Frauen und Männer, eine gewisse Renaissance hierzulande erfahren dürfen dergestallt, dass sie in Waffenläden neben Paintball und Nerfgeschossen und Butterflymessern und Reizgasspraydosen, Tazern und Compoundbögen und Armbrüsten angeboten wird für Kunden ab 18 Jahren; man sieht die Machete folglich auch in Videoclips, zum Beispiel in 069 von Haftbefehl.) Und ich frage mich auch, ob das Fragezeichen unserer lateinischen Schrift nicht nach dem Vorbild der Hippe gestaltet wurde. Von seiner Geformtheit her.

Die Hippe ist derart ultra-urwüchsig, dass es noch nicht einmal bei Manufactum gibt. Hail the Hippe! Da der Morgen noch jung war, vor allem auch dunkel (ein dunkler Bursch!), surfte ich noch auf die Seite des letzten Herstellers von Hippen in Baden-Württemberg, der Werkzeugschmiede Adler in Waghäusel bei Phillipsburg – literarisches Terrain. Alles dort: Logo der seit dem Jahr 1919 fortbestehenden Schmiede von landwirtschaftlichem und Forstgerät, die Gestaltung der Website selbst, die T-Shirts der Schmiedearbeiter, aber halt vor allem die dort bei Adler geschmiedeten Hippen, Äxte und Beile selbst: einfach bloß mega!

War in letzter Zeit ein gewisser Trend zum urban Beil festzustellen, Taschenmesser von Opinel gehören ja längst zum sogenannten guten Ton, werde ich in diesem Sommer nie ohne mein Häsle anzutreffen sein.

Les aveux de la chair

Erfreulich wurde es dann am nächsten Tag, als ich an einem Abend in der vergangenen Woche, deren Tage lang und beschwerlich gewesen waren, beim Fernsehen auf einer Folge der Reihe Durch die Nacht mit… hängenblieb. In einem langen Oldtimer saßen Lars Eidinger und Oskar Roehler. Roehler, von Anfang an sichtlich genervt von seinem Kompagnon, verlor schon nach zehn Minuten zum ersten Mal die Contenance. Das war, für mich komplett nachvollziehbar, beim ersten Zwischenhalt der Tour, als sie, auf Eidingers Bitte hin, durch eine penibel rekonstruierte Seitenstraße des historischen Alexanderplatz spazieren sollten, die sich allerdings, man war dazu eigens von der Schaubühne bis beinahe nach Potsdam hinausgefahren, sich auf dem Studiogelände Babelsberg befand, wo Lars Eidinger in Tom Tykwers Fernsehserie Babylon Berlin in eben genau dieser Kulissenstraße in einigen für ihn unvergesslich gebliebenen Szenen mitgespielt hatte. Nach dem vorhersehbar hochnotpeinlich verlaufenen Atelierbesuch bei John Bock, der sich wie immer über alles freute, kippte die Stimmung und Lars Eidinger beleidigte unter anderem Oliver Masucci, weil der etwas besser Billard spielt als er, Lars Eidinger, selbst, bevor er sich dann in der historischen Stretchlimo zu Christoph Amend fahren lässt, mit dem er weiterkickern will.

Irgendwie gut also, aber halt auch sehr anstrengend, weil Lars Eidinger derart grotesk nervt durch seine dümmliche Spießigkeit. Man merkt ihm an, dass er sich die Gemeinheiten Roehlers nur deshalb gefallen lässt, weil der ihm die Hauptrolle in seinem nächsten Film versprochen hat, wo er dann Fassbinder spielen darf. Ich schrieb ihm, also Roehler, eine Nachricht. Er rief später noch an: Ja, also das sei nun wieder einer dieser Momente im Leben, da musste er zum Hörer greifen. Was ich denn morgen schon vorhätte – wir könnten uns im Soho House treffen, um über ein paar Filme zu sprechen. Das Ding sei, man filme uns dabei.

Wie sagt doch gleich die Amme zu Julia: Mache die glücklichen Tagen zu glücklichen Nächten? Jedenfalls begrüßte er mich dort am nächsten Tag in einem sehr gut geschnittenen postgelben Anzug aus Breitcord, der ihn  aussehen ließ wie einen sehr langen Kanarienvogel. Mir selbst hatte er ein ziemlich auffällig mit Perlenstickereien verziertes Jackett aus Camouflage zugedacht, das aus seiner Privatsammlung stammt, über die man sich ja so einiges erzählt. Hier, vor laufenden Kameras, wo ja vor allem viel gewartet wird, weil andauernd jemand anderes etwas austauscht oder anschließt; wo man alle zwei Stunden lüften muss, weil die Scheinwerfer unerträglich heizen und man Kostüme trägt, war Oskar Roehler in seinem Element. Ich denke, er kann mit der anderen Welt nicht allzu viel anfangen. Zwar hatte ich gehofft, mit ihm über The Florida Project sprechen zu können, weil der mich wie schon längst kein Film mehr berührt hatte (eigentlich wie seit Trocadéro bleu citron keiner mehr), aber das ging natürlich nicht, denn es war im Grunde Roehlers Show und deshalb musste eisenhart über Skandalfilme gesprochen werden. Ging sofort los mit seinem (und Michel Houellebecqs) Leib- und Magenstreifen Seul contre tous. 

Es war halb zehn Uhr morgens. Roehler bekam gute Laune und die steigerte sich noch.

Silly Rabbit

Noch vor ein paar Jahren hatte ich beinahe nie Erholung nötig; ich konnte wochenlang durcharbeiten, auch schon mal vierzehn Tage am Stück und hatte dann sogar den Eindruck, vielmehr: ich glaubte daran, dass es den Ergebnissen gut getan hatte. Dass eine Art extatisches Reservoir angezapft wurde auf diese Weise. Alles weitere steht in Business Punk.

Mittlerweile brauche ich nach jedem Kraftakt zwei ganze Tage, an denen ich nicht viel mehr machen kann als schlafen und essen und Filme einsaugen, die ich schon kenne. Fernsehen geht gerade noch, fördert aber direkt das Bedürfnis, einzuschlafen. Angeblich hat das mit den Alphawellen der Gehirnströme zu tun, die durch das Anschauen von Fernsehbildern geglättet werden. Lesen geht überhaupt nicht, davon wird mir schwindlig. Schon ein Beipackzettel ist zu viel. Ich habe die letzten vierzehn Tage zu viel gelesen. Um 120 Heftseiten netto Text druckfertig zu machen, müssen diese 120 Seiten ich weiß nicht wie oft, aber vier Mal mindestens gelesen werden – in jeweils minimal unterschiedlichen Bearbeitungsstufen. Also jedes Mal anders und dennoch auch gleich. Und nicht immer besser. Was sie aber sein sollten. Wenn es nach mir ginge. Und es geht nach mir. So lange ich das will.

Vermutlich von daher auch rührend meine unsägliche Erschöpfung: Ich bin ja nicht der Winter, der in jedem Jahr aufs Neue den Frühling unter Schmerzen gebiert.

Gestern stand ich früh am Morgen bis zur Mitte meiner Oberschenkel im eiskalten Wasser des Sees. Ich hatte meine neuen Extremgummistiefel an und spürte nichts von der Kälte. Kleine Eisstücke trieben im Wasser, das ganz klar war, im Sommer ist das Wasser des Sees schleimig und trüb. Ein ganzer Ast der Weide steckt im Schlamm fest. Abgerissen in der Nacht, als der Sturm Friederike durchs Land gezogen war, mordend und brandschatzend und Äste abreißend wie im finsteren Mittelalter. Die Blässhühner und die Schwäne und Enten haben um ihre Bein- und Flossenmuskulatur herum eine Haut, die vergleichbar thermische Eigenschaften haben muss wie das Material meiner hüfthohen Extremgummistiefel, denn meine Muskulatur und die der Wasservögel um mich herum im eisgekühlten Wannseewasser ist aus demselben Protein in vergleichbarer Zusammensetzung. Und über uns allen war der Himmel klar und wolkenlos und so besonders schön wie immer, wenn es ganz besonders kalt ist.

Am Nachmittag fing es zu schneien an mit winzig kleinen, harten Flocken. Als ich die Balkontür öffnete, war allüberall ein Knistern zu hören wie das Knistern in einer Schüssel Smacks, kurz nachdem man die Milch eingefüllt hat. Mein Bruder hat immer behauptet, die Smacks würden flüstern und er könne sie verstehen.

So könntest du dir den Rest deines Lebens gut vorstellen, dachte ich, in einem Sub-Channel, während Irreversible lief. So dürften sie kommen, deine alten Tage.

Supermond

Um sieben Uhr steht der Supermond, groß wie der Nagel an meinem kleinen Finger, eine Handbreit über dem Waldsaum am wolkenlosen Himmel, drumherum alles blau. Der Widerschein liegt als zwei Meter breiter Streifen wie ausgerollt quer über dem Wasser. Erst kurz vor dem Ufer franst er aus, und es zittern dort einzelne Lichtflecken auf winzigen Wellen. Die Wiese ist dunkel. Gleich wird es hell. Das Foto fällt enttäuschend aus. Schwach.

Negus

Ingo schreibt, dass ich mich irrte. Und zwar war es wohl das ebenfalls unverkäuflich gebliebene Manuskript zu dem Buch mit dem Titel Unwirtlichkeit: Zur Situation des Journalismus in den deutschen Städten, an dem wir in teils monatelangen Abständen seit dem Jahr 2000 geschrieben hatten, dessentwegen wir ein eigenes Verlagshaus im Internet gründen wollten. Kann auch sein. Manchmal glaube ich, dass ich die Perspektive des unzuverlässigen Erzählers verinnerlicht haben muss. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir uns irgendwann zuvor mit Tom Lamberty im Restaurant Diener in Charlottenburg getroffen hatten, um ihm dieses Manuskript dem Merve-Verlag anzubieten. Allerdings war der, Lamberty, damals gerade etwas frustriert von der für ihn enttäuschend verlaufenden Zusammenarbeit mit Ulf Poschardt, dessen mit Spannung erwartetes Werk mit dem Tite Der Geschmacksbürger einfach nicht in die sogenannten Gänge gekommen war. Und das, wo Ulf doch anlässlich seines ebenfalls bei Merve verlegten Sportwagenbuches dem damals noch bei der taz beschäftigten Cornelius Tittel in den Block diktiert hatte, dass es sich beim Merve-Verlag, unter Discjockeys gesprochen, um „das Äquivalent zum House-Music-Label Strictly Rythm“ handelte. Wobei ich auch sagen muss, dass die Konditionen, zu denen im Hause Merve die Manuskripte angekauft werden, nicht eben ideal waren. Tom Lamberty, da waren wir schon beim Du, offerierte uns Freixemplare in beliebiger Zahl. Und damit hatte es sich.

In der für ein Start-up alles entscheidenden Phase, jenem Moment, in dem die ausgearbeitete Website für die User freigeschaltet wird, war ich abwesend. Bald nach den Tagen in Ivo Wessels Garage und dort auch in dem Eiscafé gegenüber, war ich nach Äthiopien umgezogen, in das Hotel am Ende des Universums. Dem Kalender nach war es August, doch in der subsaharischen Zone hatte die Regenzeit angefangen. Es regnete Tag und Nacht. Da die Leitungen für Strom und Telefon, somit auch die Verbindungen zum Internet, wie beispielsweise auch in Indien üblich, frei und in losen Bündeln quer durch die Lüfte baumelnd verlegt waren, richtete die extrem gestiegene Luftfeuchtigkeit in der Regenzeit landesweit Schädliches an. Wenige Tage nach meiner Ankunft in der hoch in einem Gebirge gelegenen Hauptstadt starb dann auch noch der Ministerpräsident, der Äthiopien mehr als dreißig Jahre lang regiert hatte. Es wurde sofort Staatstrauer verhängt dergestalt, dass, wenn einmal Strom da war, dieser in dem Hotel ausschließlich dazu benutzt wurde, den einzigen Fernsehapparat, der würfelförmig war, anzuwerfen, um den einzigen Sender empfangen zu können, der dann in Standbildern an Momente im Leben des verstorbenen Ministerpräsidenten erinnerte. Dazu lief eine elegische Flötenmelodie. Man saß dann bei Kerzenlicht, probierte von den über der Kerosinflamme erwärmten Speisen der traditionellen Küche und nippte am äthiopischen Bier, das allerdings sehr gut schmeckte, weil noch zu Kaiserzeiten eine in Deutschland gefertigte Brauereianlage nach Addis Abeba geliefert worden war.

Den Kontakt zu Anne und Ingo konnte ich auch in den Wochen nach dem Ende der Regenzeit, der Jahresbeginn wird am 11. September mit dem Meskalfest gefeiert, kaum aufrecht halten. Das hoteleigene WLAN war hauchzart und es genügte das Flügelschlagen eines der zahlreich im Gemüsegarten umher flatternden Vögel, um eine minutenlang aufgebaute Verbindung zu verwehen. Ingo, der mich nach einigen Wochen besuchte, bekam eines Nachts beim Versuch, eine Skype-Verbindung aufzubauen, einen gewaltigen Wutanfall und versuchte es danach nie mehr.

Das Versprechen der Internetkultur, nämlich von überall aus arbeiten zu können, über Kontinente und Zeitzonen hinweg an ein und derselben Arbeitsstätte – dem Internet, auf einem und demselben Marktplatz – dem Internet, erfüllte sich für mich in diesem Jahr beinahe kaum bis gar nicht, weil ich hinter den äthiopischen Bergen wie abgeschnitten vom Internet allein unter Vögeln lebte. Als ich nach dem Meskalfest des darauf folgenden Jahres nach Deutschland zurückkehrte, schaute ich waahr und was daraus geworden war, wie zum ersten Mal.

Zeit essen Texte auf

Stefanie soll am 10. Februar in Münster einen Vortrag halten über waahr.de. Sie fragt, wie es zur Gründung kam. Enstehungsgeschichten sind natürlich interessant. Die Genese der Welt aus einem Wort im Dunkeln, die Genese der Frau als Gehilfen des Menschen aus einer seiner Rippen, die Genese Manhattans aus einem Beutel voller gläserner Perlen, die Genese des Lapsang Souchong aus hastig über qualmendem Pinienholz getrockneten Teeblättern, die Genese des Personal Computers in einer Garage. Der Betriebswissenschaftler Lars Vollmer hat mir einmal erzählt, dass sich sehr große Firmen mittlwerweile eine Garage einbauen lassen in ihre Gebäude, in denen sich dann die leitenden Mitarbeiter versammeln können, um sich im Inneren der Garage vom Spirit der Garage zu neuen Ideen inspirieren zu lassen.

Waahr.de war ursprünglich ein Start-up. Ingo hatte bis zu diesem Sommer des Jahres 2012 viele Jahre lang an einem Roman geschrieben, der sich dann als noch schwerer zu lesen herausgestellt hatte als sein vor vielen Jahren erschienener Roman Der Effekt. Der war ja immerhin noch von einem Verlag gedruckt worden. Der neue, mit dem Arbeitstitel Da wurde überall abgelehnt. Wir beschlossen, einen eigenen Verlag zu gründen, um diesen Roman zu veröffentlichen. Aus Kostengründen im Internet. Beim Pizzaessen in einer Pizzeria am Saum des Volkspark Friedrichshain lernten wir, während sich unser Gastgeber Holm Friebe lautstark mit seiner Mutter um die Begleichung der Rechnung stritt, einen dubiosen Kunstsammler kennen, der uns zu verstehen gab, dass er Apps programmieren konnte. Vor allem gab er uns zu verstehen, dass Apps das neue Ding waren. Und da wir ihm nicht so recht glaubten (weder, dass er programmieren konnte, noch das mit den Apps), vor allem auch deswegen, weil Ingo noch nicht einmal ein Smartphone besaß, lud uns dieser Mann mit dem wie schlecht ausgedacht klingenden Namen Ivo Wessel für den nächsten Mittag zu sich nach Hause sein. Er sprach dabei von seiner Garage. Wir dachten, es sei ein Labor. Und gingen, auch das war ein Faktor, davon aus, dass Ivo Wessel uns dort ein Arbeitsfrühstück servieren würde, dass Ingo sich als nahrhaft ausmalte und ich mir als köstlich.

Doch leider war es keines von beiden, denn es gab dort nichts. Vor Wessels Garage parkte allerdings sein Sportwagen, ein Lotus, der wie eine geschmolzene Badewanne geformt war mit zwei Froschaugen vorne, und das in gelb. Auch Ivo Wessel selbst ging stets, das war auch am Pizzaabend der Fall gewesen, ganz in Gelb gekleidet. Außer Haus setzte er sich mit einem lilafarbenen Hut aus Filz das i-Tüpfelchen auf. Seine Räumlichkeiten, es war nur ein einziger, dafür sehr großer Raum in einer ehemaligen Fabrik, wiesen zwar eine beeindruckend langgestreckte Küchenzeile auf, aber die diente ja leider nur zu Dekorationszwecken. Ansonsten gab es noch elend viele Industrieregale, in denen Bücher gelagert wurden. Der Fußboden war bedeckt mit installativer Kunst und Skulpturalem. Wenn man nicht genug von junger Kunst versteht, derjenigen mit dem Fachbegriff wet paint, schaut das ja schnell mal nach Gebasteltem oder kaputt Gegangenem aus. Zumindest bleibt es schwer abzustauben.

Nach einem Initiativvortrag Wessels mussten wir uns stärken. Es gab, gleich gegenüber auf der anderen Seite der Straße, ein Eiscafé, das, denn damals ernährte ich mich einer mir selbst auferlegten und vor allem selbst konzipierten Diät zufolge ausschließlich von Spaghetti mit Tomatensauce, auch kleine Gerichte auf der Karte hatte. Während des Essens, Wessel war drüben an seinem imposant über der Kunstsammlung thronenden Schreibtischsessel verblieben, um seine Abrechnungen mit dem iTunes-Store abzuheften, entwickelten wir die Idee für die App. Da der Roman mit dem Titel Da angeblich unlesbar, also zumindest mühselig zu lesen war, sollte unsere App das Herunterladen des Textes ins Bewusstsein des Users erleichtern. Ingo erinnerte an eine kleine Reportage, die ich vor vielen Jahren für die Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasst hatte. Darin war ich anlässlich einer Übernachtung im ersten Hostel für Rucksacktouristen einem dort lebenden Mann begegnet, der einem anderen von einem genialen Trick berichtet hatte. Und zwar hatte er, weil er des Nachts im Bette liegend noch dem Fernsehen frönte, seinen Fernsehapparat auf dessen schmale Kante hochkant aufgestellt, um, selbst dabei auf der Seite liegend, das Bild aus seiner bevorzugten Liegeposition heraus sozusagen verzerrungsfrei und mühelos einschlürfen zu können. Heute würde man das als Lifehack bezeichnen. Damals, als ich den Text verfasste, gab es dieses Wort noch nicht.

Ungefähr so also, zumindest so ähnlich, sollte unsere App funktionieren. Ich war satt. Wessel schlug das Prinzip des Teleprompters vor. Wir kauften im Internet eine interessant aussehende Schrifttype, die außer uns niemand anders verwenden wollte bislang, weil sie nicht nur von polnischen Typographen entwickelt worden war, sondern auch noch so ähnlich hieß. Als Farbe für das App-Symbol wählten wir des Wessels Farbtick wegen Gelb. Judith Banham, unsere Creative Directorin in Detroit, gestaltete aus der Polenschrift und der Farbe eine wunderhübsche Corporate Identity. Bis dahin hieß unsere App noch Lorem, später dann waahr. Mit zwei aa, weil wir Annes Nachnamen so interessant fanden und sie die dritte im Bunde werden würde. Was wiederum Judith dazu inspirierte ihre Schwurhand auf den Scanner zu legen et voilá.

Aus der Idee mit dem Teleprompter wurde dann vermarktungstechnisch leider nichts, weil mir schon in der Betaversion nach drei Minuten schwindlig wurde durch das Lesen im force feed modus. Ich wurde regelrecht seekrank. Also nicht vom Content, sondern vom Modus. Anscheinend will das Bewusstsein selbst bestimmen, in welcher Geschwindigkeit es sich etwas reinzieht. Experimente mit der Frontkamera, die es bald gab (wegen Selfies), also dass die kontrolliert, in welcher Geschwindigkeit die Augen über die Zeile huschen und die Abspulgeschwindigkeit der virtuellen Schriftrolle dementsprechend angeglichen werden kann, fruchteten nicht wirklich. Ein befreundeter Mitarbeiter aus der Bewusstseinsforschung am Max-Planck-Institut, Jonas Obleser (sic!), riet uns, den Plan, wie er es nannte »ad acta« zu legen. Die Kunsthaufen auf dem Boden der Wesselschen Garage schauten wir in diesem, einem für uns nicht ganz neuen Lichte.

Que faire?

Wir hatten ja noch die Domain. Keine App ohne Domain. Aber immer Domain ohne App. Alle anderen Verlagen führten Bezahlschranken ein und wollten mit alten Texten zusätzliches Geld verdienen. Aber hey, wir waren die square ones to fit in a round hole. Wir waren Start-upper, Entrepreneure, wir waren, wie es in Ingos Protokollbuch Minusvisionen so schön hieß: Unternehmer ohne Geld. Überall wo wir waren, war Garage. Also beschlossen wir das Game disruptiv aufzubohren. Und haben damit in den letzten sechs Jahren die komplette deutsche Verlagslandschaft zersägt.

Lila

Die Antwort Julia Kristevas auf meine Frage trifft am Nachmittag ein. Ihre E-Mail-Adresse besteht aus einer Kombination von Buchstaben und Ziffern @aol.com. Hatte ich auch mal vor 25 Jahren. Und davor nur Zahlen @compuserve – ich weiß schon nicht mehr, ob .de oder .com. Sie schreibt ein Englisch, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Mit Anrede und Entschuldigung, Oxford-Komma und Ausblick in eine mögliche Zukunft vor der Verabschiedung. Die Schrift ist auf circa 6 Punkt voreingestellt. Ich muss dem Display sehr nahe kommen und dazu die Brille absetzen, um ihre Zeilen entziffern zu können. Ich werde alt.

Sie ist noch älter. Ihre Sprache ist so wundersam, es braucht eine Weile, bis ich verstehe, woran das liegt; wie sie das macht: sie drückt sich aus. Es ist eine E-Mail ohne Rücksicht auf das Medium. Sie schreibt eine E-Mail wie einen Brief. Mit der Hand. Klar, aber halt so, als ob sie einen Stift führt. Dass es Tasten sind, die sie bedient, dass ihre Zeilen elektronisch übermittelt werden, die Übertragung nichts kostet, die Verwechslungsgefahr mit sogenanntem Spam (doppelt so gefährlich mit einer solchen Adresse), das Immaterielle und Formlose der E-Mail ist ihrem Schreiben nicht anzumerken. Es liest sich wie Handschrift mit Tinte ausgestreckt auf einem Bett aus Papier.

Ins Ohr flüstern geht nicht, aufgrund von Trennscheibe

Am 24. Mai feiern die Bulgaren alljährlich den Tag zu Ehren der Mönche Method und Kyrill. Sie feiern ihr Alphabet. Julia Kristeva erinnert sich, dass in ihren Kinderjahren dort die Lehrer und Schüler auf den Straßen umhergingen, nicht paradierten, und ein jeder hatte sich einen Buchstaben an die Brust gesteckt. Sie schreibt, das bulgarische Wort für Alphabet lässt sich nicht mit ABC erklären, es bedeutet »Mein Buch«. Es ist der Setzkasten, aus dem man sich bedienen darf. Und für Kristeva, die sich seit ihrer Emigration im ABC bedient, hat dieses frühe Bild, der mit Buchstaben besteckten Fußgänger in den Straßen Sofias, dann noch einmal eine andere Bedeutung bekommen. Sie sieht dort die Lettern frei umhergehend, einander grüßend, wie um sich anzubieten, dass aus ihnen der Text eines weiteren Jahres entsteht.

Seitdem ich das gelesen habe, am 23. Januar, dem Tag des Schneeglöckchens im republikanischen Kalender, denke ich darüber nach, wie wohl Analphabeten sich etwas notieren. Entsteht da jeweils ein eigenes Zeichensystem? Und wenn, dann kann ich es mir nicht anders als hieroglyphenhaft vorstellen. Kleine Ketten aus lauter Zeichnungen auf Spickzetteln, die man nach dem Gebrauch vernichtet.

Am Nachmittag musste ich mir eine Serie von Fotos anschauen, die waren draußen aufgenommen worden, an einem Abend im Sommer in einer südlichen Stadt. Die Bäume waren grün und so dicht und rundherum belaubt, dass man den Himmel nur als schmalen Streifen sehen konnte gleich über der Allee. Die Lampen, die an einem langen Kabel längs dieses Streifens hingen, waren angeschaltet und zwischen Himmel und Asphalt stand ein gelbes Licht. Zwei Menschen in Sommerkleidung ohne Mäntel oder Jacken, die Frau in offenen Schuhen, gingen auf einen Kiosk zu, aus dem auch noch Licht drang, ein anderes Gelb. Ich wurde sehr traurig. Mir war eingefallen, wie anders still es abends ist, spät in der Nacht im Sommer. Wieviel mehr Zeit man plötzlich hat, über die Straße zu gehen im Sommer. Dass man sogar auch einfach mal so, bloß so auf die Straße geht im Sommer, ohne dass man was zu besorgen hat.

Im Sommer war der Nachthimmel blau.

Friederike fordert Tote

Das Gewaltmonopol liegt beim Staat, aber gegen die Naturgewalt hat der Staat keine Chance.

Aristoteles glaubte, in Ermangelung einer alternativen Ansichtsweise, dass er in der Natur so lesen könnte wie in einer Schrift; wie in einem von wem auch immer verfassten Text in einem Buch. Gefragt, wohin der Ortolan denn schwönde in den Jahreszeiten vom Oktober bishin zum April, gab er seine Lektüre des großen Textes um ihn herum – er selbst schließlich nichts weiter als darin eine Fußnote, ein Fussel auf dem Scanner – damit weiter, dass die über die Winterszeit aus dem Landschaftsbild vermissten Vögel, sich wohl eingerollt haben müssten im Uferschlamm der heimischen Seen. Um dann, so malte er es sich aus, bei steigenden Temperaturen wieder herauszubrechen wie das Licht aus einer Faust, um aufzufliegen zur Sonne.

Plotin, der selbst nichts schreiben konnte, aber diktieren, nahm diese Theorie gerne auf. Und entwickelte daraufhin seine Theorie von der Seele dahingehend, um die Seelen der Menschen mit der Wesentheit von Vögeln wie dem Ortolan vergleichen zu können, die »zuviel von der Erde aufgenommen haben, worauf sie nicht hoch genug fliegen können«.

Ludwig van Beethoven, da war er noch nicht ertaubt, vernahm den Paarungsruf des Ortolan und es heißt, dass es diese Kadenz war, die ihn inspirierte zur 5. Symphonie:

Dà‘ dà‘ dà‘ Dah—

There is beauty in repetition (wie auch immer das im Lateinischen heißt.)

Sie haben ein Sturmtief nach dir benannt

Die Futtermischung nach der Rezeptur meines Vaters zieht bislang fern gebliebene Gäste an: Heute früh stärkte sich zum ersten Mal an der Säule ein Gimpel. Da hege ich freilich Hoffnung, dass es mir durch ganzjährige Fütterung gelingen wird, nicht bloß die Nachtigall aus dem vergangenen Frühling bei mir als Gast begrüßen zu können (und so manchen Amselhahn in den Pause zwischen zwei Gesangsproben), aber halt bitte auch den Ortolan.

Die Chancen stehen, ich habe mich umgehört, gar nicht schlecht. Zubereitung und Verzehr des Ortolan sind in Frankreich weiterhin nicht unter Strafe gestellt, der Handel mit Ortolanen auch nicht etwa verboten, weil der Vogel, im Umgangsfranzösisch süßerweise als Gärtnerin bezeichnet, vom Aussterben bedroht ist, sondern weil die Art und Weise des klassischen Ortolan-Verzehrs, ähnlich wie der von Schweinefleisch im Islam, tabuisiert wurde (daher auch die Serviette über dem Kopf der Esser). Wie Magnus Nilsson erzählt, gibt es bei ihm dort oben in Lappland Hunderte von Ortolanen in jedem Sommer und dann auch wieder fünf Monate später, wenn sie aus Nordafrika zurück sind. Für Herrn Nilsson war das Ortolanverbot der Franzosen auch ein ausschlaggebender Grund dafür, den französischen Restaurants von Paris, in denen er in seinen Lehr- und Wanderjahren als Sommelier gearbeitet hatte, den Rücken zu kehren, und in Lappland in der ehemaligen Molkereiakademie von Fåviken sein Ristorante come me zu eröffnen: mit radikal-saisonalem Speiseplan. Im Sommer gibt es dort auch Ortolan – freilich exklusiv als Personalessen.

Der Ortolangenuss dürfte noch im späten 19. Jahrhundert beinahe alltäglich gewesen sein im französischen Bürgertum, der republikanische Kalender hat ja so ziemlich jedem Volkstier, jedem Volkskraut, jedem Mineral und Zeugs bishin zum Quecksilber (heute) einen Tag zugeordnet – aber der Kalender schweigt vom Ortolan. Bei Marcel Proust hingegen ist nur an einer Stelle in der Recherche vom Ortolan die Rede, und zwar als Wiedergabe einer solchen. Im Grunde ist es ein Scherz, denn er behauptet, dass auf einer Abendfeier bei den Guérmantes ein Chinareisender erzählt habe, dass die sagenhaften Hundertjährigen Eier der Chinesen aus den Eiern der Gärtnerin bereitet würden.

Proust: sowieso der allerbeste Humor von allen. Ich habe das Bild der durch ihre Schnute laut Nudeln einschlürfenden Chinesen vor Augen und sehe dazu François Mitterand vor mir, in seinem Landhaus im Bordeaux, wie er, acht Tage vor seinem Tod, noch einmal einen Ortolan nach dem anderen ausschlürft unter seiner Serviettenhaube. Damit ihm Gott bei seiner Versündigung nicht zusehen kann.

Café Europa

Auf dem Heimweg fuhr der Zug bis nach Köln, wo wir umsteigen mussten. Die Rheinbrücke erreichten wir bei Sonnenuntergang. Zu beiden Seiten hingen in den Gittern dort die vielen tausend Liebesschlösser eingehakt. Sah aus wie Insektenbefall.

In Bielefeld zuvor bei bestem Wetter noch lange auf der Suche nach Briefmarken gewesen. Selbst in der Buchhandlung Eulenspiegel, die 1970 eröffnet wurde, wie es auf einem Fensterkleber zu lesen war, konnte man uns dabei nicht weiterhelfen. Die Begründung klang indes seltsam: »Weil das Postamt hier schon so oft umgezogen ist« wüsste man nicht zu sagen, wo es sich derzeit gerade befindet. Im mythischen Loom selbst, dem Einkaufszentrum, fragten wir bei einem in der Filiale der Buchhandlungskette Thalia als Verkäufer beschäftigten Mann, der einem Youtube-Tutoren für Age of Empires II ähnlich sah, nach. Auch er konnte uns nicht helfen. Seine Begründung lautete dabei ganz anders und doch sehr ähnlich derjenigen, die uns der alteingesessene Fachbuchhändler der Eulenspiegel gegeben hatte: »Ich bin einfach noch nicht lange genug in Bielefeld.«

Nicht lange genug, um einen Brief verschickt haben zu müssen, fragte ich mich da. Nicht lange genug, um bei dem andauernd seinen Aufstellungsort wechselnden Postamte hinter den Algorithmus zu steigen, nach welchem Muster dieses Postamt seine Positionen tauscht?

Auflösung dann an unvermuteter, weil systemfremder Stelle: Ausgerechnet am Infotresen des Loom gab uns die dort beschäftigte Frau mit dem slawisch anlautenden Namen kompetente Auskunft. Und zwar war es so, dass sich das Postamt direkt neben dem Loom befand. So wurde es klar, weshalb der Eulenspiegel-Mann es nicht wissen wollen konnte: weil Loom quasi Systemfeind, und der Thaliafridolin es niemals finden würde: Loom erhielt ihn, es gab für ihn keine Welt mehr außerhalb des Loom.

Kaum eine Nebenstraße weiter, in unmittelbarer Nähe zum Café Europa betraten wir, durch einen Rockabillymodeladen angelockt, eine komplett entleerte Ladenpassage, die sich wie eine architektonische Version eines Holzwurmes tief in einen Gebäudekomplex aus den achtziger Jahren gefressen hatte. Die komplett weiß gefliesten Ladenflächen mit ihren weißen Einbauten und den weiß tapezierten Wänden; die weiß lackierten Geländer und Laternen, die mit hellem Marmor belegten Treppenstufen der zahlreichen Auf- und Abgänge der mehrgeschossigen Anlage: Alles stand leer und schwieg. Bis auf besagtes Modegeschäft, ein Nagelstudio und die Dependance des sinistren Uhrmachers Satu. Anfänglich noch behutsam, beinahe übervorsichtig wie aus falschem Respekt vor den hinterbliebenen Flächen (einst florierten sie noch so schön!) erforschten wir diesen Kokon des Handels, dessen Innenleben vom Loom herausgeschlürft worden war. Gut und gerne waren dies 2000 Quadratmeter, mit denen sich angeblich jede Menge anfangen lassen würde. Bloß was?

Je länger wir darüber nachdachten, desto weniger fiel uns ein. Da sagte ich: Sei nicht traurig in Anbetracht der vielen Leere. Noch im Augenblick des Abgrunds werde ich Dir eine schöne Geschichte erzählen können. Und diese handelt von dem kleinen Ortolan.

Ortolan und Leinenhaube

Das Loom gibt es wirklich. Kaum noch in Bielefeld am Hauptbahnhof angelangt, wurden wir von unseren Gastgebern in eine Fußgängerzone geführt und kurz darauf standen wir auch schon davor. Dass ein Einkaufszentrum so etwas wie Berühmtheit erlangt, auch das verdankt sich dem Internet. Dort war in den Wochen vor Weihnachten unter anderem auf Twitter viel berichtet und kommentiert worden hinsichtlich des Looms. Unter anderem fragte man sich, ob der merkwürdige Name des Bielefelder Einkaufszentrums, Loom, eventuell als eine Art hot take auf den Namen des berühmten Bielefelders Niklas Luhmann zu nehmen sei oder war. Nun, da wir dem veritablen Loom in Luhmanns Stadt und Wirkungsstätte gegenüber standen, ward uns sonnenklar gemacht, dass die Herleitung unumwundener zu deuten war: Loom, der Webstuhl im Englischen, weil Bielefeld ja einst, noch weit vor Puddingpulver und Pizza von Oetker und freilich auch vor Systemtheorie als Stadt der Leineweber bekannt geworden war.

Heute lautet der Slogan »Bielefeld – weil‘s mir gefällt«. Und ich muss es nicht, will aber sagen: mir auch. So standen wir, auf unserem Weg in unser Hotel, den Plettenberger Hof in der Magenbruchstraße, auch einmal vor einem Baum, der voller Weinlaub hing (im Sommer freilich, momentan war er noch kahl) und dessen knorriger Stamm sich wie unter Schmerzen aus dem Asphalt des Vorplatzes einer schmucklosen Kirche herauszuwinden schien. Beschaulich. Daneben war eine lebensechte Bronzeplastik aufgestellt von einem Mann, der eine Tragstange voller Trauben über die Schulter gelegt auf diesen Baume, der ja im Gegensatz zum traubentragenden Kanaaniter echt war, zuzustreben schien. Eine Begegnung von Kunst und Natur, die mich gedanklich noch lange in Atem hielt.

Derweil wir saßen und, wie es im Schwäbischen heißt: tagten, im Brauhaus Joh. Albrecht, wo es ein sehr gutes Bier gab, das man im Amerikanischen als crisp bezeichnen würde. Aber ein Bier als knackig bezeichnet hier in Westdeutschland kein Mensch. Es war auffällig, wie sauber und ordentlich die Straßen und Wege in Bielefeld gehalten wurden. Interessant für die Freunde der Administrative: Bielefeld wird aus zwei Rathäusern heraus verwaltet und regiert. Eines heißt einfach wie gewohnt Rathaus, das zweite aber trägt die Aufschrift »Technisches Rathaus« in serifenlosen Lettern aus Messing auf der weitflächigen Eingangstüre aus brüniertem Glas. Leider war es da schon spät am Abend, und zudem noch ein Sonntag, sodass sich ein Versuch des Nachfragens vor Ort, was es denn mit dem sogenannt Technischen Rathause auf sich hat, von alleine verbot.

Die Obstdiebin

Die »Special Edition« von Bahlsen Butterkekse mit dem Aroma »Scharfer Salsa« schmecken wie versprochen spicy, also köstlich. Unerwarteterweise. Sie sind auch, das bestätigt Friederike, der ich meine halbe Packung gestern spät am Abend überreichte wie einen Stafelstab, auch mürber, vom Mundgefühl her also knuspriger als die vom Aussehen her identisch wirkenden Originale. (Nur echt mit den 52 Zähnen. Der erste Keks, der nicht nur nach einem Philosophen benannt wurde, Gottfried Wilhelm Leibniz auch der erste Philosoph, nachdem man einen Keks benannt hat; zudem noch einen, der mit seinen 52 nur sogenannten Zähnen – für jede Woche einen? – auch zurückbeißen könnte. So er wollte. Aber Kekse wollen nicht. Und Wollen kann man nicht sollen. Können aber ebenfalls nicht – weder sollen noch wollen.)

Meine Hälfte, die erste, hatte ich während der Zugfahrt verspeist. Dazu las ich in Die Obstdiebin, bei der ich mittlerweile am Rand jener Zone angelangt bin (vorgedrungen klingt scheußlich indiskret), jenem, wie Hermann Lenz es genannt hat: Inneren Bezirk. Dort regiert das Land und die Landschaft. Der Nachtwind weht und am Sockel eines Hauses wächst der wilde Portulak. Draußen, also vor dem Fenster meines Platzes im Großraumabteil war es schon dunkel geworden, nachtkrabbenschwarz. Da schreckte mich ein Wort auf aus meiner behaglichen Lektüre, die so behaglich, weil auch innerlich reibungslos, vor sich hinfließend war von ihrer Gestalt her wie auch das mich Umgebende, der durch Nordhessen dahinpfeilende Inter City Express.

Das Wort war »Eminem«.

Ich legte den angebissenen Keks zurück zu den anderen. Im Ganzen lautete der Absatz, aus dem ich hochgeschreckt war wie aus dem Waldsee, wenn ich von der Libellenlarve angestarrt ward: »Wie offensichtlich war dieser Mond, samt der ihn umkränzenden Wolken. Wie drängte er sich auf. Und wie überdeutlich unter dem Mond – es war, als sei der bei ihrem wiederholten Aufschauen inzwischen voll geworden – die Geräusche auf der ›Diagonale‹. Vor allem die Musik aus den eigens im Schritt fahrenden Autos drang ihr durch die offenen Seitenfenster oder überhaupt aus den dachlosen Untersätzen in die Ohren und trommelte ihr auf den Kopf. Die Obstdiebin war einmal eine Musiknärrin gewesen, und fallweise immer noch. Am tiefsten war ihr der Rap gegangen. Ah, Eminem, mit wahrem Namen ›Marschall…‹. Es war erst ein paar Jahre her, daß sie, wie anders als allein, eins der Elendsviertel von Detroit […]«

Wie konnte das angehen, wie konnte das sein – wie konnte mich das so angehen? Warum gerade dieses Wort, Eminem? Im Inneren Bezirk der Obstdiebin wimmelt der Text zwar nicht gerade vor, er ist auch nicht gespickt mit, aber es kommen doch Ortsnamen und Flussnamen andauernd vor. Worin aber unterscheidet sich Eminem von Courdimanche? War es so, dass ich Peter Handke zutrauen wollte, über Ortschaften in der französischen Picardie zu schreiben, das schien mir ihm machbar, von Eminem aber lasse er besser die Finger? Zumal ich ja selbst nur ungefähr etwas im Ohrgedächtnis hatte von Eminem; mehr sein Gesicht vor mir auftauchen lassen konnte; Slim Shady fiel mir dazu ein. Und Eminems Tochter.

Aber besser halt so, dachte ich mir dann, daraufhin. Zum Lesen konnte ich mich jetzt nicht mehr zusammenreißen, also spionierte ich durch den Spalt, den die zwei Vordersitzlehnen zwischen sich ließen, auf den Monitor einer Frau dort, die, so stellte es sich für mich heraus, an einem Förderantrag für ein Projekt mit Musikern mit migrantischem Hintergrund schrieb. Beziehungsweise baute, denn sie erstellte diesen Antrag in einem Google Doc. Auf einer der sogenannten Folien, die sie mit der Cursorsteuerung durchwechselte wie einen Diavortrag im Schnelldurchlauf, lautete die von ihr verfasste Überschrift »Warum ist Musik so wichtig?«.

Eine interessante Fragestellung, auf die sie sich Antworten holte per copy and paste von einer Internetsite in einem anderen Tab namens Aphorismen.de.

Tulpa

Eine Frau mit einer roten Wollmütze auf betrat das Bahnabteil am Morgen. Sie fand einen freien Platz und setzte sich. Nicht unbedingt umständlich, auf mich wirkte es so, als probierte sie ein Sitzen aus; als säße sie zum ersten Mal auf einem Sitz in der Berliner S-Bahn.

Ich schaute sie an. Sie machte große Augen. Nicht unbedingt erschrocken. Auf mich wirkte das so, als sähe sie zum ersten Mal Menschen um sich herum. Die rote Mütze, die so gar nicht zu ihrer übrigen Kleidung passen wollte, oder konnte (Hatte sie die Mütze bei ihrer Ankunft in der großen Stadt bei einem Souvenirhändler gekauft? War sie aus einer Gegend, in der es viel wärmer war um diese Jahreszeit nach Berlin gekommen? War sie überhaupt von woandersher?), die Sommersprossen auf der dunklen Haut, ihre großen, hellen Augen: sie brachte eine Szene mit sich herein in den Waggon. Alle spielten mit um sie herum. Zumindest wirkte das so auf mich.

Nachdem ich ausgestiegen war aus dem Zug, war ich gespannt, wie lange das Filmgefühl noch anhalten würde. Was es noch zu erzählen gab von ihrer Geschichte.

Ab in die Suppe, Huhn

Das Telefon zeigt ein ungewohntes Symbol an: parallel übereinander geschichtete Wellenlinien. Das bedeutet Nebel. Die Luft ist so feucht, dass die Zeitung schlapp und wie erschöpft sich anfühlt; ein Bündel alter Scheine. Der Nebel verbirgt die Bäume ab der dritten Reihe und ich frage mich, ob bei Nebel wirklich alles geheimnisvoller wirkt als sonst, oder ob ich das bloß deshalb so empfinde, weil ich von klein auf Filme gesehen habe, bei denen das Geheimnisvolle und Schreckliche und Verbotene vor allem dann passierte, wenn es dort in den Filmen neblig war. In Schwarzweiß.

Die Gebäude sehen schöner aus so halb vom Nebel verschleiert. Sogar das eine, dreistöckige auf der Brachfläche gegenüber des Zoologischen Gartens, das auch bei klarem Wetter sehr hübsch ist, mit den vielen Pflanzen auf jedem Stockwerk hinter großflächigen Scheiben. Einmal habe ich dort nachgefragt, was es mit den vielen Pflanzen darin auf sich hat. Es ist kein Gewächshaus. Umringt von den Pflanzen unter Wachstumslampen werden hier die Futtertiere für den Zoo gezüchtet. Mäuse für die Raubvögel, Küken für die Schlangen.

In der Redaktion rufe ich eine Interviewpartnerin in England an. Der Gesprächstermin war schon vor Weihnachten mit ihrer Agentin vereinbart worden. Sie hebt ab, ich starte den eingebauten Festplattenrekorder, begrüße und fange umstandslos an, sie zuzutexten. Eine Pause entsteht. Sie antwortet, etwas zögerlich zwar, aber sie antwortet. Ich rede weiter. Noch eine Pause. Dann entschuldigt sie sich »I totally forgot that we are doing this interview now. My father just died.« Stimme sehr schwach.

Im ersten Licht

Neuneinhalb Stunden geschlafen, und dann gleich Friederike angerufen, um ihr die E-Mail meines Vaters vorzulesen, in der er auf meinen gestrigen Eintrag ins Tagebuch hin mir seine Rezeptur für eine Vogelfuttermischung geschickt hat. Er schreibt: »Seitdem findet jeder alles, was er gerne frisst und damit ist kaum noch Futter am Boden. Das wenige, das runterfällt, fressen die Mäuse.«

Ich wusste nicht, dass mein Vater bei uns zu Hause für die Mischung des Vogelfutters verantwortlich ist. Friederike weist mich auf die eklatante Beziehung von Haus und Häuschen hin. Weiterhin versuche ich ihr zu erklären, was in einer Meise vorgehen mag, das sie dazu bewegt, die kleinen Körner aus der Futtersäule herauszufeuern, und anscheinend gelingt es mir einigermaßen. Seitdem ich diese Dokumentation gesehen habe, in der nachgewiesen wurde, dass selbst Kühe Appetit auf bestimmte Grünpflanzen artikulieren können, bin ich davon überzeugt, dass meine Beobachtungen an der Futtersäule zutreffend sind: Es ist den Meisen zu mühselig, cumbersome, einzelne Körner Hanf, Hirse oder Negersaat hintereinander weg in ihre Schmiede unter der Sitzfläche des Balkonstuhls abtransportieren zu müssen, wenn sie ihren Energiebedarf mit einer einzigen Erdnuß oder einem einzelnen Sonnenblumenkern en bloc decken könnten, um sich daraufhin ihren weiteren Geschäften widmen zu können (worin aber deren Natur bestehen könnte, das kann ich allerdings nur raten, denn die finden woanders, nicht im von mir beobachtbaren Umkreis der Futtersäule oder der Meisenschmiede statt).

Wie uns dieses Thema, Vögel, über drei Orte und mit den Mitteln von Telefon, E-Mail und Tagebuch miteinander verbindet. Aber, wenn ich mir diese Verbundenheit auf der Karte vorstelle, nicht in Form eines Dreiecks. Es entsteht eine Linie über Land.

Weit und noch weiter droben die Vögel.

Pott vs. Tasse

So kehrte ich unter strahlend blauem Himmel nach meinem Dreikönigstagsspaziergang im Tierfuttersupermarkt ein. In meinem Viertel schließen zwar die kleinen Fachgeschäfte, wie beispielsweise das Reformhaus, der Schreibwarenladen, der nicht zu einer Kette gehörende Bäcker und, wie überall sonst auch in Berlin, die Filiale der Berliner Sparkasse, dafür gibt es jetzt auf engstem Raum, eigentlich direkt gegenüberliegend an dieser Straße, die ansonsten vor allem zunehmend leer stehende Ladenflächen zu bieten hat, zwei Filialen von Edeka (die eine ist hier angestammt seit 25 Jahren, die andere gewissermaßen zwangsläufig durch die Konzernübernahme aus einem Kaiser‘s entstanden); außerdem einen Vintage-McDonald’s in der Architektur der achtziger Jahre und zwei Tierfuttersupermärkte. Es fehlt aber noch ein Mediamarkt. Irgendwo las ich neulich erst, dass es eine Folge des Postfordismus sein soll, dass sich die Empathie des Menschen auch auf alles mögliche und nicht Mitmenschliche quasi ausweiten lässt – Geräte zum Beispiel. Und Tiere eben auch. Sogar solche, die sich nicht streicheln oder an einer Leine ausführen lassen, also Bienen zum Beispiel.

Ich brauchte noch Vogelfutter. Und hätte nicht gedacht, in welcher Auswahl und Fülle man es mir dort anzubieten hatte. Denn ich betrat den Tierfuttersupermarkt zum ersten Mal, auch dessen Logo ist eher unangenehm, ein Zerrbild des wie weichgewordenen und dabei halb geschmolzenen Comic-Hundes Pluto, den ich schon ungeschmolzen nicht mag, zudem in gelb und rot (vermutlich, um die Corporate Identity des Tierfuttersupermarktes an die eingefleischtere Corporate Identity von McDonald’s anzuschmiegen, denn der Tierfuttersupermarkt befindet sich – räumlich gesehen – im Hinterhof des Drive-Inn-Restaurants.)

Im Tierfuttersupermarkt duftete es so herrlich wie einst in den Zoohandlungen meiner Kindertage. Einmal habe ich das in camouflagefarbenen Flocken verkaufte Zierfischfutter sogar mit angefeuchteter Zeigefingerspitze gedippt und probiert. Über den Duft vorgestern, 2018, entstand ein umgekehrter Madeleine-Effekt. Am ausladenden Regal mit den Tüten voller Futtermischungen für freilebende Wildvögel entschied ich mich für eine Mischung für wild lebende Waldvögel. Auf der Packung aufgemalt waren so gut wie alle Schnabelträger, die sich regelmäßig an meiner Futtersäule zu versammeln pflegen: Kleiber, diverse Meisen und sogar das süße Rotkehlchen. Mit ausschlaggebend für meine Kaufentscheidung war zudem das Logo des Herstellers, ein Rotkehlchen mit Chefkochmütze auf und einem Kochlöffel in der zur Faust geballten Flügelspitze, das sich als Sternekoch empfahl. Außerdem enthielt die aus unbehandelten Körnern bestehende Mixtur laut Inhaltsangabe einen Anteil einer ominösen »Negersaat« von der ich noch nie zuvor gehört hatte, auf deren Schmackhaftigkeit ich aber gespannt war in meiner Eigenschaft als Voyeur.

Es war dann aber leider so, dass meine Vogelschar sich zwar wie gewohnt auf die frisch angefüllte Säule stürzte, doch wurde mein Zuschauvergnügen extrem geschmälert insofern, dass die Kleiber, vor allem aber die Meisen, die Gourmetmischung so nicht als zum Erbrechen, aber zum Wegschleudern fanden. Und dies und ausdauernd auch so lange, bis sie durch die Neuanfüllung hindurch auf den Bodensatz eines Restes der noch in Frankfurt besorgten Mischung aus der Samenhandlung von Herrn Andreas vorgedrungen waren. Die besteht aus Erdnüssen und Sonnenblumenkernen, enthält allenfalls Spuren von Negersaat.

Das dauerte zwar einen Tag lang an, das stoische Hineinpicken und Herausschleudern, aber es unterhielt mich vom Anblick her eher schlecht. Nun liegt am Balkonboden alles voll mit teurer Wildwaldvogelmischung. Wobei auf der Packung ausdrücklich versprochen wird, dass die Saaten restlos aufgepickt werden, da es sich um eine extrem schmackhafte Zusammenstellung von Körnern handele. Zudem kommt mir der deftige Temperatursturz zur Hilfe. Seit heute früh hat es -3° Celsius. Die Säule wird von mir erst wieder nachgefüllt, wenn auch das letzte Saatenkorn vom Balkonboden aufgepickt ward.

Die Last der Jahre (Ich als Gespenst)

Den Zauberkasten mochte ich nicht, aber die Bedienungsanleitung habe ich viel gelesen. Dass man da etwas einstudieren sollte, Tricks, ich habe das nicht verstanden (was daran andere fasziniert haben soll). Magisch war für mich der Begriff der Servante, also dass man als Zauberer eine geheime Schublade sich einrichten sollte, um daraus etwas hervorzaubern zu können. Tatsächlich besaß ich einen weißen Hasen, es war ein Albino, aber als ich den Zauberkasten geschenkt gekommen hatte (als das Wünschen noch half) war der leider schon tot. Gestorben auf eine unzauberische Weise, die eventuell meinen Glauben an Zauberei an und für sich, ja, eigentlich zerstört haben dürfte. Es war nämlich so gewesen, dass dieser Hase, ein sogenanntes Männchen (das wird jetzt gleich wichtig) die Tapete meines Zimmers heruntergekratzt hat, um dann an diesen bloßgelegten Stellen empor zu pinkeln. Man frage besser nicht, warum, wie es bei Thomas Bernhard heißt. Daraufhin, also nach einigen dieser Wandanpinkelungen hasenseits wurde im Elternbeirat beschlossen, den Hasen auszusondern. Er bekam ein von meinem Vater liebevollst gezimmertes (auch hier schon, ganz früh: die Widersprüchlichkeit der erwachsenen Welt!) Freiluftgefängnis auf dem elterlichen Rasen zugewiesen, das ab und an auch planvoll versetzt wurde, sodass der Hase neue und nur ihm frisch erscheinende Grasnarben abnagen konnte. Wer, wie ich, auf dem Lande aufgewachsen ist, der wird sie wohl kennen, die allumfassende Nutzbarkeitsmachungslust der dort ansässigen Leute.

Der Hase aber, er wusste sich zu widersetzen. Eines Nachts (es war ein Abend, aber Kinder werden ja allzu früh schon zu Bette geschickt) weckten mich gellende Schreie auf. Ich schaute den Vater, wie er, im Hemde, das zudem wild gestreift war, und im Verbund mit dem männlichen Anteil der nachbarschaftlichen Bevölkerung in einem Graben, der zum Verlegen neuartiger Telefonleitungen direkt vor unseren Haustüren ausgehoben ward, herumsprang. Und zwar wild. Zwischenduch schon mal fuchtelnd. Das traf mich sehr, denn es ging dabei um den Hasen. Der nämlich hatte sich durchgegraben aus seinem Gatter und war in dem unsere Behausung umgebenden Graben zugange. Dort suchte er Freiheit.

Man konnte ihn einfangen. Im darauffolgenden Winter fand ich den Käfig dann eines Morgens von ihm leer. Eine läpperige Blutspur zeigte auf das Ende unseres Grundstücks, das meine Eltern ohne Zaun hin zum fernen Waldrand gestaltet hatten. Man hat mir dann eröffnet: das war ein Fuchs.

Elektronik kann doch kaum die Lösung für alles sein

Erheiternd einerseits, dann aber auch unfassbar traurig machend, abgrundtief, ist der Text von Tilman Spreckelsen im Feuilleton, in dem er die Quellenlage der Erzählung Tischlein deck’ dich erläutert; weil es das bald nicht mehr gibt. Weil Frechheit obsiegt. Schon jetzt, wenn ich »Okay Google« nach Tilman frage, erscheint Tillmann Prüfer. Derselbe Spreckelsen taucht bereits nicht mehr auf, wie Rainald Goetz, dabei Simon Strauß parodierend, einst lustig schrieb: »Nichts, das nicht schwönde«. Soll bitte mal auf meinem Grabsteine stehen. Gravierenderweise. Derweil schreibt er (Spreckelsen), er ergründet, worin die Motivation einer legendär gewordenen Ziege (aus einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hatte) bestanden haben dürfte. Illustriert, das heißt auch: ausgestattet, mit einer antiken Zeichnung, die zwei Frauengestalten beim Konsumieren von Schnupftabak abbildet. So long.

Wer aber ist Magnus Klaue, der in der vergangenen Woche so schön über Niklas Luhmann schrieb? Etwas versteckt, freilich. Ich ertappe mich beim Schreiben dabei, wie ich mir selbst beinahe schon Vorwürfe machte, weil ich den Text gelesen hatte, beziehungsweise: entdeckt – aus lauter Muße! Aber Gott sei dank funktioniert die protestantische Verfassung ja demnach, dass ich dann bloß rasch an das Abendmahl zu denken brauche, das uns am Silvesterabend in der Kirche der Paulusgemeinde zu Teil gemacht wurde und dann geht es schon wieder besser hinsichtlich Gewissen. Das Sacerdotale, Kirche sowieso ganz, ganz großartig. Muss bald wieder hin.

Klaue also beschreibt, eigentlich erzählt er es nach, denn in dem Text ging es ihm eigentlich um etwas ganz anderes, nämlich um die Todesursache Adornos. Das war für mich interessant, denn ich denke ja schon seit vielen Jahren, im Grunde seitdem ich es von Gerhard Merz persönlich erklärt bekommen hatte, darüber nach, ob denn Gerhard Merz recht behalten könnte mit seiner Behauptung, die er, dabei natürlich hinter seinem Schreibtisch sitzend, mir gegenüber ausgesprochen hatte, dass Theodor Adorno als Mensch an den nackten Titten gestorben war. Oder sei? Jedenfalls durch den Anblick derselben.

Magnus Klaue indes greift diese These auf, allerdings ohne Merz zu zitieren, um noch Folgendes hinzuzufügen: Es war Niklas Luhmann, Sohn eines Bierbrauers, der Theodor Adorno, der Sohn eines Weinhändlers war (aber nicht nur!) beraten sollte, im letzten Jahr vor seinem Tode. Damals, ob es dabei um nackte Titten ging, davon schweigt Klaue, saßen beide in einer Frankfurter Weinwirtschaft und Adorno schüttete Luhmann sein Herz aus, wie es heißt. Doch wäre Adorno nicht Adorno gewesen, wenn er sich dabei nicht auch noch etwas gedacht hätte. Angeblich nämlich, so Klaue, hatte er sich Luhmanns Rat vor allem auch deshalb erbeten, weil Luhmann sich doch hauptamtlich mit Verwaltungsangelegenheiten befasste. Und genau darum ging es ihm (Adorno): Die Frage lautete, wie es zu handhaben war, wenn man sich nebendraußen bei der Ehe mit einer Schauspielerin befassen wollte (ohne dass die schmollte).

Luhmann, wie gewohnt knallhart (oder wie Tom Kummer schriebe »knallzart«): »Gib ihr Geld«.

Wobei Magnus Klaue hier freilich den Begriff der Apanage wiedergibt. Glaube ich ihm aber nicht. Das sogenannte Ende vom Lied: Luhmann, der einst dort in Frankfurt eine Vertretungsprofessur ableistete für Adorno, der sich ein Sabbatical (sic!) genommen hatte, um sich der Schauspielerin widmen zu können, verfasste aus den zu dieser Gelegenheit abzuhaltenden Vorlesungen den Band Liebe als Passion. Adorno apanniert, wird dadurch aber nicht glücklicher, sondern stirbt.

Du musst nicht unbedingt Skateboardfahren können, um das zu verstehen

Der Nachbar lässt die Wohnungen streichen. Das macht man so, ist hierzulande usus im neuen Jahr. Die Leiter des Malers schaut von hier aus so aus wie eine Staffelei. Die Vorhänge sind gebündelt eingepackt in transparente Folie.

Shtëpia juaj është e gatshme për zbardhjen, wie es im Albanischen heißt. Zu Deutsch: »Du kannst dein Haus von innen neu streichen lassen«. Das habe ich von Ismael Kadare erfahren. Aus seiner Geschichte vom Zerrissenen April (Prilli i thyer). Die dortige Camorra fordert, dass nach dem Blutbade (beispielsweise, wenn der hereingeschneite Reisende, der es gewagt haben sollte, den Topfdeckel anzuheben, erschossen ward – und mit ihm dann auch seine fernab lebenden Söhne, die Töchter, die Enkelsöhne und Enkelstöchter und immer so fort) die Innenräume des Familienturmes gänzlich und sämtlich vom darob verspritzten Blute übertüncht zu haben sein sollen. Und müssen.

Wobei das, in meinem Falle und dem meines Nachbarn, lediglich und anscheinend das Turmzimmer betrifft. Und somit zieht dann demnächst dort ein neuer Kandidat ein. Vermutlich eine Kandidatin, denn im LCB, dem Literarischen Colloquium zu Berlin, wird den Dichtern von weiblicher Gestalt stets dies schöne Turmzimmer angewiesen. Man baut (sic!) dort wohl auf einen durch den Ausblick auf den See gemilderten, demnach auch weiblicher zu werdenden Blicke im Sinne der Brontës oder halt gleich Sister Woolf (bei Bedürfnis nach einigen Wackersteinen oder einem festen Mantel bitte einfach bloß formlos schellen, ich wohne gleich nebendran: Herzlich JB) 1987 sollte Thomas Meinecke seinen Text mit Ausblick aus dem Gartensaale abfassen. Au net schlecht.

Der Sturm mit dem Namen Burghild fegte hier um fünf Uhr in der Frühe durch. Das Prasseln der Tropfen gegen meine Scheiben machte mich wach. Und dann schaute ich nach meiner Post. Das ist das Herrliche an meiner Ära, dass ich jederzeit meine Korrespondenz erledigen kann. Sie ist online. Sie unterhält mich.

Bei Hermann Lenz gibt es ja noch diese Eintragungen im Tagebuch, dass er nach dem Nachmittagsessen von Käsebrot und Obstsalat (bereitet von Hanne) ein zweites Mal hinaufgestiegen ist in sein von ihm so genanntes Stüble, um Korrespondenz zu erledigen. Wahrscheinlich hänge ich an meiner Wohnung auch so arg, weil es darin eine Treppe gibt, die ich hinaufsteigen kann. Jederzeit.

Überall zu korrespondieren schmeckte mir nicht! Obstsalat schon.

Ingo ist demzufolge in Tokio. Auch gut. Er schickt ein Bild einer Zeichnung von Fröschen mit Hasen. Ich tippe auf Tommi Ungerer, aber die Bilder, also das von ihm Abgebildete und an mich Verschickte, sind beinahe 2000 Jahre alt.

Unter anderem gab es dort zu essen wohl Wal.

Sultans of Swing

Und als ich nach Hause kam

Lag dort der See und wollte beschrieben werden

Und der Supermarkt hatte geschlossen

Aber

Als ich bei uns in den Fahrstuhl gestiegen

War es noch dunkel und er hielt

Was er sonst nie tut im Dritten und

Die Mume stieg zu und

Sie grüßte mich zuerst und

Sie war unter dem Licht in der Kabine noch kleiner geworden und

Zum Abschied hielt sie mir die Türe auf und

Mir träumte dann von einem Mann

Der tapfer war

Und er kam oben an einer Baustelle an

Von einem Kamin, oder Schornsteine an

Und die schaute ihm würdig aus

Gerade

Geradezu festlich

Zum Auffahren in die Unendlichkeit

Aber schongleich nach dem Absprung haute ihm die erste Gerüststange

die Kiefer ein und sein Nasenbein

Und die nächste schlug ihm gegen den Hinterkopf und

So ging es scheppernd weiter über

Vielerlei Rippen

Und Wirbel

Mit ihm bis dann das

Erdenrund

Der Boden schließlich alles ihm vollends kaputt haute

Der Winterwind heulte

Sogar im Traum

(Sorry for bad poetry)

Yuppi Du

Es gibt gesündere Weisen, sich von Frankfurt zu verabschieden, aber eine schönere nicht. Gestern wurde ich zum ersten Mal von einer Frau unter den Tisch gegessen. Das passierte mir freilich im Traditionslokal von Adolf Wagner, weil das Gemalte Haus gleich daneben am Neujahrstage geschlossen hatte. Dementsprechend gut gefüllt waren die Speisesäle im Lokal Wagner, wo wir aber dennoch, die Kellner tragen dort weiße Jacken wie in Mailand, einen sehr guten Platz zugewiesen bekamen. Im Vorbeigehen an dem dünnen Spezialtresen, an dem einzelne Apfelweintrinker ihr Geripptes im Stehen austranken, wurde ich von einem solchen, dort alleine Zechenden angesprochen, ob ich »Klopp« sei, »der Trainer«. Das war das erste Mal, und zwar nicht bloß das erste Mal in dem jungen Jahr, sondern das erste Mal in meinem Leben überhaupt, dass ich mit Klopp, dem Trainer, verwechselt wurde. Diedrich Diederichsen kommt vor. Klaas Heufer-Umlauf kam eine zeitlang vor, der scheint aber mittlerweile anders auszuschauen, oder ich.

Am Platze wurden dann auf Friederikes Anraten hin Schäufele und Leiterle bestellt. Dazu ein Bembel mit angenehm prickelnd aufgespritztem Apfelwein. Schließlich waren wir, insbesondere wohl ich, nach dem ausladenden Käsefondue, einem Moitié-moitié am sehr späten Vorabend, noch rekonvaleszent. Die ebenfalls an unserer Tafel plazierten Spanierinnen machten pikiert Fotos von ihren Tellergerichten, nachdem ihnen die im Blindflug bestellten Speisen gebracht worden waren. Im Gegensatz zu Berliner Traditionslokalen hält man in denen Frankfurts keine Speisekarten in spanischer Sprache vor. Dann endlich wurden auch uns die enormen Fleischportionen serviert, für die das Adolf Wagner völlig zu Recht berühmt ist. Der verharmlosende Diminuitiv war sowohl bei der Leiter als auch bei der Schaufel nur als gröbste Ironie zu verstehen.

Noch auf dem Heimwege, bei klarem blauen Himmel und einem schönen, frischen Wind, ging es mir ausgezeichnet, und wie geölt sagte ich im Angesicht der Skyline sämtliche Namen aller Bankgebäude prompt und stets auch richtig zugeordnet auf. Sogar der Name des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, deren logofreies Gebäude ich einwandfrei lokalisiert hatte, fiel mir unverzögert ein.

Am Nachmittag dann Krisis. Selbst Tee und Schnäpse brachten mir kaum Linderung. Nun rächte sich ein jahrelanger Fehltritt zum Veganer, der zwar schon einige Jahr zurücklag, doch hatte ich wohl noch immer nicht genügend Resistenzen gegen tierische Fette und Fleische aufgebaut.

Schlaflos durchwachte Nacht.