2019

31.12.2019

Als letzte Post des Jahres (und des Jahrzents!) trifft endlich das Jamaica-Buch von Fleming ein. Darin der ersehnte Aufsatz über Dialect, Magic And Religion, von dem ich mir Grundlegendes zum Verständnis des Inselvolkes versprochen hatte (in zwei Wochen brechen wir auf). Enttäuschenderweise hat die Forschung zum Zeitpunkt der Drucklegung, 1965, noch kaum etwas zur Inselsprache Patois herausbringen können. Auch der Rastafari-Kult ist da noch eher Randerscheinung, Reggae unbekannt. Interessant jedoch der Verweis auf die afrikanische Sprache Akan aus Ghana, auf die sich zahlreiche der auf Jamaica verwendeten Begriffe zurückführen liessen. So gibt es im Akan das System eines Geburtstagsnamens, der auf den jeweiligen Wochentag hinweist, an dem man zur Welt gekommen ist. Das scheint in dieser Kultur von erheblicher Bedeutung. Ausserdem werden diese den Wochentagen zugeordneten Namen in für Mädchen und Jungen eignenden Formen verliehen, damit auch in der Zugehörigkeit zum jeweiligen Geschlecht Eindeutigkeit herrscht, beziehungsweise: man weiss, mit wem man es zu tun hat, wenn man über jemand anderen spricht. Unter den Sprechern von Akan und auf dem alten Jamaica stünde Ludwig van Beethoven namensmässig eher halbseiden da — ein Freitagsmann? Oder doch eher ein klassischer Mittwoch? Hegel hingegen, im selben Jahr an einem Montag geboren, dürfte dort zusätzlich zu Georg, Wilhelm und Friedrich «Cudjoe» heissen. Und sein Jahreskollege Hölderlin als Dienstagssohn: Cubbena.

30.12.2019

Der Mond hauchdünn, ein wahrer Silberling, ein Fingernagel, und die Venus ihm in spannungsvoller Ferne beigesellt (im Tierreich könnte ich von ihrer Warndistanz sprechen): am Samstag, kurz nach Sonnenuntergang, und gestern dann gleich wieder zeigte sich die schöne Konstellation am Himmel, der gestern dann auch noch wie zur Feier grünlich farbte (mit rostig roten Schlieren).

Vom Balkon aus betrachtet, war weit darunter noch ein Leuchtkörper aufgegangen. Wie an jedem anderen Abend im Jahr. Das seit Jahrzehnten. Er hat, in Weiss auf Blau, die Zeichnung des Lesers, der, wie Pegasus, halb Mensch, halb Zeitung ist. Eben dort, in dieser Zeitung war ich am Freitag schon auf dies Sternenbild von Mond und Venus hingewiesen worden. Zum ersten Mal, seitdem ich die Kolumne Der Sternenhimmel im jeweiligen Monat lese, verfasst nicht mehr von Harald Marx, sondern von einem neuen Mann. Marx, ein Württemberger, ist in Pension gegangen. Es fehlt mir nicht nur seine spezielle Poesie, es fehlen nicht vor allem, sondern, wie es bei einem Paar halt ist: auch die Zeichnungen des jeweiligen Sternenhimmels von Leni Marx fehlen. Das Paar hatte sich in der Schwäbischen Sternwarte von Stuttgart kennengelernt.

In die Prosa des Neuen, Jan Hattenbach, muss ich mich erst eingewöhnen. Die Kolumne wird jetzt mit einer Computergrafik illustriert.

28.12.2019

Besuch von Sebastian, der sich auf der Durchreise befand nach Wien (dort zeigt man gerade, für wenige Tage nur, Dürers Feldhasen in der Albertina). Frühstück in der japanischen Konditorei: Er nimmt das Melonpan, das sich als duftiger Hefek(o)loss, überkrustet von feuerwehrautofarbenden Zuckerkristallen mit dem Aroma von Wassermelonen entpuppen soll. Sebastian: «Comme il Foucault.»

Die japanische Küche verlangt nach dem unbedingten Vertrauen des Essers zu seinem Koch (oder Konditor in dem Fall). Alles mundet — auch wenn es manchmal nicht danach ausschaut (oder -riecht). Einzige, mir bekannte Ausnahme: Natto.

Heute früh kurz nach Sonnenaufgang durch das menschenleere Westend. Goldrand am Windspoiler am Turm der DZ-Bank — ich brauche kein Shazam mehr für die Bankenhochhäuser, kann sie beinahe allesamt auswendig.

Der Hase Ska singt mit der Stimme von Prince Buster. Neue Horizonte in vertrauter Umgebung.

26.12.2019

Nachmittags Ausflug zur Schwanheimer Düne. Erstaunlich wenige Menschen in der schönen Landschaft, bei zudem frühlingshaftem Wetter. Man darf den Weg, der, wie durch ein Moor, über Bohlen geführt wird, nicht verlassen, weil wirklich alles links und rechterhand unter Naturschutz gestellt ist. Fühlte mich freilich trotzdem gelockt. Immens! Drei sehr schöne Eichen, die Äste von unten her eng gepackt wie Schubladen in Rokokokommoden. Dann wieder Kiefern, dunkel und duftend, da frisch beschnitten. Hagebuttensträucher hielten ihre roten Perlen mit langen Fingern gegens Licht. Und an dem Gatter, hinter dem die Schafe verharrten, hatte der Schäfer einen Aufruf zur Mithilfe angenagelt: «Zeugen gesucht!» Im Oktober sind ihm hier nächtens drei seiner Böcke von der Weide geholt worden. Die Bilder der Überwachungskamera zeigen, schwarzweiss, einen Mann von hinten, könnte jeder sein. Trägt ein T-Shirt, zum Beispiel. Haare nachtfarben, eventuell schwarz. Einer der entführten Böcke «mit imposantem Gehörn» wurde unweit vom Tatort geschlachtet. Wohl kaum spontan. Wer plant so etwas?

Zur Teestunde dann in die japanische Konditorei, ein kurioser Ort und derzeit mein liebster in der Stadt. So stelle ich, der ich noch nie in Japan war, das von Ian Buruma beschriebene Café Versailles im Tokio der siebziger Jahre vor (reichlich Trompe-L’Oeuil-Malereien an den Wänden (Faltenwürfe), Papierblüten, eine Laube aus synthetischen Kirschblütenzweigen, schimmernd lackierte Vogelhäuschen im Vorraum der Toiletten und ein Klavier, das von sich aus spielt)). Und die Torten sind erstklassig. Werde wohl noch Wochen brauchen, um mich durch das gesamte Sortiment probiert zu haben (herrliche Aussicht!) Heute ein Stück himbeerfarbene Chiffontorte und eine Scheibe von der Schwarzwälder-Kirsch-Rolle. Bin mir ziemlich sicher, dass die ihre Schlagsahne aus der Schweiz importieren. Mondän!

25.12.2019

Auf den Aufsatz von John Berger war ich hingeführt worden durch eine Begebenheit bei Tisch im Hause Jäger, als dort ein Gast, der mir bis zu jenem Abend unbekannte Student der Theologie Manuel, eine heitere Anekdote aus der Geschichte seiner Kirche auferzählte, in der es um die in der Fastenzeit vor Weihnachten erlaubten Tiere, nämlich «die aus den Wassern» ging — eine Erlaubnis, die insbesondere in den Klöstern bald zu einer fantasievollen Schlemmerei durchs Hintertürchen führen würde, wie Manuel erzählte. «Waller mit Meerrettischsauce», geriet Lorenz Jäger, wie Manuel ein Katholik, dabei ins Schwärmen, während doch in der Wirklichkeit gerade eine herrliche Scheibe Roastbeef vor ihm auf dem Teller lag. Doch pflichtete Manuel ihm, dabei vor einem ähnlich schön gefüllten Teller sitzend, bei: «Gewiss, aber als sie dann erst mit den Enten aus dem Teich ankamen, ward es zu weit getrieben.»

Köstlich! Eben dieser Manuel übrigens gab uns gegenüber seinen Berufswunsch mit Priester an. «Pfarrer auf gar keinen Fall» — mir war bislang der Unterschied nicht klar. In dem Sinne eigentlich Schade, dass wir Protestanten sind. Und so gab es gestern weder mit Jäger, noch mit Manuel, oder gar mit Mosebachs ein Wiedersehen, als wir uns, noch während die Domglocken läuteten, in die Alte Nikolaikirche stahlen. Im Innenraum dieser Kirche stört mich einzig die Orgel, deren Gehäuse für meinen Geschmack ein wenig zu sehr an einen Bauernschrank erinnert; also dass es das überhaupt tut, scheint mir schon zuviel. Doch sass dort gestern droben an Balg und Tasten mit Lars Voorgang ein Meister, der in seinen Präludien beinahe extatische Improvisationslust zeigen wollte und dann noch, wie um nur unser beider Privatgefallen zu erregen, ein Vorspiel auf der vergötterten Celesta erklingen liess (die gibt es wohl als Einbaumodul vom Celesta-Spezialisten Schiedmayer, und die wohlhabende Gemeinde kann es sich auch leisten). Herrlich dann auch seine Toccata über «O du fröhliche» nach Grimoaldo Macchia: Technoid malmend, wie es sich in Frankfurt gehört.

Weit nach Mitternacht zu Bett, obwohl ich der Lockung einer Mitternachtsmesse in der Deutschordenskirche widerstanden hatte. Auch weil Manuel mir auf der Heimfahrt verraten hatte, dass er selbst auch den zur Unzeit und dann auch noch in lateinischer Sprache gefeierten Gottesdienst zu schwänzen gedachte, weil Mosebach die Weihnachtstage in diesem Jahr, aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Bauarbeiten in seiner ansonsten bezugsfertigen Wohnung, ausserhalb Frankfurts, mutmasslich auf Schloss St. Emmeram, verbringen wird.

Beim Frühstück empfing ich trotzdem oder aufgrund dessen Inspiration. Verfasste ein kleines Gedicht zu meinem Wohlgericht, dem Ei:

ODE ANS EI

Hinter heller Hüll verborgen

Deines Inn’ren Cremigkeit

Aug‘ und, zugleich: gaumenschmeichelnd

Eiweissfarbend, leuchtorange

Nicht am sogenannten Wasser, Du bist nah an Milch gebaut

Gehörst Du, Ei, dem Gedächtnisschatze an

Mich an meine erste Lieb‘ zu erinnern,

Mich zu begleiten, keusch, Mein Leben lang

Liebe Deines Wohlgeschmackes

Mild mir die Lippen salbender Seim

Die deiner Wunder niemehr satte

Mannigfaltigkeit des Hühnerkeims

Doch auch von Enten, von denen besonders — 

himmlische Eier geflügelter Wesen

Auch die von Amseln, von Rotkehlchen, Schwänen

Eier von Engeln? Ach, warum nicht!

Schaum und Kristalle, Salz und Butter

Gold und Braun gestreiftes Brot

Als Ei im Glas, Ei auf dem Teller

Sanft gegart, doch niemals roh

Bist Du dann einst ausgeblasen

Steigst Du auf zum Osterzweig

Eigerippe, Schmuck der Sorben

Bunt gewandet, Herrlichkeit

24.12.2019

«Die Augen des Tieres sind, wenn sie einen Menschen betrachten, aufmerksam und wach» schreibt John Berger. «Das gleiche Tier wird wahrscheinlich andere Tiere auf die gleiche Weise ansehen. Für den Menschen ist kein besonderer Blick reserviert. Doch keine andere Gattung als die des Menschen wird den Blick des Tieres als vertraut empfinden. Andere Tiere nimmt der Blick gefangen. Der Mensch jedoch wird sich, indem er den Blick erwidert, seiner selbst bewusst.» 

Warum sehen wir Tiere an? heisst der Aufsatz (aus dem Jahr 1980), darin lässt sich unter anderem auch ein köstliches Stück aus einer ostafrikanischen Kosmogenie finden, aber vor allem taucht schon während der Lektüre das Gefühl auf und gewinnt dabei Konturen, dass mit dieser Selbstgewahrwerdung sich der Mensch seiner Kreatürlichkeit nächst dem Tier bewusst werden kann. Dass es nicht, oder: nicht mehr, absolut so sein wird, davon handelt Bergers Text. Er präpariert den am Tier interessierten Blick des Menschen für eine Szene des Abschieds von der unmittelbaren Nachbarschaft des Menschen zu den Tieren heraus, die sich, unter anderem mit den auf dem Jahrersrund angeordneten Tierkreiszeichen anschaulich machen lässt. 

Zur Entstehungszeit von Bergers Text, am Ende der siebziger Jahre, war die Lebensmittelindustrie noch vom Territorium der Vereinigten Staaten aus in ihrer weltweiten Entfaltung begriffen. Dort macht Berger den Ort des vollendet durchgesetzten Kapitalismus aus, dessen Konsequenz eine scharfe Trennung vom Menschen zu seinen Tieren verlangt, die fortan Ressource sind, Haustiere, Material für Tierdokumentationen oder Roadkill. Als Momumente dieser Spaltung in die Welt und die Tierwelt sind für Berger die Zoos: Der Jardin des Plantes wird Ende des 18. Jahrhunderts in Paris eröffnet, dann einer in London, dann einer in Berlin. 

In der New York Times war gestern als Empfehlung für das Festtagsmenü ein Rezept für ein Spanferkel mit knuspriger Haut mit der Überschrift An Unforgettable Holiday Centerpiece. Die Autorin, Gabrielle Hamilton schreibt zur Vorbereitung des Ferkelfleisches: «Wash it, including the cavity, under cold running water, and towel-dry thoroughly, the way you would dry a small child after a bath — ears, armpits, chest cavity, face, legs, backs of knees.»

Die Augen schält am besten mit einem Apfleausstecher aus den Höhlen und «ersetzt sie mit Murmeln». Sonst schaut das knusprige Ferkel grauslich aus.

23.12.2019

Heimgekehrt nach einem geselligen Abend bei Jägers, nahm ich noch einmal diese Zeitschrift zur Hand, die mich in den vergangenen Tagen seit meiner Genesung stark beschäftigt hatte — aus dem einzigen Grund aber, dass ich sie nicht verstehe. Und dieses Etwas-nicht-verstehen, davor habe ich mich immer gefürchtet. Vor allem, weil ich es als Argument vorgebracht selbst nie akzeptieren wollte; dass jemand etwas nicht verstehen kann, das kam mir stets vorgeschoben vor (also doppelt geheuchelt). Also kein schwaches Argument, sondern keines. Eine Ausrede.

Jetzt aber diese Zeitschrift, Friederike hat sie abonniert. Christian hat darin schon Fotos veröffentlicht. Zwei Menschen also, Geister, die ich zu verstehen glaube, verstehen kann, wie es mir scheint. Aber diese Zeitschrift — Das Wetter heisst sie, und schon frage ich mich, warum «Das Wetter», schon die Namensgebung verstehe ich nicht. Das Titelblatt zeigt eine Zeichnung: Zwei männliche Gestalten in heller Freizeitkleidung mit verkehrtherum montierten Flügeln aus leeren Mineralwasserflaschen in einem Rosenbeet. Ihre Gesichter sind grob verpixelt. Im Hintergrund: ein Himmel, das Meer.

Berichtet wird von Musikern, auch von einem Schriftsteller (dessen Debüt in ein paar Monaten erscheint, aber um das Buch geht es in dem sehr langen Interview nicht, sondern um ihn selbst, nach Feierabend sozusagen). Die überwiegende Zahl der Artikel scheint mir in der Sprache darauf angelegt, dass ich so bald wie möglich das Interesse verliere, mich weiter durch die Sätze zu arbeiten (wie in einer Geheimsprache, deren Chiffren ich nicht entschlüsseln können soll). Beispielsweise erscheint das Portrait der Musikerin Ilgen-Nur redaktionell ausgestattet mit den einleitenden Sätzen: «Ilgen-Nur und ich treffen uns in einem Café in ihrer neuen Wahlheimat Berlin und unterhalten uns bei einem Kaffee über Realness, Migration und Instagram. Hauptsächlich in Anglizismen».

Teilweise verstehe ich auch die eventuell nicht einmal für Das Wetter spezifische Art, Schriften zu setzen, nicht mehr. Das, wie gesagt, nicht aus einer Denkfaulheit heraus oder aus mangelndem Interesse. Dramatisch. Vor allem, da es mich trifft.

20.12.2019

Gestern abends «Marriage Story»: Der Film hat die schönste Farbgebung seit dem Eissturm. Auch lag da, in der Szene bei der Scheidungsanwältin, ein rosafarbendes Kissen mit langen Haaren auf dem hellen Sofa. Wie am anderen Ende eines Dosentelefons durch die Jahre: Ich erinnerte, wie Irene damals aus dem Kino direkt zu uns gekommen war, um vom Eissturm zu schwärmen. Von der Autoschlüsselparty-Szene war ihr dann vor allem dieses Kissen — im Eissturm ist es ein grünes; die «Haare» daran wirken auf mich eher wie Algen, aber so empfindet halt jeder doch wieder anders — im Gedächtnis hängengeblieben; ich habe ihre Stimme vage im Ohr, wie sie es sang: «Ein Kissen mit gaaanz langen Haaren!»

Vorhut der Kissenszene in Marriage Story ereignete sich neulich erst bei Zara Home, in der Realität. Da hatte ein Stapel von Kissen mit ganz langen Haaren im Regal gelegen. Denen war ich wie nachdenkend durch die von Irene sogenannten langen Haare gefurcht, bloss um festzustellen, was die Set Decorateure des Eissturm längst gewusst haben werden, als sie das Fundstück aus einer vergangenen Epoche in ihre Rekonstruktion einbauten:  Nicht flauschig. Flokatihaft. Ein Ausstattungsmerkmal, ein Wohntrend, aber damit leben?

Marriage Story kommt ganz ohne Rückblenden aus. Sie werden wörtlich wiedergegeben (erzählt).

18.12.2019

Das Wetter orchestriert meine Heilung. Gestern, auf dem Weg vom Krankenhaus in die Stadt, sogar mit blitzblauem Himmel, heute immerhin noch mit schöner Temperatur und beidesmal mit einem Tageslicht, das mich denken lässt: Der Winter ist zuende. Dieses Licht, im Verein mit den feuchten Baumstämmen und Zweigen, dem lauen Lüftchen und einem Strauchgeschehen in diesem einen Vorgarten, bei dem die Knospen schon für rosa Blüten platzen, ergibt das Bild des kampflos verendeten Winters. Kommt da noch was?

Die Heiterkeit, die ich ausstrahle, steckt natürlich an. So betrat ich nach Mittag zum ersten Mal den obskuren Laden für Scheren und Messer am oberen Ende der Münchener Strasse. Obskur deshalb, weil in dessen ausladenden Schaufenstern weder Messer noch Scheren zu schauen sind, sondern vor alledem Postkarten. Ich nahm mir eine auf schöne Weise verwitterte, auch vom Wetter gegerbte, aus einem der zahlreichen Drehständer im Eingangsbereich und betrat den hinter einem gelblichen Windfang gelegenen Geschäftsraum. Der war, wie ich vermutet hatte, sehr gross. Und, wie ich überraschenderweise fand, beinahe leer von Waren. Als ich an den ebenfalls gelblichen Wänden, an denen einst tausende von Messern und Scheren gehangen haben dürften, bis an die Rückwand geschritten war, kam mir aus einer darin eingelassenen Tür, die mir im Nachhinein wie eine Katzenklappe, aber für Menschen gemacht, vorkommen will, eine kleine Frau aus Japan entgegen. Sie hatte eine Kittelschürze an und sagte «Postcard». Der Geschäftsraum war demnach von versteckten Kameras überwacht. Ich ging mit ihr zu dem nahe des Windfang gelegenen Kassenhäuschens. Die Japanerin hatte Flusen im Haar, aber ich brachte es nicht fertig, sie ihr wegzuzupfen. Sie nahm die Karte aus meinen Händen entgegen, wie Japaner Karten entgegennehmen. Sie schaute auf das Motiv und sagte «Opernhaus». Dann öffnete sie die verglaste Tür des Kassenhäuschens und nahm die Karte mit hinein. Ich schaute ihr durch das Türfenster zu, wie sie im Inneren des Kartenhauses noch einmal auf das Abbild der Alten Oper schaute. Dann öffnete sich die Tür, und sie gab mir die Karte zurück. Ich wartete auf ihre Preisforderung. Als ich mein Portemonnaie zückte, hob sie wie beschwichtigend ihre Hand und sagte «Das ist nur so.» Sie verabschiedete sich. Ich verabschiedete mich dann auch von ihr, bedankte mich für die Karte und ging hinaus durch die Eingangstür.

Auf der Lesung von Gerd Koenen, am Vorabend meiner Erkrankung, begrüsste der mich mit dem Ausruf, dass ich ja genau das machte, was er immerschon machen wollte! Ich fragte, was. Er: Na, kleine Alltagsbeobachtungen. Ich sagte, dass er das doch einfach machen sollte. Er aber hatte «dazu» natürlich «keine Zeit».

Abends dann mit Friederike noch stundenlang kreisförmig ausgestochene Plätzchen mit Schokolade überzogen und mit den kuriosen Äuglein aus Zucker besetzt, die ich aus Berlin mitgebracht. Vollendet mit lauter O-Mündchen aus rot eingefärbtem Zuckerguss. Als ich später ins Schlafzimmer kam, wo die Keksgesichter auf dem Fensterbrett trockneten, äugelten sie mich zu Dutzenden an.

 

16.12.2019

Mit der Stadt kam der Humor zurück — wie bei Heidegger die Klinke an die Tür. Im Penny hielt sich als Schlusslicht an der grossen Warteschlange ein im Übermass Beladener. Und dies auch noch im zweifachen Sinn: Beide Hände und die Unterarme voll mit Toastbroat, Bierflaschen und einem sogenannten Pasta Snack; zwischen den Fingerspitzen gefasst wedelte er mit einem Fünfeuroschein hin und her; anscheinend, aber eigentlich wedelte der gesamte Mannhin und her, bloss der Schein hielt noch Stand in seiner Schwebe gehalten — Wie dem auch sei, er streifte mich mit derjenigen seiner beiden Schlagseiten, aus der er das weiche Toastbrot zu mir herüberragen liess wie ein Fühler. Woraufhin ich meine Distanz vergrösserte. Aus seiner kapuzinerhaft anmutenden Kapuze richtete der Schwankende eine Frage an mich. Ich konnte ihn nicht verstehen, sagte «Wie bitte?» «Für eine Entschuldigung reicht es nicht?» Ich bat um Entschuldigung.

Mir kam er nach meinem an ihn gerichteten Wort gefestigt vor. Das alte Schwanken war kaum mehr wahrnehmbar. Auch teilte sich die Schlange zu diesem Zeitpunkt in eine zur linken Kasse und eine zur rechten. Wir stellten uns in getrennten Schlangen weiter wartend an.

15.12.2019

Inzwischen hatte man mich an den Niederrhein gebracht. Wie einen Brief. In der Nacht riss der Sturm von allen drei Seiten her am Haus, wo mir, zwischen den Dachschrägen, dort unter einem Fenster eine Ruhestätte bereitet ward. Beim milden Licht einer Lampe schmökerte ich noch in dem dicken Band «Lexikon des geheimen Wissens», das mir von früheren Besuchen in Allerheiligen vertraut war. Ein anderer Wälzer, mit Propagandafotos aus dem Zweiten Weltkrieg auf über 600 Seiten, der unter anderem die Kapitel «Frauen als Kriegsteilnehmer» und «Das Tier als Kriegskamerad» zu enthalten versprach (beide allerdings dünn), lag bereit. Snacken konnte ich so gut wie nichts; es wirkte doch das Antibiotikum. 

Später wurde ich vom derbe platternden Regen geweckt. Erst im Morgengrauen gab der Ruhe, woraufhin die Krähen übernahmen. Die meldeten krächzend die Positionen der Regenwurmnester im aufgeweichten Ackerboden. Ich konnte es sehen, wie sie sich mit ihren eloxierten Schnäbeln darüber hermachten. Musste wie Spaghettiessen für sie sein. 

Am Abend zeigte Friederikes Mutter uns ihre Lieblingssendung auf Youtube: Sie zeigt das Leben einer schönen Chinesin, die in einem der Welt abgewandten Tal in China lebt, umgeben von einer herrlich in blaugrün strahlenden Natur. Die Chinesin hat sehr lange, seidig glänzende blauschwarze Haare, die sie zu einem minimalistischen Zopf geflochten trägt. Ihre dunkelblauen Kleidungsstücke fügen sich in das angenehme Gesamtbild, sie scheint ein Teil der sie umgebenden Idylle. Friederikes Mutter sagt, dass sie an dieser Sendung vor allem schätzt, dass die Chinesin mit so wenig auskommt. Dass sie mit nur wenig Gerätschaften und halt sehr viel überliefertem Wissen aus den Gaben der Natur sämtliche Reichtümer zu schöpfen versteht.

Die Handlung dieser Sendungen besteht nämlich stets darin, dass die Chinesin aus ihrer ganz in Schiefertönen gehaltenen Hütte in die tropfnasse Welt aus Grüntönen aufbricht, um dort mithilfe einer bei Axel Vervoort in Belgien ersteigerten Asia-Antiquität eine in unseren Augen exotische Pflanze zu ernten, in einem ebenfalls dekorativen Flechtkorb nach Hause zu tragen, um diese Pflanze dann, nachdem sie sie an ihrem aus einem Bambusrohr bestehenden Wasserhahn von den Anhaftungen von Erde und Staub gereinigt hat, vom Strunk bis zur Blüte auf anmutigste Weise zu zerhacken. Lediglich unter Zuhilfenahme von offenem Feuer, einem handgeflochtenen Sieb und einem vermutlich ebenfalls on Vervoort gelieferten Extremwok von circa zweieinhalb Metern Durchmesser, der aber durch die intensive Nutzung während der vergangenen zwölf Dynastien mit einer ans Vantablack grenzenden Patina veredelt wurde, stellt die schöne Chinesin dann eine Mal ums Mal aufs Neue verblüffende Vielzahl von Gerichten her, die sie zum Abschluss jeder Folge gemeinsam mit ihrer vermutlich um die einhundert Jahre alten Mutter in einer Geisblattlaube bei Mondenschein mit Stäbchen mundet.

Das Ganze ist mit einer wunderbar entspannenden Musik untermalt. Dass ziellos asiatische Geklimper war jedenfalls genau das richtige für mich in meiner Rekonvaleszenz. Auch wird man durch das Betrachten der Essensvorbereitungen freilich selbst sehr hungrig gemacht. Und während in der Küche nebenan also ein Abendbrot Gestalt annehmen sollte, schaute ich noch in meine Lieblingssendung, den Weltspiegel. Dort wurde ebenfalls aus China berichtet. Angeblich wird dort nämlich die Armut jetzt offiziell abgeschafft. Gezeigt wurden Menschen, die man aus den weltabgewandten Tälern und Schründen des chinesischen Reiches heraus in komplett neue und eigens zu diesem Zwecke errichtete Städte aus Plattenbauten verfrachtete, wo sie ein neues, ein nicht länger hinterwäldlerisches und von daher auch armes, Leben zu leben hatten fortan. Nur einmal noch, die Kamera des Weltspiegel war dabei, durften sie zurück in ihr altes Dorf. Wobei: Die Hütten, in denen sie aufgewachsen waren, hatte der chinesische Staat inzwischen zerstören lassen. Sicherheitshalber. Da standen nun also die künftig offiziell nicht mehr armen Chinesen in einer an saftigen Grüntönen reichen Natur und schauten mit betretenen Gesichtern auf die Trümmer ihrer Herkunft. Später sah man sie dann wieder in der neuen Wohnung im Plattenbau. An der Wand hing ein ziemlich billig aussehendes Zertifikat in rot auf gelb. Der Sprecher erklärte, dort stünde, diese Familie sei von nun an offiziell nicht mehr arm.

Eine Politik also, die durchaus die Seinsfrage stellt.

14.12.2019

Ob eine neue Stadt nun wirklich gut für einen ist, oder eventuell doch nicht ganz so gut wie gedacht, lässt sich doch im Grunde bloss herausfinden, wenn es einem dort gesundheitlich nicht gut geht.

In etwa in dem Masse unvorbereitet, wie andere wiederum sich vorbereiten lassen auf zum Beispiel eine drohende Infektion mit Grippeviren, indem sie sich mit toten Viren von bis zu vier verschiedenen Stämmen impfen lassen, wurde ich von wundersamen Händen tief in ein Etui hinein geschoben, in dem ich bis heute Nachmittag verbleiben sollte; fiebernd, dämmernd, vor allem still. Auf dem Plateau jenseits der Gesundung und noch vor dem grossen Schmerz drückt sich die Krankheit unwütend und untosend, dabei durchaus belastend aber alles in allem von unsäglicher Mittelmässigkeit geschrieben aus. Ich konnte das nicht lesen, was sie mir damit sagen wollte. Also blieb ich still.

Begonnen hatte das, ganz plötzlich, aber auch bezeichnenderweise während unseres Besuches am Colloquium von Professor Allert. Lorenz Jäger war zu Gast und unterrichtete die Studenten von den Fortschritten an seiner nun schon allmählich mit Ungeduld erwarteten Biographie Martin Heideggers, die 2020 im Herbst erscheinen wird. Es ging, das kündigte Jäger durch sein unnachahmliches Lächeln hindurch an, dabei auch um «Gadamer, wie der die Heidegger’sche Provinzen urbanisiert hat». Professor Allert, sonst nicht um eine Pointe verlegen, begnügte sich im Angesicht dieser Steilvorlage mit einem Griff in die Haribo-Tüte der ihm zugewandt plazierten Studentin. 

Jäger biss von einem Spekulatius ab.

Genau dort, also in diesem Augenblick, durchfuhr es mich wie von dessen Wimpernschlag getroffen. Auf dem Heimweg, der uns natürlich entlang des herrlichen Hauptgebäudes der Universität führte, das, wie jedermann in Deutschland weiss, einst als Firmenzentrale für die IG Farben errichtet ward, ging es mir zunehmend schlechter. Daheim angelangt, brachte ich es gerade noch fertig, unter die bestickte Decke zu sinken. Die nächsten Tage vergingen wie im Tran (Robert Smith hat das unnachahmlich gut beschrieben auf dem Konzeptalbum zum Thema Fieber The Head On The Door): Lesen ging kaum, allenfalls vertrautes; an das Schreiben war nicht zu denken.

Heute früh nun aber, nach dem Besuch in einer dubiosen Zahnarztpraxis, wurde ich in kompetente Hände am Universitätsklinikum überstellt. Schon nach wenigen Stunden verliess ich diesen herrlichen Ort als ein gänzlich wiederhergestellter Mann. Im Vollbesitz meiner Sprache. Pastos in Öl geschmotzte Wolken trieben in rascher Folge über den Main.

Jäger übrigens, das fiel mir auf dem Heimweg ein, hatte den Studenten zum Abschied mit auf ihren Heimweg gegeben, dass Heidegger fest in seinem Gefühl stand, dass ihm von den Nationalsozialisten keine Gefahr drohen konnte — er sah sich durch das Sein beschützt.

11.12.2019

12 Uhr 48: Es schneit.

10.12.2019

Ein greiser Schwan entsinnt sich seiner Pracht …

Allzu bald waren die Tage vergangen. Im Elternhaus träume ich so ganz anders geartete Träume. Ich denke, dass es mit meinen Handgriffen an,  und an dem Anblick der vertrauten Gegenstände dort liegen wird: Ich kenne die meisten nun so lange und damit auch gut, wie sonst nichts. Jedes Aufschliessen des alten Türschlosses dort mit dem alten Schlüssel setzt wohl bei mir einen tiefer eingelagerten Mechanismus in Gang. Das Muster dieser Bewegung, geprägt durch die jeweils charakteristischen Widerstände der Materialien von diesem Schlüssel, diesem Schloss, diesem Türblatt, dieser Schwelle bei meinem Öffnen dieser Tür ruft dieses Bewegungsmuster wach, das mir das Heimkommen versichert. Durch seine Bewegung selbst hat es die Funktion von Stiften in einem Schlosszylinder; es schliesst mir die innere Welt heimischer Gefühle auf. Und von daher dann diese Träume.

Für die Behaglichkeit To Go kauften wir uns auf dem Klösterlichen Weihnachtsmarkt in Maulbronn zwei Schafsfelle. Friederike eines mit dichtem, kurz geschorenem Haar, das schaumig federt, ich eines von einer Schnucke, es sieht wie die Perücke von Toni Erdmann aus. Wärmend polstern tun beide. Sie werden uns überleben.

7.12.2019

Vom Heim in die Heimat: Der Zug rollt, jetzt beginnt die schöne Zeit.

Heute, in der Strassenbahn, noch ein Erlebnis, eine Szene. Wie im Zunftzeichen der Theaterleute: ein greinendes und, hinterdrein, ein weinendes Gesicht. Am Hauptbahnhof in Richtung Römer (Weihnachtsmarkt) stieg eine kleine Gruppe aus zwei erwachsenen Frauen mit einem circa Zwölfjährigen und einem Kleinkind im Wagen zu. Es sind Verwandte. Möglicherweise sind die Erwachsenen Schwestern, Mutter und Tochter konnte eigentlich nicht sein. Das Kleinkind im Wagen plaudert, die Mutter holt aus ihrer Bauchtasche eine Tüte mit Knabbereien, es handelt sich um einen mir unbekannten Snack: in etwa fingerlange, hellgelbe und auf mich schaumig wirkende Tuben (möglicherweise aus Kartoffelmehl?) Ich sehe das häufig, und nicht bloss in Frankfurt, dass Schulkinder mit Chipstüten herumspazieren, aus denen sie munden; dass Kleinkinder mit Knabbersnacks ruhig gestellt werden. Der Halbwüchsige streckt seine Hand aus, die Mutter teilt auch ihm ein Bündel dieser kurioserweise den Styroporwürstchen aus Versandpaketen ähnlich sehenden Snacks zu. Das Kleinkind, ungeduldige Laute produzierend, bekommt zu der Snackwurst in seiner rechten Hand noch eine weitere in die Linke. «Die braucht immer beide Hände voll», sagt die Mutter. Die andere Frau nickt. 

Jetzt hat die Strassenbahn die Münchener Strasse hinter sich gelassen, der Ausblick weitet sich über den Willy-Brandt-Platz, die Skulptur des grossen Eurozeichens und die ersten Bankentürme kommen auf uns zu. Der Junge ist fasziniert von den Hochhäusern. Er ist anscheinend nur zu Besuch in der Grossstadt mit seiner Mutter und der kleinen Schwester. Er will seinen Blick nicht abwenden von den spiegelnden Fassaden, da fällt ihm ein: «Weisst Du, wo wir nachher auch noch hinmüssen? Zu Gucci.»

Die beiden Frauen, scheel: «Ja. Klar. Gucci.»

Er, die Ironie kriegt er nicht mit: «Du brauchst eine echte Gucci Bag, Mama.»

Die Mutter, die Snacktüte zusammenfaltend, weil da vorn kommt der Weihnachtsmarkt: «Weisst du, was du von mir bekommst bei Gucci? Einen Kassenzettel, der dort auf dem Boden herumliegt. Mehr gibt es nicht.»

Der Junge lacht. Dann sagt er nichts. Die kleine Schwester saugt still und abwechselnd an ihren Snacks in beiden Fäustchen. Flausen im Kopf und Flausen im Bauch. Jetzt steigen sie aus.

6.12.2019

Die Geschwindigkeit selbst war die Hauptdarstellerin in diesem Film von Claude Lelouch. Ich nehme an, er hat damit mindestens eine Generation von Kunststudenten beeinflusst, wobei ich gar nicht weiss, wo man in den siebziger Jahren, vor der Erfindung von Videokassette ff., solche heute sogenannte Videokunst zu sehen bekam — auch damals schon im Museum? Gerade damals noch da? Ich erinnere das Video zu «Jumping Someone Else’s Train» von The Cure, das eine rasant beschleunigte Eisenbahnfahrt aus der Perspektive des Lokführers zeigt, von Prellbock zu Prellbock. Damals, als ich das zum ersten Mal zu sehen bekam, auf MTV, kannte ich «C’était un rendez-vous» nicht.

Auf der oberen Etage des MMK war übrigens der schönste Raum, an dessen Wänden hingen ringsum die Datumsbilder On Kawaras. Er war ja der, so erinnere ich das, zeitgenössische Künstler, für den ich mich als erstes interessiert hatte, weil in der Staatsgalerie ein Datumsbild von ihm hing, das weiss auf schwarz gewesen sein muss (laut Erinnerung). In Frankfurt waren die allermeisten blau, einige rot mit weissen Zeichen. Jetzt, wo On kein Zeitgenosse mehr von mir ist, war es mir erlaubt, seine Leinwände aus der Nähe zu betrachten; wie er sie gemacht hatte, dafür hatte ich mich immer schon interessiert. Aber ich konnte keine Spuren entdecken, die Farbe war mit der Engelsgeduld einer Maschine aufgetragen. Die Ränder von Buchstaben, Zahlen und Trennungspunkten so trennscharf, das ich nicht einmal sagen könnte, ob weiss auf blau, beziehungsweise rot, oder andersherum. Oder parallel?

Aufgrund eines Missverständnisses bin ich dann gestern Abend noch einmal hin, um einem Podiumsgespräch der Museumsdirektorin Susanne Pfeffer mit Anne Imhof und Eliza Douglas zu lauschen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die anderen Zuhörer zu Hunderten kommen würden. Für mich missverständlich hatte es in der Einladung geheissen, dass im Anschluss eine Performance gegeben würde. Damit war allerdings die konzertante Aufführung der Musik zu Imhofs Performance «Faust» gemeint gewesen, die im September im Doppelalbum erschienen war. Erstaunlich viele im Publikum waren in interessanter Kleidung gekommen. Und dabei war es ihnen anzusehen, dass sie sich nicht verkleidet hatten, sondern dass sie auch anderntags so gekleidet vor ihre Türen traten. Nämlich vom Stile her so, wie die Handelnden in den Performances von Anne Imhof für gewöhnlich auftreten. Diese selbst trug gestern übrigens schicke Cowboystiefel mit magmafarbenen Spitzen. Eliza George hingegen solche mit schwarzen. Eine Art Partnerlook, wobei es George auf dem Podium einfiel, dass sie für gewöhnlich als Muse von Imhof betrachtet würde, doch was das Musizieren anbeträfe, da habe sich bei ihnen das Verhältnis von Muse zu Künstler umgekehrt.

Ich ging nach dem Medusa Song. Draussen war es noch immer sehr neblig. Die Stadt war die Hauptdarstellerin und schickte himmelhoch Leuchtsignale in die beschlagene Nacht.

5.12.2019

Vor dem Bilderaufhängen zum Anschauungsunterricht ins Museum für Moderne Kunst am Rande der Altstadt. Wie es den Anschein machte, war ich um kurz vor Mittag der einzige Besucher. In einem sehr weiten, abgedunkelten Raum wurde ein Film auf einen weissen Monolithen projiziert. Aus der Perspektive des Fahrers, dabei dicht an der Fahrbahn aufgenommen, rast die Kamera über den frühmorgendlichen Champs Elysees. Die Ampeln zeigen rote Lichter, ein Lastwagen überquert die Kreuzung, aber das Vehikel der Kamera verlangsamt seine Fahrt nicht und passiert die Kreuzung bei Rot. Es ist kaum jemand anderes unterwegs, der Himmel schaut nach kurz nach Sonnenaufgang aus — es muss also Sommer gewesen sein, kurz nach vier Uhr in der Früh —, wie der Place de la Concorde mit seinem mehrspurigen Kreisverkehr am Horizont auftaucht, wurde ich nervös, als ob ich selbst am Steuer sässe. Das Einfädeln auf die Spiralbahn gelingt bei kaum gedrosseltem Tempo, das mir halsbrecherisch vorkommt (zumal die Strassen zu jener Zeit anscheinend noch flächendeckend mit Kopfsteinpflaster belegt waren) — wie ich im Nachhinein las, hatte der Filmkritiker Michael Althen einst mit Stoppuhr und Stadtplan nachweisen können, das die Geschwindigkeit auf dem Champs Elysees bei 110 Stundenkilometern gelegen hatte. Nicht wirklich halsbrecherisch im Angesicht aktueller Innenstadtrekorde von 170 Stundenkilometern an aufwärts, aber immerhinque.

Obwohl ich ein paar Abzweigungen später auf dem Weg den Montmarte hinauf begriffen hatte, wie der Raserhase läuft, brachte ich es nicht fertig, mich abzuwenden. So schön hatte ich das «alte», beziehunghsweise meinen Erinnerungsbildern noch entsprechende Paris schon lange nicht mehr gesehen; vor allem in einer einzigen Einstellung en passant, ohne störende Schauspieler im Bild. Ganz oben angekommen, vor Sacre Coeur, strebt die Kamera auf die Mauer zu, die Scheinwerfer machen gelbe Flecken auf der Wand. Eine Frau im Kleid kommt die Treppen hoch — es ist tatsächlich Sommer! — ein Mann kommt ins Bild, die beiden umarmen sich. Im Hintergrund: in Blau mit gelben Punkten, die Stadt.

«C’était un rendez-vous» heisst der Film von Claude Lelouch. 1976 auf 35mm gedreht. Angeblich sass der Regisseur selbst am Steuer (ich hatte gedacht, auf einem Motorrad, weil die Spurwechsel so schlank und geschmeidig erscheinen), die Kamera war an der Stossstange befestigt. Von einem Auto welchen Typs aber, darüber streiten sich die Kritiker, eine abschliessende Meinung gibt es wohl nicht.

Heute früh lag Rauhreif auf den Dächern. Ich dachte zuerst, es hätte geschneit.

4.12.2019

In meiner an Umzügen beileibe nicht armen Lebensgeschichte war dies der Mühelose. Ich reiste, wie so oft zuvor, mit der Bahn von Berlin nach Frankfurt. Ass zu abend, legte mich ins Bett und schlief ein. Erst am nächsten Morgen fiel mir ein: Jetzt wohnst du hier. Aus dem Fenster war der Messeturm zu sehen mit seiner Pyramidenspitze, von dem ich einst, 21 Jahre ist das jetzt her, geschrieben hatte «dass dort ein Guru wohne». Später, da ging ich durch die Stadt wie schon so oft zuvor und dachte, dass idealerweise jeder bloss so viele Dinge besitzen sollte, wie in zwei Koffer passen, die man selbst noch tragen kann. Dann würde aus der Zumutung eines Umzuges ein Verlagern. Vom Spielbein aufs Standbein. Einfach so.

Am letzten Berliner Morgen war ich zu so früher Stunde wach geworden, dass noch kein normaler Laden aufhatte. Also musste ich zur Tankstelle, um mir die Zeitung zu holen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Licht streute bläulich in die Dämmerung. Keine Autos, es war still. Ein Amselhahn schnetzte, eine Schimpfkanonade. Meine Strasse kam mir vor wie ein nächtlicher Garten. Mit kahlen Bäumen. Ohne Menschen. So sollte es dort für immer bleiben, in meiner Erinnerung.

2.12.2019

Die Koreaner, eine Hälfte der Bevölkerung Südkoreas sind wohl Christen, von denen im Norden weiss ich nichts, hegen eigene Weihnachtsbräuche. Das habe ich ausnahmsweise nicht aus dem Fernsehen, sondern vor Ort selbst beobachten können. Zuerst am Samstagnachmittag und dann gestern noch einmal. Am Samstag war ich eher zufällig in den historischen Weihnachtsmarkt in der Sophienstrasse geraten — der Duft von Lausitzer Bratwürsten hatte mich angelockt. Meine schmeckte dann leider enttäuschend, ich konnte jedenfalls nichts charakteristisches an dem Geschmack dieser Bratwurst in zart reissender Hülle finden, was die mit einem Mal hohl tönende Herkunftsbezeichnung legitimieren könnte. Mein Appetit auf Lausitziana war damit gestillt. Mich abwendend entdeckte ich unter dem mit Redwood-Schindeln gedeckten Dächle des gegenüber gelegenen Standes (auch hier sind sämtliche Marktstände auf beiden Seiten dieser eher Gasse zu nennenden Strasse von einem Generalverleiher bezogen, der aber liefert im Vergleich mit den entseelten Buden vom Breitbachplatz eine manufactumhafte Qualitätsware, was sich auf die Gestimmtheit der Marktbesucher hebend auswirkt) ein groteskes Gebilde, womöglich eine Skulptur? In etwa einen halben Kubikmeter umfangend, dabei stark an Spongebob ohne Augen, Nase, Mund und Extremitäten erinnernd; im Grunde war es ein mit schwammhaft porösem Material überzogener Karton, in dem sich von seinen Dimensionen her zum Beispiel zwei Paar Skistiefel befunden haben könnten. Einst, als Skistiefel noch nicht paarweise, sondern nur zu viert verkauft wurden. Es handelte sich, das verstand ich erst, als die eine Koreanerin einen Korb aus dem sprudelnd heissen Fett ihrer Friteuse hob, um das sehr stark vergrösserte Modell eines für Koreaner traditionellen Weihnachts-Snacks. Man isst dort auf den koreanischen Weihnachtsmärkten diese quaderförmig frittierten Kroketten, die entweder mit Kartoffeln und Fleisch gefüllt sind, oder mit etwas anderem (Kimchi). In Holland, der einzigen mir bekannten Nation übrigens, die keine Speisen ihr eigen nennen kann, gibt es eine Abart dieser südkoreanischen Köstlichkeit — allerdings nicht bloss an Weihnachten, auch sind die sogenannten Frikandellen dünn und rund und überhaupt nicht knusprig. Im Gegenteil, sie sehen nicht nur aus wie sehr, sehr feucht gewordene Longfiller-Zigarren, sie schmecken auch nicht gut. Zudem wurden sie nicht bei den Südkoreanern schlecht abgekupfert, sondern bei den Belgiern, die es ja berühmterweise fertig bringen, noch dem primitivsten Frittat einen Wohlgeschmack abzupressen. Von daher wäre es sehr interessant für mich gewesen, wenn Touristen oder Geschäftsleute aus Holland hier auf dem Berliner Weihnachtsmarkt die koreanischen Para-Frikandellen hätten kosten kommen wollen. Mich hätte deren Meinung zu dem gewiss umwerfenden Geschmackserlebnis wirklich interessiert. Auch weil ich das Holländische so gerne höre. Ein Buch von mir wurde in diese schaumig perlende Sprache übersetzt, aber ich habe bis heute noch keine Holländerin getroffen, die mir daraus vorgelesen hätte. Anders als auf Autobahnen und Campingplätzen machen sich Holländer im Bild unserer Hauptstadt leider rar. Umso mehr gelten sie mir!

Am Sonntagnachmittag dann fand ausgerechnet in der skandalumwitterten Schlüterstrasse ein komplett koreanischer Weihnachtsmarkt statt. Das Koreanische ist derzeit mega im Kommen, im Skyline Plaza (Frankfurt) gibt es seit neuestem ein Fachgeschäft für koreanische Kosmetikprodukte, weil, das wurde mir aus Kosmetikkreisen verlautbart: Koreaner einen Jugendfimmel kultivieren, die finden das schick, sich vor dem Altern ihrer Antlitze zu fürchten und erfinden dagegen lauter Spezialprodukte einer alterungsverzögernden Kosmetik, die es anderswo als in Korea selbst nirgends gibt. Beispielsweise Gesichtsmasken mit dem Extrakt von Schneckenschleim. Den Trend — Wolfgang Joop hat das vor einem Jahrfünft oder noch früher schon prophezeit, dass nach dem chinoisen und dem japonaisen bald das Zeitalter des koreanischen aufzöge — hat jetzt in Berlin aber nicht etwa ein Modemensch aufgegriffen, sondern der legendäre Grossgastronom Duc, der in den vergangenen Jahren heimlich, still und luise ein wirkliches Imperium aus zwölf oder noch mehr Restaurants begründet hat mit der skurilen Besonderheit, das all diese Restaurants entlang der Kantstrasse sich befinden. Meine Theorie bislang war, dass es sich bei diesem Asiaten wohl um einen Laoten handelte oder um einen Vietnamesen, denn diese beiden Völker sind von dem durch ihre Lebenswelt mäandernden Fluss Mekong geprägt. Und die Kantstrasse, so sehe ich das: Erinnert an den Mekong. Allerdings als ein Modell des selben aus Asphalt. Da nun der koreanische Weihnachtsmarkt von ihm, Duc, organisiert und vor einem seiner Restaurants (das die geniale Geschäftsidee hat, eine im Asia-Supermarkt frei erhältliche Tütensuppe mit frisch zerhackten Zutaten verfeinert und in hübsche Schalen gefüllt für das Dreissigfache zu verkaufen) veranstaltet wurde, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob Duc noch aus den Subtropen stammt, oder nicht vielleicht doch aus Korea. Falls nicht, falls er also tatsächlich die Koreaner dort eingeladen hat, um den Trend zum Koreanischen zu melken, wächst meine Hochachtung für seinen Geschäftssinn ins Brüderliche. Man sagt ja, unter Linguisten, das Südkoreanische ist mit dem Schwäbischen verwandt. 

Tja, also es gab natürlich Kimchi. Jan, der schon in Korea war, allerdings in Nordkorea, hat mir erzählt, dass die Nordkoreaner immer eine Sillage von Kimchi hinter sich herwehend haben. Einige Koreanerinnen hatten Seife hergestellt, die wie Stein ausschaute. Möglicherweise hatten sie die auch nicht selbst hergestellt, sondern wie Duc seine Tütensuppen irgendwo anders gekauft. An anderen Ständen aber wurde live gewerkelt. Beispielsweise bestickte da ein zierlich wirkender Mann mit Beatles-Frisur sehr kleine Leinentäschchen mit den winzigsten Motiven, die man sich vorstellen kann. Der Torso einer Frau war da zu entdecken, mit blauer Knopflochseide dargestellt, aus deren Halsstumpf eine leuchtend rosa Wolke stieg. Poetisch. Neben ihm hockte eine junge Koreanerin und stach einem Freiwilligen eine Tättowierung mit einer langen Nadel in den Oberarm. Ohne Maschine, in Korea wird an Weihnachten anscheinend traditionell von Hand tättowiert. Am Tresen, wo an Wochentagen die Suppe zubereitet wird, hingen auf Kleiderbügel die Kapuzenpullover, die Duc seit neuestem vertreibt. Sie sind schwarz, aber in knallend weisser Schrift stehen auf den beiden Ärmeln die Logos aller seiner Lokale entlang der Kantstrasse. Die Ärmel sind jetzt schon, Weihnachten 2020, von den Schulternähten bis zu den Bündchen komplett dicht gedruckt. Die Kantstrasse ist länger.

1.12.2019

Mein Gefühl der Freude, dem anderen eine Freude bereitet zu haben, unterscheidet sich von meinem Gefühl der Freude, die mir der andere bereitet hat.

Noch 23 Tage.

30.11.2019

Mittlerweile war es Black Friday geworden, der in diesem Jahr auf einen Friday For Future gefallen war, aber als ich mich mit dem Fotografen in der Schlemmerabteilung des KaDeWe auf die abwärts führende Rolltreppe begab, war die Erzählzeit noch die eines Vortages. Eine wirkliche Neuheit, die der grosse Umbau gebracht hatte, war das Verschwinden der Kassen. Wir fanden dort jedenfalls keine mehr. Auch hatten wir, von den Gästen in den Bistrots abgesehen, auch keinen einzigen Zahlungsvorgang beobachten können. Die Kassen oder Zahlstellen waren entweder tatsächlich verschwunden wie in wegrationalisiert — wozu dann aber die Preisschilder? — oder aber sie waren mitsamt des zuständigen Personals, den Kassiererinnen und Kassierern, in die neue Innenarchitektur integriert worden und somit an der Oberfläche unsichtbar. Fragen hätte man freilich können, bloss wen? Hier und da standen schwarz Uniformierte herum, schwarz wie das Inventar: etwa die? Von daher hatte der Fotograf einer von ihm sogenannten Einfachheit halber die einem der schwarzen Regale entnommene Phiole mit aus Mexiko nach den Vereinigten Staaten exportierten, dort abgefüllten und daraufhin nach Europa verschifften Maiskörnern, aus denen er sich beim netflixen Popcorn zu machen gedachte, mit in eine unter der Schlemmerabteilung gelegenen Etage mitgenommen. Hier wurde Damenoberbekleidung ausgestellt, und die Zahlungsstelle ragte ob ihrer Glanzlosigkeit und der Unflauschigkeit ihrer gänzlich auf Pelz und Mohair verzichtenden Bauweise wie ein Fremdkörper aus dem wie um die Wette schmeichelnden Bunt. Die Frau, die sich aus einem bungalowförmigen Shop-in-Shop der Marke Jil Sander zu uns herüber an diesen schmucklosen Tresen bequemt hatte, begutachtete die Phiole voll Mais und beschied uns abschlägig: Solcherlei könnte auschliesslich auf der von ihr als «Lebensmittelabteilung» bezeichneten Etage erworben werden. Auf die Frage wiederum, wo denn dort genau, musste sie passen: Sie war noch nie dort. 

Sagenhaft. Wovon sie sich wohl ernähren mochte; was dieses Geschöpf unter Schlemmereien verstand?

Der Fotograf weigerte sich indes, lediglich der Zahlung seiner Maiskörner wegen noch einmal hinauf zu fahren — was wiederum mich an meinen Vater erinnerte mit seiner hartnäckigen Weigerung, auf Spaziergängen auf demselben Weg heimzugehen, auf dem man zu einem Ausflugsziel gekommen war. Weshalb wir uns dann mit schöner Regelmässigkeit in den uns wildfremden Wäldern in der Schweiz, in Frankreich und anderswo verirrten. Derzeit und gerade befanden der Fotograf und ich uns zum Beispiel wie schlagartig vor einem Balenciaga-Stand. 

«Alles gut bei Euch?» rief die extrem junge Frau, wohl noch Schülerin, während der Fotograf den Versuch unternahm, einen winzigen Hund aufzunehmen (mit seiner Kamera), der an einer Leine und noch weiter unten von einem mit Strasssteinen besetzten Halsbald gehalten wurde und auf der lavendelfarbenden Auslegeware auf dem Vorplatz des Balenciaga-Standes eine Art Headspin aufführte (ich tippte innerlich auf Verwurmung). Aber die in Wien gebraucht gekaufte Kamera streikte, versagte den Dienst, fuhr ihr Objektiv ein, anstatt das heitere Hundsbild zu bannen. Der Strass auf dem Halsband war zum Schriftzug Moschino angeordnet. Der Fotograf knurrte. Das war Insta-Gold.

Um den Eindruck, wir wären nicht ganz dicht, weitgehendst zu zerstreuen, fing ich eine Fachsimpelei an mit der Einkaufshilfe. Freudig sprudelte diese los, dass just heute die Frühlingskollektion eingetroffen war, die sie nun ganz allein auszupacken und auf Bügel zu hängen beauftragt.

«Belastend», mutmasste ich. Mutmasste vor allem, dass man derzeit noch «belastend» sagt bei solcher Gelegenheit.

Sie aber sagte — «Alles gut.» Und zeigte mir einen der potentiellen Verkaufsschlager aus dem Mastermind von Demna Gvasalia: Ein Pullover, mit extrem langen Ärmeln, der immer enger wird, je häufiger man ihn trägt. Während ich noch wie ungläubig das synthetisch wirkende Gewebe betastete, machte sie rasch ein Foto von sich. Ich wünschte ihr noch «Happy Unboxing». Der Fotograf war inzwischen wieder so weit.

Der Weg ins Freie führt wie bei sehr vielen Kaufhäusern auch im KaDeWe durch die Kosmetikabteilung mit ihren dem Natürlichen an sich in seiner Mannigfaltigkeit nachempfundenen Düften. Inmitten meiner Erläuterung eben dieser meiner Theorien bekam ich im Vorübergehen mit, wie eine der Kaufberaterinnen dort zu ihrer Kollegin sagte: «Ist das nicht der Fabian Hinrichs — der mit der Kamera?» Woraufhin diese wiederum sagte: «Der andere ist jedenfalls dieser Dieter Dittrichson.»

«Diedrichsen heisst der aber, glaube ich. Dietrich Diedrichsen.»

Die andere, schon googelnd: «Wie schreibt man das?»

«Na, so, wie man es spricht!»

Der Wachmann liess den Fotografen anstandslos passieren. Der Mais war offenbar nicht mit einer Diebstahlssicherung versehen worden. Da fragte ich mich, ob es den Tatbestand des Mundraubes überhaupt noch gab. Da der Fotograf in Richtung Flughafen weitermusste, um am Abend rechtzeitig in Nizza einzutreffen, steuerte ich alleine das Café Einstein an, wo es um diese Zeit vor dem ersten Advent die herrlichen Gänsebratwürste gibt. Nicht gerade billig, aber schliesslich war dies meine Abschiedswoche von der Stadt Berlin. Mein Weg führte mich bezeichnenderweise über den urnischen Weihnachtsmarkt auf dem Nollendorfplatz, der sich hier, wo Sterne traditionell mit Stars assoziiert werden, freilich Christmas Avenue nennt. Der Boden war mit elastisch nachfederndem Rindenmull bestreut, die teilweise mannshohen Dekorationsobjekte waren in altrosafarbende Glanzfolie gehüllt worden. Das Niveau der sogenannten Speisen und Getränke war vergleichsweise gehoben. Es gab beispielsweise eine Hirschbratwurst mit beschwipsten Preiselbeeren», die mich potentiell interessiert hätte, aber ich wollte doch weiter zur Gänsewurst. Auf den Lebkuchenherzen, die mir vergleichsweise winzig erscheinen wollten, stand in Zuckerschrift «Sexi». Keinerlei Sicherheitsvorkehrungen im Umkreis des Marktgeschehens übrigens. 

Im Einstein kam ich genau zur rechten Zeit durch die Tür: Es war zehn vor drei am Nachmittag. Die Tageskarte gilt dort nämlich bloss bis um drei. «Alles gut», sagte die Kellnerin, die vermutlich aus Korea stammte. Ich gab meine Bestellung auf und sie rannte. Ich schaute mich um: Und wer sass dort am grossen Fenster zum Garten und redete agitiert auf sein Gegenüber ein? Fabian Hinrichs. Er war es wirklich.

29.11.2019

Vor dem KaDeWe harrte einer in genuflexio duplex aus, einer Geste des Bittens. Vor Jahren schon hatte man ihm beide Hände amputiert. Eventuell also ein Taschendieb im früheren Leben, ist er seitdem zum Betteln verdammt. Sein Gesicht tief zu Boden geneigt, wo die kleine Schale steht. Ich dachte an eine Skulptur, an ein Gemälde von Eliza Douglas, nicht an Lessing, um ehrlich zu sein.

In der Schlemmerabteilung erkannte ich nichts wieder. Ich war dort, auf dieser Etage, von deren Fülle mir schon mein Vater vorgeschwärmt hatte, zuletzt vor siebzehn Jahren gewesen. Ich erinnere die damals üblichen Westberliner Gestalten mit Blauverlaufs-Brillen und gelben Pullundern, die Pilsbiere tranken, und die Frauen behielten drinnen die Hüte auf. In meiner Erinnerung war es dort labyrinthisch und vollgestellt mit Tortentresen und Kochinseln und die Fenster zur Aussenwelt waren mit einer Fototapete vom Novemberhimmel abgeklebt.

Das gibt es jetzt alles nicht mehr (bis auf den Himmel), die Souvenirs an Westberlin wurden, wie es bei Moritz von Uslar heisst: in den Keller geräumt. Die vorherrschende Farbe für Wände und Einbauten in der neuen Schlemmerabteilung ist, global betrachtet wenig überraschend, schwarz, in den Bistrots sind die schwarzen Lampenschirme auf ihrer Innenseite mit Goldbronze beschichtet, in den Schauküchen sind die Wände mit einem Fliesenspiegel aus Subway tiles verkleidet — wie man das halt heute so macht.

Der Fotograf hatte einen wölfischen Hunger mitgebracht (und eine Kamera, die aber nicht zuverlässig funktionierte, weil er sie, in Wien übrigens, «in einem Vintage-Shop» gekauft hatte — wie man jetzt offenbar zum Flohmarkt sagt); Hunger und Ärger hatten eine kleine, aber dräuend wirkende Regenwolke erzeugt, die ihm — wie in einem Comic — anstelle eines Heiligenscheins knapp über dem Kopf stand und ihm magnetisch schwebend nachreiste, wo auch immer er sich hinzubewegen versuchte. Von daher nahmen wir im erstbesten (von den Rolltreppen aus gesehen) Bistrot Platz, der «Schwemme» und bestellten das Wiener Schnitzel, das laut Speisekarte preisgekrönt war und ein Backhendl, das zwar bislang sieglos geblieben war, aber wohl mit Fleisch von Hühnern aus Paderborn zubereitet wurde. Und von Paderborn wusste ich im Gegensatz zum artverwandten Osnabrück bis dahin noch so gut wie gar nichts, ausser dass die dort stockkatholisch sind; ich war auch selbst noch nie in Paderborn, aber der Fotograf stammt von dort.

Nach dem Festmahl (vom Preis her, man hat sich für die Preisgestaltung der «Schwemme» zweifellos vom Erfolgsmodell des «Grill Royal» inspirieren lassen und bietet die einzelnen Beilagen im Baukastensystem an, bei dem alles extra kostet — und wer isst schon sein Schnitzel nackt?), streiften wir durch die weiten Gänge, im Grunde ist es nur ein einziger, der natürlich gegen den Uhrzeigersinn (beim Skifahren kann ich auch bloss Linkskurven) an weiteren Bistrots mit den Themen «Italien», «Frankreich» bzw «Fisch» zur Rechten vorbeiführt, während auf der anderen Seite das hungrige Aug‘ sich vom Angebot in den schwarzen Regalen verführen lassen soll. Dann weitet sich der Gang in eine veritable Landschaft aus Schnewittchensärgen, unter deren gläsernen Hauben sich die Gesamtheit der Meeresbewohner an Stränden aus zertrümmertem Eis sozusagen aalt. Ich habe mir das bis vor kurzem erst extrem gerne angeschaut: die Farben, die Augen vor allem, wie sie alle so still und starr ruhen. Dann aber las ich einen Aufsatz in der Fachzeitschrift für Schmerzforschung «Pain», mit dem die durch Kurt Cobain popularisierte These («It’s okay to eat fish/ Because they don’t have any feelings») als widerlegt gelten muss, weil Fische halt doch ein Schmerzempfinden haben. Das wurde unter anderem dadurch erforscht, dass den Probanden ihr Fluidum schrittweise mit Essig versetzt wurde. Bis sie sich wanden. Wenn Fische also Schmerzenslaute äussern könnten, dann würde es auf der Schlemmerstation des KaDeWe unbotmässig laut. 

Doch würde das dem Anbieten der Träger von Scheren und Flossen auf den Fluren des KaDeWe Einhalt gebieten? W.k. wie mein Vater zu sagen pflegt. Wohl kaum. Russen lieben nun mal Fisch. Das Brötchen mit Lachstremeln kostete 8 Euro. Es schaute sehr appetitlich aus.

28.11.2019

Zum Mittag ins KaDeWe, dort war ich mit dem Fotografen verabredet — vor allem, weil wir uns die umgebaute Schlemmerabteilung anschauen wollten. Vom Bahnhof Zoologischer Garten kommend, führte mich mein Hinweg zwangsläufig über den Weihnachtsmarkt. Auch der Breitscheidplatz war zu diesem Zwecke umgebaut worden. Selbst als harmloser Fussgänger fand ich es schwierig, mir überhaupt einen Zugang zum Marktgeschehen zu bahnen, da dieser Platz jetzt geradezu eingeigelt wird von einem physischen Sicherheitssystem dergestalt, dass auf Anhieb von einer der beiden, den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche wie Gabelströme eines Flusses fassenden Verkehrsadern kommend, kein Durchkommen erwünscht scheint. Der Marktbesucher sieht sich hier zunächst mit einem Wall aus palisadenhaft dicht beieinander aufgepflanzten Christtannen konfrontiert, deren rot lackierte «Töpfe» mit Blei ausgegossen wurden, wie es scheint. Hat man sich dann erst über eine zu beiden Seiten mit leuchtend gelben Warnkeilen markierte Schwelle hinter die Baumfront eingefädelt, fällt ein circa drei Meter breiter Kordon vergleichsweise angenehm auf, denn er besteht aus leer (-gelassen) -em Asphalt; ein graues Band, das naturgemäss bis zu dem in für Westberlin üblicher Höhe gesetzten Randstein aus Granitblöcken reicht, um dort nahtlos an den Asphaltbelag des Trottoirs entlang des Breitscheidplatzes anzuschliessen, das freilich im Zuge der für die Durchführung eines Weihnachtsmarktes seit dem Ereignis vom 19. Dezember 2016 nötig gewordenen Sicherheitsmassnahmen dicht mit den vielerorts üblich gewordenen Betonklötzen verstellt wurde, deren einzig weihnachtliche Qualität darin bestehen dürfte, dass sich Kleinkinder von den auf deren Oberseite aufgegossenen Noppen an die auf ihren Wunschzettel diktierten Legosteine erinnert fühlen werden.

Mit dem Durchschreiten dieser letzten Barrikaden betritt man den Weihnachtsmarkt und steht damit vor den Treppenstufen in jenem Fundament aus Beton, auf dem sich das blockhafte Kirchenschiff von Egon Eiermann, angebaut an den im Krieg ruinierten Turm der Gedächtniskirche, erhebt. In die Treppenstufen wurden die Namen und Nationalitäten der am 19. Dezember 2016 ermordeten Weihnachtsmarktbesucher eingelassen. Auf den Stufen stehen Grablichte, es sind Blumen und Flauschtiere abgelegt. Die Hütten der Marktgastronomie wurden sämtlich vom selben Markthüttenverleiher geliefert, was dem Weihnachtsmarkt selbst eine leblose, an ein Geisterdorf denken lassende, Stimmung beschert. Die leis abgespielten Winter- und Weihnachtslieder machen das nicht besser. Insbesondere nicht tags. Die Entscheidung — ob um die Geschlossenheit des durch die Einheitshütten eingeschlagenen Kurses eines einheitlichen Erscheinungsbildes zu verstärken, ob um das bei erster Besichtigung des Modells als zu einheitlich empfundene Erscheinungsbild aufzulockern, blieb für mich unmöglich zu entscheiden —, die Hüttengastronominnen und -gastronomen in eine Kostümierung nach dem Vorbild desjenigen der Bevölkerung des Sparkassencomicdorfes Knax zu stecken, verfehlte leider die erheiternde Wirkung auf mich. So sie denn von sogenannt Höherer Stelle überhaupt intendiert war und nicht der Ratlosigkeit, einer Schnapsidee oder gar Menschenverachtung entsprungen war, was ich nicht hoffen will.

Aufgrund welcher Überlegungen gleichwelcher Art es den Stand eines «Fröhlichen Friesen» auf diesen Marktplatz der Trostlosigkeiten verschlagen haben mag - man traut sich schon gar nicht mehr nachzudenken. Auch nicht, und diese Frage stellt sich dann trotzdem andauernd, während man den Marktplatz im Spurt nimmt: was denn dies alles mit Weihnachten zu tun haben soll. Die nun in einem anderen Sinne als rettend empfundene Demarkationslinie aus Monsterlego und Bleibäumen hinter sich lassend, bleibt natürlich auch nicht aus, den Kordon mit dem unseligen Todesstreifen hinter dem «Antifaschistischen Schutzwall» assoziieren zu müssen.

Im weihnachtlich dekorierten Schaufenster des Spielwarengeschäfts neben dem KaDeWe wird der «Imperiale Sternenzerstörer» von Lego ausgestellt. Er ist circa anderthalb Meter lang und besteht aus tausenden betonfarbenden Plastikklötzchen. Die von den Gewerkschaften empfohlene Bauzeit beträgt 36,5 Stunden. Kostenpunkt: 699,— Euro. Wir sind im Westen angelangt.

26.11.2019

Gestern abend tagte der Presseclub, den es in Frankfurt tatsächlich gibt (finanziert durch Mitgliederbeiträge und Spenden von Banken und Industrie) in einem Dachgeschoss im Westend. Wir waren direkt von der Eröffnung des Weihnachtsmarktes auf dem Römer dorthin spaziert, nachdem der Oberbürgermeister Feldmann seine Rede gehalten hatte, die mitreissend gewesen war; so ist jetzt halt die Zeit, dass auch vor dem Anschalten der Weihnachtsbaumlichter eine Rede gehalten wird, beschlossen mit dem Aufruf zum Zusammenhalt des Bürgertums und zur Solidarität gegen Rechts.

Im Presseclub unterhielten sich Günther Nonnenmacher und Peter Hoeres, ein Historiker, der das sehr dicke und immens interessante (ich bin allerdings erst auf der Hälfte, aber wird schon schiefgehen) Buch «Zeitung für Deutschland», die Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasst hat. Herr Nonnenmacher (unter anderem ging es auch darum, seit wann Angela Merkel in der Zeitung nicht mehr Frau Merkel genannt wird, sondern Merkel) findet das Buch nur halb gelungen, was seiner Ansicht nach aber nicht unbedingt an Herrn Hoeres liegt, sondern an der im Verlauf der Geschichte dieser Zeitung schwieriger sich darlegenden Quellenlage. Hoeres hingegen bemängelte das Verschwinden rechter Feuilletonisten im Geiste Friedrich Sieburgs («Gang zwischen Meistern»). Nonnenmacher konfrontierte ihn, erwähnte Simon Strauss und fragte nach Hoeres Definition des Konservativen. Hoeres wich aus und nennt als Beispiel Lorenz Jäger. Nonnenmacher: Lorenz Jäger hat das Feuilleton nicht geprägt. Wohingegen ihm Patrick Bahners unter anderem deshalb im Gedächtnis geblieben ist, weil er einst in einer Randspalte forderte, Prince Charles künftig als Fürst Karl anzusprechen, da der deutsche Fürstentitel die genauestmögliche Entsprechung des englischen Prince ist. Ebenfalls gelobt wurde, für mich überraschend, Dietmar Dath, der, so Nonnenmacher, wie auch Bahners einen Sound sein eigen nennen kann. Zwei Sätze eines Textes von Bahners oder von Dath und man wüsste, wer schreibt.

Kurzum, ein herrlicher Abend für Nerds. Stelle es mir aber auch ebenso herrlich vor für Hereingeschneite, die dann kaum ein Wort verstanden haben werden. So meldete sich eine Frau mit gelöstem Haar, die mir zuvor schon auf dem Weihnachtsmarkt spanisch vorgekommen war und setzte an zu einem Impulsreferat über Karl den Grossen. Da regte sich bald der Unmut des übrigen Publikums, aber Werner d’Inka, in Personalunion Herausgeber dieser Zeitung und Vorsitzender jenes Presseclubs hob seine rechte Hand, woraufhin die Murmelnden, seines Handzeichen ansichtig geworden, umgehend verstummten. Und einträchtig wurde dem wirren Sound der Feuchthaarigen gelauscht.

25.11.2019

Kaum noch vier Wochen (Kette der Köstlichkeiten): Samstag abend mit Friederike und Jan in der Bar (Maxie Eisen), wo man mir einen Drink mit Namen «Fruchtig» — der andere nannte sich «Herb» (wie in «Whipped Cream & Other Delights») — reichte, der nach Erdbeersaft mit Limettenspritzern schmeckte. Insgeheim dachte ich beim Schlürfen an den heimischen Kühlschrank, in dem eine Schatulle aus transparentem Kunststoff, wahrscheinlich war es sogar Plexiglas, meiner harrte.

Doch sollte das, dies Warten meinerseits, das Harren der Schatulle, noch bis zum Morgengrauen dauern sollen, bis mir dann endlich einer der darin aufbewahrten Tannenschäume als frühe Mundung aufgetragen ward. Kühl und zart: Die unter der handfest klingenden Handelsmarke Dickmann’s unters Volk gebrachte Saisonköstlichkeit ist nicht bloss von ihrer ansprechenden Verpackung her ein Hochgenuss, die in den Formen zierlicher Tannenbäumle gestalteten Schokoladenküssle sind derart delikat geraten, dass ich es schon kommen sehe, dass ich in meiner saisonalen Inkarnation als Christkind mir diesen Ortolan unter den Weihnachtssüssigkeiten tagtäglich einverleiben werde. Ohne leider.

Zart schäumend, der Schaum dabei noch nach dem schwäbischen Motto «Speck auf die Würste» mit dem Aroma von Vanillekipferl aromatisiert, die hauchdünne, wie gesagt bäumlesförmige Schokoladenglasur mit roten, weissen und grünen Nonpareilles besteckt: Meine alte Leidenschaft zu Dominosteinen und Schokoladenkränzen kam mir mit einem Mal vorsintflutlich vor. Oder wie es Mike Meiré einst ganz ähnlich über das Innovationspotential bei der Sanitärtechnik festgestellt hatte: Auf dem Markt für weihnachtliche Süssigkeiten tut sich etwas.

Um auch meinem nostalgischen Bedürfnis genüge zu tun, las ich, während ich mir die Tannenschäume aus der Zukunft munden liess, den grossen Dominostein-Test in der Zeitung, der unter der Ägide von Thomas Platt durchgeführt ward (Verkostungsnotizen von Guido Fuhrmann). Interessante Hinweise auf zwei Berliner Konditoreien, die ich noch nicht kannte. Unter anderem auf den Leibkonditor des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck.

Am Nachmittag dann erste Schöpfung aus unserem Rumtöpfle: Mein lieber Schwan!

23.11.2019

Kunst inspiriert Technologie/ Technologie vollendet Kunst: Mit diesem Slogan bewirbt Saturn einen Kühlschrank aus Korea. Das Gerät wird mit einer silbrig getönten Fotografie abgebildet, der zweitürige Kasten steht fernab aller Küchen in einem archaisch wirkenden Raum, einem sacht bergan sich windenden Säulengang. Der Blick durch die Säulen zeigt keine Landschaft, nicht einmal andeutungsweise. Das schattige Aussen könnte also einen weiteren, noch weitflächigeren Raum bedeuten, einen Tempel, der das säulige Spiralgehäuse wie ein Inneres Heiligtum umschliesst — und darin beschlossen dann freilich der Kühlschrank. Silbrig schimmernd. Klimafreundlich kühlend. Mit InstaView(TM) Door-in-Door(R)-Technologie.

In der Strassenbahn singt ein Afrikaner mit Kopfstimme leis vor sich hin. Auf seiner schwarzen Wollmütze steht Alternative Future.

Vor einem Friseursalon in der Münchener Strasse steht ein bulliger Typ und telefoniert, während er seine Gesichtsmaske einwirken lässt. Mit Extrakten von Tiefseealgen, sein Gesicht sieht aus wie mit olivgrüner Zahnpasta angeschmiert; wie aus dem Horrorfilm, den wir gestern spät noch zuende geschaut.

Heute früh herrliches Morgenrot. Den Tag über blieb es hell und lind. Sonnenuntergang auch nicht zu vergessen. Rings um das Dachgeschoss des Marriott hatte sich minutenlang eine himbeerzarte Korona gebildet. Wie von der knallend roten Leuchtschrift verströmt.

22.11.2019

Ich bin gern unter fahrendem Volk — Musiker, Theater, Filmer: wandernde Künstlergruppen sind mir die angenehmste Gesellschaft. Man fügt sich auf Zeit. Und erfährt vor allem so viel, was aus allen Himmelsrichtungen hergeholt an einen herangetragen wird. Andreas Koch meinte neulich erst wieder, ich sei ein Nomade. Er selbst wiederum so verwurzelt und sesshaft, wie ich es mir von meiner Natur aus nicht vorstellen könnte. Woher er das nimmt? Er hat mein jehnisches Wesen erkannt. Jedenfalls erzählte mir die Maskenbildnerin, die ansonsten nicht in Weilmünster, sondern in München arbeitet, dass die Moderatoren meiner Lieblingssendung «Wetter vor acht» nach Neujahr die Sendung in Frankfurt aufzeichnen werden, weil die Aegide dann beim Hessischen Rundfunk steht. Das betrifft natürlich vor allem Claudia Kleinert. Vielleicht entdecke ich sie dann samstags auf dem Erzeugermarkt, wie neulich schon den Tatortkommissar? Auch interessant: Die HD-Technologie stellt die Maskenbildner vor die Herausforderung, die Oberfläche der Moderatorengesichter vor dem überscharfen Kamerauge in Schutz zu nehmen. Es gibt wohl sogar Puder und Abdeckpaste, die als speziell für HD-Optik vermarktet wird, aber die bringt es dann auch nicht. Gut ist HD, laut Expertise der fahrenden Filmer, für Tierdokumentationen und Landschaft. Für die Zurschaustellung des menschlichen Schönheitsideals definitiv nicht. (Und was ein Hirschkäfer von seinem Image in HD hält, bleibt sein Geheimnis.)

Jetzt ist die städtische Natur hier auf dem Höhepunkt der herbstlichen Idylle. Gestern nachmittag in der Taunusanlage waren die Flächen quittengelb vom Laub der Ginko-Bäume bedeckt. Und aus dem Vlies ragten die Eiben schweigend und dunkel, spiegelnd die Türme ringsum. Zum Idyllischen trägt freilich noch bei, dass in diesem Park sämtliche Passanten in dunkelblaue Anzüge gekleidet sind — wie sie alle so einherschreiten im Herbstlicht; über güldenem Grund.

In der Abendschau zeigten sie einen Bericht von den Weihnachtsmarktvorbereitungen zu Rottweil: Der parteilose Bürgermeister hat mehrere jeweils anderthalb Tonnen schwere Betonskulpturen eines Rottweilerrüden giessen lassen, die als Terrorblocker in der Einfahrtszone des Marktplatzes aufgestellt werden.

Aber selbst als alle noch Ritter waren, kam halt einer, der den Dosenöffner erfunden hatte.

21.11.2019

Noch ein Café (am Marktplatz, unten am Ufer der Weil), daneben ein Friseurbetrieb für Männer («King-Barber»); die Betreiberin des anderen Friseurgeschäfts, neben dem Fachwerkhäusle des Heimatvereins, steht manchmal unter dem Reklameleuchtkasten für Keralogie und raucht Zigaretten. Sie trägt ihr Haar im Stile Brigitte Macrons. Zwei Thai-Massagestudios — unklar, ob mit, ob ohne Happy End —, das eine in den ehemaligen Räumlichkeiten des Cafés der anderen Bäckerei («Weil»), die jetzt, im Gegensatz zum Möller, bloss noch als Bäckerei firmiert, das andere direkt neben dem Kebap- und Pizza-Restaurant. Ein «Schlachthaus» namens Asfa — erstaunlich, wohin es doch die Äthiopier überall hin verschlägt. Ein privater Pflegedienst, eine Fusspflegerin, ein orthopädischer Schuhmacher. Ein Brockenhaus, das sich hypertropherweise «Auktionshaus» nennt. Ein Blumengeschäft. Eine Gärtnerei. Eine Tankstelle («Total»). Eine Sparkasse, eine Volksbank. Penny, Aldi, Rewe (mit «Getränkemarkt»). Zwei Kirchen.

Und ein Kino immerhin (deshalb bist du hier).

Abends plötzlich Appetit auf Pizza. Als ich das auf Kebap und Pizza spezialisierte Haus betrete, bin ich überrascht von der Weite des Gastraumes: sechzig Personen könnten hier gleichzeitig und dabei bequem ihr Abendbrot einnehmen. Ich bin allerdings der einzige Gast. Wie finanziert sich das bei den hier im Taunus üblich gewordenen Mietpreisen?

Von meinem Tisch, direkt unter einem grossflächigen Bildschirm gelegen, der stumme Musikvideos zeigt, kann ich in das durch eine gläserne Schiebetür abgetrennte Zimmer hineinsehen, das als «Raucherraum» gekennzeichnet ist. Nachdem ich meine Pizza ausgewählt (Corleone mit Salami) und bestellt habe, wird diese Trennwand zur Seite geschoben und die vier jungen Männer, die dort ihre Köpfe zusammengesteckt hatten, setzen sich hierbei mir im Hauptraum an einen Tisch. Sie reden ungeniert und dröhnend von ihrem Geschäft, wohl weil sie annehmen, dass ich ihren Jive ohnehin nicht dechiffrieren kann. Ich bin der einzige Weisse im Raum. Die Rede ist von «Hähnchen», aber nicht die aus dem Wienerwald, es geht ums Ballern. Dann freilich um die Freizeitgestaltung, um Fitness und ein neues Proteinpulver der Marke Gamechanger. Frankfurt ist knappe sechzig Kilometer nah, und Frankfurt strahlt aus. In alle Richtungen, auch in den abgelegensten Winkel des Taunus hinein. Oskar meint, auch Darmstadt sei deswegen ein einziger Drogensumpf. Und Weilmünster hat einen frissonierenden Eishauch von Lumberton herübergeweht bekommen für mich.

Pizza war i.O.

20.11.2019

Nach dem Frühstück (Brötchen, Wurst, Flocken) Erkundungsgang in die Ortsmitte. Zwei Bäckereien (eine davon, Möller, mit Konditorei und Café), ein Drogeriemarkt («Rossmann»), eine Handlung für Hundehalterbedarf, ein Eiscafé, ein Schreibwarenhandel, eine Eisenwarenhandlung, die nahtlos in ein Spielwarengeschäft übergeht, das wiederum in einem Nebenraum auch Haushaltswaren führt. Ein sogenannter Textilwarenladen, der in seinen Verkaufsräumlichkeiten eine Filiale der Post inklusive Postbank beherbergt. Ein Restaurant «Posthaus», das thailändische und deutsche Spezialitäten auf der Karte hat. Ein Kebap- und Pizzaspezialitätenrestaurant. Gerade so, als ob der Platz hier knapp wäre; dass alles so zusammenrücken muss. Aber ringsum Weilmünster ist noch reichlich Landschaft übrig, sie bietet sich regelrecht dar.

Normale Zeitungen gibt es hier nicht. Bloss das «Weilburger Tageblatt» und die Bildzeitung «Bild», die heute vorne drauf in schwarz auf gelb mal wieder so tut, als ob. Im Tageblatt hingegen wird das Attentat auf Dr. Weizsäcker im Vemischten kurz gemeldet. Darunter die sagenhafte Geschichte von der Höllenfahrt zweier Russen: «Nach dem Bruch einer Fernwasserleitung in Russland ist ein Auto mit zwei Männern in ein Loch mit kochendem Heizungswasser gestürzt. Die beiden Insassen seien dabei ums Leben gekommen, teilte die Polizei mit. Ihr Wagen stand auf einem Parkplatz in der Stadt Pensa etwa 550 Kilometer südöstlich von Moskau, als plötzlich der Asphalt direkt darunter zusammenbrach.»

Weil wir gestern gut gearbeitet hatten, bekam ich heute am frühen Nachmittag schon frei und ging den Weg zum Ortsausgang bergan, bis keine Häuser mehr nachrückten. Hinter der letzten Kurve kam dort Schritt um Schritt ein Wald empor, als wüchse er gerade jetzt erst aus der Wiesen Grund. Rechts unten war ein Steinbruch, und mein Weg führte erst daran vorbei, dann ging es woanders tief hinunter. Schiefer ragte stapelweise aus der Böschung, viel Moos. Der Weg war auf eine raffinierte Weise geführt, er wusste mich zu halten. Immer wenn ich den nächsten Hügelkamm erreicht, die nächste Kurve durchschritten hatte, entfaltete sich vor mir schon wieder ein mich neugierig machendes Bild, in das ich eintreten wollte. So ging es voran, bis ich nach so vielen Feldern und Wiesen und Hochsitzruinen vorläufig angekommen schien an einer Weide am Abhang, an dem Jungbullen grasten, mit schwarz gekräuseltem Persianerfell und dicken Hörnern. Die Augen seltsam glotzend, wie aus schwarzem Glas. Zurück über den Weg durch das Weiltal (auch hier viel Schiefer; vermutlich wird in dem Steinbruch auch Schiefer abgebaut). Im Ort dann natürlich sofort ins Café Möller. Es war ja Kaffeestunde. Bis auf einen Tisch, meinen, waren alle anderen schon besetzt. Nebenan eine Runde eleganter Damen, in deren Mitte nur ein einziger Mann. Die anderen waren wohl schon weggestorben. Dementsprechend war er nun als Stellvertreter in Personalunion für sämtliche Witwen zuständig geworden, hatte beispielsweise deren Anstandsreste aufzuessen. Die Stückchen schob man ihm auf den Tellerchen samt beiliegenden Kuchengabeln zu. Und er, heroisch. Machte auch den einen oder anderen Scherz, neckisch. Schön abwechselnd bei der einen, währendessen die anderen ihm dabei zuschauten. Wohlgefällig. Wahrscheinlich nennen sie ihn für sich so, weil er sich einst im Scherz als solcher bezeichnet: Last of the mohicans. Damals waren die anderen Männer aber noch am Leben gewesen.

Ich könnte hier gut mal eine Zeit lang verbringen. Ein Buch schreiben, über das Leben in einer westlichen Provinz. Interessiert wahrscheinlich niemanden. Der sogenannt abgehängte Osten hingegen noch immer und sehr.

19.11.2019

Inzwischen hatte man mich nach Weilmünster gebracht. Und das mit dem Auto. Hinter der Stadtgrenze wurde das Land weit, vor uns der Taunus, eine Hügelkette mit ebenmässigem Rücken. Eine grosse Herde weisser Wolken und zwei, drei schwarze, die sich daraus losgerissen. Himmel wie bei Staël, darunter der bunte Wald. Wie lange ich schon nicht mehr mit dem Auto gefahren war. Ganz andere Bildgeschwindigkeit, andere Aussicht vor allem: Hier, wo keine Schienen liegen, zeigt sich das Land wie insgeheim geschwungen und hier (und da) ein Birnenbaum; hoch gewachsen, selbst birnenförmig geworden über die Jahre. Stamm und Äste bis in die Spitzen mit patinagrünen Flechten bedeckt (an seiner Wetterseite).

Mittags Schnitzel (Wiener), abends Schnitzel (Jäger). Leben auf dem Land. Muss moralisch wie Ferien gestaltet werden, auch wenn ich hier zum arbeiten bin.

17.11.2019

Jürgen Dollase schreibt: «Das macht Sinn.» Das ist, hier ist das ausnahmsweise einmal angebracht zu sagen: Harte Suppe (für mich). Demzufolge, diesem Dammbruch, ist es bloss (bloss!) noch eine sogenannte Frage der Zeit, bis er ein Gericht als lecker qualifizieren wird. Bis dahin aber erfreue ich mich noch an den Resten seiner sprachlichen Reichtümer (heute ging es in seiner Kolumne ja wie gewohnt gut los (zu Beginn des vergällenden Absatzes, der dann auch noch der letzte sein sollte, wie um bei mir einen schlechten Nachgeschmack zu erzeugen) mit dem Satz «Leider gibt es beim ersten Hauptgericht Unklarheiten bei den Proportionen»)). Da lacht der Fachmann und der Laie wundert sich (neulich las ich, in der Strassenbahn fahrend, in der Wikipedia den Eintrag über Grütze. Da stand doch tatsächlich dieser Satz «Die Abgrenzung zu Getreideschrot ist unscharf»). Wat heb wi lacht.

Die Strassenbahnen hier in Frankfurt lassen bei geöffneten Türen ein ganz feines, rhythmisch perlendes Geräusch ertönen, das mich an Bikini Bottom und an küssende Guramis denken lässt. Jene lachsfarbend schillernden Fische, die mit einem Kussmund zur Welt kommen. Die können gar nicht anders, kämpfen auch so. Wie sich das anhört ist freilich unbekannt. Gibt es Unterwassermikrophone?

16.11.2019

Gestern hat das Mandelbäumchen sein letztes Blatt abgestossen. Lanzettförmig und birnenfarbend. In der Frühe steht der Dampf aus den Kaminen wie gebauscht und dann gefroren in der Luft. Aber die Tage sind mild geblieben. Und entlang der Frankenallee zeigen die Bäume ihren Laubreichtum, der eine oder andere sogar noch in Grün

Die Gemüsehändlerin auf dem Markt an der Konstablerwache bricht morgen in die Ferien auf. Sie fährt, wie in jedem Jahr, «in die Emirate». Und zwar mit dem Schiff. Dohar, Oman — sie liebt die arabische Welt einfach, «Weil ich da abends alleine herumgehen kann wie ich will. Da will keiner was von mir — komisch, gell?»

Der Apfelreichtum Hessens, ein Apfelland, wird an mehreren Ständen kistenweise vor Augen geführt. Fällt einer herunter, macht das ​nix, es gibt umgehend einen neuen «Wir machen Apfelwein d’raus». Nebenan bekam ich eine epochale Rindsworscht aus 36145 Wiesen: «Mit leichten Röstaromen?»

«Mit heftigen, bitte.»

«Der Herr weiss, was schmeckt.»

Auf dem Weg zur Strassenbahn sendeten die umstehenden Chinesen einer Reisegruppe begehrliche Blicke in den vor Grünkohlblättern überquellenden Stoffbeutel in meiner Hand. Diskutierten in hervorgepressten Lautketten. Möglicherweise war ihnen aber die Pflanze auch vertraut, wird der palmenhafte Grünkohl auch im Reich der Mitte angebaut und vertilgt, und die Chinesen erregten sich am Aufdruck meines Beutels, einem Werbegeschenk der CSU, auf dem in bayerisch blauen Buchstaben Söder steht. Könnte doch sein, schien mir nicht unwahrscheinlich, dass man in China nicht bloss Grünkohl liebt, sondern auch Markus Söder.

Zwei Männer ohne eigenes Obdach sassen, noch zur unteren Hälfte in ihre «Penntüten» verpackt, unterm Haltestellendach und führten Frühstücksgespräche. «And then I went to argentina for a year.»

14.11.2019

Die Wespe drängt ins Haus. Im Sonnenschein auf dem Balkon hatte ich mit ihr noch mein Frühstück teilen wollen. Sie schwebte ein und liess sich nieder auf dem Teller, für sie eine Plattform, schien aber nichts finden zu können: wie rastlos irrend krabbelte sie umher, von Pontius Wurst zu Pilatus Apfel und wieder von vorn. Im Sommer, heisst es, gieren sie nach Süssem, wenn der Nachwuchs geschlüpft ist und es verlangt sie nach Fleisch, wenn sie das Nest bauen aus ihrem Pappmaché. Im November gibt es dann wohl keine irdische Speise mehr, die ihrem Bedürfnis nach Stärkung entgegenwächst. Weil es jetzt um ihre Arbeit des Sterbens geht.

Mir geht diese Begebenheit aus dem Zug nicht mehr aus dem Kopf: Auf der Rückfahrt von Leipzig setzte sich uns gegenüber ein Duo zweier junger Frauen, die anscheinend vom Frankfurter Flughafen aus in die Ferien aufbrechen wollten. Kaum das sie sich hingesetzt hatten, tauschten sie sich noch ein wenig über die Steckdosenform im Urlaubsgebiet aus, und führten sich gegenseitig ihre Multiadapter und Powerbanks vor. Daraufhin wurde noch etwas geschwiegen, die eine biss in ein belegtes Brot. Dann stöpselten sich beide ihre Ohrhörer ein und lauschten jede für sich dem Hörspiel oder der Musik aus dem eigenen Telefon. Das blieb so von Fulda bis Frankfurt Hauptbahnhof. Gerade noch heiter plaudernd, Seite an Seite, sassen sie uns nun dicht gegenüber wie ausgeschaltet. Die Augen geöffnet, der Blick so leer.

13.11.2019

Die denkbar schönsten Herbsttage liegen hinter uns. Fuhr am Samstagabend nach Leipzig, über Dessau, und freute mich schon auf diese mir bis dato unbekannte Strecke durchs Land, bis mir freilich kurz vor der Abfahrt klar wurde, dass es dann ja längst dunkel geworden würde. Im Zugabteil sassen verblüffend viele Menschen, aber die verloren sich dann zügig an den wenigen Haltestellen hinter Potsdam. Kaum war die anhaltinische Grenze überfahren war man beinhahe schon intim unter sich. Eindrucksvoll, wie dann gleich nach dem Versickern der Agglomeration ein leeres Land sich breitet. Kaum dass ich mal ein paar Lichtlein sah, die auf eine menschliche Siedlung hindeuteten. Das Telefon zeigte sehr schwachen, streckenweise überhaupt gar keinen Empfang mehr an.

In Dessau selbst hatte, um kurz nach halb sieben, die Bahnhofsgastronomie schon die Läden dicht gemacht. Ich trat auf den Vorplatz, dort leuchteten rote Buchstaben in die Nacht über der «Bauhausstadt»: Orion und Spielhalle. Zu Essen leider nichts.

Wie ganz anders, wie prächtig das hohe Gewölbe des Bahnhofs von Leipzig. Am nächsten Morgen wurden wir von blauem Himmel geweckt. Im Park das honigfarbene Laub an den Bäumen. Picknickszenen am Ufer der Elster. Warum hier um das Entscheidende schöner gebaut und restauriert wurde und wird als in Berlin, werde ich mir beizeiten von einem, der sich auskennt, erklären lassen. Das Haus der Base, das sie sich mit ihrer Frau in einem Hinterhof aus einem Stall hat ausbauen lassen, ist herrlich geworden. So müsste man wohnen — können? dürfen? Endlich auch mal wieder ein Garten, in dem ich am Montag mit Rebecca einen völlig verbumfeiten Apfelbaum aufs rechte Mass zurückführen konnte. Schneidenderweise (Gewaltig wird des Schlossers Kraft/ Wenn er mit dem Hebel schafft).

Dergestalt beherzt konnte ich dann gestern endlich zur Tat schreiten. Trat — Augen zu, und durch — über die Schwelle des Saturn und liess mir ein neues iPad aushändigen. Setzte mich damit, standesgemäss, in die benachbarte Filiale von Starbucks und lud den gesamten Inhalt des in Berlin liegengelassenen iPads hierher in das neue herunter. Die Seelenwanderung dauerte weniger als eine Stunde lang.

So merke ich jetzt kaum einen Unterschied. Es ist halt etwas kleiner, was aber nicht störend wirkt. Nur noch der Regen hat kleinere Hände als ich.

8.11.2019

Die Wohnung mir direkt gegenüber, die der begeisterten Raucher, steht noch immer leer. Die Balkonkästen werden mittlerweile vom Eichhörnchen bewirtschaftet, das einen davon als Stash box benutzt. Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil die Hauseigentümergemeinschaft eine Firma beauftragt hatte, im Vorgarten sogenannte Rattenköder auszulegen. Anscheinend aber ist das Eichhörnchen trotz formaler Ähnlichkeiten den Ratten überlegen (hinsichtlich Erkenntnis oder Theorie).

In der Wohnung darunter geht das Licht so gut wie nie aus. Der Bildschirm (komisch, das ich tatsächlich vom männlichen Mieter ausgehen will) zeigt mir das bläuliche Geschehen eines Videospiels. Es handelt sich um etwas Mündungszentriertes, also spielt er vermutlich nicht «Death Stranded», jenes fantasievolle Spiel aus Japan, von dem derzeit so viel und ausgiebig in den Feuilletons zu lesen war.

Meine Eltern schicken mir einen Ausriss der Stuttgarter Zeitung: Viele Chefredakteure von schwäbischen Zeitungen fordern, ganzseitig, eine Wendung weg vom Hass; und von den drei Stunden, die ich gestern mit Mirko in einer tatsächlich von Franzosen betriebenen Épicerie verbracht habe, redeten wir mehr als die Hälfte über Angst. Und (von ihm her): über Auswanderungsfantasien. Kulminierend in: «Du musst ein Buch darüber schreiben!» Damit wäre der Komplex dann in Form gegossen und endgültig erledigt.

Aktivist zu sein bedeutet jetzt, umtriebig zu sein. Sichtbar. Mir ist aber das inwärts Gerichtete sympathisch. Ich glaube, die Menschen sind zum Träumen gemacht. Dort finden sie sich wohl, und die deutlichsten Worte zu einer Verteidigung des Daseins finden sich zuverlässig dort, wo die Träume sind.

7.11.2019

Die Südchinesen tischen jetzt die gekochten Erdnüsse auf: Man kauft die Erdnüsse in Schale, durchpiekst sie mit der Nadel und kocht sie in Pastawasser (Meerwasserstärke) auf. Die schmecken super und, plötzlich, wird es einem gewahr, dass Erdnüsse möglicherweise gar keine Nüsse sind, sondern Bohnen.

Im Grunde sind sie den Edamame ähnlich, die den Japanern zugeschrieben werden als kulinarische Errungenschaft. Bloss schmecken die gekochten Erdnüsse besser. Aber die japanische Kultur gilt als überlegen.

6.11.2019

Christian riet mir, das «grösstmögliche Gerät» zu kaufen. Schliesslich «schreibe das Schreibgerät doch mit». Ich betrachte mein Gehirn als mein Schreibgerät. Werde von daher das allerkleinstmögliche iPad aussuchen. Erinnerte mich an den legendären Disput von Peter Schneider mit Handke, in welchem Hosenschnitt es sich denn besser schreiben lässt. Schneider war für Röhren, Handke für Pluderhosen (freilich). Übrigens bin ich hier schon an etlichen Buchhandlungen vorübergegangen: In keinem Schaufenster wird Werbung für das Werk des Nobelpreisträgers gemacht. Kurios. Aber so ist jetzt halt die Zeit.

Erste Kokosnüsse bei den Türken. Mein Heimweg wurde von einem Laternenumzug gekreuzt.

5.11.2019

Morgens demnach umgehend ins Display-Paradies; wobei die Experten dort ja schon ganz schön schnöde: Ich zeigte dem Fachmann den Balken und er, fachmännisch: «Das ist ein Displayschaden». Sein Kollege, ein Kenner, zu der mir wichtigen Frage, worin sich denn nun all diese beinahe identischen Modelle des Gerätetyps voneinader scheiden liessen: «Speicherplatz». Demnach Leistung. Analog zum Wert von Salz in frühen Zeiten, von dem ja sowohl die noch erhalt’nen Gefässe still beredtes Zeugnis abzulegen gedächten, wie auch der Begriff Salaire?

«In etwa». Zudem würde der Kunde aber noch in die Zange genommen durch die ins Unaufhaltsame wachsende Grösse der Betriebssysteme. Ein Terrabyte bedeute dann bald schon so gut wie gar nichts mehr. Dann würde schon die Ausstattung des Gerätes von seiner eigenen Benutzbarkeitsmachung blockiert. Hätte man sich vermutlich bei den Wegfahrsperren für Parksünder abgeschaut.

Ich ging dann heimwärts am Flussufer entlang, um die Optionen zu ventilieren. Da stand ich vor einem Baum, der über den Sommer hinweg zum Totholz geworden war. Einer seiner stärksten Äste machte einen Cabrioausleger und war genau dort, am Ellbogen, zudem noch komplett von den Eichhörnchen geschält. Ich dachte: Den müsste Christian fotografieren. Und in dem Moment klingelte mein Telefon, Christian am Apparat. Stereo-MCs-mässig.

4.11.2019

«Irreparabel» ein dummes Wort. Die Alternativen sind mannigfaltig. Dies könnte meine Matratzenarie werden.

3.11.2019

Nicht komisch, warum es schön ist, beim Geräusch von Regen einzuschlafen, dagegen schlecht, dabei aufzuwachen. Woody Allen: «If it bends, it’s funny. If it breaks, it’s not funny».

Demnach also maximal unkomisch, dass das iPad seit seinem Einschalten heute früh einen schwarzen Balken zeigt, quer über den sogenannten Screen. Und das auch noch Sonntags. Ist ja so wie bei Zahnersatz: Man denkt immer, das passiert den anderen, aber dann passiert es halt doch.

Der Balken nimmt, gemessen an der Breite des Pads, weniger als ein Viertel der gezeigten Fläche ein, das aber scheint kriegsentscheidend, da kann ich drehen, wie ich will (der Balken bleibt).

Ich tippe diese Zeilen auf dem Telefon. Schön ist das nicht. Einen Laptop hätte ich auch noch, der steckt zwischen der Wäsche wie die Tagebücher von Patricia Highsmith. Aber allein: wie der föhnt. Ausserdem habe ich das Passwort für meinen Internetanschluss verlegt. Lauter so Petitessen.

Morgen macht Gravis auf. Bis dahin halt: Keine Leerzeilen.

2.11.2019

Müsste mich eventuell ganz zurücknehmen; zumindest doch teilweise: denn am zweiten Tag gefällt mir die Zeitung nun doch «wieder gar nicht so schlecht». Was ich umarmen will ist doch Kontinuität!

So auch meine Liebe zum Schlaf. Als ich heute früh hinab zur Tankstelle schritt, um dort diese Zeitung mit ihrer Sonderbeilage anlässlich des 70. Geburtstages der Unternehmung zu kaufen, fiel mir dort, am Sockel des Treppengelaufs (schreibt man das so?) die dorthinein, nämlich, zwischen die das Treppengeländer stützenden Sprossen gesteckte Süddeutsche Zeitung auf.

Ich lese die ja seit langem nicht mehr. Aber nicht, weil sie mir zu liberal scheint — liberal bin ich selber. Nein, es ist der Ton und demzufolge ist es halt auch das Klientel, das diese einst interessanteste (vom Feuilleton her) Zeitung lange schon für mich unmöglich gemacht hat. Die Redaktion der Frankfurter, so steht es geschrieben, versteht sich als Verfasser des dicksten Geschichtsbuches; die Münchner wiederum — einst in der Stadtmitte, heute draussen beim Flughafen, kümmern sich vor allem um sich. Deren Klientel sind ja die späten Eltern. Und denen, es gibt in meinem Haus davon nur ein Paar: Geht dann wohl diese Zeitung zu. Ich habe den Haushaltsvorstand gegoogelt: Er arbeitet in einer Behörde. Die Frau kenne ich persönlich. Sie haben jetzt, ich hatte ja geschrieben, dass mein Haus hellhörig ist: ein Ritual entwickelt, leider, bei dem die wahrscheinlich vierjährige Tochter die Mutter um sieben Uhr morgens unter grossem Geschrei und Gestöhne aus der Wohnungstüre drängen muss, damit die Kleine nicht auf die Idee kommt, dass «Die Mutti» wohl freiwillig geht. Der Vater unterstützt dieses Ritual damit, indem er, an jedem verfluchten Morgen bis auf den Sonntag, denn da wird natürlich ausgeschlafen: Grunzt wie ein Möbelpacker, wenn er dabei hilft, die Mutti aus der Wohnung zu schieben. Somit lernt also das Kind, dass die Mutter sich nicht gerne von ihm, von der Familie auch, das Kind einbegriffen, trennt. Zu diesem Erziehungsstil gehört meiner Erfahrung nach auch, dass man vor dem Kinde stets so tut, als habe man die eigene Wohnung gerade erst, beim Aufschliessen, als eine Art von Schatzhöhle entdeckt. Gleich, was das Kind davon hält — eventuell ist es vor allem für die Erwachsenen schön.

Leserphysiologien: Also vertiefte ich mich nicht weiterhin in die Frage nach einer Zusatz-Lektüre, sondern begann in der Zusatzlektüre meiner Zeitung zu — ja: schmökern. Bannas über Adenauer. Kohler über Sinn und Zweck. Lukas Weber über die Scharfhaltung des Stiles.

Gestern rief Oskar an, ist wohl auf Mallorca. Sein Cutter hat ihn rausgeschmissen (aus dem Schneideraum; will ohne Reingequatsche weitermachen). Künstlerische Fantasien! Am Donnerstag gibt es eine Vorschau. Mal schauen!

Was die die wohl dächten, wenn ich sie jeden Morgen mit «Kaileigh» weckte? Sicher ist das süss. Aber zugleich an Jedem guten Morgen?

1.11.2019

Es drangen keinerlei Kinder ins Haus. In der Nacht dann trotzdem aufgeweckt durch schaurige Geräusche. Ein dumpfes Dröhnen, irgendwie heulend auch. Es war um die stille Stunde. Ich ging in der dunklen Wohnung umher, lauschend: Anscheinend kam das von draussen. Aber so, direkt allumfassend? Sehr gross. Bis ich ein Fenster öffnete und drauf kam, dass es das Gerüst war, an der Fassade, in dessen Stangen der Wind hineingriff wie in ein Paket stählerner Saiten. Die hatten das Gerüst ja mit Schraubhaken am Hinterhaus befestigt. Das überträgt wohl die Schwingungen in die Bausubstanz. Schlief dann etwas besser. Immerhin keine eierwerfenden Kinder auf dem schwankenden Gerüst.

Sass ansonsten gestern auf der Terrasse vor dem Bootshaus am Lietzensee. Kühl aber sonnig. Das Licht fiel schräg ein und brachte das Kielwasser der Enten zum Leuchten, wie eine Gravur. Wie der Reiher seine Flügel wegklappt, gleich nach der Landung, kaum dass er steht. Wie einen Gegenstand, sein Fluggerät.

Die Bäume, Weiden vor allen Dingen, schauen so viel schöner aus in ihrem Spiegelbild. Was aber wenn sich einem dann die ganze Welt für immer nur noch so zeigte und man käme nie wieder auf die andere Seite des Bildes zurück? Alle Gesichter schauten einen an wie von ihrem Platz hinter einem Wasserfall. 

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erschien heute vor siebzig Jahren zum ersten Mal. Vor gerade mal zwölf Jahren haben sie das Bild auf der Titelseite eingeführt und jetzt gibt es schon wieder eine Veränderung. Irgendetwas stimmt mit den Schriften nicht mehr. Ich glaube, es wurde am sogenannten Durchschuss herumgedreht, die Zeilen schauen auf einmal luftiger aus. Seltsame serifenlose Schriften. Deutlich mehr rote Elemente. Die Leserbriefe erinnern jetzt an ausgedruckte EMail. Mir gefällt das nicht. War ja klar. Generell kann ich sagen, dass sämtliche im 21. Jahrhundert durchgeführte Re-Brushes und Re-Designs unsere Zeitungen nicht schöner gemacht haben. Woran das bloss liegt?

31.10.2019

Die Kastanienwirtin erzählt, sie habe für heute abend zwei Wachleute von einem Sicherheitsdienst bestellt. Halloween sei ja beileibe kein harmloses Kinderfest mehr. Im vergangenen Jahr waren ein paar Halbwüchsige hereingekommen und hatten kommentarlos die Gäste mit körbeweise Hühnereiern beworfen. Damals war unter anderem ein Laptop beschädigt worden und ein wertvolles Kleid. Die Polizei müsste man da gar nicht erst rufen, die könnten ja sowieso nichts tun.

In der NYT schreibt Thomas L. Friedman: «Weder während des Kalten Krieges, noch während des Krieges mit Vietnam, oder zu Zeiten von Watergate habe ich mehr um mein Land gefürchtet.»

Die Tagebücher von Patricia Highsmith sollen im übernächsten Jahr veröffentlicht werden. Sind wohl mehr als 8000 Seiten, versteckt im Wäscheschrank.

«No writer would ever betray his secret life. It would be like standing naked in public.»

30.10.2019

Der Nachbar schreit seine Frau an. Direkt durchdringend. Dabei sind die noch ganz jung, keine dreissig. Ich nicke ihnen zu, wenn sie Samstags vom Einkaufen (bei Lidl) kommen. Freitagnachts immer späte Heimkehr; regelmässig gegen vier?

Ist einer der Nachteile an diesem Haus, dass es derart hellhörig ist. In Frankfurt haben wir es besser: Die Mume wäscht bloss heimlich, still und leise, und die Etagennachbarn machen grösstenfalls mal Heavy Metal an.

Am Ende der Ladenstrasse standen die Wolken quer in der Lücke zwischen den Häusern. Wie ein Gebirge aus Schaum. Als ob da jemand (grosses) badet.

Kurios auch, dass ich da nie hingehe, an die nachbarliche Glocke, um mal anzuläuten, wie es der trauten Gattin ginge, die, so war zu hören, gar plötzlich verstummte. Könnte ja jederzeit soweit sein, dass er die um die sogenannte Ecke gebracht hätte. Man, also ich, liest ja so allerhand (im Vermischten).

Für heute Nacht ist Frost angekündigt.

29.10.2019

Der Uhu ist ungewohnt zähflüssig dieser Tage. Ob das mit dem Wetter zusammenhängen könnte, wie bei Milch? Das Barometer steckt ja auch schon seit Tagen fest (bei 1010 Hektopascal). Ein Tief lastet über Deutschland.

Friederike schrieb gestern in ihrem TB, sie habe einen eigenen Musikgeschmack! Kann man wohl sagen. Ist mir neulich erst wieder aufgefallen, als wir die neu veröffentlichte Fassung von Abbey Road durchgegangen sind. Hätte es ahnen können, aber sie will nun «Maxwell’s Silver Hammer» hören. Wenn ich sie mir dann anschaue, wie sie von ihrer Sänfte aus vergnügt dirigiert: Joan was quizzical usf.

Kurios, dass man den Musikgeschmack des Anderen nicht tragisch nimmt. Ungleich dazu verhält es sich mit der Liebe zur Literatur. Scheint tiefergehende Einblicke zu liefern.

Wildgänse überfliegen das Stadtgebiet (darüber das Tief nicht vergessen!) Warmwärts. Heute hört man sie bloss, sind nicht zu erblicken durch den Dunst. Im Gegensatz zu den Stubenhockern, die, da die Kronen lichter worden, nur immer noch lauter zu vernehmen sind mit ihrem Zwetschen und Schnarzen. Einsam ist die Leserin und: Der Mutist.

Vorschriftsmässig in die dafür bereitgestellten Säcke aus kompostierbarem Kunststoff verpackt, steht das Laub am Wegesrand. Einer Kompostierung harrend gemacht. Die Stadtreinigung hat neulich eine «Wurfsendung an alle Haushalte» verteilen lassen. Ging um Kompost. Überschrift des wertig gedruckten Folders: «Schälen Sie auf uns». Nun ja. Irgendwo müssen sie ja hin, die ganzen arbeitslosen Journalisten. Da lobe ich mir freilich den Slogan des Türenherstellers Herholz: «Hat Türen im Griff».

Alles Geschmackssache. Und nicht wenig auch von Talent. Das prägt die Eigenheit ja aus.

28.10.2019

Dass man jetzt morgens schon Licht anzumachen braucht, um lesen zu können. Künstliches Licht, bezeichnenderweise. Mir kann es ja nie gedämpft genug sein. Die Waffen des Lichts? Nichts für mich. Ich glaube an Andy Warhol «I believe in low lights and trick mirrors». Für die korrekte Durchführung der Uhrenumstellung ist, brauchte nicht nachzuschauen, weil ich es ahnen konnte: der Verkehrsminister zuständig. Ich kann mich nicht erinnern, welchen Minister ich schon mal derart abstossend und verderbt fand. Glaube gar keinen. Ganz interessant ist freilich, dass das Verkehrsministerium seit seiner Gründung am häufigsten von allen umgezogen ist. Knapp dreissig Postanschriften mussten in die Annalen der bundesrepublikanischen Geschichte eingetragen werden. 99 % davon natürlich zu Bonn.

Wie dann ein Strahl vom Heute auf den alten Text fällt (von 1978): Kempowski, Seite 179 «‘Die Herrn vom Stalag in Stettin … Handke — ein ganz grosses Arschloch.‘» Wie dieser Name, der bei mir die meisten Jahre nur die allerschönsten Gefühle ausgelöst hatte, wenn ich ihn las (von Buchrücken, aber auch in den Zeitungen, auf Websites), in den vergangenen Wochen derart verhunzt und verpeopelt wurde, dass ich ihn jetzt noch nicht einmal mehr out of context grossartig finden kann, sondern kopfscheu werde, wie es bei ihm selbst heisst. Wirklich vergällt und gallenbitter könnte ich werden, wenn ich allein an all die abgebrochenen, halbgaren Diskussionen denke, die ich im Keim ersticken musste wie die alte Kindermagd. Kaum jemand satisfaktionsfähig. Und wenn dann graut mir vor dem blöden Ritual.

«Kalt wie auf einer Brandstätte». Weiter unten kommen dann auch noch «Jugoslawen mit prachtvollen Schnurrbärten. Martialische Gestalten.» Hör mir bloss auf!

27.10.2019

Nach dem Sonnenaufgang ganz seltsam gedämpfte, gelbe und vermutlich deshalb auf mich giftig wirkende Lichtstimmung.

Ob ich es noch erleben werde, dass die verordnete Uhrenumstellung wieder abgeschafft wird? Es sind ja, das fiel mir gestern beim Lesen ein (Tadellöser& Wolff) schon ganz schön viele Gesetzesähnlichkeiten abgeschafft worden in der sogenannten Zeit meines Lebens (Telefonzelle, Mengenlehre, DDR). Am Ende reicht es etwa noch zu einem Comeback à la Vinylschallplatte. Bin jedenfalls auf alles vorbereitet und dementsprechend gespannt.

Im Buch wurde eine mir unbekannte Seife erwähnt. Man liest dieses Buch jetzt plötzlich ganz anders, vom Kontext umzingelt, ich tippte den Namen der verschwundenen Seife in das Suchfeld ein. Es gab sie wohl. Ich kann es nur knapp entscheiden, was mir lieber wäre: eine verschwundene Seife oder eine fiktive. Finde die verschwundene tröstlicher. Immerhin gab es sie schon. Andere als du haben sich an ihrem stillen Schäumen erfreuen dürfen. Fiktive Markenartikel, das geht mir nicht bloss bei Seifen so, finde ich latent albern. Auch erfundene Drogen und artverwandtes. Seife zählt ja im weitesten, einem früheren Sinne dazu (Drugstore, Drogerie).

Das Foto der verschwundenen Seife tauchte übrigens auf in der Sammlung des Museums der Domäne Dahlem («der einzige Bauernhof weltweit mit eigener U-Bahnstation»). Wird aber aktuell nicht ausgestellt. Man zeigt dort gerade eine Ausstellung aus dem Themenkreis Milchgewinnung aus Kühen. Sonst wäre ich gestern dorthin gefahren. Hatte sowieso eine unergründliche, nicht unbedingt tiefe Lust, einen Ausflug zu machen. Zog derweil sogar eine Fahrt nach Rostock in Erwägung, um dort, vor Ort im Buch zu lesen. Schien mir dann zu kompliziert. Das Wetter war auch zu schön, um den Tag in der Bahn zu vergeuden. Blieb am heimischen Fenster sitzen. Schaute mir abwechselnd historische Aufnahmen von Rostock an und die der verschwundenen Seife, las dann wieder ein paar Seiten. Hätte ich alles auch im Zugabteil machen können, aber da lassen sich ja seit einiger Zeit schon nicht mehr die Fenster öffnen.

25.10.2019

Der Mutist ist zurück.

Heute mit einem irren Herumgehüpfe in den Zweigen; ich hatte ihn tot erwartet. Im Vorsommer schaute er für mich völlig verbumfeit aus.

Manchmal denke ich an Simon Le Bon, und an den fürchterlichen Stress, dem er ausgeliefert gewesen sein musste, damals, als es noch kein Internet gab.

Der Mutist jedenfalls kam heute, besser: er fiel vom Himmel direkt in die Krone des Baumes vor meinem Fenster, um dort: herumzuhüpfen «wie gestört». Manchmal hatte ich, den Sommer über, an ihn gedacht. Er macht noch immer kein Geräusch.

Nick Cave hat ja, angeblich, Disco 2000 eingesungen.

Ich freue mich schon auf das Frühjahr, wenn der Mutist vielleicht The Chauffeur einsingen wird:

«Sing, Blue Silver»

24.10.2019

Hinter Braunschweig fängt das schlechte Wetter an

Auf den Wegen liegt das Laub in gelben Scheinen

Und in Berlin dann, endlich,

Haufenweise, jeder Ecke,

einfach so.

Die Frau in der U-Bahn sagt

Ich fühle mich nicht gut

Ich hasse Berlin

Später dann

In meinem Park

Angeblich

Kein einziger Pilz mehr

Das Gras wie von den Fans erwartet:

Gestreift vom Rasenmäher.

Und ich hatte geglaubt

Das waren Konfetti

In Deinem Haar

So lang

Der Weg

Zu Dir

23.10.2019

Die kleinen Bäume, die aus den Samen von der Rothschild Avenue gewachsen, sind hier über den Sommer leider zu gross geworden. Sie überspreizen die Fensterbank, und eigentlich müsste man sie längst umtopfen — absehbar allerdings, was aus ihnen dann werden könnte (Bäume nämlich, was hast Du dir sonst dabei gedacht, als Du dir diese Kerne eingesteckt hast an jenem Nachmittag, als ihr aus der Weissen Stadt zurück geschlendert ward in Euer abgeschiedenes Quartier, die schatt’ge Kemenate?)

Eins von beiden muss mindestens weg. Es stellt sich, wie so oft an jedem Tag, wie beinahe überall auf der Welt, die Frage: Darf man lebende Topfpflanzen wegschmeissen? Einfach so.

Oder sollte man sie zuvor bei sich daheim vernichten?

Dass ich mich damit beschäftige — Ich gehe ja auch jeden Morgen raus und sammle die von den Zweigen des Mandelbäumles herabgefallenen Blätter auf; es gibt auf der Kommode die weisse Keramik einer schöpfenden Hand: darin bewahren wir die auf. Schöne Wehmut des Vergehens. Zauber einer Wiederkehr.

Meine Mutter schreibt, dass sie (mit ihrem Garten) im Gartenschmuckwettbewerb ausgezeichnet werden. It‘s running in the family (Ondaatje).

Ich fand ja früher das Café Plank auf der Münchener Strasse cool. Mittlerweile zieht es mich in’s Starbuck‘s im Skyline Plaza. Am Nebentisch erzählt ein vielleicht türkischstämmiger Jugendlicher seinen Kumpeln von dem Fahrlehrer mit migrantischem Hintergrund, der ihn, wohl fälschlich, für «einen Kanaken» hält. «Der redet mit mir, als ob ich dumm wäre. Der verunsichert mich». 

«Wechsel doch einfach», rät ihm sein Freund. 

Das sind die feinen Unterschiede, von denen Bourdieu spricht.

22.10.2019

Aufgrund eines Missverständnisses mit meinem Friseur trage ich mein Haar seit gestern im Stil der Zeit. Zunächst war ich von meinem Anblick befremdet, als ich meine Brille wieder aufsetzen durfte, und mich mit der neuen Frisur im Spiegel sah. Dann aber fiel mir auf, dass ja alle um mich herum: die Friseure in der Goldenen Schere inbegriffen, aber dort auch die noch in den Friseursstühlen sitzenden Kunden, die noch  Wartenden mit ihren Telefonen beschäftigten und beinahe sämtliche männliche Passanten, die draussen vor den grossen Fenstern des Salons die Münchener Strasse hinauf- oder heruntergingen, einen Haarschnitt dieses Typs wie es früher noch geheissen hatte sporteten. Endlich also war ich zum Teil einer Bewegung geworden. Zwar bloss einer Männerbewegung, dafür aber einer altergruppenübergreifenden. Von daher: immerhin.

Am Vortage waren wir vor dem Gang hinunter ans Mainufer noch vor einer Weinstube auf dem Römer herumgelungert, weil man von dort aus, so Friederike, sehr schön die Menschen beobachten kann. Vor allem waren es Männer aus Südamerika, die, das faszinierte mich wie eh und je, mit ihrem beneidenswert dichten wie dicken und rabenblauschwarz schimmernden Haar prunkend, sich auf der Stelle hin in alle Himmelsrichtungen drehten und anschauen liessen wie Figuren eines Glockenspiels. Dann trat mit einem Mal ein Mann aus unseren Gefilden auf und blieb, auch er, wie um sich uns zu zeigen, in einer Pose verharrend stehen und schlug die Hälfte seines wollfarbenen Mantels auf wie die Seite seines Buches, raffte die hinter seinem linken Arm mit dessen daran befestigten Hand, die ihm jetzt als Agaffe nützlich wurde, die er, um den Faltenwurf zu gürten, in die linke Hosentasche seiner Blue Jeans schob. 

Dieser Mann war das Bild des deutschen Mannes zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus modischer Sicht, selbstverständlich. Sein grau meliertes Haar war natürlich in eben dieser Frisur geschnitten, die auch mir am nächsten Tage geschnitten werden sollte. Allerdings ahnte ich davon am Vortage noch nichts.

Jetzt hat ja der Bayerische Jungbauernbund seinen Jungbauernkalender präsentiert. Er ist wie in jedem Jahr natürlich in zwei Ausführungen erhältlich, streng segregiert nach Jungbäuerinnen und Jungbauern. Die weiblichen Bauern interessieren mich persönlich ungleich mehr, es gibt auch eine schöne Forstwirtin zu sehen!, aber für die Ästhetische Theorie der Männerbewegung sind freilich die Jungbauern wichtig. Man glaubt nämlich bloss, vor allem ich, wenn ich mich an mein Heimatdorf erinnere, dass Jungbauern irgendwie allenfalls interessant verwachsene, in jedem Fall vor allem natürliche Burschen waren und sind. Der Jungbauernkalender zeigt auf jedem Blatt ein am ganzen Körper glatt rasiertes, im Grunde überpflegtes, an den Bauchmuskeln legosteinhaft modelliertes Mannsbild mit eben dieser Frisur, wie sie jetzt alle tragen: Jungbullen, Identitäre, Migranten und ich. Einer der Jungbauern macht splitternackt, im Adamskostüm ohne Feigenblatt, auf seiner von der Sonne verwöhnten Weide einen Doppelaxel wie das tote Murmeltier neulich, um einen Apfel vom Zweige zu drehen. Dabei spannt er den Glutaeus maximus auf allernatürlichste Weise. Zum Anbeissen schaut das aus. In der sogenannten Landlust findet so etwas nicht statt. 

Abends waren wir in «Joker». Joaquin Phoenix tanzt grandios. 

   

21.10.2019

Uns war ein wunderbarer Abend geschenkt worden. Nach dem Kuchen hinunter an den Main, wo es zwischen den Brücken einen Abschnitt des Parkes am Flussufer gibt, der Nizza genannt wird. Ein Arboretum, bepflanzt mit Bäumen, die es dort eigentlich nicht geben dürfte (sagt wer?). Bananenpalme, Pomeranzenbaum, Oliven und die Mispeln habe ich erkannt (letztere wegen eines mich prägenden Urlaub in Spaniens, da war ich noch im Bambusstangenreiteralter, und weil es die Mispelchen im Glas hier in den Apfelweinkneipen als Dégistiv gibt). Sehr viele andere Pflanzen erkannte ich nicht, noch nicht einmal nicht wieder. Und ich hatte mein Telefon mit dem Feldbuch nicht dabei. Sorglosigkeit des Sonntages. Mein Gefühl der Ausgewogenheit ward zudem massgeblich bestimmt von dem Text, den Thomas Melle unter dem Titel «Clowns auf Hetzjagd» im Feuilleton veröffentlicht hatte. Zustimmung zu jeder einzelnen seiner Zeilen. Nun war Frieden eingekehrt, so empfand ich es, weil Peter Handke in unserer Sache, der Literatur, Recht getan war.

Auf dem Heimweg, noch immer war es warm, entdeckten wir im abgezäunten und von einem Zauntor versperrten Vorgarten eines Nachbarhauses, dort aus dem ungemähten Gras aufragend, drei Wiesenchampignons. Im Dickicht der grasfarbenen Halme vermutlich noch weitere, kleine, bald zu den grossen Hüten aufschliessende.

Heute früh zum ersten Mal Morgenrot.

19.10.2019

Das Ganze war natürlich wieder einmal nicht ganz so grossartig, wie ich es mir ausgemalt hatte. Als ich am Vormittage in dem nahe des Erzeugermarktes gelegenen Schnellrestaurant eingetraf, war dort nirgends ein Schild oder ein Banner aufgehängt, das auf die Feier des Aktionstages Chicken Mc Nuggets hingewiesen hätte. Es sah dort drinnen aus wie immer bei Mc Donalds, also auch wie immer bei Mc Donalds überall sonst auf der Welt. Und draussen war schönstes Wetter. Als mir die Tresenfrau dann auch noch erklärte, dass ich erst dann einen Anspruch auf die eine, auch nur einzige und einmalige Ausgabe der vergünstigten Knusperli samt Saucen anmelden dürfte, wenn ich mir zuvor die App von Mc Donalds herunterlüde, um ihr dann, nach meiner dort erfolgten Registrierung mit Klarname, Emailadresse et cetera, den dort in der App angezeigten Gutschein vorzuzeigen, hatte ich keine Lust mehr. Noch nicht einmal mehr auf Chicken Mc Nuggets zum regulären Preis. Und dabei hatte ich am Vorabend und die Nacht hindurch bis zu dem Moment, da ich die Schwelle des Restaurants übertreten hatte, den allergrössten Appetit von allen auf sie gehabt. Da allerdings hatte ich sie mir noch in Mannigfaltigkeit und beinahe frei verfügbar vorgestellt; füllhornhaft. Und hatte sogar schon erwägt, nicht nur mehrfach an diesem Aktionstag in unterschiedliche Filialen zu gehen, um mir dort vom Aktionstagsangebot abzuschöpfen, sondern auch unsere Nachbarn zu fragen, ob ich in ihrer Tiefkühltruhe einen Teil meines Chicken-Schatzes einfrieren dürfte.

Nur in den wenigen Stunden, in denen wir gestern Abend bei der Feier der Redaktion von Titanic in dem Ruderklub gewesen waren, hatten sich meine Nuggetgedanken verzogen. Das Buffet dort war nämlich wie in jedem Jahr von Kristin Eilert selbst hergestellt worden. Die freilich hatte mich zuerst gar nicht wiedererkannt, weil ich ja so stark zugenommen habe. Und dann noch die neue Brill‘. Jedenfalls schob ich gerade einen grossen Löffel in eine zimbelförmige Schale, gefüllt mit darin dargebrachtem Salat aus kandierten Walnüssen und pikanten Linsen, als sie zu mir sagte «Moment, das Buffet ist noch nicht eröffnet». Erlaubterweise deckte ich mich mit ihren Hors d’heuvres ein, jenen himmlisch buttrigen Hubertushörnchen, die ich mir auf dem Weg zu unserem Sitzplatz im Bug des bootsförmigen Clubgebäudes mit veritablen Rollgriffen einverleibte. Diese Buttrigkeit ihres Blätterteiges, erklärte Kristin uns dann einige Zeit später, als alle um uns herum schon sehr betrunken waren, wie das bloss unter Satirikern noch in solch verschärfter Form üblich ist, kommt ganz einfach daher, dass sie den Blätterteig der Hubertuskipferl selbst tourniert. Und zwar mit französischer Butter. Mehrere Wochen nimmt sie die Zubereitung der Schlemmereien für die alljährliche Titanicparty in Anspruch. Unter anderem ein Grund, weshalb bei ihr daheim in ihrer Küche drei Tiefkühlschränke stehen. Und eine alljährliche Titanic-Weihnachtsparty mit Buffet gibt es übrigens auch.

Ungefähr da, an dieser Stelle, fielen mir meine Nuggets wieder ein. Kurz darauf meinte Kristin irgendwo in der schäumenden Menge ihre Schwester entdeckt zu haben. Der mir gegenüber sitzende Dokumentarfilmer erzählte von einem spektakulären Zweiteiler über Ernst Jünger, den es demnächst bei Arte zu sehen gäbe. Bevor nun gleich das Thema Handke aufs Tapet gebracht würde, brachen wir auf.

Die Nacht war schön und klar. Der Morgen auch. Ich ging dann über den Markt wie immer. Am Apfelweinstand fragte ein dicker Kunde mit kritischem Blick den Apfelweingutsbesitzer, wie der diesjährige Rauscher «herausgekommen» sei. Der Gutsherr: «Meiner hat Niveau». Ein Haufen Tauben machte sich gleichzeitig auf und hinauf in die taubenfarbige Luft.

18.10.2019

In der Zeitung war heute früh ein Foto abgebildet von einem Murmeltier, das im Moment darauf von einem ebenfalls abgebildeten Fuchs (Weibchen) aufgefressen wurde. Das Murmeltier ist senkrecht auffliegend in gestreckter Körperhaltung zu sehen — beim Eiskustlauf heisst die Figur bei Menschen Doppelaxel, glaube ich. Der Gesichtsausdruck zeigt ein menschliches Erschrecken, die Murmeltieraugenlieder aufgerissen, das weisse im Murmeltierauge ist zu sehen; aus dem Mund ragen die als charakteristisch wahrgenommenen Murmeltierzähne, die man ja ansonsten nie zu Gesicht bekommt. Weil man das Murmeltier nie zu Gesicht bekommt. Im Engadin hatten wir uns da sehr gewünscht, auf dem Gipfel bei Segantinis Hütte droben, ein Murmeltier zu Gesicht zu bekommen; eines ansichtig werden zu dürfen. Stattdessen führte man uns dort zu Fröschen. Auch nicht schlecht.

Das Punctum von der Murmeltiertodesangstsekunde wurde von einer Chinesin aufgenommen, die gnadenlos abdrückte, als sie im Himalaya auf der Lauer liegend zur Zeugin gemacht wurde bei dieser Begegnung von hungriger Füchsin und Murmeltier, soeben aus dem Winterschlaf erwacht und dann gleich sowas; beziehungsweise, wie Rainald Goetz einst geschrieben hat: «Wenn Schlafen schon so schön ist, dann muss ja… nein, Quatsch!»

In der sachlich formulierten Bildunterschrift heisst es, dass die Füchsin selbst nicht aus Hunger handelt, sondern Nachwuchs zu versorgen hat mit dem erbeuteten Murmeltier. Ich werde derzeit auch getrieben von einem wölfischen Appetit, der mich andauernd übermannt — angeblich ganz normal, beziehungsweise natürlich in den Tagen bis Erntedank. Am Mittwoch beispielsweise, als wir bei Renate von Metzler eingeladen waren, ass ich sehr viele kleine Schnitzel. Es gibt dort in jedem Jahr Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat. Angeblich hat der Hirnforscher Wolf Singer zu dieser Tradition angeregt. Ich bekam von meiner Tischnachbarin Frau Lueken, die Vegetarierin ist und sich von Beilagen ernährt, beinahe sämtliche ihre Schnitzel geschenkt. Dann kam endlich auch noch der Kellner mit dem zweiten Servis. Danach war ich sehr satt und bereit zu meiner Verpuppung. Fragte mich aber insgeheim, wie lange das wohl anhalten würde, dieses Gefühl des Gesättigtseins. Bis mir endlich meine Flügel wachsen, oder doch wieder bloss bis Erntedank?

Gar nicht insgeheim wurde in den wunderschönen Räumen des Metzlerschen Stadtpalais von Politik geredet. Das hat sich freilich extrem geändert, seit Errichtung des Hauses: Früher, zu Knigges Zeiten noch, war das Sprechen über Krankheiten, über Religionen oder politische Ansichten in der Gesellschaft nicht gerade tabu, aber man sollte es zu vermeiden versuchen. An meinem Tisch ging es um Handke, also eine mittlerweile als toxisch verstandene Mixtur aus allen dreien. Herr Jung, der auch Verleger von Handke ist, entschuldigte sich nach einer Weile bei Frau Gerster, die hierbei das Wort führte, und ging heim. Ich nahm aus dem Augenwinkel aber wahr, dass im Nebenraum schon schüsselweise die Mousse mit Schlag hereingetragen wurde.

Es ist halt mittlerweile nicht bloss mit der Wohnungssuche genau andersherum geworden, als es früher war, worüber ich neulich noch mit Martin Mosebach sprach, der vorgestern wie es heisst durch Abwesenheit glänzte, weil er bis auf Weiteres in Marokko weilt. Es sind auch nicht mehr die Unvernünftigen die aussterben, wie Handke einst befürchtet hat. Beziehungsweise tut sich was im Reich der Vernunft.

Morgen ist Aktionstag für Chicken Mc Nuggets bei Mc Donalds. Bundesweit.

16.10.2019

Für mein Empfinden von der Zeit am Tag ist es schon ziemlich spät, zu spät für mich jedenfalls: Ich sitze in einem ICE nach Frankfurt am Main, draussen, hinter den Fenstern ist es Nacht. Die Abfahrtszeit habe ich mir nicht selbst ausgesucht, das Ticket stammt noch aus einer von mir sogenannten Phase in diesem Sommer, als ich noch nicht einmal mehr genug Geld zur Verfügung hatte, um mir sechs Eier zu kaufen, einen Liter Milch, geschweige denn eine Fahrkarte für die Deutsche Bahn.

Der Zug ist voll mit Passagieren und wie natürlich ist der Speisewagen seit Abfahrt am Berliner Hauptbahnhof ausser Betrieb. Ich habe in meinem Leben noch nie eine Platzkarte gelöst, mich immer auf einen Sitz im Speisewagen verlassen. Auch seitdem es, seit ein paar Jahren nun zunehmenderweise: dort keinen Service mehr gibt. Aus den sogenannten Bordbistros ist somit im Laufe der Zeit ein wie reguläres Abteil geworden, faktisch ist es eine rollende Ruine, in dem sich all diejenigen einfinden, die sich für den regulären Reservierungsvorgang bei der Deutschen Bahn zu spontan, also faul, oder zu blöd oder halt auch zu klug, alles gleich gut, befinden. 

Wenn man regelmässig mit der Bahn fährt, bedeutet es Coolness, sich nicht über die Mängel bei der Durchführung der Reise aufzuregen. Die Deutsche Bahn ist zwar privatisiert, gehört aber noch immer ganz dem Staat. Gesellschaftlich ist es in Deutschland sogar so geworden, dass man als Beschwerdeführer über die Zustände innerhalb der Fahrzeuge der Deutschen Bahn sich als extremer Alman outet — als Spiessbürger also, wie das einst hiess. Von daher nehme ich das Milieu dort im Gemischtwarenabteil mit Humor. Heute war eine Familie mit fünf Kindern zu Gast. Die waren eindeutig arm, sonst hätten sie ja nicht so viele Kinder, die lebten vom Kindergeld, der Mann schaute nach Arbeitslosigkeit aus, wahrscheinlich durften die sogar en famille umsonst bahnfahren, und wenn Ulf Poschardt mit an Bord gewesen wäre, dann hätte er sich wie in alten Vanity-Fair-Zeiten beflügelt gefühlt, eine Hymne auf die Deutsche Familie zu schreiben. Aber, und das ist wohl Teil des unsrigen, des deutschen Problems: Anders als die Königin von Norwegen reist Ulf Poschardt nicht mit der Eisenbahn. Die Minister im Bundestag auch nicht — vor Jahren sass ich neben Christian Wulff, dann später einmal noch neben Frau Professor Schwan —, oder auf jeden Fall nicht so, dass sie mit «den Leuten» dort in Kontakt kommen könnten. Meint: Mit den Deutschen an sich.

Wer war schon mal in Braunschweig? Wer schaut die neue Serie auf ZDF Neo, wo sich deutsche Frauen bei deutschen Männern zum Essen einladen lassen und die von der Machart her wie auch von ihrem Casting sämtliche von Vox et cetera unterbotenen Standards unterbieten will? «Morgen 16 Grad in Hildesheim. 7 Grad kälter als heute»

In der Warteschlange liess ich alle fünf Kinder aus dieser Familie vor — eins nach dem anderen. Sie erhielten dort gegen Vorlage ihres Gutscheins jeweils ein verkleinertes Modell eines ICE-Zuges, in dem sie sich schon befanden. Als ich dann nach den Kindern — eilig hatte ich es nicht, man fährt ja immerhin und ist damit beschäftigt — an der sogenannten Reihe war, konnte die Tresenchefin wie es mir schien: endlich ihren Damm brechen lassen. Barsch und sächselnd fuhr sie mich an. Ich habe die für sämtliche Beteiligte ungute Situation an Bord bei vielen Fahrten studieren können. Mir tun die Leute, die dort arbeiten natürlich leid, wenn sie, mangels Ware gleich selbst sinnlos geworden, durch das Bundesgebiet gefahren werden, aber ich finde trotzdem, dass sie sich das nicht anmerken lassen dürften. Sie aber rief mir entgegen «Wenn ich unhöflich werde, klingt das ganz anders».

Je nun. Da ich an anderer Stelle schon bösartigerweise geschrieben hatte, die Bahn zöge (sic) Ostdeutsche an, weil dort aus der Zone vertraute Zustände herrschten, so will ich mich heute korrigieren: Die Zustände bei der Bahn befördern (sic) bei den vornehmlich ostdeutschen Angestellten einen Rückfall in die aus der Diktatur vertraut gemachten Techniken zur Kompensation: Anschnauzen, Abmeiern, Wegwinken. Ein ICE sorgt somit, dafür braucht es kein Ticket, bei Bahnfestangestellten (sic) für eine stundenlange Zeitreise zurück in das verloren geglaubte System. Interessanterweise zeigte sich die Mutter der kinderreichen Familie unter solcher Aegide damit beschäftigt, ihren Nachwuchs zum Stillschweigen zu mahnen. Stumm spielten deswegen ihre Kleinen mit den Nachahmungen des ICE auf dem elipsenförmigen Tisch des Bordbistros. Arme Eltern wissen um ihren niedrigen Status in der Gesellschaft; auch um ihre ständige Bedürftigkeit und wollen nicht, dass der Nachwuchs den Gönnern wie Metastasen ihres Lebensstiles lästig fällt.

Doch neben mir sass, so nahm ich an: ein Intendant. Vielleicht war er auch Dramaturg. Er schrieb von Hand, aber was er schrieb, erschien mir nicht als selbst ausgedacht, sondern wie kommentierend. Allein durch mein Anschauen seines Schreibens und mein Nachdenken über die Bestimmung seiner Zeilen konnte ich zu meiner Ruhe zurück finden (während die Bordbistroregentin eine Kundin schuriegelte, die es gewagt hatte, einen grünen Schein hervorzubringen (oder wie es im Englischen heisst: zu produzieren). Der Mann neben mir zog davon unbe- und gerührt sein blaues Band aus Schleifen über die Seiten.

«Why do you write?» lautete die Frage an Nick Cave heute. Ich habe schon oft genug betont, wie gut, wie segensreich ich seine Antworten auf die an ihn gestellten Fragen finde. Aber. Diese hier betraf mich nun. Hätte sie doch, eigentlich und im Grunde, von mir selbst stammen können. Denn warum schreibe ich, wenn ich mir das Schreiben doch eigentlich und im Grunde nicht einmal mehr leisten kann?

Es wird jetzt 26 Jahre her sein, da kam Nick Cave im dunklen Anzug aber barfuss auf die Bühne der Grossen Freiheit in Hamburg. Für mich war das damals ein religionsstiftendes Ereignis. Und hier steht nun seine Antwort auf meine Frage, warum ich schreibe: 

«I feel my songs are conversations with the divine that might, in the end, be simply the babblings of a madman talking to himself. It is this thrilling uncertainty, this absurdity, from which all of my songs flow, and more than that, it is the way I live my life. So, for me, living in a state of enquiry, neutrality and uncertainty, beyond dogma and grand conviction, is good for the business of songwriting, and for my life in general.

Some of us, for example, are of the generation that believed that free speech was a clear-cut and uncontested virtue, yet within a generation this concept is seen by many as a dog-whistle to the Far Right, and is rapidly being consigned to the Left’s ever-expanding ideological junk pile. Antifa and the Far Right, for example, with their routine street fights, role-playing and dress-ups are participants in a weirdly erotic, violent and mutually self-sustaining marriage, propped up entirely by the blind, inflexible convictions of each other’s belief systems. It is good for nothing».

​Morgen 15 Grad in Einbeck. 8 Grad kälter als heute. Die Zugchefin macht eine Durchsage: «Mein Name ist Aphrodite Vrazioti». Und damit geht es los.

15.10.2019

Lust auf Schnee.

14.10.2019

Der Himmel wie leergefegt — nicht einfach blau. Denke mal, dass die Sprache doch einiges für sich hat; beispielsweise, dass ich mich vom Blau hinausgezogen fühle. Körperlich findet das ja nicht statt.

Im Hof sind alle schon beinahe ganz golden; an der Brandmauer spreizt eine Hand das Weinlaub rot. Dieses Licht ist genau so, wie wir uns im Frühling die Welt vorstellen wollen. Aber jetzt erst, in ihrem Vergehen, wird alles vergoldet, die Schatten scheinen endlos quer, sie kommt uns damit nah.

Und am Hafen lag eine Frau auf den Steinen. Ich schaute auf die Laubbäume gegenüber, ihr birnensaftiges Gelb. Ein Greis mit schwarzer Sonnenbrille joggte vorüber. Und bloss ein Junge auf einem der E-Scooter störte meinen Eindruck, meine Vision eines ewig schönen, ewig vorhandenen, mir zuhandenen Berlin.

13.10.2019

«Heute wird kein Niederschlag erwartet»: Es gab dann auch keinen. Ab zehn Uhr wurde es warm und eitel Sonnenschein. Damit lag aber auch eine Forderung in der Luft hinsichtlich des fortgeschrittenen Jahreslaufs, dieser Tag liess sich nicht einfach ignorieren, zumal es auch ein Sonntag war.

Ganz eigentümliches, mir unbekanntes Geräusch: rhythmisch, dabei sanft und wie knutschend — dann erst sah ich es: die Sohlen von tausenden im Gleichschritt joggender Schuhe auf dem frühlingshaft erwärmten Asphalt, unter dem Strom laufender Leiber — City Marathon.

Erst dachte ich: warte ich halt; dann erst wurde mir das Ausmass der Schar bewusst gemacht: noch weit hinter dem Schloss, von eigentlich schon Spandau her kommend, drängten sich die Laufenden über die gesamte Breite der Otto-Suhr-Allee heran. Hier war kein Durchkommen, kein Überqueren möglich (wobei es weit und breit entlang der Piste nirgends Polizeibeamte zu geben schien. Ich hätte also leichterdings und einfach so in die Laufbahn hineinstechen können) — unterliess dies aber und suchte einen Umweg, unterirdisch auch noch, was gar nicht so leicht war, da die Unterführung der U-Bahn-Station seit dem Frühling (2019) blockiert ist wegen Bauarbeiten, die übrigens seitdem meiner Ansicht nach noch nicht einmal angefangen wurden.

Wie in jedem Entwicklungsland entwickeln die Ureinwohner aber auch in Berlin raffinierte Strategien, um ihr Alltagsleben sämtlicher Widrigkeiten — wie das Wasser, wie trotzend dem Stein — voranführen zu können.

Kaum war ich in dem Café meiner Wahl angelangt und hatte dort den letzten noch verfügbaren Sitzplatz auf der Terrasse eingenommen, plärrte mir die direkt hinter mir sitzende Frau in die Lektüre. Es ging, via Telefon, erneut um den Lauf. Zwar hätte ich gerne, doch konnte ich nicht. Also war ihr sogenannter Mann dort unter den Laufenden. Es dauerte dann noch das Feuilleton lang, also nicht so lang, bis er zu uns stiess, stossen konnte. Unter einem Marathonläufer hatte ich mir etwas vollkommen anderes vorgestellt.

Daheim schaute ich auf die toten Fenster im Haus gegenüber. Man sieht das ja kurioserweise sofort, wenn eine Wohnung leer geräumt ist. Wir haben uns nie kennengelernt, die Bewohner dort, ein Mann und eine Frau, die regelmässig auf den Balkon kamen, um eine durchzuziehen. Jetzt steht der alleine da, der Balkon. Auf dem kleinen Tisch steht ein weisser Aschenbecher. Leuchtet seltsam hell, wie ein Skelett. «Der Diagnostische Blick 4/ 4» von Luc Tuymans, den David Wagner zeigt auf dem Umschlag seines Vergesslichen Riesens. 

Kurz danach fing es zu regnen an. Aber es war noch immer schön warm. Ich rückte mir einen Stuhl an den Herd.

«It’s a longway to find peace of mind»

12.10.2019

Ein taiwanesisches Restaurant, ganz klein, das seit vorgestern hier um die Ecke eröffnet hat und in das ich dann gestern abend noch unbedingt gehen musste, weil ich noch nie taiwanesisch essen war — zumindest bewusst nicht; auch selbst noch nie in Taiwan gewesen: in den Räumlichkeiten, eigentlich ist es nur ein einziger, dafür sehr langer Raum, hatte sich bis kurz vor Vorgestern das chinesische Restaurant befunden, das auf Nudeln spezialisierte. Die Einrichtung wurde von den Taiwanesen übernommen wie gehabt, sodass ich auch beim genaueren Hinschauen nichts spezifisch Taiwanesisches entdecken konnte. Auf der Karte, so kam überhaupt mein Wunsch zustande, werden seitenweise gedämpfte Teigtaschen angeboten. Ich bin für dieses Thema zusätzlich sensibilisiert worden durch die Berichte von Stephan Löwenstein, dem Wienkorrespondenten offenbar, der in der Zeitung vor ein paar Wochen über eine sogenannte Teigtascherl-Affäre berichtet hatte. Dabei ging es wohl um illegal in zum Wohnen vermieteten Mietswohnungen betriebene Küchen, in denen, womöglich ebenfalls illegale, Chinesen zu dutzenden an langen Tischen hockten, um im Akkord die in Österreich sogenannten Teigtascherl herzustellen, mit denen dann die umliegenden Chinesischen Restaurants der Hauptstadt beliefert wurden. Von Hintermännern selbstverständlich. Das Thema wurde dann von der Wahl in Österreich erdrückt oder verdrängt, aber bei unserem Aufenthalt in Heimerdingen deutete mein Vater an, der Betreiber des Chinesischen Restaurants, in das sie gerne gehen, hätte ihm gegenüber angedeutet, dass er wiederum seine aus Karotten, weissen Rettichen und Rote Beete geschnitzten Dekorationstiere, ein chinesisches Pendant zu unserer Ratsherrengarnitur, von einem Privatmann, schwäbischer Chinese wie er selbst auch, bezöge. Eine Geschichte, die leider zu schön war, um sich bewahrheiten zu dürfen. Als wir dann dort endlich sassen und assen, fragte ich den alten Chinesen am Schluss des Abends nach einem Kontakt zum Gemüseschnitzer. Aber er lächelte bloss, wie es dann gerne heisst: unergründlich. Und behauptete, all die Kraniche, Schwäne und Störche würden bei ihm hinten in der Küche hergestellt.

Ein Aquarium haben sie übrigens nicht in dem taiwanesischen Restaurant, das nach der Stadt Tao Yuan benannt ist. Kommt entweder daher, dass die Taiwanesen nicht gar so sehr auf Dekoration durch Aquarienfische erpicht sind, oder es ist profanerweise deshalb so, weil auch schon die Vormieter, eben jene Chinesen mit den Nudeln, kein Aquarium aufgestellt hatten. Ich dachte bloss, weil mich Sam Sifton auf einen wunderlichen Film hingewiesen hatte, in dem ein Forscher seinen Oktopus im Aquarium nachts beim Schlafen gefilmt hat. Und dieser Oktopus, der Heidi heisst, träumt. Das kann man daran klar erkennen, dass er, während er mit manierlich eingerollten Tentakeln in einem Winkel des Aquariums haftet, sich andauernd umfärbt. Erst wird er sandbraun, dann bekommt er Flecken und ähnelt einem von der Sonne beschienenen Meeresgrund. Dann wieder wird er ganz hell, dann huschen streifenhafte Formen über seinen Leib. Vergleichbar mit Hunden und Katzen, die im Schlaf plötzlich knurren, oder mit den Pfoten zucken, weil sie von einer Verfolgungsjagd träumen. Beim Oktopus wird das psychische Traumgeschehen von der Haut ablesbar. Diese Tiere sollen ja auch sehr intelligent sein. Noch intelligenter als Hummer. Wobei jetzt natürlich auch ein Disput entbrannt ist zwischen Meeresbiologen (oder -zoologen), weil nicht alle diese These schlucken wollen, dass Heidi träumt wie wir. Andere glauben auch, dass es sich bei den Umfärbungen ebenso gut um epileptische Entladungen der Camouflage-Funktion handeln könnte. Wobei: Was bitteschön ist denn unser Träumen gross anderes?

Die Teigtascherl der Taiwanesen mundeten mir übrigens ausgezeichnet. Ganz dünn und zart der Teig, würzig gefüllt und vor allem in einer roten Chilibrühe serviert, die mit viel Zitrone appetitanregend angespitzt war. Zwei asiatisch anmutenden Frauen am Nebentisch wurde indes eine Spezialität des Hauses serviert. Dabei handelt es sich um ein kleines, rundes Fladenbrot, das in zwei Halbmonde geteilt wurde und nach Art eines Döners mit Hackfleisch gefüllt. Die Frauen nahmen sich je einen Halbmond aus dem eigens dafür erdachten Ständer und kosteten. Zaghaft. Beinahe spitzfindig. Ihr Unbehagen ward für mich spürbar, weil sie ihre Stäbchen nicht zum Einsatz bringen konnten. Die mit dem Gesicht zu mir her sass, betrachtete andauernd mit Grausen ihre Fingerspitzen, an denen wahrscheinlich ölige Spuren hafteten. Man kennt diese Aversion durch Fremdstoffe auf der Haut von kleinen Kindern unter drei Jahren, wenn die äusseren Grenzen noch nicht verinnerlicht sind und ein Tintenfleck noch wie eine körperliche Veränderung erscheinen muss. Kann Stundenlanges Händewaschen zur Folge haben. Und wahrscheinlich gibt es das bei Kindern in China und Taiwan in ungefähr ähnlicher Form auch so, wenn jemand ihnen die Essstäbchen anmalt.

Seife gibt es ja überall.

11.10.2019

Wenn ich mich morgens schon auf das Einschlafen am Abend freue und am Abend vor dem Einschlafen auf das Aufwachen am Morgen: Ist das Harmonie?

Den Nachmittag verbrachte ich jedenfalls mir nichts, dir nichts in Melanies Haus auf dem Lande, das mir da aber leider noch nicht ländlich genug gelegen war, sondern halt in genau jener Zone, die direkt nach dem mit einer roten Linie durchgestrichenen Ortschild von Berlin offiziell beginnt (das Schild steht da tatsächlich, wie hundertausendemal sonst noch überall auf dem Bundesgebiet und trotzdem wirkt es unerklärlicherweise extra seltsam, wenn da auf dem vertraut gelben Grund des Blechs dieses Wort durchgestrichen steht «Berlin»).

Der Hund lag unweit von meinem Sitzplatz entfernt auf seinem Kissen und schnaufte und schnüffelte in eine ihm liebe Decke hinein. Diese Atemgeräusche des Hundes steigerten sich periodisch zu einem sahnigen Röcheln. Der Hund heisst Floyd. Ich kenne ihn schon lange. Einige Jahre sind es geworden. Vor allem kenne ich ihn auch noch aus der Zeit vor seiner Operation. Floyd ist eine kleingezüchtete Bulldogge. Vor der Operation, die durch seine samt Wunschgrösse angezüchtete Erbkrankheit unumgänglich geworden war, machte sich der Kleine bei nahezu jedermann beliebt durch seine Fledermausohren, die ihm etwas Alertes verliehen. Die stellt er mittlerweile, im zweiten Jahr nach seinem Aufenthalt in der chirurgischen Abteilung des Tierklinikums, so gut wie nie mehr so schön auf wie früher. Die allermeiste Zeit hängen Floyds Ohren jetzt herunter wie schlapper Salat. Ob das auf seine Gemütsverfassung zurückschliessen lässt, weiss kein Mensch. Man hat ihn damals wohl vom Brustbein bis tief zwischen die recht kurzen Hinterbeine hinunter aufgeschnitten, die Eingeweide beiseite geräumt und ihm die Wirbelsäule über deren gesamte Länge mit einem Gerät glattgefräst. Dann wurden die entkalkten Wirbel mithilfe eines langen Drahtes aus chirurgischem Stahl auf optimiertem Abstand zueinander fixiert. Der zugenähte Floyd brauchte dann noch einige Wochen, bis er sich wieder auf allen Vieren fortbewegen konnte — einem Menschen wäre es ähnlich gegangen. So gummiballhaft, wie ich es aus den wenigen Jahren vor der Operation zu erinnern glaube, kann Floyd sich heute noch immer nicht umherbewegen. Insbesonders wenn er sich beeilt, um beispielsweise einen Neuankömmling in seinem Revier zu begrüssen, entgleitet ihm sein Hinterleib, als ob ihm ein Schelm die Pfoten dort mit Seife eingeschäumt. Folglich führt Floyd inzwischen mehr oder minder freiwillig das Leben einer Fledermaus in Rente. Er liegt auf seinem Kissen, schnauft und röhrt in seine Decke hinein. Melanie meint, die Narkose hat ihm wohl nicht gut getan. Wir tranken Fencheltee und machten einen Plan für Themen eines Leporellos, der in der Vorweihnachtszeit an die Kunden des Cremestübchens verschickt werden soll.

Auf der Heimfahrt freute ich mich richtig auf die Stadt — gerade so, als sei ich ewig weggewesen (oder käme jetzt gleich zum ersten Mal dort an). Ganz auf dem Land, vor allem bei mir daheim, finde ich es herrlich und will immer gleich für immer dort bleiben. Aber im sogenannten Speckgürtel — Speck also wie jenes Ding zwischen Fisch und Fleisch? — halte ich es nie lange aus.

10.10.2019

Tage far from the madding crowd, begleitet vom schönen Fingerzeig, der uns zum ersten Mal vorvorgestern, das heisst am Montag, als seine Günstlinge an die Hand genommen hatte, um uns in die Stadtgärtnerei zu führen, wo — lang war es her — nun endlich wieder der Kater Fimo auf seiner flauschigen Decke neben der Kasse lag und schlief. Der Gärtner erzählte, mit kargen Worten, wie es halt seine Art war zu erzählen, dass der lange, heisse Sommer den Kater stark gefordert hatte. Durch Streunen und Dehydration hatte  Fimo einiges an Gewicht verloren, was er nun durch sein Schlafen im geheizten Treibhaus wieder aufzuholen gedachte. Er war tatsächlich kaum wach zu bekommen. Hielt selbst die Augen zugepresst, während er ein ihm dargebotenes Wienerle frass.

Und gestern erst strebten wir am Nachmittag noch einmal in den Park, um Pilze zu finden. Allerdings war an den üblichen Stellen (bei der Bank zum Beispiel, in deren goldfarbenes Schild eingraviert steht «Karin, ich liebe Dich. Willst Du mich heiraten?») nichts weiter nachgewachsen, seitdem wir nach dem Besuch bei Fimo geerntet hatten. Ich spürte, dass Friederike bedrückt war und wünschte ihr ein Erfolgserlebnis. Das aber liess noch lange auf sich warten. Ein rostfarbenes Eichhörnchen kam in Bögen wallend wie eine Raupe auf sie zugehoppelt, ganz nah. Genau so eines war uns am Montagmittag schon einmal begegnet, als wir im Gastgarten vor der Kastanie gesessen hatten und mit einem Mal sass es dort neben uns, auf einem Tisch und fing an, einen Blumentopf umzugraben. Jetzt also ein Wiedergänger dieses schelmischen Hörnchens. Gerade so, als hätte es Friederike eine Nachricht zu überbringen. Eine Botschaft der Pilze. Und tatsächlich rief sie mir dann kaum eine Viertelstunde später zu, ich sollte ihr helfen kommen «Ich kann sie nicht alleine tragen».

Nun war sie also an einer Stelle, an der ich noch nie gesucht hatte, fündig geworden. Vergleichbar mit dem versteckten Brief bei Poe, den niemand findet, weil er bei den Briefen liegt, gab es also im Park die meisten Pilze auf jenem Rasenstreifen direkt am Schloss entlang, wo sie durch die raumhohen Fenster der Orangerie bestens zu sehen auf einem Präsentierteller gedeihen. Gerade so, als wollten sie damit, also mit ihrer Heimatortswahl: provozieren. So ernteten wir dann zwei gute Pfund, aus denen wir daheim dann eine Suppe kochten, die uns beiden herrlich mundete. Bloss einig sind wir uns aber nicht immer, beispielsweise fanden wir zwischen Fimo und Pilzen auch etwas Trennendes heraus. Das war am Dienstag abends gewesen, da war es schon dunkel und es hatte gerade aufgehört, zu regnen. Wir waren auf dem Weg zur Verleihung des Michael-Althen-Preises an Verena Lueken und die Luft roch feucht und frisch, nach spätem Herbst auch, und ich sagte, dass es schön wäre, wenn wir jetzt auch Laternen hätten. Stellt sich heraus, dass ich noch mit von Wachskerzenstumpen beleuchteten Laternen zu den Martinstagsumzügen geschickt ward, während Friederike schon ein batteriebetriebenes Lämpchen hatte, das sie mit einem an ihrem Stäbchen angebrachten Schalter ein- und ausschalten konnte. Zu meiner Zeit hatte es regelmässig in Flammen aufgehende Laternen gehabt, ihr war diese Erfahrung schon erspart worden.

Aber ansonsten — und freilich kam bei mir noch ein verkleideter Heimerdinger auf einem hellen Pferd angeritten und führte an seinem roten Umhang die seligmachende Gnade vor. Heute mittag nahm ich die Decke vom Tisch wie in einem Film von einem sich schliessenden Vorhang, rückwärts abgespielt. Wo in den Tagen goldener Fingerzeige die Tafel war, soll fortan wieder gearbeitet werden. Arno Geiger schreibt, dass ein Erwachsener sich eben nicht zurück in ein Kind verwandeln kann, weil das Wesen des Kindes in der Fortentwicklung besteht. Dass die rostbraunen Eichhörnchen unterhaltsamer drauf zu sein scheinen als die kupferfarbenen: Ist das bei rothaarigen Menschen nicht auch so?

9.10.2019

Muss sehr lange her sein, dass ich zum letzten Mal ein neues Musikstück gehört habe, das mich so berührt hat wie «Hollywood» auf dem neuen Album von Nick Cave. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

8.10.2019

Wie ganz anders schön die Zeit verstreicht, wenn man beisammen ist. Nicht schneller, nicht gemächlicher — auch wenn es ungenau bleibt, sage ich: tiefergehend. Sie schiebt eine Leerzeile ein zwischen die Absätze des Erlebens. Für uns darin zu säumen.

Sonntag war das Wetter noch sehr schön, mit feinem Vlies, das vom Wind unter dem blauen Himmel vorweg getrieben wurde. Im Park waren noch einmal, ein letztes Mal vermutlich, die Pilze nachgeschossen. Wir sammelten genug ein für zwei. Am Schafsgatter stand der Idiot mit seinem Kreuz aus purem Gold um den Hals gehängt und versuchte, Friederike mit seinem angeblichen Fachwissen zu beeindrucken. Blöd nur, dass das laminierte Schild, von dem er es auswendig gelernt hatte, direkt neben ihm aufgestellt war. Die Schäferin, ausnahmsweise nur anwesend, aber das, ihre ausnahmsweise Anwesenheit kam mir freilich wie ausgerechnet vor, erzählte uns, dass der Idiot sie vorhin erst mit Alte Votze beschimpft hatte. Die Schafe natürlich von all dem unberührt, grasend.

Vor dem Brotgarten, beim Kaffee, liess sich, kaum dass wir uns auf die Bank gesetzt, ein Sikh neben mir nieder. Marineblauer Turban, meine Lieblingsfarbe. Während wir redeten, summte er ein Lied vor sich hin; mir in mein rechtes Ohr, in den Gehörgang hinein. Wir machen also all dies und weiter nichts besonderes, und trotzdem scheint und glänzt alles wie neu.

Bei Jörg Splett schaut das Paar gemeinsam auf etwas Drittes, wie in das Winkelkreuz im Zeltgipfel der Pyramide. Das freilich besteht aus buntem Glas.

6.10.2019

Langte in der Berlin-Dokumentation an einer unglaublichen Stelle an: Das Archivmaterial zeigt aus den Tagen nach dem 13. August einen schwarz glänzender Mercedes, der vom damaligen Sprecher als «Staatslimousine» bezeichnet wird, direkt an einem Abschnitt der innerstädtischen Grenze vorfahrend. Konrad Adenauer entsteigt dem Gefährt und geht auf die Soldaten zu, die hinter einer Wolke aus Stacheldraht mit noch mehr Stacheldraht beschäftigt sind. Bei ihnen ist ein Lieferwagen rückwärts an die Grenze herangefahren worden. Beide Ladeklappen sind geöffnet. Der Innenraum ist komplett ausgefüllt von aufeinandergestapelten Lautsprecherhörnern. Dem sich nähernden Bundeskanzler der BRD schallt daraus eine männliche Stimme entgegen, wie man sie sich allenfalls in einem Edgar-Wallace-Film vorstellt, wenn der Komissar die Geheime Kammer des Bösen entdeckt: «Guten Tag Herr Bundeskanzler!» und «Ja, wir haben uns die Freiheit genommen» und «Herr Adenauer» und so fort. Der Greis ist sichtlich völlig fassungslos angesichts, und auch von dem, was er hier an der vor aller Augen wachsenden Mauer zu hören bekommt. Noch während die Stimme schallt und höhnt und, das bleibt das Irritierendste daran: die Soldaten hinter dem Stacheldraht stumm herüberschauen, während als Quelle lediglich die enormen Lautsprecher auf der Ladefläche des Lieferwagens zu sehen sind, besteigt Adenauer seine Staatslimousine wieder, man schliesst den Schlag. Das hätte man uns im Geschichtsunterricht zeigen sollen.

Zumal es im folgenden, auch dazu gab es Material, zu einem veritablen Soundclash kommt an der Mauer. Die BRD fährt ein sogenanntes Studio am Stacheldraht auf, bestehend aus mehreren VW-Bussen, auf deren Dächern jeweils sechs Lautsprecher montiert sind. Die Bullys werden dicht an die Grenze gefahren und dann werden die auf der anderen Seite des Stacheldrahtes arbeitenden Soldaten akustisch terrorisiert. Man hört im Diktus von Stadionsprechern, wahrscheinlich waren es auch Stadionsprecher, die man engagiert hatte, hinüberschallende, konkret die jeweilige Arbeitssituation kommentierende Ansprachen à la «Hey, sie da! Sie, in der froschgrünen Uniform mit den silbernen Tressen!» und «Auch ihr Vorgesetzter versteht die Politik von Herrn Ulbricht nicht mehr». Muss ultranervig gewesen sein, wenn man gerade dabei war, das Tageszoll an Grabentiefe und Stacheldrahtlänge und Zugemauerten Fenstern zu erfüllen.

Die DDR wiederum reagiert darauf mit der Aufrichtung von zehn Meter hohen Stativen auf ihrer Seite entlang der Grenze, von deren Spitze aus die darauf befestigten Lautsprecher bis weit in den Westteil Berlins hineinschallten. Der Zeitzeuge spricht von einer Schallwirkung über die mobilen Studios am Stacheldraht hinweg von bis zu zwei Kilometern.

Der Soundclash währte wohl so lange, bis die über drei Meter hohe Mauer hochgezogen war. Die maximal provozierende Wirkung konnte die Lautbelästigung hüben wie drüben nur entfalten, wenn die Welt der Gegenseite dabei auch noch zu sehen war, aber des Stacheldrahtes wegen nicht zu belangen. Eine Schwarze Theorie des Musikvideos.

Gegengift, danach: Rozi Plain «What A Boost». Früh zu Bett.

4.10.2019

Es ist jetzt, glaube ich, auch schon wieder zwei Jahre her, da strandeten wir auf dem Weg nach Paris in Mannheim. Unser Aufenthalt dort war nicht allzu lang, eine Stunde vielleicht, aber in Mannheim gerieren sich ja selbst Minuten allzu lang und wollen Stunden sein. In der Bäckerei, die wir um Obdach aufgesucht hatten, ging es auch nicht herzlich zu. Aber ich hatte Friederike eine Bravo Girl gekauft. Manchmal ist das so, dann genügt so eine Zeitschrift, um sich an die Zeit zu erinnern, als einem das Leben selbst wie Mannheim vorgekommen war. Wir versenkten uns in die Lektüre, um Mannheim zum Verschwinden zu bringen. Mir fiel heute erst wieder ein, wie erstaunlich deprimierend ich aber an sich schon diese Zeitschrift fand. Insbesondere von der Tonalität her. Die Ansprache war schlampig, gedankenlos, gefühllos, dumm. Wer macht so etwas?

Das genaue Gegenteil finde ich in den Red Hand Files, einem Briefkastenforum, das von Nick Cave betrieben wird. Er antwortet dort auf Fragen, die ihm zugeschickt werden. Die Fragen sind durchaus nicht bloss auf seine Lieder, oder andere Aspekte seines Daseins als Star gerichtet. Weil er nämlich einfühlsam und wohlüberlegt auf die Fragen und die fragende Person eingeht, kommen da auch Fragen an bei Nick Cave, die man dem «Team von Bravo Girl», oder wie das in den jeweiligen Ländern heissen mag, nicht stellen will — weil man es ernst meint. Beispielsweise fragt eine Liii aus Kraukau «Wie lange werde ich noch alleine sein?»

Die Antwort ist wunderbar. In etwa zwei Buchseiten lang. Das schöne ist, man kann die Stimme von Nick Cave hören, wenn man seine Zeilen liest. Das Versprechen der Seite lautet «You can ask me anything. There will be no Moderator.» Jeder Antwortbrief schafft zusätzliches Vertrauen. Ich kenne gar keinen anderen Berufsmusiker, der etwas ähnlich Wohltätiges unternimmt. Meine Lieblingsantwort gibt er auf die Frage nach dem Grund, warum er sich von PJ Harvey getrennt hat (oder umgekehrt): «In Wahrheit war es so, dass nicht ich mich von PJ Harvey getrennt habe, sondern PJ Harvey hat sich von mir getrennt. Und das kam so: Ich sass gerade auf dem Fussboden meiner kleinen Wohnung in Notting Hill, das Licht der Sonne schien golden zum Fenster herein (eventuell), ich fühlte mich gut, meine Freundin war eine begabte, dazu noch junge Sängerin, da klingelte das Telefon. Ich griff zum Hörer, und sie war dran: Polly.

Ich sagte «Hi».

«Ich mache Schluss.»

«Warum», fragte ich.

«Es ist einfach vorbei», sagte sie.

Mir fiel beinahe meine Spritze aus der Hand, so sehr hat mich das überrascht.»

3.10.2019

Es gibt nichts Schöneres, als ein Glas Quittengelee anzubrechen. Am offenen Fenster sitzend fiel mir das heute früh ein. Von draussen her roch es feucht, kühl, aus dem Glas in meinen Händen zitrisch und rosenhaft zugleich, wie halt nur Quitten duften können. Eben nicht der Duft eines Sommers, es ist der Duft genau dieser Zeit jetzt — im Falle jenes Gelees in meinem Glas allerdings der zu diesen Zeiten des vergangenen Jahres.

Gleich hinaus zu den Pilzen, zur Myrte wäre da die ideale Ergänzung gewesen, aber ich hielt mich zurück. Kenne ich den Park doch inzwischen in drei Formen, ja, eigentlich sind es sogar drei verschiedene Parks an ein und demselben Ort: Erstens der Park vor der zu erledigenden Arbeit — nicht optimal, ich bin dann nicht ganz bei der Sache; weder ganz im Hier, noch ganz dort. Aber immerhin besser als nichts. Oder, zweitens: Der Park anstelle der zu erledigenden Arbeit. Eine jämmerliche Erfahrung. Zwar lässt er mich ein, nimmt mich auf, verbirgt aber seine Schätze, sodass ich ihn gerade noch als Trimm-Dich-Pfad benutzen kann wie so viele dort um mich herum (ich eher angeblich mich trimmend, ich bin auf der Flucht; es atmet sich ja auch so verklemmt, wenn man der Arbeit aus dem Weg zu gehen versucht).

So hatte ich kaum auf «Senden» gedrückt, zogen sich mir auch schon die Stiefel an. Es regnete noch nicht einmal mehr. Und ich entdeckte, wie durch Zauberhand geführt, eine mir bis dato unbekannte Wiese, an deren Rand dort einen mir gänzlich unbekannten Baum. Auf den ersten Blick eine Art Flieder, dann wieder hatte der aber zwischen den fliederhaften Blättern kurze Dornen. Bizarr geradezu waren seine Früchte, die lindgrün waren, zwei Fäuste gross, hart, dabei in sich gefurcht wie ein Gehirn. Eine schob ich mir zu Forschungszwecken ein (ich komme meistens zwei Pfund schwerer aus dem Park zurück).

Stellt sich heraus, der Baum trägt sogenannte Milchorangen. Essen kann man die wohl leider nicht. Und das letzte Tier auf Erden, das sich noch um diese Früchte kümmert, ist wohl das amerikanische A-Hörnchen. In der Frucht gibt es angeblich einen Kern, der von Tieren weitergetragen werden soll. Nun sind die meisten Arten, die die Milchorange noch zu schätzen wussten, längst ausgestorben. Blöd für den Baum. Aber dies Wort fasziniert mich: Megafauna. So nennt man wohl die Vegetation, die in Nordamerika mit der letzten Kaltzeit ausgestorben ist. Der Milchorangenbaum hat überlebt. Ob tragischerweise, weiss kein Mensch. Er steht jetzt halt da, fern der Heimat, jenseits seiner Megafauna im Schlosspark von Charlottenburg und produziert ungerührt davon seine Milchorangen, die nicht einmal das Eichhörnchen mehr aufknacken will.

2.10.2019

Schön war, im Nachhinein betrachtet, dass in genau dem Moment, da ich gestern vom Kottbusser Tor aus heim fahren wollte, der U-Bahn-Verkehr ausfiel. Ich fühlte mich ohnehin wie ein gedünstetes Salatblatt und hatte von daher schon mit dem Gedanken gespielt, ein paar Stationen weit zu Fuss zu gehen. Es regnete ja nicht mehr.

Ist übrigens nicht so, dass dann alle auf die überall bereit liegenden Roller um- oder aufsteigen. Die blieben liegen und stehen. Wahrscheinlich ist das eher ein Saisongefährt. Stattdessen kamen wie bestellt die Busse in schneller Folge. War dann auch mal wieder ganz schön, sich durch die dunkle Stadt fahren zu lassen (ganz oben, ganz vorne). Am Anhalter Bahnhof sassen auf meiner Höhe noch Redakteure in leuchtenden Waben. Dachte: Sässest du da jetzt auch gern?

Ist Unentschieden nicht das gleiche wie Jein? Daheim rächte sich jedenfalls der Kaffee. Wir hatten ja Versuchsreihen veranstalten müssen, um das Luftdruckproblem experimentell zu lösen. Lag nutzlos herum, todmüde, aber schlief und schlief nicht ein. Die sympathische Wohngemeinschaft mit Kiffterrasse von Gegenüber parlierte ins laue Nachtlüftle, sodass ich mich schon wieder auf dem Rückweg in den Sommer wähnte. Dann endlich die ersten Tropfen. Aus nordöstlicher Richtung herangeweht. Das konnte ich hören, weil sie auf die Zinkbleche vor den Fenstern klopften. Gerade noch hatte ich mir die Bilder von der Chanel-Modenschau im Grand Palais angeschaut, die dieses Mal in einer Kulisse von Dachlandschaften, der Toits de Paris abgehalten ward. Dies Bild noch vor Augen, die Blechtropfenmusik in den Ohren, ich glaube: Ja, so schlief ich ein.

1.10.2019

Geweckt vom gewaltigen Rauschen. Zunächst dachte ich, noch halb im Traum, die Fenster stünden offen. Dann später kam ein exotisches Zwitschern dazu, vielstimmig und durcheinander. Schaute erst auf die App, dann hinter den Vorhang: tatsächlich. Stare sammelten sich in den Bäumen und probten den Flug als Formation in meinem Hinterhof. Operation Steilkurve. Stehende Welle. Liegende Acht.

Mittags rasch in den Park, wo ich seit kurzem ein Wiesenstück kenne, aus dem Champignons spriessen. Das Wetter ist ideal — warm und mit morgendlichem Regen. Doch wo ich gestern geerntet hatte, war noch nichts nachgewachsen. Befolgte die Handkesche Regel und suchte unabsichtlich weiter, woraufhin ich bald schon aus dem Augenwinkel heraus (wie aus der Hüfte geschossen) fündig wurde. Aber wie!

Nachmittags dann in Kreuzberg, mittlerweile rauschte es wieder. Mein Gesprächspartner hatte eine funkelnde Espressomaschine, aber der von ihm daraus selbstgezapfte Kaffee stimmte ihn nachdenklich. Auch nach dem dritten Tässchen blieb er dabei: So wie heute war der noch nie. Sonst ist er anders.

Da war meine Gelegenheit gekommen, auf den Luftdruck zu verweisen. Denn der hing ja jetzt schon seit zwei Tagen weit unter 950 Hektopascal fest. Und wie man als Gast bei Ralf Rüller von ganz allein lernt, hat der Luftdruck einen wesentlichen Einfluss auf die Qualität von Kaffee aus funkelnden Maschinen. Ja, es ist sogar so, dass es in den von Ralf Rüller betriebenen Cafés jeweils ein Barometer gibt, von dessen Display die Barista vor jedem Mahlgang den Wert des Luftdrucks abzulesen haben, um daraufhin den Mahlgrad der Bohne adäquat justieren zu können. Ob aber Barista und Barometer ethymologisch Punktpunktpunkt

«Also müsste ich jetzt den Mahlgrad verändern», sagte mein Gastgeber.

Seitdem Arno Schmidt tot ist, finde ich niemanden, der so oft Recht hat wie ich.

30.9.2019

Vom Gestischen her betrachtet genau so, von innen her aber mit einem anders gearteten Gefühl waren dann heute früh mein blauen Wollpullover und ich uns einander in die Arme gefallen — wobei es bei ihm ja bloss Ärmel sind — wie Linus van Pelt, wenn er, nach der abgesagten Verbrennung seines Schnuffeltuchs, das aus der Feuerstätte holt und flüstert: «Da bist du wieder, alter Junge.»

Es war ja Sturm angesagt. Angeblich blieb es dann bei «Milder Brise», aber die Bäume vor dem Fenster wogten. Und weil sie hoch gewachsen sind, wirkte dieses ihr auf-mich-zu-und-vor-mir-Zurückwogen gewaltig. Das Kreatürliche des Baumes, man macht sich direkt Sorgen, ob er wohl brechen wird (in ein Zementfeld an der Brandmauer gegenüber dem stadteinwärts führenden S-Bahn-Gleis am Savignyplatz steht eingeritzt ein Zitat von Ernst Jünger: «Bruder Mensch hat uns schon oft verlassen. Bruder Baum nie.» Das steht dort aber schon seit Jahrzehnten, ist kein Sgraffito der Schüler von FFF).

Was habe ich eigentlich letztes Jahr um diese Zeit zum Herbst geschrieben, was im vorletzten? Ich weiss es nicht mehr. Schreibe für mich, aber der Text ist für andere. Aber man steigt halt doch mit jedem Jahr wieder in den gleichen Fluss. An den Übergängen, jetzt im Herbst, wird mir das klar. In den Fehlern des Kopisten, seinem Buch über seine Vaterschaft und die ersten Jahre in der Abgeschiedenheit schreibt Botho Strauß von einem Winter, der zur Erzählzeit hart im Sinne von kalt und stürmisch gewesen sein mag, dass ihm das Wetter so vorkommt, als treibe es den Frühling durch eine harte Geburt heraus. Für mich ist der Herbst die Geburt, nach der das neue Jahr mit dem Winter beginnt.

Und noch etwas, das ich nicht verstehen kann: Wenn ein Dokument mehrfach hin und her geschickt wurde und die Anzahl der Anmerkungen, Streichungen und Rücknahmen und Ergänzungen immer zahlreicher geworden sind, muss ich vom iPad zum Laptop wechseln, weil ich das Gefühl habe, dass ich mit dem Anschlag auf der Mechanik einer wirklichen Tastatur mein Vorhaben wirkungsvoller umsetzen kann. Was natürlich Quatsch ist. Aber das Gefühl verheisst mir das so.

29.9.2019

Mit samaritanischer Geste wies Christin mich vor Tagen auf die Fernsehserie «Berlin—Schicksalsjahre einer Stadt» hin. Die besteht aus vierzig Folgen, in denen jeweils die Geschehnisse eines Jahres seit dem Mauerbau bis zum Jahr 2000 nacherzählt werden. Das Bildmaterial stammt hauptsächlich aus den Archiven von Ostfernsehen und Sender Freies Berlin—Da wurde das Versprechen mal eingehalten, den Mülleimer zur Schatztruhe zu machen.

Auf die Interviews mit Zeitzeugen könnte ich teilweise verzichten, insbesondere auf Bettina Wegener, aber die Zwischenschnitte sind immer bloss kurz. Alles andere, was man aus den Archivbildern erfährt, finde ich sehr interessant. Beispielsweise wird eine Gerichtsverhandlung gezeigt, angeklagt sind zwei Jugendliche, Willi und Wolfgang. Ihnen wird vorgeworfen, reihenweise die Telefonhörer aus Telefonzellen gerissen zu haben. Willi zum Richter: «Einer stand Schmiere, der andere ist in die Telefonzelle rein». Der Richter fragt, warum. Willi «Uns war langweilig». Es gibt eine Umfrage unter Gleichaltrigen in heute stimmungsvoll geleuchtet anmutenden Schwarzweissaufnahmen. Ein Mädchen sagt «Ich würde sie verurteilen». Und lächelt staatsmännisch. Das Urteil wird verkündet: Ein Jahr Freiheitsentzug.

Das soll sich zugetragen haben im Jahr 1967 im Westen Berlins. Abwechselnd werden dann wieder Filmbilder aus dem Ostteil gezeigt, da wird dann gerade der Fernsehturm gebaut, oder ein Friedhof platt gemacht, um Platz zu schaffen für den neuen Todesstreifen. Aber es geht auch um Moden, um Einrichtungstrends, um Staatsbesuche. Das meiste davon wusste ich nicht. Und manchmal lernte ich von Ereignissen, die mir seltsam bekannt vorkamen. Anfang der achtziger Jahre beispielsweise ordneten die britischen Besatzer an, dass 30 000 Bäume gefällt werden müssten, weil die bei den Landeanflügen auf Tempelhof im Wege waren. Da kam es zu Demonstrationen und gewaltigen Auseinandersetzungen mit der Polizei (schon in Farbe). Eine junge Frau im gelben Regenmantel sagt «Wir haben doch sowieso schon so wenige Bäume in Berlin».

Lässt sich einwandfrei hintereinanderweg, aber auch durcheinander schauen, Kempowski style. Man muss dazu nicht einmal krank und zerstreut sein. Wollte ursprünglich schon gestern dazu etwas Genaueres schreiben, aber bin anscheinend davor eingeschlafen. Aufgeweckt um sieben vom Klingeln eines Phantomtelefons. Sollte mich wohl zurückrufen in meine Epoche.

27.9.2019

Im Augenblick der Gesundung, die Krankheit verlässt mich wie ein Bild das Atelier, sofort Demut: Wie wenig es braucht, dass ich mich beeinträchtigt fühle. Nicht mehr ganz da bis zu dem Grad, dass mir das Denken unmöglich wird, beziehungsweise, wie Friederike schreibt «Wenn ich nicht schreibe, geht es eigentlich». Und das allein durch Probleme mit der Atmung; noch nicht einmal Erstickungskrämpfe waren das gewesen, oder von diesen erschütternden Hustenanfällen, die unser Nachbar in Frankfurt aufführt, derentgegen die das von Thomas Mann beschriebene «kraftlose Wühlen im Brei organischer Zersetzung» anheimelnd klingt.

Gestern wagte ich dann mittags einen knappen Gang in den Park. Es hatte wie prophezeit kurz aufgehört zu regnen. Gehen ist wie Denken, scheint mit der Atmung zusammenhängend. In den Rabatten war der Blumenschmuck schon abgeräumt. Die Gärtner hockten im Kies und zupften eimerweise Unkraut. Man macht die Anlage winterfest.

Am Ufer über mir ein grelles Schreien, regelmässig—nichts zu sehen. Klang bedrohlich. Ein Blässhuhn machte Kopfbewegungen, die ich von seinesgleichen nicht kannte (und ich dachte schon, die machen mir nichts mehr vor). Wirkte, pantomimisch gelesen, alarmiert auf mich. Die App analysierte das Spektrum der Tonaufnahme als zugehörig eines Mäussebussards (buteo buteo: so freundlich klingt sein Schrei aber nicht). Prompt kam eine Lady des Weges mit einem Maltheser an der Leine. Die sollte sich vorsehen, das Hündchen käme dem Bussard gerade recht.

Die Lämmer hingegen, die mit den 50 erwachsenen Tieren rings um Charlottes Lustschlösschen den Rasen mähen durften, waren schon gross genug. Schöne Tiere, obwohl ich Schafe wie Ziegen nicht so sehr mag. Die Rasse nennt sich Gutschafe, stammt aus Schweden (das Gut bezieht sich wohl auf Gotland). Schickte meiner Mutter ein paar Aufnahmen, weil sie wiederum Schafe sehr gerne mag. Freude. Gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Schönwetterphase daheim.

Die Nacht hindurch Regen. Heute den ganzen Tag—warum eigentlich über? Kurz den Vorhang beiseite gezogen: Es gibt kein schöneren Anblick für mich als einen Amselhahn im bunten Laub, das glänzend und frisch abgewaschen ist.

 

25.9.2019

Gestern, um 12 Uhr 24 gingen auf der Schlosstrasse die Gaslaternen an. Die Uhrzeit notierte ich, ein denkwürdiger Moment (bald wird es um diese Stunde ja wirklich dunkel geworden sein). Logischerweise fiel mir dabei auch der erste Satz vom Chinesen des Schmerzes ein: «Schliess die Augen, und aus dem Schwarz der Lettern bilden sich die Stadtlichter.»

Das Wort «Heimbohrer» kommt auch drin vor. Die Laubsauger waren da noch nicht erfunden. Mittlerweile müssen sie ziemlich billig geworden sein. Sah und hörte dann prompt einen in den Händen eines Inders (der einen marineblauen Turban trug).

Wie ungewohnt dann abends erst die Lichter der Scheinwerfer wirken (um diese Zeit!)Ein Blick geht hinauf in den Ahorn: noch diese Fülle! Das Grüne wirkt reif.

Heute früh war der Luftdruck über Nacht auf unter 950 Hektopascal gefallen. Es regnet. Ziemlich schlaff, aus Sicht des Regens: ausdauernd. Immerhin ist es noch nicht kalt.

24.9.2019

Wieder mehr auf meine Instinkte lauschen? Ich will gar nicht erst bei den US-Sachbuchbestsellern im New Yorker nachschauen, es gibt todsicher schon ein Buch dazu; als überzeugter Eierkoch glaube ich (!) zudem, dass Timing alles ist. Doch heute: kurz bloss den Vorhang beiseite gezogen: Herbstwetter. Was ganz anderes, entschieden vom: Herbstlicht, das ich gestern noch geniessen durfte—flach einfallend, wie auf einer Bühne, tatsächlich golden, lange, tiefdunkle Schatten machend, dabei milde, alles anputzend mit seinem Schein.

Und jetzt (der Brandenburger sagt «jetze», um es mit seinem in der Bundesrepublik einmaligen Dialekt (einmalig, die widrigen Dinge noch widerwärtig zu benennen)): Herbstwetter—bedeutet allein vom Lichte (nicht Brandenburgisch!) her: grau, wegfliessend. Die Welt ist Aquarell geworden. Mehr lässt sich «bis dato», wie es unter Brandenburgern gerne mal öfters heisst: nichts sagen.

Die Vögel plaudern wie im Frühling. Sind wahrscheinlich von der neuartigen Lichtstimmung verwirrt. Luftdruck, fallend, steht momentan bei 1004 Hektopascal.

23.9.2019

Ganz selten habe ich in der Natur ein Vorbild für ein Kunstwerk entdecken können. Gestern aber, nach dem letzten Eis in diesem Jahr, setzte ich mich vor das Café hin, das ich einst vertuschend benannt hatte als «Creamcheese», dabei heisst es in Wahrheit «Savigny».

Still standen die Bäume an den Rändern der Strasse. Wie Dekoration. Am Ende der Strasse das gelbe Feld. Wie bei Proust. Wie neulich bei Gudrun auch, die eben dieses Bild genau mit dem gelben Fleck am Reihenhaus von Vermeer (als Reproduktion) im Badezimmer hängen hatte (gerahmt). Und so gelblich auch wie der Himmel bei Segantini, von dem mir Friederike eine Karte schickte mit seinem Arvenzweig. Beinahe abstrakt: Ich wusste erst gar nicht, wie rum ich die aufhängen sollte (wie im Witzfilm). Bloss war halt jetzt, ab 18 Uhr 15 etc der Anblick der Strasse zu einer Aufhänganweisung (muss dringend mal eine Galeristin fragen, wie sich der TT nennt) geworden. Dort, wo bei Segantini das Blau der Berge durchblinzelt, war hier das Pflaster der Pestalozzistrasse. Darüber der friedliche Himmel. Dazwischen: Robinienzweig.

Danach, als es dunkel geworden war, ging ich ins Kino (das reimt sich auf Tarrantino)—Warum auch nicht. Trotzdem muss ich sagen, auch wenn mich das alt machen sollte: Es war langweilig. Zudem ich noch nicht einmal einen filmhaften Flow erfahren durfte; das dreistündige Spektakel erschien mir mehr als eine Aneinanderreihung von Sketchen (die ich aber jetzt nicht gross lustig fand). Friederike, die den Streifen ja sehr gut fand, wollte ich fragen, ob sie das ohne Brad Pitt auch so befunden hätte. Glaube nicht. Brad Pitt rettet diesen Schwachmatenfilm nämlich.

Am nächsten Morgen, heute: schönster Himmel mit wolkenfarbenden Tupfen auf Blau. Die mittleren zwei Stunden seines Filmes hatte ich da schon vergessen.

«And the closer I get, the less of me there is/

Yeah,the older I grow/

the more of me is gone»

22.9.2019

Wenn man gar nicht schlafen kann: Wie dann die Dinge aus der Dunkelheit, wie kommend: Gestalt annehmen. Das kam mir derart bedeutend vor, dass ich daraus eine Kritik der herrschenden Verhältnisse entwickeln—wollte, sollte auch, wie mir das schien. Dabei ging es im Grunde um Zeit. Also um diejenige, ein Zeitmass, das dem Einzelnen, jedem Mensch, zur Verfügung stand, um sich darin, ja: auszuleben. Um sein Menschsein auch auskosten zu können. Gerade halt durch ein ganz simples Manöver wie: Wachbleiben; nicht schlafen, um am folgenden Tag arbeitsfähig zu sein. 

Und dabei, dies denkend, wurde ich tief traurig. Natürlich. Natürlich? Nein. Und doch. In der Zeitung war eine Art des globalen Rundumblicks abgebildet: Abgedruckt waren Beweisaufnahmen von Klimaprotestanten aus den gängigen Nationen, sowie aus Indien und Kenia (die Typen dort waren sichtlich vom Regime gecastet, deren Aufschrei wirkte künstlich, aber so läuft das halt in Afrika: Die Potentaten dort lesen im Internet von einer weissen Mode und wollen die dann sofort auch umgesetzt sehen in ihrer Welt.)

Jan schrieb mir aus Indien: Keinerlei Schilder in Ahmedabad.

Apple scheint das neue Betriebssystem, wie es heisst: Im Hintergrund installiert zu haben. Seitdem habe ich jedenfalls einen Ordner für Email mit hinzugefügten Adressaten. Der Ordner ist, ich ahnte das Jahrelang, umfangreich. Löschte ihn komplett.

Tieftraurigkeit rührte sogenannt auch daher, dass ich mich an die Fahrt im Aufzug erinnerte mit Christian: ich hatte ihn aufmerksam gemacht hinsichtlich der Kratzspuren im weissen Lack der Kabine. Und er hatte mir fest versprochen, davon ein Bild zu machen. Dazu kam es dann aber nicht. Aufgrund eines Menetekels, wie ich leider sagen muss.

Was ich * will, ist eine Literatur, die ähnlich dämlich ist wie «Alone Again (Naturally)».

* erzeugen

Weil ich als Kind immer geglaubt habe, dass Paul Mc Cartney der Sänger ist. Aber es war halt der (kleine) Unbekannte. Der Text ist ziemlich weird. Die Musik von O‘ Sullivan war wohl insbesonders in der sogenannten DDR beliebt. Anscheinend sind es ja vor allem Ostdeutsche, die heute seinen Eintrag in der deutschen Wikipedia «betreu’n». Jedenfalls steht dort: «Die dritte LP I’m a Writer, Not a Fighter kam heraus». Usw.

21.9.2019

Übers sogenannte Wochenende krank: ist eine lehrreiche Veranstaltung. Wie ich finde. Nachdem ich gestern früh noch frohlocken wollte, scheint jetzt der Herd noch um eines tiefer gerutscht, in meine Bronchien. Was mich, ohne zu googeln, an die Existenz einer Vier-Tages-Krankheit glaubend macht—denn tiefergelegen als meiner Bronchien habe ich nichts mehr zu bieten. Der Focus wiederum hat eine anschauliche Versinnbildlichung des Darmes auf dem Titelbild, der, so Fleischhauer’s Focus: Das intelligenteste Organ seit Adolf Hitler sein könnte. Ein Mann, vor mir an der Kasse, hat das Heft gekauft; so kam ich drauf. Zusammen mit dem Berliner Kurier, der ja jetzt auch wieder cool werden wird, weil von Ex-Ravern gekauft. Die Kassiererin selbst wiederum schaute mich prüfend an: Rosenkohl? Ich hatte mich offenbar zu rechtfertigen, sprach zu ihr hinter vorgehaltener Hand. Sie nickte. Was mir gnädig vorkommen wollte. Vielleicht sogar war.

Daheim dann die Gedanken.

20.9.2019

«Auf jeden Mai folgt auch ein November» (Handke): Die Nacht war dementsprechend fürchterlich. Kaum in Berlin angekommen, spürte ich, wie diese Stadt mich durch die Fensterscheiben im Abteil hindurch infizieren wollte mit ihrem Keim. Hier ist es kalt, an der Spree haben die Bäume teils rote Blätter. Dass mein Haus eingerüstet sein würde bei meiner Heimkehr, hatte ich nicht vergessen, aber verdrängt. Doch war es genau so gekommen. Im Vorgarten steht eine Toilettenzelle aus Kunststoff. Der Hersteller aber nicht Dixie, sondern: Olymp. Ich finde das zynisch. Im Baum vor meinem Fenster, meinem Fixstern hängt fetzenweise Rockwool, schaut aus, wie aus Windeln herausgerissen. Nein, mir ist jetzt alles vergällt. Ich lebe bei vorgezogenen Gardinen, das Licht wie in einem Lazarett, oder als ob draussen Schnee liegt. Nicht einmal Schlafen kann ich (aufgrund des Schnupfens). Aber die Horrorpanik der Nacht, dass nämlich der Mann mit der Atemmaske mich auf der Lesung angesteckt haben wird mit einem Krankenhauskeim, die liegt ad astra.

Traf mich trotzdem heute um neun Uhr mit Mirko Zander in der Stadt, um die letzten Arbeitsschritte besprechen zu können. Grossmütiger, langmütiger auch: Mirko. Machte mir bessere Laune (von der tatsächlich noch ein bisschen vorrätig war). Andauernd kamen unterdes vor allem Väter mit ihren Kleinkindern in die sogenannte Meierei, wo wir planend sassen, die Kinder dabei stolz, mit selbstgemalten Klimaschildern. Die Väter, und wenigen Mütter: mit Teilscham ob dieser Schilder, des wie verordneten Mitmachens wegen im Gesicht. Was will man da machen? Wenn man das verbietet, werden die Kinder cyber-gemobbt.

«Warum wird nicht einmal ein Idiot Präsident», schreibt Handke im Gewicht der Welt «ein Mongoloider?»

Ich finde es interessant, wie vielfältig die Slogans und Sprüche sind. Versuche, jedes der Schilder zu entziffern, das mir entgegengetragen wird—keines kommt zweimal. Das scheint mir neu, dass diese Jungen sich wie beim Sneakerkauf um Individualität bemühen. Als ich aufbrach, wurde schon vielmündig skandiert. Von der S-Bahn aus schaute ich links und rechts auf gerinnende Gruppen. Was würde man eigentlich machen, wenn sich die Kinder und Jugendliche für eine ganz andere Sache auf die Strasse begeben würden; sagen wir: Gegen Einwanderer und Überfremdung, gegen Alte, US-Amerikaner, soetwas?

Schon wieder bettreif, dabei war es noch nicht einmal zwölf Uhr, war ich gerade noch rechtzeitig, bevor der Klimastreik losging, wieder daheim. Spürte eine Vorfreude, weil ich morgen wieder gesund sein würde.

 

19.9.2019

Bald hinter Frankfurt begann es sich zuzuziehen, der Herbst rückt unaufhaltsam näher. Gestern hatte ich mich plötzlich entkräftet gefühlt, gleich, nachdem ich Friederike zufällig auf der Strasse begegnet war. Zum ersten Mal, seitdem wir uns kannten. Ich ging auf der Frankenallee, da stand sie mit einem Mal vor mir. Out of context: It was great. 

Mit salzig schäumenden Gurgelungen brachte sie, die diese mir reichte, es fertig, mich über Nacht gesund zu pflegen. Ein Marmeladenglas voll dieser Medizin als Vademecum bekam ich mit—wobei es dann, ich mag es doch kaum mehr erwähnen, in dem Zug selbst zu den leider üblich gewordenen Problemen kam. Die Zugführerin selbst trat vor das Publikum im Gastraum des Bordrestaurants und verkündete eine einigermassen originelle Ausrede: Es fehlte das Wasser. Von daher gäbe es auf der Fahrt bis nach Berlin weder Heissgetränke noch Speisen. Wer aber ein Getränk aus Flaschen kaufen wolle, oder einen Schokoriegel, der sollte sich doch bitte selbst ins Bordbistrot bemühen—die Bedienung am Platz falle aufgrund des Wassermangels natürlich aus.

Aus zweierlei Gründen war das bahnpolitisch genommen falsch:

Erstens hatten ja sämtliche Umsitzende sehr wohl mithören müssen, wie die Restaurantmitarbeiter sich in den Minuten dieser auf extremsächsisch vorgetragenen Ansprache über ihre als üblich empfundenen Arbeitsumstände mokiert hatten. Da so zu tun, als wäre man selbst überrascht, kommt ungut. Der ellipsenförmige Küchenbereich zwischen Bordrestaurant und Bordbistrot ist zwar mit Pressholz vor Blicken geschützt, aber keinesfalls schallisoliert.

Zweitens konnten dann sämtliche Umsitzende die sechs, manchmal auch bloss fünf Bahnangestellten dabei beobachten, wie sie in eben diesem elliptischen Gehäuse die Fahrt über plaudernd herumstanden, während die Passagiere sich ihre kalten Getränke zu unverminderten Preisen dort abzuholen hatten. Verlangte man ein Wasser, wurde das nach dem Prinzip der Eimerkette von einem zum anderen bis nach hinten in den Lagerraum weitergemeldet. Auf vergleichbarem Wege, bloss halt physisch, ging dann die Flasche von Hand zu Hand nach vor bis zum Kunden. Ich konnte den Eindruck nicht abschütteln, dass es insbesondere ostdeutschen Bahnmitarbeitern Freude machte, mal wieder auf Mangelwirtschaft und Subotnik zu machen. Auch vom Ton her, wenn die Unbedarften oder neu Zugestiegenen fragten «Was haben Sie denn überhaupt noch?»

«Sändtwitsch» Fullstop. 

Bei mir am unbedienten Tische hatte indes ein ungleiches Paar, ungleich vom Alter her, Platz genommen. Beides Orientalen, der (deutlich) jüngere als Adson von Melk, der andere ein William von Baskerville mit MacBook Air, von dessen Anzeige er einen Vortrag einübte, den er wohl in Leipzig zu halten gedachte. Inklusive ausgreifender Gesten und aufwimmernder Laute. Als die Zugchefin zum Kontrollieren kam, schob er ihr weiterbetend seine Bahncard 100 hin. Sie nickte ihm wie einem Kustoden zu. Der Junge hatte die weissen Airpods in den Ohren und reichte seinem Meister belegte Brote. Mir fiel da die Fahrt von Haifa nach Tel Aviv ein, als ich mit Friederike festgeklemmt sass im überfüllten Zug und plötzlich wickelten sich die Orthodoxen Juden mit ihren Gebetskapseln ein und fingen im Stehen an mit ihrem Wiegegebet. Das war Anfang des Sommers gewesen. Von jetzt an also nur knapp noch ein Jahr.

18.9.2019

Gestern, nachdem wir nicht etwa den Tau von den Wiesen aufgelesen hatten, sondern den sogenannten Vorschautext für das nächste Buch mit dem Titel «Hamburg. Sex City» in die nichtexistenten, weil längst virtuell gewordenen Tasten gehauen, zeigte ich Christian noch meine Stadt, als die ich ja Frankfurt, insbesonders bestärkt noch durch den schönen Abend, betrachten will. Und so half selbst die ansonsten zum Schweigen bestellte Architektur mit, zum bestmöglichen Eindruck beizutragen, indem, beispielsweise das Gebäude der Deutschen Bank exakt in den von mir erwünschten Idealfarbtöne widerspiegelnd angetan sich zeigte, die immer dann solches des Wassers an sich sind (vgl. Roni Horn). 

Auf unserem Weg durch die Taunusanlagen kamen mir die Gesichter der dort um die Mittagsstunde wie üblich auf den Wiesen lagernden Menschen mit einem Mal vor, wie von einem Fotografenassistent mit dem Aufhellerkreis angeleuchtet. Das kam von dem Sonnenlicht, das von den Banktürmen zu uns herab gespiegelt wurde. So gingen wir wie durch eine monumentale Fotografie von Jeff Wall oder Philip Lorca Dicorcia. Das war, ich gehe dort häufig um diese Stunde, etwas Seltenes; wenn nicht Einmaliges. Für mich nahe an der Epiphanie.

Christian hingegen machte keine einzige Aufnahme. Ich habe ihn nicht gefragt, warum.

17.9.2019

«Wer eine Wohnung sucht,» schreibt Martin Mosebach in Der Mond und das Mädchen «hat es mit einem der seltenen Augenblicke zu tun, in denen der Mensch wirklich glauben darf, über die Zukunft seines Lebens zu entscheiden». Gestern, wir trafen uns absichtlich auf meiner Lesung bei Gudrun, offenbarte er sich mir auf Nachfrage hin noch immer als Wohnungssuchender in Frankfurt—beziehungsweise: Er habe doch noch gar nicht angefangen mit dem Suchen! Zunächst verbrachte er die Wochen nach dem Unglück an Weihnachten 2018 in Rom, daraufhin folgte eine längere Zeit auf der ägyptischen Insel Elephantine, den Sommer über «lebte und arbeitete er» wie es in den Verlagsbiografien formuliert wird, auf Hydra. Gleich nach diesem Abend, deutete Mosebach an, geht es für ihn in eine Hafenstadt an der marokkanischen Atlantikküste. Auch deswegen nimmt er nicht an den diesjährigen Feierlichkeiten der Frankfurter Buchmesse teil. Trotz, oder vor allem auch, weil die Norwegische Königin ja angekündigt hat, mit einem Salonwagen voller norwegischer Literaten im Frankfurter Hauptbahnhof einzulaufen. Und dann gibt es halt auch noch das Problem mit dem Obdach.

Ich sprach ihn auf das Zitat an. Er machte diesen liebenswert aufjaulenden Ton und gab mir zu bedenken: «Das ist aus dem Jahr 2007. Heute ist es gerade anders herum.»

Ein anderer Gast, den ich aber nicht kannte, und der uns zuvor geradezu geheimnisvoll angekündigt ward als «Bonner, Loriot-Liebhaber und Mops-Besitzer», stand mir gegenüber und ich dachte, es handelt sich vielleicht um diesen Wichtigtuer Wong aus Hongkong in einer rapide gealterten Version, da die untere Hälfte seines Gesichtes wie bei dem entsprechenden Emoji von einer grünlichen Atemschutzmaske verdeckt blieb. Mich dumpf muffelnd grüssend, starrte ich fasziniert auf das an- und abgesaugt Werden seiner Papiermaske. Er behielt die auch die Zeit während meines Vorlesens über auf. Vorlesen an sich: schwierig. Jedenfalls, sobald es den privaten Rahmen von einem, maximal dreien an Zuhörern überschreitet.

Trotzdem entwickelte sich ein ungeplant schäumender Abend, von dem mir vor allem die heiteren Gespräche mit Kerstin Holm, die ich bis dahin bloss als Autorenzeile kannte, im Gedächtnis geblieben sind. Der Flair und die intellektuelle Qualität solcher privat organisierten Abende in Frankfurt sind ja eigentlich der Grund, weshalb in den neunziger Jahren so viele nach Berlin gezogen sind, bloss um dann ihre Hoffnungen in den sogenannten Salons von Britta Gansebohm et al enttäuscht zu finden. Hier aber, einst mit dem Suhrkamp Verlag und der Universität geistiges Zentrum der BRD, hält man die Fahne am Flattern. Wie aus den jüngsten Presseberichten ersichtlich, kriegt Berlin als Euphemismus selbst Suhrkamp klein. Die Rücknahme wird allerdings schwierig werden. Oder wie Hendrik Borggreve gestern völlig zu Recht fragte: «Worin besteht Ihre Botschaft»?

Frau Holm, resolut: «Jedes Kunstwerk wird keine Botschaft haben.»

16.9.2019

Friederike, schlafend schaut für mich aus wie la muse endormie von Brancusi (bis auf die Andeutung des Haars, die er besser gelassen hätte). Möglicherweise gibt es ja: eine Vorstellung vom universalen Antlitz der Muse (die zumindest für einige wirksam sein könnte). Gestern früh jedenfalls ertastete ich im vordersten Glied ihres Mittelfingers seitlich ein winziges Horn, ein gehörknöchelfeines, das sich dort offenbar von dem regulären Fingerknochen wegstrebend gebildet hat. Nach einiger Überlegung wurden wir fündig, indem sie ihre typische Handhaltung einnahm, mit der sie auf dem Mobiltelefon schreibt. Der Rahmen des Gerätes wird dabei genau an dieser Stelle von der Seite des Mittelfingers gestützt. Es handelt sich also offenbar um ein Entgegenkommen des Körpers zum Vorteil der Bewusstseinsverlängernden Apparatur. Zum Glück völlig ungefährlich! Aber das Tagebuchschreiben fordert halt neben den vielen Vorteilen, die es bringt, auch seinen Tribut. Zumindest, so lange man es auf dem Telefon tippend betreibt. Auf einer Internetseite waren allerdings auch drastische Auswirkungen bei exzessivem Telefongebrauch zu betrachten. Röntgenbilder—man weiss halt nie, ob die authentisch sind—sollen dort beweisen, dass einem auf Dauer ein kleines Horn aus dem Schädelansatz am Genick wächst. Angeblich, weil man andauernd nach unten aufs Display schaut. Solange das alles bloss Überbeine sind, kommt mir das Ungefährlich vor. Meine Grossmutter musste sich mehrfach die Überbeine an den Füssen wegfräsen lassen (operativ), die ihr durch das Tragen von High Heels gewachsen waren.

Zu Mittag dann Besuch von Gudrun Sander. Letzte Besprechung wegen der Lesung heute abend bei Gulasch mit Spätzle. Heitere Stimmung, ich sehe der Sache mit Gelassenheit entgegen. Noch! Das Hosenflattern kommt früh genug.

14.9.2019

Der Schwiegersohn der Mume telefoniert mit den Arbeitern auf der Baustelle daheim, in Bulgarien. Er tritt als Bauunternehmer auf, trägt seit neuestem bloss Schwarz, dazu eine Sonnenbrille (ebenso). 

Anlässlich der Überreichungszeremonie unseres Martiniza-Geschenkes an die Mume im vergangenen Jahr verriet diese uns in groben Zügen vom familiären Bauvorhaben eines Hauses voller Ferienwohnungen in der Nähe von Varna an der bulgarischen Goldküste, von woher ja wohl die ganze Familie der Mume inklusive des Schwiegersohnes stammt, beziehungsweise von woher sie einst vor vielen Jahren nach Frankfurt aufgebrochen waren, um hier das für die Bauarbeiten an ihrer Ferienwohnanlage benötigte Geld zu verdienen.

«Tamam», das Wort, die Lautfolge, die im Türkischen, im Arabischen und wahrscheinlich noch in weiteren Sprachen bedeutet «In Ordnung», «Okay», «Geritzt» und so weiter, sie kommt auch bei ihnen andauernd vor, mit Tamam rhythmisiert er den Rapport seiner Gesprächspartner in der Ferne, die er sich über Lautsprecher zuschalten lässt. Sein Büro ist der Balkon, die Telefonate beschallen den Hinterhof. 

Auf der anderen Seite des Hauses ist die Attraktion zwar stumm, dafür meinen Augen zum Schmaus. Zweierlei gibt es hier für mich zu sehen, beziehungsweise: im Auge zu behalten, weil sich das Geschehen in den Häusern gegenüber andauernd verändert. Nichts gegen die Baufortschrittstelefonate, da gibt es mit Sicherheit jede Menge Belauschmaterial, was sozusagen Gold wert sein wird, aber ich kann halt leider kein Bulgarisch. Dafür kann ich so gut wie alles fassen, was ich sehe. 

So leben in dem Haus gegenüber die Wanderarbeiter. In der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres hatte ich über sie geschrieben, passenderweise, weil dann die acht Fenster, die streng symmetrisch entlang der Mittelachse dieses Hauses in die Fassade eingelassen sind, schon am Nachmittage leuchten wie ein Adventskalender. Seitdem wurde die Befüllung der acht Kästchen, die ich von unserem Fenster aus einsehen kann, schon zweimal ausgewechselt. Jedes Mal reinsortig mit Männern. In den lichten Jahreszeiten spielt sich ihr Wohnen überwiegend auf den schmalen Balkons vor ihren Kästchen ab. Sie sitzen dort auf ausrangierten Chefsesseln, allein der Platz auf ihnen herumzurollen, noch sich auf dem Sessel im Kreis um sich selbst zu drehen, fehlt. Eher selten treffen sie sich zu zweit oder dritt auf dem Balkon eines Nachbarn. Monadenhaft zeigen sich die Arbeitsnomaden in ihre Mobiltelefone vertieft. Gestern aber sah ich dort einen, der reinigte und polierte ihn anschliessend sogar: seinen Arbeitshelm. Sein Balkonnachbar schaute ihm dabei zu, ihre Kommentare konnte ich nicht hören, wahrscheinlich hätte ich sie auch nicht verstehen können, aber scherzhaft, heiter auf die Natur des Helmes bezogen, wollten sie mir vorkommen.

Die zweite Attraktion befindet sich im, beziehungsweise vor dem Souterrain in dem Nachbarhaus des Wanderarbeiterheims. Dort hat vor kurzem ein Friseur aus Äthiopien sein Geschäft eröffnet. Die meisten Stunden des Tages verbringt er, ein karamellfarbiger Twen, auf einem eigens hierfür angeschafften Chefsessel. Darauf rollt er vor seiner bei diesen Temperaturen jederzeit offen stehenden Ladentür hin und her, dreht sich auch mal um sich selbst im Kreis.

Das alles fasziniert mich. Aus welchem Grund, weiss ich nicht. «Muss man seine Zeit», heisst es bei Brigitte Kronauer «wie pausenlos gesagt wird, tatsächlich verstehen und mit ihr auf einer Höhe sein, als Jugendlicher, Greis und in voller Blüte? man ist die Zeit doch selbst.»

13.9.2019

Nach dem Abendessen begleitete ich Friederike auf einem Spaziergang durch die Innenstadt (es war dunkel). Gespräch über die zweierlei Gesichter des Stadtlebens, das des Tages, das der Nacht; wie sie sich anscheinend gänzlich unterscheiden. Eine Schnittmenge gibt es selten bis kaum. Vor einer sanierungsbedürftigen Kirche nahe Basler Platz lagen auf teils selbstfabrizierten Matratzenlagern, teilweise aber waren die aufgebockt und wirkten dadurch wie Krankenhausbetten, Männer und Frauen, wie zu einem Schlafzug hintereinandergereiht vor dem Bauzaun entlang. Niemand sprach, die meisten lagen schon eingerollt unter Decken, das Gesicht natürlich abgewandt von der autofreien Seitenstrasse, auf der wir gingen. Ein Mann war in das stumme Geschehen auf seinem Bildschirmchen vertieft. Der Abglanz auf seinem Gesicht in der typischen Lichtfarbe: Wie millionenfach genau jetzt, zur nächtlichen Stunde, überall auf einer Hälfte der Welt. Quer durch sämtliche Schichten.

An der kleinen Kreuzung bogen wir rechts ab in eine Gasse, an deren Ende es dunkler wurde. Ich dachte an den Text von How Beautiful You Are, und dass wir beide gottlob anders waren. Am Strassenrand parkte ein Maybach mit Stuttgarter Nummernschild. Hinter dem stillgelegten Gleis und dem Rasenstreifen: Der Main. Auf dem Musikschiff war eine Art Schwarzlicht angeschaltet. Die Herrenhemden und die Blusen des Bedienpersonals trieben wie schwebend hinter den dunklen Fensterscheiben durch den Raum. Ein vorletzter Gast mit weit geöffnetem Hemdkragen (Typ Johann Holtrop) stand wie aufgepumpt vor einer Theke. Das Gelächter war fühlbar, von den schattigen Lippen abzulesen, mehr an seiner geschüttelten Haltung, wurde aber soundmässig von der Musik überdeckt. Es lief Street Life. 

Wir sassen auf einer Bank am Uferweg und eine Angestellte der Cateringfirma hatte den Wache haltenden Polizisten eine Reihe von Papiertüten gebracht mit Resten des Caterings. Das improvisierte Buffet auf der Sitzfläche der Nachbarsbank hatte weitere Kollegen angezogen, die leuchteten mit ihren Taschenlampen in die anscheinend unterschiedlich gepackten Tüten. Jeder fand etwas, nahm sich, schlenderte mit dem Sandwich und einem Fläschchen davon. Wir alle hier rasteten für Momente rings um eine schwimmende Oase.

Das Musikschiff, auf dem jetzt im oberen Stockwerk die Sitzkissen zusammengestapelt wurden, während unten die Lieder bloss noch für diesen einen, den einzigen und letzten Gast im Hemd gespielt wurden, war umkreist von beigedrehten Schnellbooten der Wasserpolizei, die wir erst entdeckt hatten, als wir uns auf den Heimweg machten. Eventuell hatte es, als die wichtigen Gäste noch an Bord gewesen waren, sogar einen Hubschrauber gegeben, der den Luftraum über dem Musikschiff zu sichern gehabt hatte. Der Maybach gehörte demnach zu dem hartnäckigen Gast.

Am nächsten Tag dann: Wolken. Jede einzelne schöner als jeder Zeppelin (sogar die grauen).

12.9.2019

Am frühen Abend auf der Europa-Allee stadtauswärts: Sie führt vom Skyline Plaza, wo derzeit ein Tunnel für den U-Bahn-Anschluss gegraben wird, am Messegelände entlang (wo derzeit die Internationale Automobil Ausstellung IAA stattfindet—letztmalig exklusiv in Frankfurt, wie gemunkelt wird). Die einzeln stehenden Gebäudeblöcke an der Allee verdecken zur rechten Hand die dahinterliegenden Messehallenbauten völlig, obwohl die ja nicht gerade zierlich sind. Dafür vergleichsweise charakterstark. Für die Bauformen, im Grunde ist es bloss eine einzige, der in den Vordergrund hochgezogenen Neubauten wie sie sich auch in Berlin überall breit gemacht haben und machen, gab es vor Jahrzehnten noch die akzeptable Rechtfertigung vom Wiederaufbau. Auch dazu lädt ein elfter September in jedem Jahr ein: Gedenken der Bombardierung Darmstadts. Mehr als zehntausend Menschen starben in einer knappen Stunde. Die Vermissten waren zu Asche verbrannt.

Auf der Mitte der Europa-Allee zeigt sich in den beiden Lücken, die Querstrassen lassen, das Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn vom Architekten Stephan Böhm, Sohn des Pritzker-Preisträgers Gottfried. Den oder die Architekten, womöglich handelt ein Kollektiv, der Gebäude entlang der Europa-Allee kennt man nicht. Im Kontrast zum brutalistischen Meisterwerk von Böhm, dessen betoniertes Exoskelett anmuten will, als könnte es pneumatisch in die Knie gehen, wirken die Neulinge gerade nicht brutal, sondern einfach blosslasch, oder herzlos; wie es mittlerweile heisst: uninspiriert. Wie aus schlechtem Gewissen heraus eingemeisselt in den Portikus vom Band heisst dann eins zum Beispiel «Haus Marie-Louise». Der Nachbar gar «Versailles». Die Grünanlagen auf dem breiten Mittelstreifen der Allee, unter denen dann bald die neue U-Bahn verkehren soll, wirken wie mit einer Unterfunktion des Stadtplanungsprogramms entworfen: Sie erinnern mich fatal an die Neupflanzungen auf einem Acker hinter Heimerdingen, wo halmhaftes Grün zu langgezogenen Bürsten gruppiert wächst—Heizmaterial, das jeder dort Biomasse nennen darf.

Nur wenige Leute liessen sich auf den von aquarienhaften Glasscheiben umgrenzten Balkons am Haus Versailles sehen. Ein Mann mit nacktem Oberkörper nahm von dort, von seinem Söller aus, eine Kommunikation mit einem vor dem Haus Versailles stehenden Boten wieder auf, die über die Gegensprechanlage nicht zustande gekommen war. Beide bedienten sich des Englischen als Handelssprache. Man einigte sich darauf, dass der Bote das Paket vor der Haustüre abstellen würde, von wo es der Wohnende dann abholen könnte. Eine Passantin, schwarz mit grauem Haar, rief in den Lautsprecher ihres Mobiltelefons: «Walnut! I like Walnut. And Mango on top.»

Dort, an jener Seitenstrasse zur Europa-Alle, in der sie um sich schallend verschwand, war ein Park neu angelegt worden. Dessen Zentrum, zwischen Tel-Aviv-Platz und einer einer Fussgängerbrücke gelegen, die von den auf ihren Rollern eigentümlich Thronenden befahren wird, markiert ein Spielplatz, hinter sehr hohen Gitterwänden, aber nach oben hin offen gehalten. Der Boden des Freizeitareals besteht aus jenem ansprechenden Gummigranulat, in diesem Fall wirkte es speziell einladend auf mich, da in einem freibadhaften Blau gefärbt. Sämtliche Spielgeräte, einige davon «mir neu», wirkten bombenfest im Grund unter dem heiter federnden Blau verankert. Der Farbton scheint auch dem Spektrum der Tauben zu schmeicheln, denn zwischen Kindern und Aufsichtspersonen aller couleur hockten und ruckelten und flatterten raschelnd vor allem noch sie umher. Kein Geheimnis, dass ich sie nicht leiden kann. Und so schaute ich unwillkürlich zum Himmel hinauf aus dem Gittergeviert. Doch anders als noch im Engadin oder in Heimerdingen rüttelte dort oben kein Falke. Es kreiste gutmütig brummend der Zeppelin.

11.9.2019

Vor 18 Jahren war ich nachmittags mit Martin zu Fuss unterwegs durch das Glockenbachviertel, eventuell dort am Ufer des Glockenbachs selbst entlang, wahrscheinlich nach einem Besuch des Schyrenbads, auf dessen Liegewiese wir sämtliche, in meiner Erinnerung lückenlos sonnigen Tage des Sommers im Jahr 2001 verbracht hatten. Mir fällt das heute angesichts des Datums ein, das geschichtsträchtig werden sollte, bekanntlich, aber speziell in unserem Fall, bedingt durch Zeitverschiebung, erst später an jenem Nachmittag, als wir unweit des von uns damals sehr geschätzten Lindwurmstüberls die, wie es hiess: Räumlichkeiten der Agentur Herburg Weiland betreten hatten, wo alle schon um einen Fernsehapparat (ein zu damaliger Zeit noch durchaus üblicher Anblick) herum sassen. Die Stimmung war—hier wieder Erinnerung—seltsam heiter, vermutlich von Angstlust geprägt, oder von Fassungslosigkeit. Dann, es lief das ZDF, bohrte sich das zweite Flugzeug in den unbeschädigten Turm. Live.

Neulich auf der Geburtstagsfeier von Claudius kam es zum unverhofften Wiedersehen mit Martin. So gut wie keinen hatte ich erwartet, er aber stand hinter einem Haufen blühender Hortensien verborgen und rief mich grüssend meinen Namen (meinen Namen als Gruss). Und ich seinen. Wir haben sehr viel mehr erlebt in dieser Münchner Zeit, die an dem Abend auf der Feier wieder aufleben sollte, aber jener Nachmittag im September ist zu dem Nagel geworden, an dem das Bild unserer gemeinsamen Zeit gehängt wurde. Von da an, nicht gerade 18 Jahre lang, aber lang, haben wir uns nur noch selten gesehen. In den letzten zehn überhaupt nicht mehr. Da wuchs wilder Bärlauch am Ufer des Glockenbachs und vor allem halt zwischen den Gräbern auf dem langgezogenen Friedhof hinter dem Spital. Am Imbissstand des Freibads gab es optimale Wurstwecken, mit kreisrunden, appetitlich rosafarbenden Lyonerscheiben belegt. Aber ich bin mir nicht mehr sicher: lag, oder lag da keine zum Fächer geschnittene Saure Gurke darauf?

9.9.2019

Abschied von den Eltern mit einem Waldspaziergang durch das kleine Stück des langgestreckten Waldes, der den westlichen Rand des Ortes als Bettwurst begrenzt. In dem Waldstückle habe ich schon als Kind gespielt. Es lag zwar nicht direkt hinter unserem Haus, aber von meinem Fenster aus ging der Blick über den weiten Rücken, den Buckel eines Feldes bis zu dem Waldrand hin, wo im Abendlicht die Stämme der Kiefern orangerot leuchteten (und die bleistiftgrünen Kronen bekamen einen Stich ins Violett). Über die Jahre wurde das Waldstück dann immer kleiner und der Weg hindurch immer rascher zu meistern. Das Unterholz barg schliesslich keine Gefahren mehr, weil ich nahe des Erwachsenseins angelangt war. Zumindest ausgewachsen. Und heute früh erwartete mich dort wieder eine Ahnung vom alten Zauber. Es hatte die Nacht über geregnet, die Luft war feucht und frisch, diverse Schnecken in signalorange und braun überquerten den Pfad. Die sogenannten Weinbergschnecken, hell und lang mit grossem Haus kamen mir früher von den Farben ihrer Haut her vor wie Bismarckheringe, als ob ich sie essen könnte (wie Matjes an der Schwanzspitze gefasst in den Mund; einfach so). Fiel mir heute erst wieder ein, das war in den Hintergrund geraten. Aber noch da.

Ein Bussard kreiste hoch über den Feldern. Und aus dem ehemaligen Nachbarhaus war ein heiterer Wortwechsel zu hören. In der hohen Hecke war eine Lücke geblieben, um die zwei jungen Frauen zu erspähen, die dort jetzt wohnen (weil die Nachbarin aus meiner Kindheit, der dieses Haus einst gehörte, natürlich vor Jahren gestorben ist). Auch ich wohne bekanntlich woanders. Trotzdem kam mir mein ehemaliges Fenster noch immer als ein besonderes vor. Es sagte mir was.

Bei der Einfahrt in den Frankfurter Bahnhof, während der Zug nach Luisa eine weite Spiralkurve um die Türme der Innenstadt fährt, wie um sie wie Ringfinger von allen Seiten her zu präsentieren à la Teleshop, tauchte ganz oben ein Zeppelin auf, erst winzig, dann fort, den ich schon wieder vergessen hatte, als er dann später brummend und nah über dem Balkon erschien wie der Bauch eines Fischs in den Wolken. Mit der Schnauze voran.

8.9.2019

Fortschritte greifen nach Heimerdingen, eben noch der Ort, der für mich die längste Zeit eine Heimat bedeuten konnte, gerade weil sich dort nie etwas verändern sollte. Auf einem Spaziergang am oberen Ortsende entlang machte mich Friederike auf einen grossen Kasten aus silbrigem Metall aufmerksam, der ihr unter dem Vordach eines Bauernhofes aufgefallen war. Dieser Hof war mir vertraut, allerdings ohne den automaten, als den sich der mannshohe Kasten herausstellte: Hinter Glastüren mit Griff stehen darin Tomaten, Eier oder Salatkartoffeln, aber auch pfundweise Bohnen parat. Der Automat akzeptiert Münzen und Scheine. Wir kaufen ein Kilogramm Tomaten, das funktioniert anstandslos. Kartenzahlung ist aber nicht möglich. Interessanterweise empfinde ich das als beruhigend. Oder seltsamerweise? Anscheinend will ich nicht, dass sich in meinem Heimatdorf etwas verändert. Bei eben diesen Bauern, die jetzt den Automat aufgestellt haben, habe ich meine Kindheit hindurch Milch geholt mit einer Milchkanne. Die Bauern halten jetzt längst schon keine Milchkühe mehr, ich wohne nicht mehr in Heimerdingen, aber mit einer mir nur teilweise verständlichen Anspruchshaltung erwarte ich wohl, dass dort auch während meiner oft monatelangen Abwesenheit alles so bleiben möge, wie es mir gefällt. Stellt die nächste Generation Landwirte einen Apparat auf, weil sie vielleicht nicht unbedingt Lust haben, dass wegen einem Kilogramm Tomaten abends noch geklingelt wird, während sie vielleicht gerade selbst Tomatensalat essen oder Netflixen, zeige ich mich verstimmt. Meiner Erinnerung wohlgesinnte Einwohner, die ihre Hühner noch so halten wie es meinem Heimerdingenbild behagt, belohne ich mit Zuneigung (und füttere ihren Hühnern eine beim Automaten gekaufte Tomate durch den Zaun). Offenbar erwarte ich von den Einwohnern von Heimerdingen, dass sie ganzjährig und für immer und ewig dort weiterleben, wie es mir gefällt. In einem doch ziemlich grossen und umfassenden Museum meiner Erinnerungen. Und ja nicht zu viel abstauben; bloss keine Veränderung.

Unschön. Andererseits leide ich ja nicht an Nostalgie. «Das Verschwinden der Wirklichkeit ist nicht so ausschlaggebend, wohl aber der Verlust der Illusion, obgleich das Wort Verlust immer so nostalgisch klingt», sagt Jean Baudrillard. So in etwa geht es mir im Angesicht des Automaten auf dem Bauernhof meiner Kinderzeit. Anderntags stand ich im kleinen Laden der Fruchtsaftfabrik, in der ich in den Schulferien gearbeitet hatte, und war schon wieder enttäuscht, weil es dort jetzt glutenfreies Bier gibt.

Nicht einmal zeitgemäss ernähren sollen sich meine Erinnerungsbewohner. Wenn es nach mir ginge. Das aber auch nur, weil es nicht nach mir geht.

5.9.2019

Erntezeit in Württemberg. Mein Vater hat jetzt ein Smartphone. Aber er schaltet es nur wenig an, weil es für ihn, wie er sagt «eine Datenquelle» bleiben soll. Ausser Haus nimmt er vorwiegend sein altgedientes Klapp-Telefon mit, weil das ihm angenehm kompakt und praktisch erscheint. Das neue Smartphone hat den Status eines Geländewagens mit Vierradantrieb, den man früher für besondere Gelegenheiten in der Garage stehen hatte (und der Normalbenziner entspräche demnach dem Klapp-Handy). Dann kam die Fusion in Form der sogenannten SUV; aber mein Vater ist noch nicht so weit. Ich finde das gut!

Am Vormittag waren wir dann im Stückle. Obwohl die Ernte in diesen Jahr vergleichsweise bescheiden ausfällt, brachten wir dennoch zwei Kisten mit Äpfeln und Birnen zusammen. Vergleichsweise deshalb, weil der Laie doch angesichts des bombastischen Sommers die daraus hervorgehende Ernte sich gleichfalls vorstellen wird. Aber dem ist halt nicht so. Obstbäume brauchen noch einmal ganz andere Konditionen als die Pilzmyzele im Erdreich des Engadin. Gut, aber trotzdem kochten wir dann später noch fünf Gläser voll Birnenmus ein, das, wie meine Mutter es sich gewünscht hatte, so gut wie gar nicht mehr gezuckert war im Vergleich mit dem von mir überparfürmierten vom vergangenen Jahr.

Abends dann: Besuch des Weindorfes in Stuttgart. Ich finde es doch widerlich, dass sich dort mittlerweile das Tragen pseudobajuwarischer Trachten durchgesetzt hat. Besonders aufdringlich am Stand des sogenannten Stäffelesrutschers, wo Kellnerinnen als Xenia Seeberg verkleidet mit arrogantem Getue die ganze schöne Atmosphäre versauen wollen. Gut, dass wir gleich nebenan bei einem weniger auf identitärem Gehabe bedachten Betrieb Platz nehmen durften. Ass hervorragenden Gaisburger Marsch, F. mundete einen Gewürztraminer und auf der Gasse, wo einst Spielwaren Kurz sein Stammhaus hatte, und heute ist da bloss noch ein Flagship von Nespresso, trieb ein buntgestreifter Clown sein Unwesen, der sich mit uns durch Stösse in seine Trillerpfeife verständigte, und teils narrte er die Passanten mit einem grotesk grossen Kamm aus gelbem Plastic, teils wedelte er sich über die Wange mit einem regenbogenfarbigen Staubwisch, und bat dann die Passantinnen um einen einzigen Kuss (oder wie es in Schwaben heisst: Schmatz).

Mein Vater ass einen Sauerbraten aus Rinderherzen. Und später führte er uns noch Dias vor aus Kapadokien, wo die Menschen in Löchern im Kalkberg leben wie in einem Käs‘. Danach, auf vielfachen Wunsch, noch die von der Hochzeit meiner Eltern. Wie leer damals die Strassen waren. Ausser den Verkehrsschildern und ab und an Underberg war damals nichts.

4.9.2019

Wir waren, von Kühen und Fröschen abgesehen, nicht allein dort in der Gipfelnatur (die erwähnten Pferde zogen, noch bevor wir ihren Weideplatz erreicht hatten, als ungeführte Karawane fern durch unser Bild): hoch über uns stand bebend ein Falke. Und aus den Wachholderbüschen und dann auch wieder aus einer kahlen Senke flog ein mir unbekannter Vogel auf. Ich konnte ihn erst abends, zurück im Hotel bestimmen. Es handelte sich um einen Häher, der an dem charakteristisch hellen Bürzel zu erkennen ist, dessen Untergefieder er einem beim Davonfliegen zeigt wie ein bei Ampelgrün davonbrausender Sportwagen seine Rücklichter. Der, übrigens ziemlich grosse Häher lebt angeblich vor allem von den nusshaften Kernen, die er mit schweren Schlägen seines Schnabels aus den Arvenzapfen sprengt. Bis zu einhundert dieser hartschaligen Nüssle staut er in einem Unterzungenkropf, um sie dann, fliegenderweise an geheime Orte zu transportieren. Er lagert sie in Erdlöchern, die er mit seinem Schnabel «einzirkelt». Diese Verstecke können bis zu 15 Kilometer von seinem Lebensmittelpunkt im Wald entfernt gelegen sein. Wie er die Erdlöcher findet, nachdem eine in manchen Jahren meterhohe Schneeschicht darüber gebreitet wurde, das weiss kein Mensch.

Gestern dann bei allerschönstem Wetter unter wolkenlosem Himmel bis nach Sils Maria, wo auf einem Hausdach am Ortsrand ein vergoldetes Glockentürmle im Sonnenschein glänzte und blitzte. Gang durch den Wald über federnde Schichten bis zu einer höher gelegenen Bucht, wo ich der Verlockung des von weitem grün leuchtenden, von nahem jedoch glasklaren Wassers des Bergsees nicht widerstehen wollte. Es war freilich saukalt, aber halt auch unwiderbringlich schön. Das Licht an diesem Tag im Spätsommer liess jeden einzelnen Stein, jede Heidelbeere am Zweig und jeden Punkt auf dem Hut eines Fliegenpilzes (von denen es in diesem Jahr ungewöhnlich viele gibt, aber ebenso Steinpilze und Pfifferlinge), jede Nadel am Arvenzweig trennscharf hervortreten. Natur in High Definition.

Daheim, in der Stunde vor Sonnenuntergang lagen an den Hängen des Hausbergs die Schatten der Lärchen wie Querstreifen über dem Waldbodengrün. Zitternd schwebte der Schatten einer Schweizer Flagge auf der Baumreihe nahe beim Haus.

3.9.2019

13° am Vormittag, Luftdruck: 1009 Hektopascal, die Luftfeuchtigkeit wird angezeigt bei 78%. Das Hotel hat an zahlreichen Wandstellen Barometer und andere Messgeräte angebracht. Ich muss nie lange suchen, um eine der (mechanischen) Wetterstationen zu finden. Eventuell hat schon Adorno hier aufs Barometerglas geklopft (mit seiner Zeigefingerspitze). Der Berg gegenüber heisst Piz Mezzaun, er war heute schon in der Frühe ganz sichtbar, vom waldigen Sockel bis zu seinem zerklüfteten Gipfel hinauf. Und darüber hinaus ein wolkenloser Himmel, weit und breit; scheinbar bis in den hintersten Winkel des Tales hinein, wo die Berge weisse Gipfel haben. Gestern hingegen ein komplett anderes Bild, da morgens dichte Schwaden und Schleier an unserem Fenster (4. Stockwerk) vorübergetrieben wurden. Ab und an ergab sich dazwischen eine Lücke und ein Stück vom Hausberg wurde sichtbar: entweder in grau, oder grün. Unwillkürlich dachte ich an Wolken und fragte mich, warum die hier so tief ins Tal hinunter sinken, bis mir klar geworden war, dass das Tal selbst ja hoch gelegen ist (auf etwa 1600 Metern).

Fuhren dann mit einer Standseilbahn auf den Muottas Muragl—warum dieser Berg (sie haben alle einen Namen) nun nicht Piz heisst mit Vornamen, blieb rätselhaft, da wir dort oben niemanden angetroffen haben; wir waren ganz allein mit einem Rudel schwarzer Kühe und ein paar Pferden. In der Landschaft um den Gipfel herum war die Luft plötzlich klar, und weit unter uns trieben die Wolken durch das Tal. Jetzt gaben die Lücken hier und da Flecken aus Häusern und Strassen frei, auch ein glasglatter, grüner See liess sich sehen. Und wir, viel zu gross für diese winzigen Welten, spazierten dort oben wie Götter herum. Hauptsächlich wächst dort Wachholder. Aus den Beeren wird, nebst der altbekannten Verwendung in Suppen und Saucen, ein würziger Sirup, die Latwerge gekocht, den ich mir morgens sehr gerne auf Brote schmiere. Andauernd will ich mir vorstellen, wie das Alltagsleben in dieser herrlichen Landschaft vor 150 Jahren sich wohl gestaltet haben wird; also wie man es gemeistert hat als Erdenbürger made in Oberengadin.

Frösche schauen, von oben betrachtet, wie Menschen aus auf eine kuriose Weise. Allein wie sie sich bewegen. Das fiel mir ein, als ich ein Fröschlein betrachtete, das auf meine schöpfenden Handflächen gehupft war. Es gab hunderte dort oben, auf zweieinhalbtausend Metern, in einem schmalen Bach, dessen Wasser es talwärts zog. Warum dort und warum Frösche weiss kein Mensch.

1.9.2019

Einfahrt ins Engadin am Nachmittag, kurz nach 15 Uhr, durch endlosen Tunnel. Das Fenster war geöffnet und das doch ziemlich laute, mahlende Geräusch im Dunklen erinnerte mich an den Vorabend, wo wir im Westend bei einer Thermomix-Vorführung zu Gast waren. Die reine Neugier hatte uns hingeführt, in Aussicht auf ein heiteres Erlebnis und mich zudem noch mein zugegebenermassen extrem mild ausgeprägtes Delayed reward syndrom, weil ich ja in den Jahren meiner Kindheit und Jugend, als solche Produktvorführungsveranstaltungen im häuslichen Rahmen en vogue waren, keine davon hatte besuchen dürfen. Ich war weder auf einer Tupperparty, noch klingelte bei uns daheim die Avon-Vertreterin an der Tür. Dabei, das aber fühle ich schon schwindend, es ist kaum mehr noch als eine Ahnung des Gewesenen: War ich wohl eine ganze Zeit lang in die Avon-Vertreterin aus dem Fernsehen verliebt. Die war damals in einem Werbespot zu sehen, wie sie mit ihrer herrlich seidigen Krystle-Carrington-Frisur und einer, ich glaube: Mohnroten Bluse einen Hügel hinaufging, den Diplomatenkoffer voller Avon-Kosmetik in der Hand, um dann oben auf dem Hügel an der Haustür des Hauses auf dem Hügel zu klingeln. Die Frau des Hauses—keine schnöde Hausfrau—, tat ihr auf und freute sich sichtlich auf die Produktvorführung, also beispielsweise das ihr die Avon-Vertreterin einen Lippenstift in einer bislang nicht erhältlichen Nuance mitgebracht hatte. In diesem magischen Moment der Gastlichkeit, des Handels auch, erklang (nicht tönte) das herrliche Avon-Lied, dessen Refrain in meiner Erinnerung auf Celeste und Harfe begleitet wird, während ein Chor aus Frauenstimmen singt «Mit Avon siehst du bezaubernd aus».

Genau so, bloss halt rings um eine in der Küche aufgebauten Küchenmaschine, lief es dann gestern abend ab. Die im Thermomix zubereiteten Gerichte und die aus vom Thermomix zubereiteten Bestandteile von entweder auf dem Herd, oder (meistens) im Ofen fertiggestellten Speisen wurden von der Gastgeberin auf ihrer Terrasse serviert. Und Boy, what a terrace she had: Dort sass man umgeben, beziehungsweise inmitten sämtlicher Hochhäuser der Frankfurter Skyline. Weil das Haus selbst ziemlich hochgeschossig gebaut war, fühlte man sich dort den dunkel spiegelnden Türmen recht nah—was möglicherweise auch an der objektophilen Grundstimmung des Abends lag. Der Thermomix, das Gerät hatte den ersten Teil des Abends doch ziemlich dominiert, weil einige seiner Verrichtungen doch erheblichen Lärm produzierten, war, wie viele Domestiken, beim geselligen Teil unter dem Nachthimmel nicht erwünscht und hatte in seiner Sphäre auf dem Tisch zu verharren; schweigend, wie bloss Geräte das nach getaner Arbeit fertigbringen, ohne das man deswegen ein schlechtes Gewissen bekommt oder sich gar Sorgen machen müsste.

Wenn der Thermomix aber aus gefrorenen Heidelbeeren und Schlagsahne eine Eiskreme kuttert, klingt das exakt so, wie eine Fahrt bei offenem Fenster durch den Tunnel ins Engadin an Bord der Räthischen Bahn. Bloss hat man den Lärm dann in der eigenen Küche und wenn der Mixer aufhört damit, ist man nicht im Engadin. Dafür hat man dann einen Krug voller Heidelbeereis. Es schmeckt gar nicht mal verkehrt.

30.8.2019

Mein Zug fuhr in Frankfurt ein auf Gleis 7, dessen historische Bedeutung mir erst gen Ende bewusst wurde: Dort hielten sich einige Menschen in Andacht auf. Zumindest lasen sie andächtig die Kondolenzschreiben, die an einem mobilen Zaunelement befestigt waren. So lange war ich also nicht mehr hier gewesen; seit dem Tag, an dem am Morgen der Hubschrauber laut und langsam über dem Viertel stand und kreiste. Nach jenem Wochenende, das mit dem ersten richtig heissen Abend hier in Deutschland für mich begonnen hatte.

Am Fuss des Zaunelementes mit den Briefen liegen aufgehäuft die unterschiedlichsten Stofftiere, bestimmt mehr als fünfzig und daneben stehen, als eigene Kategorie des Totems, eine Versammlung von Gipsfiguren, die nur teils figürlich geformt sind (keine Ahnung, woher man die kriegt, ich habe sie zu or noch nie in einem Laden hier entdeckt). Dazwischen die roten Grablichter. Was macht man da als Deutsche Bahn? Giesst man den Altar dann irgendwann in Kunstharz oder Bronze, beziehungsweise: wie entscheidet man, wann die Trauer betrauert ist und ihre Gegenstände abgeräumt werden können. Wem gehören die jetzt überhaupt? Schwierig zu entscheiden zudem, wenn Trauernde und Betrauerter in keiner persönlichen Beziehung zueinander standen, sondern in einer sozialen. Richtlinien wird es da hoffentlich keine geben.

Noch in der Dunkelheit wache ich auf, weil im Haus gegenüber jemand laut niest. In regelmässigen Abständen, mindestens zwanzigmal hintereinander. Es klingt wie ein Gerät. Und für mich wie das Echo auf die kleine Tochter einer chinesischen Familie, gestern im beinahe leeren Grossraumabteil, die weinte, wie vielleicht alle kleinen Mädchen in China weinen, aber mir war das fremd: Mit langen Pausen dazwischen stiess die immer wieder einen Klageton aus. Bloss ein Ton, ein Lautwert. Dann war sie wieder still. Die Eltern redeten wechselseitig auf sie ein, das vermochte aber anscheinend nichts zu verändern an der Gefühlslage des Kindes. Der Rhythmus seiner Lautausstossung blieb sich exakt gleich. Das ging so von Schlüchtern bis Hauptbahnhof.

29.8.2019

Soso, die Milch ist also sauer geworden in ihrem Kühlschrank über Nacht, obwohl die versprochenen Nachtgewitter ausgeblieben waren? Ich nahm es heiter, als Zeichen dafür, dass sie trotzdem umher-, dass sie an uns (der Milch und mir) vorübergegangen waren, bloss halt ohne sich zu offenbaren. Sozusagen im Schleier.

In der Los Angeles Times wird berichtet, dass Kentucky Fried Chicken jetzt in einem Vorort von Atlanta das Restaurantgebäude von Rot auf Grün haben umlackieren lassen. Auch die Behälter sind jetzt mit einem grünen Farbstreifen verziert und der Colonel sagt «it’s still finger lickin’ good»—noch immer, weil die dort auf dem Testmarkt jetzt hühnerfleischfreie Chicken-Nuggets und Chicken-Wings verkaufen (aus Sojaprotein). Bestechend das Argument im Text: It’s hard to argue that actual chicken nuggets look and taste like chicken. Springy, meat-like, coated in crunch, yes. Apart from that, the bar for replicating the nugget is low.

Right on. Ich frage mich, ob sich KFC dann in the long run umbenennen wird, oder ob sich im long run der künftigen Menschheitsgeschichte der Begriff vom Huhn wird wandeln. Denkbar sind als Zwischenstufe tatsächlich Hybridformen, wie sie angeblich von der (ebenfalls US-amerikanischen) Firma Alternative Proteins entwickelt werden: dort vermehrt man die Zellen des Hühnergewebes im Labor und mischt diese dann unter die Nuggetmasse aus Mungbohnenprotein. Der Hintergrund ist, dass in den pflanzlichen Nuggets zuwenig Omega-3-Fettsäuren enthalten sind. Der Gehalt wird durch die Vermischung mit dem gezüchteten Hühnergewebe angehoben. Es geht aber zudem auch um den Geschmack des nicht nur sogenannten Produktes. Amerikaner liefern ja immer die besten Zitate ab, so auch hier der Leiter der Produktentwicklung: «Because the cells are so clean, it has more of a chicken flavor than you’d anticipate. Super clean and more forward in umami chicken depth.»

Seltsam, dass man in sich einen ausgeprägten Sinn für Trennschärfe hat bei bestimmten Dingen. Ging mir neulich schon so bei der Nachricht von den Mischwesen aus Mensch und Schwein. Vermutlich reine Gewöhnungssache. 1975 jedenfalls schrieb Peter Fischer noch im Vorwort seines Kochbuches «Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Demokratie ist notwendig die fortschreitende Kaputtmachung des menschlichen Lebens in allen seinen Bereichen verbunden. Die Zerstörung der Psyche, die Zerstörung des Individuums ist enorm. Das schlägt natürlich auf den Magen.» 

Das Buch heisst «Schlaraffenland, nimms in die Hand!» Aber damit genug der Theorie. Ab morgen geht es um Praxis.

28.8.2019

Am Abend machte ich mich auf zu einer Verabredung in Wedding. Dem Gleis entlang sah ich dort aufgetürmt die Quälbewölkung. Von oben her wie rosa angestrahlt, Marshmallowfarbend. Nichts für mich. Doch, oh Wunder, dort herrschte dann ein ganz anderes Klima. Ein frisches Lüftle wehte mir entgegen und insgesamt kam mir nun ausgerechnet die Gegend um den sogenannten Gesundbrunnen tatsächlich wie eine der letzten noch verbliebenen vor, in der es in Berlin zum Aushalten war. Zwar gab es erste Anzeichen für Gentrifizierung, aber die verschwieg ich pietätvoll vor meinen Gastgeberinnen.

In deren Wohnung stand die Türe zum Balkon offen. Der Baum im Hinterhof hing voller Kastanien, und ein nacktes—wieso eigentlich splitter- bei soetwas Biegsamem wie dem menschlichen Körper?)—sprang auf dem Flokati herum, der lange, weisse Haare hatte. Eigentlich müsste man in der Wohnung dieser beiden Frauen mit dem nackten Kind bloss noch eine Gitarre in die Ecke stellen und eine Hängematte aufhängen; und Makramee fehlte auch. Noch.

Yotam Ottolenghi hat, das ist offensichtlich, Jamie Oliver verdrängt, beziehungsweise wird von Männern weiterhin noch nach Oliver gekocht, aber Frauen bevorzugen Ottolenghi, dessen Markename noch vor wenigen Jahren derart unbekannt gewesen, dass die Buchhändler dachten, der hiesse mit Vornamen so wie Waalkes. Und nur wenige Frauen kochen heute noch aus der Hüfte (oder dem Gedächtnis), deshalb werden die Rezepte befolgt, was dann bei Ottolenghi die Anschaffung einer Dealerwaage unabdingbar macht, weil er, auch wenn es bloss um Basilikum geht, verlangt, dass zehn Gramm davon in den Salat gehören, sonst schmeckt er nicht «wie im Restaurant».

Genau so schmeckte er aber, also Chefmässig. Und Anne erzählte, dass Alban Nikolai Herbst jetzt als Hochzeitsredenschreiber arbeitet für eine international tätige Wedding plannerin. Mehr noch, er halte dort diese Reden auch, trägt dabei aufwändige Kostüme und wird teilweise auch als Zeremonienmeister der Traufeiern eingesetzt. Konnte ich nicht glauben, aber wie es heute so ist, konnte es Anne mir glasklar beweisen. Sogar einen eigenen Instagramkanal hat er. Die Beweise sprechen für sich. Ich war extrem neidisch. Mit Sicherheit verdiente ANH damit extreme Mengen Geld (und vor meinem angeblich inneren Auge erschien meine absolute Lieblingsdenkblase von Erika Fuchs: In einem Bulldozer durch Geldscheingebirge manövrierend denkt Donald «Millionenwerte stehen auf dem Spiel! Wenn ich das Geld nicht dauernd wende, kann es leicht verschimmeln.»—Ob ich das noch erleben würde?) Zum Glück kam da das nackte Kind herein und bat um einen Tomatenschnitz. Ein Comic relief wie aus dem Bilderbuch.

Zurück in meinem Schwitzkasten kam ich am Schaufenster eines Bestatters vorbei. Der hatte in seinem Schaufenster ein kurioses Stillleben aufgebaut: eine Geige lag im Geigenkasten wie in ihrem Sarg. Über einer danebenstehenden Topfpflanze hing ein gerahmtes Schild, das hatte eine Wolke aus Noten und eine gezeichnete Klarinette und in Frakturbuchstaben stand dazu Spiel mir das Lied vom Tod.

Beerdigungsredner? Nur über meine Punktpunktpunkt

27. 8. 2019

Auf der Suche nach Heiterkeit. Die scheint mir nicht verlorengegangen, sondern erstickt in der Dämpfigkeit der Nächte. In der Zeitung lese ich den Begriff von der «Entwortung» (in einem offenen Brief der Mitglieder der Akademie der Darstellenden Künste an die Intendanz des Hessischen Rundfunks). Ungewöhnlicher Ausdruck—gibt es den überhaupt? (Es ist zu stickig, um zu googeln; falls nicht: Der Begriff vom Googeln hat, entgegen meiner Erwartung problemlos Eingang gefunden in die Normsprache. Wer etwas im Internet nachschaut, will mehr sagen als das Blosse; warum nicht gleich «auf seinem Rechner im Netz»!  Weiterhin gehe ich nicht davon aus, dass Entworten sich durchsetzen lassen wird. Selbst dann nicht, falls sich, wie ebenfalls von mir erwartet, die Entwortung an sich durchsetzen wird. Was den HR2 anbetrifft, so hiess es ja von deren Seite aus, es ginge um eine Verbesserung der Snackability. Kurioserweise klingt das zwar widerwärtigst, leuchtet aber voll ein. Hat vermutlich mit meinem Menschenbild zu tun.)

Auch Barbershopquartettgesänge, ansonsten fachen die bei mir geradezu Heiterkeitsstürme an, bringen es heute nicht. An allen anderen Tagen lache ich spätestens beim Refrain von I‘m Forever Blowing Bubbles. Mir fielen dann aber diese herrlichen Gesänge ein von kleinen Männerchören, die in den alten englischen Kostümfilmen diese pseudo-mittelalterlichen Acapella-Stücklein geträllert haben. Keine Ahnung, wie man die nennt. In Kraftanstrengung gab ich bei Google in das Suchfeld ein «period drama quartet singing». Der angebliche Volltreffer war ein Video mit dem Titel «My Menstrual Cup Popped Out At Work» aus der Serie Period Dramas.

Let‘s call it a day.

26.8.2019

Abends dann ein Gewitter, malerisch mit Donner und rauschendem Regen im Dunkeln. Leider wachte ich nach wenigen Stunden auf und konnte nicht mehr in den Schlaf finden. Weil es so heiss und stickig geworden war. Der Regen hatte nicht erfrischend gewirkt, sondern dämpfend. Schlaflos bis zum Morgen, das hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Ist ja grauenvoll. Man denkt leere, ziellose Gedanken. Dementsprechend entkräftet und mutistisch fühle ich mich heute. Zu nichts zu gebrauchen. Meine Kunstlehrerin schreibt, ob ich mich an eine Erzählung mit dem Titel «Die Beatles auf Helgoland» erinnern könnte, die ich ihr im Abitursjahr geschenkt hatte. Ich kann mich nicht erinnern. Sie hatte sie wohl lange aufbewahrt, dann neulich erst wieder gesucht und bis dato nicht gefunden.

25.8.2019

Was aber soll diese andere Natur von Gedanken sein; woher stammen die? Bei mir: aus der Natur. Ich gehe dann nicht bloss für gewöhnlich, sondern: immer, stets vor die Tür. Ich weide mich, mit den Augen bloss, am Grünen. Auch Menschen, die dort in dem Grünen umhergehen und sonstwas machen, zählen für mich zur Natur.

Live von Long Island meldet sich Martin Amis, der heute 70 Jahre alt geworden ist. Er sagt, die Familie ist das Zentrum des Lebens. Ausserdem findet er: autobiographisches Schreiben engt ein.

Wo? Natürlich auf HR2. Der Kultursender, der in den vergangenen Tagen töter gesagt wurde als tot. Gestern schrieb Jürgen Kaube, abschliessend gemeint, wie und dass. Und trotzdem mischt sich bei all dem Widerstand gegen die Abwicklung bei mir ein Gefühl ein, dass es sich insgesamt nicht aufhalten lassen wird. Dass es, trotz alledem, passiert. Und ich erinnerte mein Zusammensitzen mit dem Verleger erst neulich, immerhin «Verleger des Jahres», wir hatten Rhabarberschorlen bestellt, und er sagte «Es ist einfach nicht mehr sexy, Bücher zu verlegen, Bücher zu schreiben. Aber es bleibt uns nichts anderes, als weiterhin gute Bücher zu machen.»

Es gibt ein Gartenrestaurant, es heisst Kastanie, dort gehe ich dann meistens hin; gute Auswahl an Zeitschriften, gutes Bier, der Kaffee ist auch nicht zu verachten: ich sitze dort in einem gut ausgeglichenen Verhältnis von Sonnenlicht und Schatten. Der Kellner, er bedient allerdings nur von Mittwoch bis Freitags, stammt aus Australien. Ich weiss nicht, ob der Dreamcatcher, der am untersten Ast der namensgebenden Kastanie hängt, tja: ob der von ihm, dem Kellner dorthin gehängt wurde. Jedenfalls handelt es sich dabei um den traurigsten Traumfänger, den ich je geschaut: Wie ein Kleiderbügel, überzogen mit Wolle in den folgenden drei Farben: Vanille, Mais, Wolkenblau.

Dort, neben dem Stamm, schaute ich auf ein Mädchen, das exakt so ausschaute, wie ich früher. Sogar die Wimpern, der Pony waren gleich. Es sass dort mit seinem Vater, der andauernd mit einem Bedienstift auf seinem Telefon herummachen wollte. Der Kellner der Kastanie hat oft Probleme, die von ihm servierten Gerichte beim Namen zu nennen. Dem Gast wird es dann so erscheinen, als erkennte er sie nicht einmal in ihrer elementarsten Form wieder, wenn er, beispielsweise, sagt «So, hier die Zipfel, etwas Brot, und—ähm—der——Fränkische? Wurschtsalat.»

In der Kastanie esse ich freilich nichts. Mein Heimweg führt mich durch den Schlossgarten. Dort gehe ich mit meinem Messer durch die Reihen, man kennt mich. Ich bin vermutlich einer der wenigen, der sämtliche Kübelpflanzen, die in der warmen Zeit aus der Orangerie ins Freie gerollt werden, kennt. Daheim gibt es dann Linsen und Spätzle. Aber halt auch einen Salat aus Andenhorn, Meldenblatt, Brautmyrte und Tagetes.

Die eine Kraft, Schwerkraft, hilft mir in den Sitz vor der Kastanie. Die andere, sie ist der Physik bislang unbekannt, ist ebenso mächtig. Sie führt mich heim; zeugt den dringenden Wunsch, etwas zu schreiben.

24.8.2019

Wobei Kempowski ja vor allem Ferngeschaut haben will, um «auf andere Gedanken zu kommen». Und um das noch zu forcieren, hat er wohl gezappt .Vermutlich funktioniert aus diesem Grund das sogenannte Digital storytelling nicht, zumindestens bei mir nicht; das war doch kurz mal die ganz grosse Hoffnung im Druckgeschäft nach der CD-ROM: dass man mit Stücken, in denen sowohl gescrollt und gelesen, geklickt und abgespielt werden konnte (Audio- und Videoformate), Leser hält und Werbekunden gewinnt. Mich bringt der Wechsel des Mediums innerhalb einer Erzählung sofort durcheinander, oder wie es im heimatlichen Lingo heisst: «drauss»—jedenfalls auf andere Gedanken, als sie die Redaktion gerne provoziert hätte.

Sasha Frere Jones hat seinen Newsletter ja häufig so aufgebaut, dass sein Text unterbrochen wird von Videobeispielen. Ich schaffe das kaum bis zum Ende, es erschöpft mich, egal wie gut er schreibt. Seine Texte früher im New Yorker  habe ich immer bis zum Ende gelesen. Nur neulich, da hatte er mich am Haken, da ging es um seine Kanonisierung des Liedes «Jump» von Van Halen, das ich, wie wahrscheinlich viele, als gitarrenlastiges Lied in Erinnerung behalten habe. Ist es aber gar nicht, wie SFJ anhand eines frühen Live-Videos beweist, bei dem Eddie Van Halen, der Jahrhundertgitarrist, angestrahlt mit Gitarre über den Rücken gehängt, hinter einem Synthesizer zu sehen ist. Denn Jump ist synthesizerlastig. Und ausserdem, so fing bei SFJ das Erinnern an, wohl tatsächlich von einem Stück von Prince beeinflusst. Am Schluss seiner Ausführungen hatte der Newsletter dann kommentarlos den Film, der Tom Petty und Prince bei einem grösseren Anlass zeigt, auf dem sie «While My Guitar Gently Weeps» aufführen. Und man schaut sich das fasziniert an, denkt aber unweigerlich Fentanyl.

23.8.2019

Friederike weist auf einen alten Fernsehfilm hin, den ich mir auf Youtube anschauen könnte: gezeigt wird Walter Kempowski, wie er an einem Tag im Juni 1997 den ganzen Tag lang fernschaut. Dazu lagert er, kurioserweise mit einer Fliegenklatsche bewaffnet, auf einem Ledersofa, einer veritablen Couch, und mit der anderen Hand drückt er die Tasten seiner Fernbedienung. Er agiert als Video-Jockey, der durch kreatives Umschalten der, das wird im Interview erwähnt, 37 Fernsehkanäle, die im Haus Kreienhoop ankommen, einen Stream produziert. Das Aufzeichnungssystem besteht aus einem Stereomikrofon, das direkt vor dem Gerät aufgebaut wurde. Interessant ist das vorzeitliche Verfahren des Zeitstempelns: Alle Stunde tritt aus dem Nebenraum eine der Assistentinnen von Kempowski heran, beugt sich grusslos zu dem Mikrophon herunter und spricht die aktuelle Uhrzeit auf das Band. Diese Assistentinnen, vielleicht gab es auch männliche, in der Zeitung schrieb Patrick Bahners im Dezember dieses Jahres, es wären elf Assistenten mit dem Projekt «Bloomsday» beschäftigt worden, werden dann die Bänder abgetippt haben. Die editorische, beziehungsweise kompositorische Arbeit hatte Walter Kempowski, sauren Sprudel trinkend und aus einer Traufschale Bonbons schöpfend, ja längst mit dem von ihm so genannten zappen erledigt.

Bahners übrigens bezeichnet das auf diese Weise entstandene Buch als unlesbar. Ich habe den Eindruck, dass man, dass auch Bahners damals noch bildschirmfeindlicher gesinnt war als heute, wo er stündlich zum Twitterfon greift. Damals, im Winter 1997 schrieb er «Wer aber außer Frührentnern und Schriftstellern kann es sich leisten, den ganzen Tag in die Röhre zu gucken?»

Kempowski soll ja früh schon mit Computern experimentiert und gearbeitet haben. Das erste Gerät, das im Haus Kreienhoop zum Einsatz kam, war von Olivetti. Den grossen Durchbruch ins Glaszeitalter hat er leider nicht mehr erlebt. Wie auch Arno Schmidt nicht, dem es aus ähnlichen Gründen sehr gut gefallen hätte im Internet. In den Notizen zu «Alkor» schreibt Walter Kempowski im Jahr 1989 «Ach wie schade, daß man gedruckten Texten nicht Musik unterlegen kann. Die Sache mit der Schallplatte hinten drin, ist keine Lösung. Kommt mir die Idee, den Bändern auch Fotos beizugeben, Musik, Fotos und Filme. In Bücher hineingehen wie in einen Irrgarten.»

Zu hier und heute: Die Wespen kommen. Luftdruck: 1016 Hektopascal

21.8.2019

Wenn es nicht so irrsinnig langweilig wäre, würde ich jetzt doch ganz gerne über das Schreiben an sich— Das war ja neulich «bei, oder: an, auf?» dem Abend von Claudius interessant: Ich wollte dort natürlich mit den Jüngeren reden; was die in meinem Alter sich befindlichen zu sagen hatten, kannte ich ja eh (es gab tatsächlich eine akustische Welle, die lief über alle Köpfe hinweg bei der Erwähnung des Wortes «Althen»)…

Ja, aber, was soll ich sagen—schreiben immerhin: die Kaufleute haben doch ganze Arbeit geleistet. Wer heute noch jung ist, und schreibt, der redet von den Schwierigkeiten, sein Schreiben zu vermarkten; von den eigenen Schwierigkeiten eventuell, die sein Geschriebenes hervorrruft, bei der Vermarktung des Grossen und Ganzen, in das er sich eingebettet empfindet, oder zumindest: sieht.

Was nicht ging, was ich mir wünsche, sind Gespräche über die wachsende Unmöglichkeit, eine Schwierigkeit, Text zu produzieren, während man sozusagen beschossen wird mit Bildern, mit vorläufigen Meldungen, mit Vagestem. Selbst in der Zeitung! Die ja, leider, auch dabei mitmacht, weil wohl Kaufleute empfehlen, diese Ecke schwarz anzumalen. So gab es vorgestern erst ein grosses Foto und darunter stand eine Zeile, die als Meldung gedacht war «Ein Jet im Kornfeld». Aber dieses fehlgelandete Passagierflugzeug stand tatsächlich in einem Maisfeld. Als weitgereister, polyglotter (und Corn Flakes essender) Leser versteht man das irgendwie, das geht schon: Corn equals Mais. Und trotzdem.

Ich würde da gerne noch einmal, wie es heisst: zurückkommen auf meine ursprünglich geäusserte Idee zu einer Zeitschrift. Monatstitel, eventuell auch Quartalsschrift. Titel jedenfalls «Texte zum Text».

20.8.2019

Komisch eigentlich: plötzlich sitzt so eine dieser Wanzen bei mir auf dem Fussboden—die waren doch im letzten Sommer die Plage in Frankfurt. Und ich, ich konnte immer behaupten: Bei uns in Berlin gibt es die aber nicht. Als ich die jetzt heute furchtlos anpackte, um sie aus dem dritten Stock auf die Terrasse des Kette-Rauchenden-Kehlkopfmikrofon-Lord-Vaders herunter-zu-schmeissen, hinterliess dieses Insekt an meinen Fingerspitzen doch seinen eigenen Geruch—um es mit Mark Murphy zu sagen: Out of this World.

Dämlich auch: dieses Buch von Evelyn Waugh «Scoop»: also wenn das einer der bedeutendsten Romane der britischen et cetera, et cetera, sein soll—dann gut nacht um sechse, wie es in meiner Provinz so schön heisst. Als ich in Addis Abeba einst in das älteste Hotel des Landes eincheckte für ein Jahr, konnte man sich dort kaum zurückhalten, mir an jedem neuen Morgen zu erklären, dass nun in genau diesem Zimmer (Zimmer Nummer 102, für Amharic-Freaks: Meto Hulet),  in dem ich nun wohnte, vor ein paar Jahren erst (es waren deren 80) «dieser andere Schriftsteller» (Waugh) gewohnt habe. Seinen Namen hatten sie freilich vergessen. Es gab ja auch keine Buchläden in Addis, der Hauptstadt Äthiopiens. Die Strassenhändler verkauften «Atlas Shrugged», und die Lebenserinnerungen von Barack Obama.

Wobei es dann am Ende doch eine gute Szene gibt in Scoop, da ist der Held heimgekehrt aus dem fiktiven Land und isst erstmals wieder unter Engländern: «Das Abendessen zog sich fast eine Stunde hin, doch nicht etwa wegen einer Überfülle oder gar Abwechslung an Gerichten. Es war ein ziemlich schlechtes Essen…» Und das aus dem Munde eines Briten. Er fährt weiter unten fort, mit «Im Laufe der Zeit hatte sich bei jedem Mitglied der Familie Botte ein persönlicher Essstil entwickelt; vor jedem Gedeck war ein kleiner Vorrat an Zutaten und Gewürzen aufgebaut, alle mit dem Namenszug ihres Besitzers versehen: Zwiebelsalz, Bombay-Fischpulver, Gürkchen, Knoblauch-Essig, Dijon-Senf, Erdnussbutter, Puderzucker, verschiedene Sorten von Keks (*die Übersetzung ist durchgängig nicht gut) von Bach und Turnbridge Wells, Parmesankäse und noch ein Dutzend anderer Töpfe und Flaschen und Blechdosen, die sich zwischen dem schweren Georgischen Silber lächerlich ausnahmen. Onkel Theodorhatte eine kleine Spiritusflamme und ein Rechaud, auf dem er sich eine Sauce zusammenbraute. Die Gerichte, wie sie von der Küche hereingeschickt wurden, waren eher Grundbestandteile, als die Küche selbst.»

Quirky, isn’t it. Da muss man doch gar nicht mal gross England-feindlich gesinnt sein, um das provinziell zu finden. Aber manchmal, im Grunde ziemlich oft, ist es ein Textfeld wie dieses hier, von der Grösse einer Visitenkarte, das ein wenig besuchter Autor bei mir hinterlässt.

Armutsessen gab‘s übrigens auch so ähnlich bei uns hier, in der BRD: Ich war mit meinen Grosseltern manchmal Zelten in Jesolo (Italien), da hat die Grossmutter eine von ihr sogenannte Pasta Asciutta angerührt, die bestand, aus heutiger Sicht erinnert, aus: Corned Beef, Tomatenmark, Zwiebeln, Salz und Pfeffer, wahrscheinlich Maggi und, freilich, Spaghetti. Schmeckte uns, Jahr für Jahr: hervorragend. Und ob jetzt Italienisch (in Italien), oder nicht original, das interessierte uns damals nicht.

19.8.2019

Am Nachmittag mit Buch im Park, auf der Suche nach einem Platz im Schatten. Schön warm, die Laune steigt, nachdem es gestern beinahe den ganzen Tag lang geregnet hatte. Wovon die App, die sonst doch alles weiss, nichts gewusst hatte. Der Luftdruck, bekanntlich vom stationären Barometer abgelesen, war erstmalig auf unter Tausend Hektopascal gefallen. Einer meiner Theorien nach, nämlich der traurigen Wissenschaft von meiner durch Schlechtwetter niedergedrückten Laune besagt, dass ich mich speziell beim Blick aus dem Fenster auf ein unablässig regnendes Draussenbild an meine Jahre als Kind erinnert sehe, wenn ich eigentlich etwas anderes mir vorgenommen hatte, etwas draussen, an der frischen Luft, aber dann fing es zu regnen an und egal wie intensiv ich aus dem Fenster starrte, das Regnen liess sich nicht wegmagnetisieren, es hörte einfach nicht auf.

So ähnlich. Ausserdem wird es jetzt ja an beinahe jedem Tag noch früher dunkel. Gestern brauchte ich um kurz nach acht schon künstliches Licht. Meine Überlegung, dass ich mir für die kalte Jahreszeit die Beschäftigung mit Bundesligaspielen antrainieren könnte, musste ich nach wenigen Anläufen verwerfen. Ich habe es in 42 Jahren nicht geschafft, mich für Fussball zu interessieren. Es wird einfach nichts mehr. Aber Frankfurt besiegt Hoffenheim 1:0 und, etwas closer to home: das Eichhörnchen die Tauben. Jetzt macht es manchmal Geräusche bei der Arbeit. Wenn es aufwippend in einem Zweig gelandet ist. Ein gutturales Zwitschern, ein Knacken, ganz allein vor sich. Bestimmt ist es schwanger.

Im Feuilleton stand heute in der Kritik eines Hörbuchs zum Thema Alkohol der wahre Satz, dass es für Heroin im Grunde keine öffentliche Genusskultur gibt (verglichen mit der für Bier). Seltsamerweise empfinde ich Heroin vor allem als Schlechtwetterdroge. Jedenfalls nicht als sommerlich. Bier hingegen als jahresrund.

Rainald Goetz, am 31.10.1998: «Im Grunde geht es um Heiterkeit». Kurz darauf stirbt Niklas Luhmann und das Dramolett mit dem Matratzenkauf nimmt, wie es heisst: seinen Lauf. «Sie reisst das Plastik auf, und ich vertiefe mich in den Neugeruch der Latexmatratze. Leider bin ich kein Gummifetischist.»

18.8.2019

Die Tauben sind zurück. Nachdem ich aus der Verzweiflung kurz der wahnhaften Idee verfallen war, das Eichhörnchen könnte das Nest allein zu dem Zweck renoviert haben, um die Taube anzulocken mit dem Hintergedanken, sie ihrer Eier zu berauben; und der damit einschiessenden, noch wilderen Fantasie, das Eichhörnchen konspiriere mit der Krähe zu diesem Zweck; die beiden beabsichtigten mit der Beute halbe-halbe zu machen, gab ich es vorläufig ganz auf und mich selbst anheim: dem traurigen Naturtheater. Wie denn überhaupt konspirieren—gestisch? Pantomimisch, animalisch-telepathisch? Und wozu brauchte ein Eichhörnchen Hintergedanken? Seine Handlungen, wenn nicht gar die Wesenshaftigkeit seiner Erscheinung müsste der Taube doch hinlänglich schleierhaft sein. Sozusagen unbegreiflich. Aber wie es auf der (aus dem Indischen übersetzten) Anleitung meines Tees so richtig heisst «Boil the water fully, But do not Overboil».

Die London Review of Books hat einen interessanten Text, der an die Zeit erinnert, als London noch die grösste Stadt der Welt war: Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten dort wohl noch viel mehr Menschen als in New York City, und selbst Tokio war damals um 5 Millionen Einwohner zahlenmässig unterlegen. Ein Buch von Brenda Assael beschreibt die erste Blüte einer Restaurantkultur in dem London dieser Ära, als allabendlich Millionen die Gasthäuser füllten, die, man glaubt es kaum, mehrheitlich von Deutschen betrieben wurden. Bevor diese Einwanderer die gastronomische Landschaft der Hauptstadt bereichert hatten, ernährte man sich dort angeblich zu einem überwiegenden Anteil von Koteletts (Hammel, Schwein, Lamm) und als Beilage gab es traditionell Porridge. Dann ändert sich die britische Esskultur zumindest in London für ein paar Jahrzehnte, aber dann beginnen die Vorbereitungen für den Ersten Weltkrieg, und die gastronomischen Wanderarbeiter verlassen die Insel. Dann Weltwirtschaftskrise, dann Zweiter Weltkrieg. Claudia Roden hat mir das einst erzählt, als ich sie für ein Interview in ihrem Haus in Golders Green besuchte: Wie das war, als sie in den fünfziger Jahren mit ihrer Familie auf der Flucht vor dem Sechstagekrieg in London angekommen war; wovon die Londoner sich da ernährt hatten (Spaghetti On Toast). Und sie war an die üppige und variantenreich zusammengestellte Kost des Mittleren Ostens gewohnt.

Dann gab es, auch befördert und betrieben durch Leute wie Claudia Roden (die ein Haus neben dem von George Michael hatte), aber halt auch eingebracht durch Tausende von Libanesen, Österreichern, Franzosen, Deutschen, Italienern, Indern, Arabern und Japanern und Taiwanesen und Vietnamesen und immer so weiter und immer so fort ein paar Jahrzehnte lang bis ins 21. Jahrhundert hinein eine mehr als anständige Esskultur nicht bloss in London, sondern sogar auf dem englischen Land.

17.8.2019

Grau und, für mein Empfinden: dräuend, dabei unerlöst blieb der Himmel gestern bis in meinen Nachmittag hinein. Er ragte. Was mich verdriesslich stimmte, vor allem weil ich mir dazu dachte: besser, du gewöhnst dich daran. Dazu kam, dass ich mir rasch ein Wissensgebiet aneignen sollte und dazu in amerikanischen Websites lesen musste. Es nervt derart brutal, wenn bei jeder Bewegung ein Banner hereinfährt und fragt, ob ich ein Abonnement abschliessen will. Oder zumindest den Newsletter abonnieren? Was ist das für ein Umgang mit Text? Ich weiss schon, aber es ist für mich ein deprimierender Einblick ins Denken, wenn man den Leuten, so sie nicht freiwillig zahlen wollen, absichtlich auf die Nerven geht. In dem Zusammenhang war ich freilich schon perforiert durch das Geschehen vor meinem Fenster. Vor einer Woche erst hatten zwei Tauben das von dem Eichhörnchen mühevoll ausgebaute Restnest in dem Baum dort in Beschlag genommen. Die eine fing dann auch umgehend zu brüten an. Was zu meiner schlechten Laune beitrug, denn das Nest ist für ein Eichhörnchen zwar leicht zu erreichen zwischen steil aufragenden Ästen in der Krone des Baumes versteckt, für einen plumpen und doch ziemlich grossen Vogel wie die Taube gibt es aber keine angemessene Einflugsschneise, weswegen die Ankunft des nicht brütenden Partners mit dem für Tauben typischen Rascheln begleitet wird. Sowieso sind sämtliche Geräusche von Tauben unschön. Ihr monotones Rufen klingt für meine Ohren so, als ob jemand eine Kuckucksuhr lose in Butterbrotpapier eingewickelt hält, um dem dämlichen Kuckucksruf der Apparatur zu zusätzlich scheppernder Resonanz zu verhelfen. Es hat etwas seelenloses. Zudem sind diese Tauben noch grau.

In derlei taubentrüben Gedanken versunken, wurde ich beim Rühren einer Suppe von einem anders raschelnden Flattern alarmiert. Und kam gerade noch rechtzeitig, um die Nebelkrähe zu bezeugen, die inmitten des Nestes stand, nicht hockte, und sich den Schnabel wischte, an dem noch Eierschleim klebte. Von der Taube war nichts zu sehen. Auch war der Kampf, bis auf das Flattern, ruflos abgelaufen. Spektakulär der Abflug der Krähe von der Raubstätte. Das Tier ist ja noch einmal doppelt so gross wie eine Taube, aber halt auch doppelt so stark. Sie bricht aus dem Geäst wie ein Hirsch; segelte in weitem Bogen davon.

Heute früh das Grau am Himmel. Noch zeichnungsärmer, fader, in sich verblasst über Nacht. Das Nest verwaist. Ich spürte ein minimal schlechtes Gewissen, weil mir die Krähe so vorkommen will wie mein Agent; als ob sich in ihrer Tat mein Wille manifestiert hätte. 

Dann ein wieder anderes Rascheln: das Eichhörnchen war zurück und begann mit dem Wiederaufbau des Nestes. 

Auf dem Küchentisch: Ein Gedicht von Goethe. Er schreibt (weder heftig, noch schwach): 

So sollst du, muntrer Greis,

Dich nicht betrüben,

Sind gleich die Haare weiss,

Doch wirst Du lieben.

16.8.2019

Der neue britische Hofdichter Simon Armitage, seit Mai im Amt, hat ein Auftragswerk über die Krebsforschung verfasst, das auf einer Tablette graviert unters Volk gebracht werden wird. Interessant, dass es dort noch immer einen Hofdichter gibt—was der wohl verdient? Ich lese, dass es sich um den für Dichter gar net mal schlechten Jahreslohn von 5750 Pfund handelt, dazu noch ein «Barrel» voll Sherry. Interessiert mich natürlich, wieviele Liter in so ein Barrel abgefüllt werden. Und schon befinde ich mich mitten in einer unübersichtlichen Tabelle, den es gibt nicht etwa ein Raummass namens Barrel, sondern sehr viele. Teilweise müsste ich, um auf die exakte für den britischen Nationaldichter abgefüllte Ration Sherry zu kommen in ein mir bis dato völlig unbekanntes «Pariser Kubikzoll» umrechnen. Selbst dann aber unterscheiden sich noch die Barrelmasse von Bier und Wein (vom Erdöl ganz zu schweigen). Sherry bleibt unerwähnt.

Der Luftdruck ist sachte gestiegen auf 1004 Hektopascal.

15.8.2019

Der Himmel fuhr seine Gefährte heraus: weiss und ausgreifend, an Bug und Rändern wolkig geraten, entglitten die Schiffe seiner grossen Hand.

Währenddessen kam es im Edeka «bei mir um die Ecke», zu einem spektakulären Zwischenfall, bei dem ein als Kunde getarnter Dieb festgenommen wurde vom Ladendetektiv, weil er, vor dem Getränkeregal stehend, möglicherweise aber auch schon im Bereich der Frischfleischtheke den Inhalt der kleinen Flasche (0,3 Liter) Gerolsteiner Mineralwasser (in der «Sommer Edition») ausgetrunken hatte, ohne diese offenbar bezahlen zu wollen, sondern obendrein auch noch diese von ihm geleerte Flasche in den hauseigenen Pfandautomaten einzuführen, um sich dann an der Kasse den Bon in bar erstatten zu lassen. Für alle, also vor allem für mich, die noch nie richtig begreifen konnten, wie der Betrug mit sogenannten Cum-Ex-Geschäften funktioniert: vom Prinzip her genau so.

Dass die überhaupt noch Ladendetektive haben! Aber vermutlich ist damit bald auch Schluss, denn eine Ära geht zu Ende und dieser, der letzte Edeka seiner Art in Berlin schliesst für sechs Wochen, weil er modernisiert werden soll. So steht es jedenfall auf den Plakaten. Bis dahin will ich mich noch ein bisschen sattsehen an den Metzgersfliesen und den Spiegeln über dem Angebot von «Obst». Sattriechen auch an dem anheimelnden Duft, dem Supermarktduft meiner Kindheit, dem unvergleichlichen Gemisch aus Banane und Schatten und Kühlaggregaten, Bodenreiniger und noch etwas anders Seifigem und ganz viel Karton.

Eine Wiedereröffnung wird es nicht geben. Der modernisierte wird ein anderer Edeka geworden sein. Nichts, das nicht schwönde, wie Rainald Goetz geschrieben hat (vor 20 Jahren). Am 24. August macht Markus das Schädels dicht. Vier Monate noch bis Weihnachten.

I want a Range Life, Honey.

14.8.2019

Im Schlaf geträumt, ich wäre Dichter. Ich sah mir selbst beim dichten zu. Das Gedicht, das dort entstand, gefiel mir gleich von Anfang an und ich fand, es wurde auch nicht schlechter. Nachdem ich die letzte Zeile aufgenommen hatte, beschloss ich aufzuwachen, um es zu notieren. Licht machte ich keines an, ich wollte danach weiterschlafen, schrieb im Dunkeln in möglichst weit voneinander abgesetzten Zeilen auf den Tisch. Danach legte ich mich wieder zu Bett.

Dieses Gedicht war auf mich zu gekommen auf jene Weise, die Tschaikowsky in einem Brief an Nadeshda von Meck beschreibt: «Die Erleuchtung ist ein Gast, der nicht immer auf den ersten Ruf erscheint. Arbeiten aber muss man immer, und ein richtiger, rechtschaffener Künstler ist gar nicht imstande, mit müssigen Händen dazusitzen unter dem Vorwand, er sei zum Schaffen eben nicht aufgelegt. Wartet man auf Stimmung und versucht nicht, ihr entgegenzugehen, so kann man leicht in Faulheit und Stumpfheit versinken.»

Wobei Wenzel Storch zum Beispiel, so geht die Legende, die Erleuchtung seiner Bildsprache während eines LSD-Rausches empfangen haben will. Was wiederum nur wenige wundern mag; am allerwenigsten jedoch diejenigen, die noch niemals LSD probiert haben. Stellt sich mir die Frage, ob eine drogeninduzierte Erleuchtung noch eine solche ist; also beispielsweise, wenn zwei im Drogenrausch sich als füreinander bestimmt erkennen: Ist das dann trotz des Rauschzustandes noch Erkenntnis? Oder sind all diese Begriffe wie Erkenntnis und Erleuchtung nur dann zulässig, wenn kein Bewusstseinsdoping vorgenommen wurde? Ist die Erkenntnis der Bestimmung doch bloss vermeintlich; wahre Liebe nur geträumt? Wobei gerade Verliebtheit selbst schon als Psychedelikum wirkt. Es demnach kaum jemals nüchterne Geister gegeben haben wird; beziehungsweise: wann—im Zwischendurch, dem Antichambre des Abklingens und Vorglühens? Gibt ja zahlreiche Künstler, die dazu geraten haben, dass man sich zur Konzeption eines Werkes durchaus unter Einfluss setzen könnte, allerdings bekäme das Werkstück dann erst in der Ausführung seinen entscheidenden Drall.

Als ich heute früh meine traumwandlerischen Zeilen entziffert hatte, fand ich das Ergebnis immerhin noch ordentlich:

Coolness ist ein schlimmes Wort

Die meisten jagt man damit fort

Mich nicht, mich kann man damit locken

Mit coolen Leuten zusammenhocken

Für mich so schön, fast wie Musik

Zum Hocken braucht es bloss noch Lieder

Die, wie es heisst, zur Verfügung stehen müssen

Dabei um uns schwebend,

Setzt Euch!

Lasst Euch nieder

13.8.2019

So waren schliesslich drei Tage ungenannt vergangen, dabei war so viel geschehen. Am Samstag hatte ich mich am frühen Abend aufgemacht, um, in meinem Sommeranzug, zu Fuss zum nahen Bahnhof am Stuttgarter Platze zu gehen, wo ich mit Friederike verabredet war. Das geriet für mich doch ziemlich überraschend zu einem Spiessrutenlaufen, da der akzeptierte Dresscode in der dorthin führenden Fussgängerzone anscheinend ein total anderer war. Das war mir vorher noch nie aufgefallen, konnte es ja auch kaum, da ich dort zwar viel und gern, dabei aber noch nie in einem hellen Anzug unterwegs gewesen war. Zwar zeigte man nicht mit Fingern auf mich, aber ich fühlte die Blicke in meinem Rücken und dann gab es da noch ein Paar, die über mich lachten (wahrscheinlich aber mit mir). Dabei waren die selbst für meinen Geschmack seltsam angezogen. Und das höchst. Sozusagen kostümiert. Kurioserweise, ich ordnete diese Eindrücke zunächst meiner durch den Spott der Passanten hervorgerufenen Verunsicherung zu, begegnete ich dann mehr und mehr dieser für meinen Geschmack kostümiert einhergehenden Menschen, die allesamt im besten Alter waren. Und so wie ich dem Bahnhofe entgegenstrebten. Dort, auf dem Bahngleis oben, wo ein schönes Lüftle Kühlung brachte, fand ich mich monothematisch von ihnen umstellt. Diese Menschen waren wie in einer Verfilmung der Loveparade durch Wenzel Storch in bunte Schlaghosen und Paisley-Wämse gezwängt. Die meisten von ihnen hielten Sonnenblumen in den Händen. Einfahrende S-Bahnen brachten, stadtauswärts führend, nur noch mehr von diesen Kostümierten heran. Ich googelte den Konzertplan der Waldbühne: dort trat an jenem Abend Dieter Thomas Kuhn auf; ein Landsmann, der, mitsamt seinem Publikum in die besten Jahre gekommen, einer anscheinend sehr grossen Anzahl von Bürgern die Chance zu einer kleinen Flucht aus dem Alltag hinein ins Glück anbietet. So vielleicht wie früher bloss Fasching und im Rest des Jahres das Programmkino, wenn The Rocky Horror Picture Show in einer Spätvorstellung lief.

Diese beiden Generalthemen, beste Jahre, also Zeit, und Kino, wurden dann auch am Rande wichtig im weiteren Verlauf unseres Abends, denn wir besuchten die Nachfeier des 60. Geburtstags von Claudius Seidl. Die fand in einem ehemaligen Frauengefängnis statt, das derzeit von den Architekten Grüntuch zu einem Hotel umgebaut wird, was ja in der architektonischen Sphäre auch eine Art Kostümierung bedeutet, denn die ausbruchssicheren Mauern des ursprünglichen Zweckbaus bleiben doch bestehen. Ob aber die Fenster dann bei Eröffnung des Hotels noch vergittert sein würden, das wird man schauen. Vor zehn Jahren habe ich in Oxford ein paar Tage in einem zum Hotel umgebauten Gefängnis geschlafen, das war vom Karmischen her völlig i.O. Ich schlief dort so, als ob ich mir keiner Schuld bewusst gewesen war. Dementsprechend, man erzählte sich, dass die Grüntuchs den Bau schon im Vorwege der Party durch einen spirituellen Heiler mit Räucherwerk hatten reinigen lassen, wurde es zu einer seidig hochschäumenden Party mit viel unverhofftem Wiedersehen—knapp vier Monate vor Weihnachten wage ich zu behaupten: Party of the Year!

Besonders schön für mich war die Rede von Christian Seidl, der daran erinnerte, dass es der ursprüngliche Berufswunsch seines Bruders gewesen war, Bischof zu sein. Das Bild sehe ich seitdem ständig vor mir; vor meinem geistlichen Auge. Dem heimlichen auch.

9.8.2019

Über Nacht, wie abgeworfen, stehen jetzt überall im Viertel die Leihfahrräder von einer noch einmal anderen Firma herum, die nennt sich «Donkey Republic». Was für Fahrräder gilt, dürfen Menschen noch lange nicht, das wurde mir klargemacht heute früh, als ich vor dem Café gegenüber sass; es heisst übrigens «Milchbubies», das ist ein bisschen belämmert, passt aber vom Lokalkolorit zu den Müllautos der BSR, die, im identischen Orangeton wie die Fahrräder von «Donkey Republic» lackiert, mit Luschtigo-Slogans beschriftet sind: Auf einem stand «Classicist», auf dem anderen «Tonnosaurus Rex». Der Betreiber des «Milchbubies», ein Türke, sah sich gezwungen, einen seiner Gäste zur Ordnung zu rufen, weil der sich, wie so ein herabgeworfenes Leihfahrrad, mitten auf den Bürgersteig plaziert hatte. «Die Müllfahrer filmen das und mailen die Clips ans Ordnungsamt. Die stellen mir dann einen Strafbescheid aus wegen einer begangenen Ordnungswidrigkeit.»

Der Gast rückte ein wie befohlen.

Wie es der im August 2012 verstorbene äthiopische Premierminister Meles Zenawie (Meles bedeutet Schnecke) einst nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft formuliert hatte: «Die Esel blöken, aber sie tragen die Last.»

8.8.2019

Karibische Wolkenformation am Himmel, Iles flottantes, nachdem es gestern den ganzen Tag über grau in grau geblieben war, und die Sonne, wie Lorenz Jäger das über Albrecht Dürers Melancholie-Bild schrieb: Als ein matt leuchtendes Gestirn erschienen war.

Gestern fiel mir deshalb ein, dass es nicht noch ewig so weiter gehen wird. Dass kein Verlass ist, auf die schönen Temperaturen. Ein Auto hielt, und der Fahrer «Alles gut!», fragte mich, wo hier die Jil-Sander-Strasse zu finden sei.

Gar nicht, sie ist doch noch gar nicht gestorben.
Der Mann war schwer tättowiert und hatte einen langen, rötlichen Bart.

Vermutlich war ich sensibilisiert durch den Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Die Strasse, die es hier wohl gibt (und das gleich zweimal in Berlin) heisst bloss Sander, ohne Jil.

Die Zeit hat im Feuilleton einen hoch interessanten Text über Katharina und Michael Rutschky, die wohl eine Art Sekte hier betrieben haben in Charlottenburg. Jetzt wird mir auch dieses Ding mit dem Holm-Friebe-Kult klar, woher er das hatte. Traf zufällig Helene wieder, fixte sie gleich damit an.

7.8.2019

Heute früh sass im Badezimmer ein Grashüpfer an der Wand (für ihn ist das normal, an einer Senkrechten zu ruhen). Wie kommt der da hin?  In den dritten Stock? Während ich duschte, zog er sich auf eine höher gelegene Stelle (noch immer in der von mir aus gesehen Senkrechten) zurück; womöglich ist er / sind die dazu auch noch wasserscheu.

Friederike hat ja einen Vorteil: Sie kann zu ihren Einträgen bei Bedarf noch Fotos veröffentlichen; wir* hatten uns einst—wieviele Jahre ist das «jetzt» her: 4 oder fünf?, darauf geeinigt, allein mit Schriftzeichen auskommen zu wollen. Und sind, kurioserweise (gleich was kam), dabei geblieben. 

So fragte ich mich gestern erst wieder: Wie könnte ich meine Texte noch bildlicher machen?

Da fiel mir glatt ein: Sound. Denn Friederike hat zwar Bilder, aber sie postet (noch) keine Klänge. Also gab ich, und zwar «einfach so» in das Eingabefeld bei Apple Music ein: «Cheri Lady». Ich kam, ehrlich gesagt (wie Dr. Dr. Rainer Erlinger sagen würde, meint niemand, der «ehrlich gesagt» sagt, etwas ehrlich), noch nicht einmal über das Eintippen des Kunstwortes «Cheri» hinaus, da zeigte mir der Browser des iPadPros schon 37 Versionen des grässlichen Liedes an.

Dieter Bohlen, man muss seinen Namen jetzt zumindest deswegen nennen, um auf russischen Websites erwähnt zu werden, hat es in der BRD binnen dreissig Jahren zu einer gar nicht mal erstaunlichen Berühmtheit gebracht. Denn so ist Deutschland ja wirklich: Wie Dieter Bohlen, wie Tegernsee und Sylt, wie Axel Springer, wie FC Bayern und, wenn es um die Zukunftsbegeisterung für das Jahr 2000 geht: wie Elektroroller. 

Um es Friederike, die ja immerhin zweitausend Jahre jünger ist als ich vom Geburtsdatum her, schwerer zu machen, hörte ich mir also sämtliche Versionen von Cheri, Cheri Lady (die Wiederholung scheint wichtig) kritisch an, um dabei unter anderem auch herauszufinden, warum ich eigentlich jeden Monat knapp zehn Euro an die High-Design-Firma Apple für Musikstreaming bezahle, bloss um dann in deren Hochglanz-Service zig angeblich unterschiedliche Versionen von Kompositionen von Dieter Bohlen zu finden.

Es handelt sich ja nicht um Interpretationen. Es gibt keine einzige Coverversion—vom Rapper Capital Bra abgesehen, der vermutlich von Ulla Popken gesponsert wird.

1. Die Originalversion, vom Album «Let’s Talk About Love», wurde noch vom Originalsänger der «Band», Thomas Anders, eingesungen. Damals, im Jahr 1985, war das mittlerweile stilprägende Computerprogramm «Autotune» nicht erfunden. Oder wie es der inzwischen leider verstorbene #Frank Schirrmacher ausgedrückt hätte: Es war das unerfundenste Programm. Plus: Es gab noch nicht einmal Internet.

2. Die «Special Version» aus dem darauffolgenden Jahr 1986, da schon mit Verweis auf die Plazierung in den Charts von «Formel Eins», zeigt auf dem Cover sowohl den Komponisten Bohlen, wie auch den Sänger Anders. Beide mit leuchtenden Zähnen, obwohl Photoshop™️ damals noch nicht erfunden war. Es handelt sich offenbar um klassische Retusche.

3. Noch im Vorjahr erschien eine «Remastered Version», die aber für mein Empfinden einzig im von Bohlen sogenannten «Intro» einen Dopplereffekt hat, bevor dann der «Bohlen-Akkord» (vgl. Tristan) erklingt. 

[Um hier den Hi-Fi-Freaks das Wort aus dem Munde zu nehmen: Ich höre MP3 über WiFi via eines Picknicklautsprechers von B&O.]

4. Bei der «New Version» aus dem Jahr 1989 immerhin, das ja historisch geworden ist, weil ich da mein Abitur, wie es heisst: ablegen durfte, scheint der Bohlen-Akkord in ein Arpeggio aufgelöst, das, für heutige Ohren verwirrend, auf Panflöten geblasen wird. Denen sei über den Flötenklang hinweg zugerufen, dass neben Richard Clayderman auch der Rumäne Gheorghe Zamphir die legendär gewordenen achtziger Jahre dominiert hat in den Charts (die damals noch «Hitparade» hiessen.) Für Wolfgang Herrndorf war es vermutlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, mit welchem Spiesser-Sound er seinen Text bestückt.

5. Im selben Jahr, dem der Niederschrift von «Tschick» jedenfalls, veröffentlicht Dieter Bohlen, da längst von der Bildzeitung «Bild» zum «Pop-Titan» aufs Schild gehoben, eine von ihm sogenannte «New Version», die, anstatt des anfänglichen Panflötenintros nichts Neues aufweisen kann ausser einem, nun ja: Geräusch. Das machten allerhand Musikproduzenten in dieser Dekade genau so, von daher ist Bohlen da schon wieder nichts vorzuwerfen.

6. Dass «bildungsfernen Schichten», ja: dass geistig Behinderten und anderswie sozial Benachteiligten nicht bloss in der BRD, sondern auf der ganzen Welt

 

*Waahr [https://de.m.wikipedia.org/wiki/Anne_Waak]

PS Interessanterweise unterscheidet sich die «Full Length Version» bei «Common People» von Pulp von der bekannt Gewordenen dadurch, dass dort ein ganzer Paragraph in der Strophe gestrichen ward; in der es, bekanntlich, um ein Leben in der Unterschicht ging. Da hat sich mittlerweile an den sogenannten Verhältnissen so einiges verändert, wie es sich plakativ beispielsweise an der folgenden Selbsteinschätzung («philosophy») einer Eisdiele herauslesen lässt: «We’re Ice & Vice, an experimental ice cream shop based in New York City. Handcrafting our ice cream, sorbet and frozen yogurt in small, customized batches, we push the boundaries of what frozen desserts can be. Always edgy and always ultra-premium, we serve up quality and vice with every scoop.»

6.8.2019

Auf der Wilmersdorfer Strasse stehen die Demonstranten vor einer demnächst abgewickelten Filiale von «Mc Geiz». Auf den Schildern steht: das Unternehmen werde kaputtgespart. 

Kurios, aber: wann fing das sogenannte Kaputtsparen an? War es Saturn, oder war es Media Markt, die den Slogan hatten «Geiz ist geil»? Ich erinnere heftige, moralisch grundierte Einlassungen im Feuilleton angesichts der Kampagne. Es ist schon so lange her, dass ich gar nicht mehr genau weiss: war das vor, oder war das schon nach der Treuhand? Dass jedermanns Portemonnaie schlagartig sich so dick anfühlte wie ein Sumo? 

Neulich brauchte ich Batterien. Ich war früh dran, der Media Markt hatte noch nicht geöffnet. Aber vor dem Rolltor hatten sich schon einige Männer versammelt. Wir warteten. Ich studierte die dort vor dem Portal ausgehängte Menükarte der Mitarbeiter in Uniform, die uns, den Kunden, bald schon, in wenigen Minuten zur Verfügung stehen würden. Irgendwie beinahe unangenehm, dass die alle Mike hiessen, Roy oder Sandy. Schlimm sind doch einzig die Ressentiments, die stimmen.

Als das Rolltor aufgezogen ward wie früher vielleicht eine Zugbrücke, stürmten die mit mir Wartenden den gleissend ausgeleuchteten Saal, um sich in Zahnarztterminsfrühe bei Speicherkartensparfragen beraten zu lassen, bei Kaffeekapselgraumarktsmarkenwünschen und möglichst flachen Flatscreens und kabellosen Ohrhörern und Handytarifen.

Es hat angefangen damit, dass Shopping zur Beruhigungsbeschäftigung wurde. Selbst dem Bürgermeister von New York City fiel am Tag nach dem Elften September, der bekanntlich ein zwölfter September war, bloss folgendes ein: «Take the day as an opportunity to go shopping, be with your children. Do things. Get out. Don’t feel—don’t feel locked in.»

Es gibt ja, obwohl ich mit Mode-Anekdoten sparen sollte, um literarischer zu wirken, auch noch die damit, mit dem historischen Ereignis verbundene Geschichte der Bulgarischen Bauernbluse: Zeitgleich, nämlich am 11. September, war in den Stores von Yves Saint Laurent, deren Damenlinie damals noch von Tom Ford entworfen wurde, eine schwarze, den bulgarischen Trachten nachgefühlte Bluse ausgeliefert worden. Das war an sich in der Tradition des Hauses keine Neuigkeit, sie war zu Lebzeiten von Yves Saint Laurent (der schliesslich 2008 in Umnachtung verstarb) immer wieder mal angeboten worden, aber die Kundschaft wuchs a) wie ahnungslos nach und b) wurden es, bedingt durch das Internet, auch immer mehr (Kunden). Am Vormittag jenes elften September des Jahres 2001 war es in Manhattan, laut Angestellten in YSL-Boutiquen wohl nachfragemässig so gewesen, dass, trotzdem in Downtown gerade beide Türme rauchten, Uptown die Telefone nicht still stehen wollten, weil diverse Kundinnen sich die besagte Bauernbluse reserviert sehen wollten. Fairerweise tatsächlich aber bloss am Vormittag.

5.8.2019

Meine Mutter berichtet mir am Telefon, dass mein Heimatdorf Heimerdingen jetzt tatsächlich vor allen anderen im Umkreis zum Testgebiet für «schnelles Internet» ausgewählt wurde. Schon Ende 2019 soll es soweit sein. Zusammen mit der Anbindung an das Verkehrsnetz von Stuttgart durch das sogenannte Bähnele, von dessen behaglicher Reisegeschwindigkeit durch Wiesen und Wälder ich mich neulich erst selbst überzeugen lassen durfte, und der Aussicht auf Internetverbindung gibt es eigentlich keinen Grund mehr, nicht in Heimerdingen zu wohnen. Ob das die Lesegewohnheiten meiner Eltern verändern wird, kann ich momentan nicht abschätzen. Auch nicht, ob eher meine Mutter oder doch mein Vater zum Internetjunkie werden wird. Einstweilen haben sie zwei Tageszeitungen abonniert. In der Süddeutschen steht heute im Feuilleton eine sehr erfreuliche, auch analytische Rezension des Bonn-Büchles. Die Freude schäumt und reist von Hörer zu Hörer, von Heimerdingen bis hierher nach Berlin. Ausserdem brauchen meine Eltern die abgelegten Zeitungen auch für die Heizperiode, um den Kamin anzufeuern.

4.8.2019

Ich nehme an, der Tick ist weit verbreitet, aber bei der Erwähnung historischer Persönlichkeiten muss ich geradezu nachrechnen, wie lange sie gelebt haben. Schon seit ich lesen kann geht das so und mittlerweile hat mein Ausrechenzwang sich von den Persönlichkeiten auf sämtliche Personen ausgedehnt: sobald ich auf einen Satz von Geburts- und Sterbedaten stosse, rechne ich anhand des willkürlichen Beispiels aus «wie lange mir noch bleibt». Im Mittel (Ernst Jünger als extreme Obergrenze angenommen) bleiben mir derzeit noch 25 Jahre Lebenszeit, die ich aus Darstellungsgründen auf 24 Jahre reduziere, dann steht mir ein schon zu zwei Dritteln gelebtes Leben sauber vor Augen. Daran schliesst sich für mich die Frage an nach der Erlebnisqualität im künftigen Drittel—mir geht es ja nicht um Länge, ich bin kein Statist, sondern um Tiefe. Im Sommer vor zwölf Jahren wurde das iPhone zum ersten Mal verkauft. Scheint unendlich viel länger her.

Die beiden Setzlinge, die ich aus den israelischen Samen gezogen habe, wachsen beunruhigend langsam, sie fordern mir Langmut ab und ich kann mir nicht vorstellen, wie daraus in bloss 50 Jahren diese blühenden Bäume am Rothschild Boulevard entstanden sein sollten.

Der Luftdruck liegt seit Tagen konstant bei 1005 Hektopascal.

2.8.2019

«Wohin ich sehe, Wechsel und Verfall.»

In der Zeit unterhalten sich der kulturpolitische Korrespondent der Redaktion Ijoma Mangold und der Redakteur im Feuilleton Lars Weisbrod über den neuen Werbespot für Porsche. Mich interessiert vor allem, wer von beiden das Band abgetippt hat.

Der Stern titelt «Atlantis der Nordsee».

Lese «Scoop». Spielt im England, das der Premier Johnson vorgeblich will.

1.8.2019

Die Japaner erlauben sich nicht allein das Züchten von Mischwesen aus Schweinen mit menschlichen Organen, sie haben auch (einige von ihnen) eine Prothese entwickelt, mit der es dem Menschen leichter fällt, sein Gleichgewicht zu halten. Es handelt sich um einen pneumatischen Schwanz. Er wird an der Rückseite des Trägers angeschnallt, ungefähr an der Stelle, wo die Menschen einmal tatsächlich ein Schwänzle hatten. Bei Männern wie Frauen zeugt bis heute ein kleines Fell an diesem Fleck von der Lücke, die von der Fortentwicklung gelassen wurde. Jetzt geht es in Japan dorthin zurück, zumindest partiell. Das Demonstrationsvideo für den künstlichen Schwanz, der unter dem Namen «The Arque» vermarktet wird, zeigt, dass man mit dem Schwanz besser die Treppen hochsteigen kann, wenn man sehr viele Amazon-Pakete zu tragen hat. Es geht halt voran. Ob scheinbar nach vorne oder anscheinend rückwärts ist eigentlich egal.
Getränke Hoffmann, immer der Inbegriff des Berliner Proletentums hat sich jetzt umbenannt und heisst anbiedernderweise «Mein Hoffi». Soll vermutlich an Späti erinnern.

Um die Ecke kommt eine Dame mit grosser Sonnenbrille und einer Frisur wie die bezaubernde Jeanny in Rot. Sie führt einen Afghanen an der Leine. Wegen solcher Stadtbilder bist Du einst hierher gezogen. Sie sind selten geworden.

31.7.2019

Morgens hatten sich im Salle de pas perdus Kameraleute am Kopf von Gleis Sieben geschart, um den Blumenstrausshaufen zu filmen und zu fotografieren. Im Zug selbst war die Klimaanlage segmentweise ausgefallen. Auf der Anzeigetafel ward das nicht angezeigt, dort werden Verspätungen angekündigt oder eine geänderte Reihung der Wagen. Im Sortiment dieser Nachrichtenschilder ist der Ausfall der Klimaanlage (und damit ein Ausfall des Angebots im Speisewagen) nicht vorgesehen. Noch immer nicht, wie ich als Vielfahrer anmerken will; schliesslich passiert es meinem Empfinden nach andauernd (die Zahlen kenne ich freilich nicht).

Der Ausfall des Kühlungssystems betraf auf dieser Fahrt einen weiteren strategisch wichtigen Punkt im Zuge: betroffen waren auch die dem Speisewagen unmittelbar anschliessenden Kleinkindabteile. Damit waren diese aufgrund der dort steigenden Temperatur unbenutzbar geworden. Die dort eingebuchten Eltern mit sehr jungen Kindern wurden auf die übrigen Abteile verteilt. Teilweise mussten schon Sitzende weichen, um zusammenhängende Sitzgruppen freizugeben für die Eltern mit Kind. Und somit stand dann plötzlich ein junger Mann vor mir, hinter ihm, beinahe vollständig durch seinen übertrieben breit trainierten Oberkörper verdeckt, versuchte sich seine Frau vor Scham zu verstecken. Ich war indes ganz woanders gewesen, hatte mich in einem Büchle festgelesen, in dem die Tradition der Frankfurter Würstchen, die ursprünglich Krönungswürstchen genannt wurden, erzählt wurde. Ganz interessant übrigens, denn diese vergleichsweise besonders delikaten Würstchen wurden einst tatsächlich während der Kaiserkrönungen draussen auf dem Römer an das Frankfurter Volk verschenkt, nachdem man sie in einem der auf dem Römer gebratenen Ochsen erwärmt hatte, der, man staune: mit diesen Krönungswürstchen gefüllt ward (man fühlt sich erinnert an das sogenannte Ägyptische Hochzeitsmahl). Von daher musste ich den vor mir Aufgebauten um eine Wiederholung seiner von ihm vorgebrachten Forderung bitten. Er wollte also auf meinem Platz sitzen, nachdem er aus genanntem Grund von seiner Bank vertrieben ward. Dies forderte er allerdings nicht ohne zuvor noch einmal von dem mit Erdbeeren in Gelee belegten Biskuitboden abzubeissen, den er mit beiden Händen vor sich hielt wie einen Wurstwecken. Mir fiel beim Zusammenräumen dazu der Gerüstbauer ein, den ich in der Frühe noch beobachtet hatte vom Balkon aus, und der beim Losschrauben der Schellen mit der Knarre einem am Telefon sich befindlichen Kollegen geraten hatte, ihn nicht mit vollem Munde anzusprechen «Ab 50 Gramm wird‘s undeutlich, gell?»

Eine Dame schräg gegenüber, sie las den neuen Ian McEwan, wies mich auf den freien Sitz neben ihr hin. Von daher verging der Rest der Fahrt wie von allein.

Kurz vor dem Südkreuz allerdings winkte der Muskelpeter den Zugchef zu sich. Er verlangte, dass der ihm auf der Fahrkarte mit Stempel bestätigte, dass die von ihm gebuchte Fahrt im Ruhewagen wegen der Kleinkinder nicht hatte stattfinden können wie geplant. Der Zugchef versuchte ihm geduldig zu erklären, dass menschliche Laute, wie Atmen, Husten und eben auch Kindergebrabbel nicht gegen das Konzept des Ruhewagens verstossen. Er demonstrierte das anhand eines just in diesem Moment losposaunenden Klingeltons eines anderen Fahrgastes: «Dagegen kann ich etwas unternehmen. Aber mit dem Übergang der Deutschen Bundesbahn zur Deutschen Bahn haben wir uns bewusst gegen Regeln entschieden und für Richtlinien.»

Sein Kunde aber beharrte auf seinem guten Recht, das ja, wie Dr. Dr. Rainer Erlinger einst ganz recht feststellte: Selten ein gutes Recht sein wird, wenn jemand behaupten will, es sei sein gutes Recht.

Der Zugchef, mittlerweile hatte der Reklamationsvorgang in spe das Interesse sämtlicher Umsitzenden einfangen können, fragte gutmütig «Sie wollen also wirklich, dass ich ihnen das bestätige, damit sie ihre zweimal 4 Euro 50 für die Platzreservierung zurückfordern können?»

Der Kunde bejahte das und fächerte ihm die Tickets hin.

Der Zugchef daraufhin, noch nicht einmal seufzend: «So, bitteschön. In Halle und in Erfurt sind sie beidesmal ausgestiegen, um auf dem Bahnsteig eine Zigarette zu rauchen. Die Zigarettenkippe haben sie beides Mal nicht in dem bereitgestellten Aschenbecher entsorgt, sondern auf die Gleise unter den Zug geworfen. Hier sind zwei ordnungsgemässe Zahlungsbefehle à 15 Euro wegen den von ihnen begangenen Ordnungswidrigkeiten gegen die Bahnhofsordnungen von Halle und Erfurt. Vielleicht können sie die dann gegenrechnen.»

Der Sitzende fiel in eine Duldungsstarre. Seine Frau flüsterte etwas unter ihrer Schlafbrille hervor. Der Bahnchef hatte ihm die Ehre zerfetzt. 

30.7.2019

Am Morgen stand ein Hubschrauber—blau, nicht giftgrün— tief am Himmel über den Häusern. Ich dachte an einen Banküberfall, so hatte ich es in verschiedenen Städten immer wieder erlebt: nach einem Banküberfall verfolgt die Polizei im Hubschrauber das Fluchtgefährt auf seinem Weg durch die Strassen. 

Ich griff zum Fernrohr, das ich eigentlich zur Beobachtung der obskuren Aktivitäten in der Nachbarschaft brauchte. Der Hubschrauber bewegte sich langsam und laut auf mich zu. Dann stand er lange über dem Verlagsgebäude. Später bewegte er sich in seiner Sphäre wieder auf die Innenstadt zu.

Ich kam auf dieses Erlebnis zurück, als ich mit Friederike später zur Markthalle unterwegs war, um Johannisbeeren für unser Rumtöpfle zu kaufen. Da es ihr freier Tag war, versprach sie mir, am nächsten Morgen jemanden aus dem Regionalressort zu befragen, ob es einen Banküberfall gegeben hatte.

Rings um die Markthalle war dann alles abgesperrt und auf der Hauptstrasse standen viele Mannschftswagen der Feuerwehr und liessen ihre Blaulichter blitzen. Ob das mit dem Hubschrauber zu tun hatte?

Vor der abgesperrten Markthalle stehend erfuhren wir via Twitter, dass der Hubschrauber des Attentäters vom Hauptbahnhof wegen den Luftraum gescannt hatte; die Feuerwehr wiederum war vergleichsweise harmloserweise nötig, weil es im Dachstuhl des Museums für Moderne Kunst brannte.

Die Zeit zwischen dem Erscheinen solcher seltener Zeichen und der Erkenntnis ist aufschlussreich—wie unschuldig man denkt, wie geordnet verlaufen deine Bahnen durch den Sand: Ein Banküberfall in Frankfurt. Sensorisch noch in der Ära von Aktenzeichen XY. Als Verbrecher noch vernünftig waren.

29.7.2019

Abends von Friederike ins Kino ausgeführt. Das haben wir, in beinahe vier Jahren, noch nie zusammen gemacht. Kurios. Neulich, kurz nach den Filmfestspielen von Cannes sprach ich mit Verena Lueken über das Phänomen, sie hatte einen Text in der Zeitung veröffentlicht mit dem Titel «Brauchen wir das Kino noch, und wenn ja: wozu?» An dem Abend erzählte sie mir, dass sie mittlerweile an der Universität vor Filmkritikern in spe spricht, deren letzte Kinobesuche häufig schon Monate zurückliegen. Im Kino also, das übrigens ausverkauft war, versuchte ich mich vor allem einzulassen auf die soziale Situation im Kinosaal. Friederike hatte mich schon vor Jahren und damit wie es ihre Art ist, weit vorbeugend darum gebeten, dass, sollten wir dann einmal zusammen ins Kino gehen, ich sie bitte weder ansprechen sollte in Bezug auf die Handlung, oder was die grossen Köpfe auf der Leinwand gesagt, noch was die Umsitzenden beträfe et cetera pp. Diese, an unserem ersten gemeinsamen Kinobesuch um uns plazierten, redeten für mein Gefühl unbotmässig laut noch während der Werbung und das auch ohne Unterlass. Wir schauten «Der Tod in Madrid» von Pedro Almòdovar, dessen Filme mir immer ausgezeichnet gefallen haben.

Frau Lueken, die den Film sehr gelobt hatte im Feuilleton, hatte mich auf besagtem Abend darauf hingewiesen, dass die angehenden Filmkritiker in ihrem Seminar wie alle anderen und jedermann sonst auch ihre Filme und Serien daheim anschauen, teilweise natürlich mit professioneller Technik, also mit Heim-Beamer an die Schlafzimmerwand projiziert. Das hat, wie ich feststellen zu meinen glaubte: Auswirkungen. Das Plappern und Knuspern um uns herum hörte ja auch während des sogenannten Hauptfilms nie wirklich auf. Hatte aber, meiner unausgesprochenen Ansicht nach, auch oder vor allem mit der Machart des Filmes zu tun: der nämlich hatte kaum untermalenden Score, dessen Klänge die Zuschauer darauf hinweisen konnte, wie sie die Dialogsätze zu nehmen hatten (empfindungsmässig). Auch waren diese Dialoge viel zu wenig gesalzen, meint: pointiert. Oft, ja: beinahe immer ging eine Szene ohne Witz zuende. Herrlich lakonisch (könnte aber von einem auf Reizungen abonnierten Gemüt ebenso als uninspiriert beurteilt worden sein). Der Mann neben mir, anscheinend daran gewohnt, seinen Content im Liegen aufzunehmen, sass ungemütlich steif im Sitz und machte, offenbar hatte ihm seine Frau dazu das Placet erteilt, eben dies, was ich nicht wollte: er kommentierte die Handlung und fasste die Dialogszenen für seine Vertraute zusammen. Als in der für mich wichtigen Szene des reifen Protagonisten mit seiner Mutter dementsprechend häufig das Wort «Mutter» fiel (ohne durch Synonyme wie Erzeugerin, Frau meines Vaters oder auch Mutsch durchgewechselt worden zu sein), lehnte er sich pointierend zu seiner Frau und bühnenflüsterte «Die Spanier haben halt einen Ödipuskomplex, Jesus Christ!» Ihre Antwort blieb für mich unhörbar, vielleicht behielt sie es für sich.

Ich war da noch bei dem Geschehen auf der Leinwand. Die Mutter sagte zu ihrem Sohn: «Ich mag Deine Autofiktion nicht.»

Er, ihre Hand suchend «Mutter.»

Sie «Nein! Alle Nachbarn beschweren sich bei mir. Sie wollen nicht in deinen Filmen vorkommen.»

Eigentlich wollten wir mit einem dieser Roller heimfahren. Aber als wir aus dem Kino kamen, waren die alle schon abgeschaltet.

27.7.2019

Frankfurt, beim Verlassen des klimatisierten Waggons glaube ich zunächst, es handelt sich um die Abwärme des ICE—whatever, die Wärme weicht in Folge nicht aus der Atemluft, «ist so», ich verstehe, so langsam, wovon die letzten Abende über in der Tagesschau die Rede war. Ausserdem gibt es hier Wolken am Himmel (bei uns bloss dieses andere Blau).

Auf der Zeil sitzt der Ex-Punk mit Noch-Frisur vor Karstadt und macht betende (nicht bittende) Gesten. Auf seinem Pappschild steht: «Warum lügen? Brauche Bier.»

Und gleich daneben gibt es eine Art VIP-Bereich, jedenfalls ist das Areal mit einem zarten Gewebe abgespannt. Auf dem steht die Werbung für ein Abbruchunternehmen, die Unterzeile verheisst «The Art of Demolition». Klar, wenn selbst Bäcker und Fusspfleger sich in Manufakturen ummünzen, warum nicht auch aus dem Schwung der Abrissbirne eine Parabel machen? Zumal seit Miley Cyrus Punktpunktpunkt

Auf dem Erzeugermarkt geht es am Stand vom Schoppe Otto schon kurz nach zehn heiter zu: «Einen Zwölfer Bembel, Zwei Flaschen Wasser!» Auf dem Kühlwagen schräg gegenüber steht: «Kaufmanns Wurst aus Rinderbügen ist ein’s der größten Essvergnügen!»

Freilich quert kurz darauf der obdachlose Philosoph in eine Decke gehüllt, barfuss, mit Vollbart und Sonnenbrand, wie Jesus mit der Netto-Tüte den Platz namens Konstabler Wache. 

Und der Typ in meinem Alter, mit Pferdeschwanz und vielen Piercings, im Pantera-T-Shirt fragt nach mehligen Kartoffeln für sein Gratin. Daran kann ich mich noch immer nicht gewöhnen: Dass es Überlebende gibt von einer Jugendkultur, die nie meine war, und bei denen die Insignien dieser Jugendkultur irgendwann zu etwas geworden sind, vergleichbar mit den anderen Handelsmarken, über die man nicht länger nachdenkt; zu denen man bedenkenlos greift. (Notizen für «Bock auf Bock»; eine andere Idee betrifft den an Sasha Frère Jones geschulten, synoptischen Vergleich von «Common People» und «Novocaine»—aber wann soll ich das denn auch noch machen?)

Seit Thom Yorke im Interview mit Christoph Dallach im Zeit Magazin erklärt hat, dass er am Neigungswinkel eines Smartphones erkennen kann, ob ein Tischnachbar tatsächlich bloss eine Nachricht verfassen will, wie er vorzugeben scheint, oder ihn in Wahrheit doch zu fotografieren versucht, mache ich das nicht mehr. Und übe mich in der Kunstform des Beschreibens.Vor dem Café Mozart wird, vom Stuhl aus, nach dem frühen Mittagessen ein Taxi bestellt. Es ist elf Uhr. Die Dame trägt eine Bluse aus einem dieser zeitgenössischen Stoffe, der sowohl geometrisch, aber auch mit Tierfellmustern gestaltet ist.

Um 11 Uhr 18 fängt’s an zu regnen. Petrichor!

Im Mozart muss man reingehen, wenn man bargeldlos zahlen will (aus deren Sicht: muss): «Das Gerät ist nicht transportabel.»

Erstaunlich viele gehen jetzt mit aufgespanntem Schirm einher, sie haben sich gewappnet, hören dem Wetterbericht. Und auf den vom Regen bald überströmten Strassen bildet sich eine Schicht von Schaum. Schaum von was?

Oder um es mit Alfred Döblin zu sagen: Nächstes Jahr, 2019, wird’s noch wärmer.

26.7.2019

Vor 51 Jahren, am 26. Juli 1968, im Jahr des Vierfarbkugelschreibers heirateten meine Eltern. Ohne sie kein ich. Das grosse Fest, die Goldene Hochzeit war im vergangenen Jahr, dem Jahr von Barthel und Most geplant, doch wurde mein Vater um diese Zeit plötzlich krank; zunächst schien es harmlos, dann wurde es ernst. Heute können wir sagen, dass er es gut überstanden hat.

Werde aus dieser Familiengeschichte eine Tradition machen und nicht meinen 50. Geburtstag gross feiern, sondern den 51. Wenn ich sagen kann, dass ich den 50. gut überstanden habe.

Das Hochzeitsfoto meiner Eltern (in einem Studio aufgenommen, in Schwarzweiss) hatte ich viele Jahre lang ständig vor Augen. Es hing irgendwo in unserer Wohnung an einem prominenten Platz. Mir kam es damals, da war die Hochzeit noch nicht lange her gewesen, schon historisch vor. Gestern dachte ich, wie meine Eltern wohl die Gegenwart erleben im Vergleich. Da beobachtete ich gerade einen Mann in meinem Alter, der im Frühtau mit einer Taschenlampe die Abfalleimer durchsuchte nach Pfandflaschen. Und überall auf dem Weg standen verlassene E-Roller und Leihfahrräder abgestellt herum.

25.7.2019

Im Zweifel für das Provisorium: nach dem Zeitungskauf, da war es noch schattig und kühl, streifte ich beim Hinausgehen den Ständer mit den Blättern aus dem Springerverlag. Auf der BZ war eine Simulation abgebildet, wie, bald schon, in der Vorweihnachtszeit spätestens die Anti-Terror-Blockade vor dem Breitscheidplatz ausschauen soll. Angeblich gab es seit dem Anschlag dort ein Provisorium (war mir nicht aufgefallen), das nun «endlich» durch etwas Endgültiges ersetzt werden soll. Und zwar durch ein Bollwerk aus Buchstaben. Der Schutzfries besteht demnach aus zwei Meter hohen Buchstaben aus Beton, die, von links nach rechts gelesen das Wort «Berlin» ergeben werden. Ich kenne keine grössere Stadt auf der Welt, wo so etwas möglich wäre. Dann doch lieber «Love» nach Robert Indiana, oder eine Pietà aus Beton. Aber in Berlin selbst stehend, mit Blick auf die Gedächtniskirche, und davor steht dann Berlin?

Daheim dann gleich der nächste Schock, als ich über den Rand meiner Tasse blickend mich im Grün des Baumes verlieren wollte. Entdeckte ich dort etwas Braunes, Haariges von einem Zweig herunterhängend. Zweifellos der Schwanz des Eichhörnchens. Den Rest des Tieres konnte ich aber nicht erkennen, da vom Laub verdeckt. Und der Schwanz selbst regte sich nicht. Auch dann nicht, als ich an die Fensterscheibe pochte. Es durchfuhr mich: War das Tier im Sitzen gestorben? Vor Entkräftung womöglich, nach den zehrenden Bauarbeiten am Zweitwohnsitz. Oder dehydriert, es war ja schon warm (und wo sollte es dort oben auch Wasser herbekommen? Ich eilte ins Badezimmer, von dessen Fenster aus ich in einem minimal versetzten Winkel in den Baum Einsicht nehmen kann. Ich öffnete dort das Fenster, aber auch hier wurde mir sämtliches, bis auf den reglosen Schwanz des Eichhörnchens vom Laubwerk verdeckt. Es nutzte ja nichts, ich ergriff den nächsbesten Ast und rüttelte herrisch. Müde und träg kletterte das Tier ein paar Zentimeter auf den Stamm zu und schaute sich um. Es war am Leben, immerhin.

Ich schrieb so lange, bis der Bildschirm erlosch. Das mache ich seit neuestem immer so, ich habe diese Möglichkeit durch Zufall entdeckt. Früher, vor wenigen Jahren zumindest bedeutete das noch die Katastrophe, wenn plötzlich die Batterie erschöpft war und ich den richtigen Moment verpasst hatte, das Ladekabel einzustecken. Oft war dann ein beträchtlicher Teil des zuvor Geschriebenen verloren—je nachdem, wann ich zum letzten Mal zwischengespeichert hatte. Jetzt fiel mir neulich durch Zufall auf, dass Pages ja gar keine Funktionstaste mehr aufweist, mit der ich das Zwischenspeichern befehlen könnte. Ich schrieb also schon länger mit einem Programm, das sich automatisch um das speichern kümmert. Das wollte ich einem Härtetest unterziehen und schrieb dann philobaterweise so lange, bis der Bildschirm schwarz wurde. Und siehe da: Nach dem die Batterie ausreichend geladen hatte, um einen Neustart des Gerätes durchführen zu können, war kein einziges Zeichen verloren gegangen.

24.7.2019

Das Mädchen fragt, ob es etwas zu essen haben kann. Es meldet «Weil ich habe Bock auf Pizza!» Das i in Pizza spricht sie gedehnt aus, sie übertreibt und reisst den Laut bis in beide Mundwinkel hinein. Seine Begleiter, die Mutter vielleicht, oder die Schwester und eine Tante verstehen umstandslos und diskutieren die Möglichkeiten.

Interessant ist doch, dass dieses Wort nicht totzukriegen scheint. Ich fand Bock als Kind schon doof und hätte nie gedacht, dass es sich durch die achtziger und neunziger hindurch über die Jahrthundertschwelle hinweg bis heute würde halten können. Das Mädchen warja mindestens schon die vierte Generation Bock seitdem ich Bock auf, Null Bock und so weiter kenne. Das wäre doch mal ein hübscher Text für die Zeit. Arbeitstitel Bock auf Bock. Müsste halt herausfinden, woher das stammt. Wer es zum ersten Mal publikumswirksam ausgesprochen hat, oder geschrieben. Stammt das nicht aus dem Latein der Hafennutten von St Pauli? Die wünschen sich doch gegenseitig «Gut Bock», oder nur «Bock!» Glaube ich zumindest, erinnern zu können.

23.7.2019

Das Begehr sämtlicher Besucher des Parks scheint auf die beiden einzig unzerstörten Sitzwarten gerichtet. Unzerstört wohl bloss deshalb, weil sie unzerstörbar sind. Es sind zwei parallel zueinander auf die kleine Bucht ausgerichtete Liegeflächen aus imprägnierten Holzlatten, die, in sanfter Geschwungenheit, jeweils auf ein fest im Erdboden verankertes Gestell montiert wurden. Aus den üblichen Bänken, die entlang des Weges durch den Park aufgestellt sind, wurden lattenweise die Sitzflächen herausgebrochen und, eigentlich kurios, für die Parkbewirtschafter gut sichtbar in einem der dürren Gebüsche gelagert—zu wer-weiss-zu-welchem-Grund, die jahrzehntealten Holzstücke sind ringsum dick mir tannengrünem Lack versiegelt (und an vielen Stellen ist unter der dunklen Lackschicht noch die frühere, eine weiße zu sehen). Grillen kann man damit nicht. Trotzdem werden die in den Sitzflächen der Bänke fehlenden Latten nicht mehr ersetzt, noch werden die herausgerissenen dort wieder eingesetzt, und sie werden auch nicht aus dem Gebüsch entsorgt. Es herrscht ein Patt zwischen den Vandalen des Parks und seinem Personal, das wochentags über den Weg zieht, um die Mülleimertüten auszuwechseln und die Zigarettenkippen vom Asphalt zu kehren. Ansonsten behandeln sie den Park wie ein afrikanisches Hotelzimmer, in dem zwar regelmässig Staub gewischt wird, aber wenn an einem Stuhl ein Bein abbricht, dann steht der halt von da an schräg. 

Von daher, aber halt auch des schönen Ausblicks auf die Bucht wegen, sind die noch benutzbaren Sitzwarten so begehrt. An den Sonntagen treffen sich hier opulent gekleidete Frauen aus dem Nahen oder Fernen Osten für Selfies im Grünen. Üblicherweise wird das Telefon dabei am Selfiestick gehalten, was Fernsehmässige Perspektiven ermöglicht. Die Frauen gehen dann als ihr eigener Kameramann umher und sind zugleich auch Moderatorinnen, denn sie sprechen währenddessen arabische Texte in die auf Videofunktion geschalteten Telefone am Stiel. Als Hintergrund wird mit Bedacht die kleine Bucht gewählt, denn dort treiben, sobald sich am Ufer menschliche Wesen sammeln, die beiden Schwäne elegant durchs Bild und sorgen mit ihren geschwungenen Hälsen für reizvolle Doppelbilder im dunklen Spiegel der Bucht. Ausser denen gibt es dann noch einen Reiher, der sich gravitätisch auf dem ihm angestammten Totholz hin und her bewegt, sowie die üblichen Stockenten und Blässhühner. Vor allem aber ist es halt grün. Das ist, seitdem ich in Israel war, leuchtet mir das ganz neuartig ein: ein geradezu exotisch wirkender Knalleffekt für einen Video-Call in diese Welten. Dort gibt es ja kaum Grün. Alles ist sandig und staubig und von der UV-Strahlung ausgebleicht. Die moderierenden Frauen, was sie sagen, kann ich leider nicht verstehen, orientieren sich meiner Ansicht nach an Hanni Hüsch und ihrer ähnlich glamourösen Nachfolgerin Annette Dittert. Man könnte geradezu meinen, Frau Hüsch stünde dort an der Bucht als Orientalin verkleidet (mit Onassisbrille und seidiger Bluse), wie weilands noch vor Downing St No 10.

Der surreale Effekt wird dabei noch leicht angehoben durch die herangewehten Rufe eines gemischten Chors von Schauspielern beim sogenannten Impro-Sport. Denn seit einiger Zeit wird dort auf dem nahen Hügel ein aus dem Münsterland hierher nach Berlin verfachtetes Globe-Theater aus Holz aufgebaut. Es ist schon fast fertig. Sie proben den Sommernachtstraum.

22.7.2019

Lorenz Jäger weist auf einen Text in der London Review of Books hin: Andrew ’O Hagan beschreibt die Trauerfeier für Karl Lagerfeld im Grand Palais. Er lässt es vage, wann genau, aber beschreibt im Zuge dessen auch seine persönliche Begegnung mit Karl Lagerfeld, im Rahmen derer dieser ihm gesagt habe, für ihn sei Marcel Proust wie der Sohn eines Hausmeisters, der den Herrschaften hinterherschaut, wenn sie die Treppe nehmen zur Belle Étage. 

So amüsant das gewesen sein mag, es liest sich schon jetzt bisschen muffig. So lustig es sein kann, einen Abend lang mit Martin Mosebach zu plaudern—diese Art Leute, die die Kunst des Verblasenen beherrschen, stirbt jetzt restlos aus. Es wird sie bald nicht mehr geben, solche Menschen, die zwischen Söhnen von Hausmeistern und Etagenadel unterscheiden wollen. Die sich ihre Email von den Ehefrauen öffnen lassen, weil sie Computer nicht bedienen können (wollen) und präzise Ansichten haben zu allem und jedem. Wie lange lebt jetzt Proust eigentlich schon?

Angeblich, laut O’Hagan, hatte Karl Lagerfeld testamentarisch verfügt, dass seine Asche mit der seiner Katze in einer gemeinsamen Urne vermischt werden sollte, falls die Katze vor ihm sterben sollte—so wie ich heute in der Früh den Rest israelischen Kaffee in die Dose mit dem aus Peru gekippt habe, um Platz zu schaffen im Lebensmittelfach. 

20.7.2019

Ich kann keine Bilder vom Mond mehr sehen. Weder Vorderseite noch die Erdabgewandte. Auch keine Mondmobile, Astronautengesichter, schematische Darstellungen der Flugbahn durchs Weltall zum Mond, Stars And Stripes. So heftig war die Überdosis zuletzt beim Tod von David Bowie (im Year Punk Broke). 

Es wird auch schon wieder früher dunkel (21 Uhr 15). Was ich vermissen werde ist die akustische Osmose, die es nur im schönen Sommer gibt. Wenn durch die geöffneten Fenster eine sich über den Tag hinweg beständig ändernde Mixtur an Alltags- und Naturgeräuschen an mich herangetragen wird. Manches davon ist kaum mehr als Ahnung und lockt mich, ich lausche; anderes hat von sich aus genügend Körper und dringt bis zu mir hinüber oder empor. Einer der Nachbarn von gegenüber beispielsweise hat sich ein Blasinstrument gekauft, ich kann es nicht genau entziffern, ob es eine Art Saxophon ist oder eine Posaune (vielleicht ja dieses spezielle Horn, das Richard Wagner damals erfolglos auftreiben wollte in Paris), er übt darauf oder damit an jedem frühen Abend von sechs bis zur Tagesschau und für mich hört es sich allmählich gut an. Was es leider micht mehr in der Intensität gibt wie früher mal, ist Geschirrklappern. War für mich der Inbegriff des Sommerbeginns: Wenn das Geschirrklappern hörbar wurde, standen überall die Fenster offen, und es war warm.

In den Bäumen rauscht der Wind. Bin mittlerweile bei 130 Einträgen im Feldbuch, das ich seit Anfang Mai führe. Das ist nicht viel, jedenfalls sehr viel weniger, als ich erwartet hatte. Gut, in Israel hat die App gar nichts erkannt. Aber auch hier, die Stadtlandschaft besteht aus sehr viel weniger Vogelarten und Pflanzensorten, als man sich das so vorstellt. Allerdings lag ich gestern unter einem Baum und dachte, was ist das denn bloss für ein entzückender Vogel, dessen Stimme ich da vernehme? Ganz bestimmt ein Exot. Doch war es tatsächlich ein Stieglitz. Der ist vergleichsweise winzig, aber apart gefiedert in beige, weinrot und schwarz. Und macht einen langen Ton, den er unablässig zwirbelt. Hört sich an wie Fairouz, wenn sie Mush Kissa Hai singt, ein bisschen auch wie mein Nachbar wenn er seine Tröte wringt.

Wenn das auch noch Düfte wären, und nicht bloss Klänge, fände ich es freilich unerträglich. Man stelle sich das vor: schon früh am Morgen wehten die monotonen Düfte der Allerweltsvögel Sperling und Meise herein. Abends stösst der Nachbar in sein duftendes Horn. Auch ein Hörnchen wäre mir da schon zu viel. Wobei es dann wahrscheinlich erstaunlicher- (oder erbaulicherweise) so wäre, dass gerade die Taube, also deren bisweilen extrem nervender Rufton von einem seltenen Wohlgeruch wäre, sodass man wieder garnichts gegen die Anwesenheit einer Taube einwenden könnte. Wohingegen der Steiglitz dann stänke, die Biene zwar anders, aber trotzdem halt auch et cetera. Gut, dass es soweit nicht gekommen ist mit der Evolution und ich die Fenster sommers offen lassen kann.

Bei Filmen, die im Sommer spielen, liegt unter allem Draussen Grillengeräusche. Ich kann mich nicht erinnern, wie der Winter klingt.

19.7.2019

Der Slogan des Techniktagebuchs («Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren») fiel mir wie so häufig, so auch heute wieder ein, als ich beim Lesen alter Bücher von Wilhelm Genazino auf die Beschreibung eines damals neuartigen Automaten der Deutschen Bundesbahn stiess, den es wohl—ich selbst kann mich daran nicht mehr erinnern—vom Anfang der siebziger Jahre an in den Hauptbahnhöfen der BRD gegeben haben muss. Genazinos Erzählung trägt sich einst zu in Frankfurt am Main:

«Es fiel ihm ein grosser Automat auf, vor dem einige Männer standen. Abschaffel stellte sich dazu. Es war ein Computer, der vollautomatisch Fahrplanauskünfte gab. Der Automat hatte die Grösse eines Türrahmens und war rot angestrichen; vorn blinkten verschiedene Lämpchen auf einer Schautafel. Der Automat erregte die Bewunderung der Männer; sie sprachen über ihn, und was sie sagten, war voller Begeisterung. »Er arbeitet, er arbeitet«, sagte einer der Männer mit vergnügter Stimme. Die Bedienung des Automaten war einfach. Auf einer Tafel waren die Namen von grossen und mittleren Städten aufgeführt, und vor jedem Städtenamen war eine Nummer eingezeichnet. Das war die Kennummer des Zielbahnhofs, wie der Automat es nannte. Diese Kennummer musste auf einem Knopf eingetastet werden, und auf einer anderen Taste musste der gewünschte Abfahrtszeitraum eingedrückt werden. Dann summte und ruckelte es in dem Automaten eine Weile, und nach kurzer Zeit rutschte aus einer Öffnungslasche ein Papierbogen heraus, auf dem tatsächlich alle Zugverbindungen in dem gewünschten Zeitraum aufgedruckt waren. Ungläubig hielten die Männer die Papierbogen in der Hand und zeigten sie herum. Aus ihren Bemerkungen war zu sehen, dass viele eine Zugverbindung zu erfahren wünschten, die sie vorher schon an einem Auskunftsschalter erfragt hatten.»

Ulrich Greiner hat die Literatur Genazinos noch zu dessen Lebzeiten als «Lebensphilosophie für Bausparer» bezeichnet. Das verkündete er so in der Zeit kurz nach dem Büchnerpreis für Genazino, und ich fühlte mich von seinem Slogan natürlich direkt angesprochen. An die Beschreibung des Fahrauskunftsautomaten konnte ich mich heute trotzdem nicht mehr erinnern. Vermutlich, weil ich damals die frühen Bücher ruckhaft eingesaugt habe; und ausserdem gab es das Techniktagebuch damals noch nicht. Aber ein paar Jahre zuvor, es ist jetzt gute zwanzig Jahre her, da besuchte ich ein Seminar etwas ausserhalb von Rendsburg an der Eider, da war unter anderem auch Ulrich Greiner als Vortragsredner eingeladen. Er war mit Spannung erwartet worden, auch mit Ehrfurcht bei vielen, und so machte er es dementsprechend spannend und gab der ehrfürchtigen Erwartung unter seiner jungen Zuhörerschaft zunächst Raum. Dann hob er den Kopf, den ich als cäsarenhaft erinnere, um anzuheben mit «Meine Damen, meine Herren, ich muss Ihnen leider die Mitteilung machen: Sie kommen zu spät.»

Damit war freilich nicht der damalige Abend, die Veranstaltung selbst gemeint, sondern die Veranstaltung an sich, ein bisschen somit das Leben, in unserem Falle aber vor allem der sogenannte Literaturbetrieb. Greiner, damals noch Kritiker im Feuilleton der Zeit illustrierte uns den Niedergang am eigenen Beispiel dergestalt, dass er seit neuestem die eigenen Seiten produzieren müsste. Damals, vor gut zwanzig Jahren, fand ich: Das klingt doch gar nicht schlimm. Eher selbstbestimmt. Abenteuerlich. 

Ulrich Greiner fühlte sich durch solche Zumutungen offenbar herabgewürdigt. Gut möglich, dass keine sieben Jahre später bei ihm deswegen Genazino in Ungnade fallen musste, weil sich Greiner selbst mittlerweile nur noch als einer jener von Genazino häufig beschriebenen Büroangestellten betrachten konnte; ein Kritiker, der nicht mehr primär schreibt, sondern vor allem sehr viel tippt und klickt. In seiner Goldenen Zeit gab es dafür noch Sekretärinnen. 

 

18.7.2019

Eine Raupe, so lang und ungefähr auch so dick wie mein Zeigefinger, grün mit einem grellblauen Scheinstachel am hinteren Ende, lief quer über den Weg vor mir. Raupe eines Lindenschwärmers. Endlich mal ein neues Tier, ein Saisontier zumal. Eines, das in dieser Form bald schon nicht mehr da sein wird.

Abends war ich bei Dagmar eingeladen, es gab finnische Knusperbrote mit Tatar. Sie erzählte von einem Interview, das sie einst mit Rudolf-August Oetker gemacht hatte. Der rauchte Zigarre, drückte den heruntergerauchten Stumpen aber nicht aus, sondern steckte ihn in seine Tabakspfeife, die er eigens dafür herausgeholt hatte. Reiche in dieser Form gibt es nicht mehr. Beziehungsweise kann ich es mir einfach nicht vorstellen, dass Jeff Bezos oder Bernard Arnault, der neue zweitreichste Mann der Welt noch einen Spartick haben könnten (wie mein Grossvater, der aus lauter dünnen Seifenresten wieder eine handelsübliche Seife formen konnte, die dann bunt gescheckt war und vielstimmig duftete). Der ebenfalls anwesende Johannes erzählte von seinem Besuch in einem sogenannten Zollfreilager in Zürich, wo Sammler Teile ihrer Sammlung aufbewahren lassen und bei Bedarf von dort aus weiterverkaufen. Er hatte dort einen Milliardär erlebt, der wütend aus dem Waschraum wiedergekommen war. Das Toilettenpapier war ihm unbotmässig dick und flauschig vorgekommen. Er vermutete, dass man sich hierauf seine Kosten bereichern wollte.

«So war er beschäftigt, sein wartendes Leben mit Bedeutungen und Verbindungen auszufüllen, die er untereinander verglich und vollständig ernstnahm.» (Genazino)

17.7.2019

Seit gestern früh bewohne ich ein Sandwich aus zwei Baustellen. Die eine, rechts, da bekommen die Leute im Haus schräg gegenüber ein neues Dach. Das ist optimal getimed mitten in der Ferienzeit, es regnet ja auch nicht viel. Vor allem halt macht die Demontage des veralteten Dachs Lärm. Die Bauarbeiter dort gehen nach dem mir zwar ewig, dabei doch ewig rätselhaft erscheinenden Baustellengesetz zu Werke, demnach man in der Frühe, gleich ab halb sieben für anderthalb Stunden den allergrösstmöglichen Lärm verursacht, um dann, um acht Uhr, zunächst eine Stunde lang sehr leise Arbeiten zu verrichten. Da kann man als Unbeteiligter kaum anders denken, als dass dieser schwungvolle Auftakt den Kirchenglocken abgeschaut.

Zu meiner Linken, im Gebälk der Winterlinde, ertönt dann in die Stille von links her hinein ein Knerfeln und Knurpsen. Als rötlicher Schatten huscht das Eichhörnchen dort durchs Laub. Rauschenderweise. Es hat sich, nachdem schon der Mutist und später nach ihm noch das Taubenpaar dort unter dem Wipfel des schönen Baumes den Nestrest als mögliche Bleibe besichtigt hatten, anscheinend entschieden, das kaum Kaffeeschalengrosse Fundament aus dürren Zweigen aufzustocken, um selbst dort einzuziehen. Das Eichhörnchen war mir schon bei meinem Einzug im Januar dort in dem damals noch kahlen Geäst vor meinem Fenster aufgefallen, wie es sich Material beschaffte. Vor allem von dem einen, schon beinahe gänzlich gehäuteten Aste zog es mithilfe seiner kleinen Hände gnadenlos die letzten Streifen ab, um sich diese, dreimal gefaltet, quer zwischen die Zähne zu packen wie eine glühende Machete. Damals aber führte sein Transportweg noch abwärts und dort dann um die Ecke des Hauses herum, wohin ich ihm nicht mehr folgen konnte. Nehmen wir also an, es denkt jetzt daran umzuziehen (in meine direkte Nachbarschaft!) Oder die Aufstockarbeiten dienen der Errichtung eines Zweitwohnsitzes.

Jedenfalls ist hüben wie drüben dann Mittagspause um zwölf Uhr. Die menschlichen Bauarbeiter müssen danach freilich nochmals ran bis zum Feierabend. Das Eichhörnchen dagegen lässt sich in der zweiten Tageshälfte nicht mehr auf seiner Baustelle blicken.

Interessant übrigens in dem Zusammenhang, dass die Bildzeitung «Bild» in ihrer neuen Werbekampagne allerlei Vertreter Ihrer Traumleserschaft zeigt, aber darunter sind keine Bauarbeiter mehr (dafür halt Feuerwehrleute, Polizisten und Krankenhauspersonal.)

15.7.2019

Ist man zu zweit schon viele? Genügt das, um sich stark fühlen zu dürfen? Meine Kunstlehrerin aus der Oberstufenzeit hat an mich geschrieben über die Funktion auf der Website. Zum ersten Mal seit meinem Abitur, Anfang der neunziger Jahre. «Es freut mich, zu sehen, dass Sie tatsächlich immer noch schreiben.» Eigentlich war sie ja gar nicht meine Lehrerin im Leistungskurs BK, sondern wir hatten eine AG gegründet, die Arbeitsgemeinschaft Freie Kunst. Ganz einfach aus dem Mangel heraus, den ich im Leistungskurs in Sachen Kunstvermittlung verspürt hatte. Die AG hatte dementsprechend wenige Mitglieder, es waren drei. Und sie, Frau Duhm brachte uns dann in unserer Freizeit mit echten Künstlern zusammen, mit Achim Kubinski beispielsweise, der in einer Wohnung arbeitete und dort gab es keine Staffelei. Bloss einen Schreibtisch und an der Wand daneben hatte er eine Postkarte befestigt, darauf war eine Gleisstrecke im Gebirge abgebildet, die in die schwarze Öffnung eines Tunnels hinein fluchtete. Dazu erklärte er mir eine Theorie von Paul Virilio, den ich freilich nicht kannte, denn der Lehrplan des Leistungskursus Bildende Kunst sah keine Theoriearbeit vor, sondern bestand vor allem im Abmalen von mit Wasser gefüllten Gläsern und Hühnereiern in Kaseintempera. In einem Steinbruch bei Heimerdingen liessen wir dünne Plastikfolien in die Thermik steigen und machten Fotos davon. Frau Duhm sahte einmal zu mir «Du musst nicht alles festhalten wollen.»

Das also war freie Kunst. Heute nachmittag, im Park, begegneten wir bei der Seerosenernte einem jungen Fuchs. Er schnürte direkt auf uns zu, wir sahen ihm direkt in seine gelben Augen. Dann verzog er sich seitwärts, um in einer Wiese mit einem Hechtsprung etwas zu erlegen im hohen Gras. Eine andere Spaziergängerin wandte sich an uns. Sie wies uns hin auf ein Video, das wir uns «von Spiegel Online ziehen könnten», da ginge es um Das Wilde Berlin.

Das gerade bezeugte sprach sie nicht an; für sie war die Begegnung mit einem leibhaftigen Fuchs in der Natur lediglich ein Link zurück ins Internet.

13.7.2019

Mein Verhältnis zu Berlin, meint Christian, sei vergleichbar mit dem Gefühl in einer sterbenden Liebesbeziehung. Auf einmal treten schleichend die physischen Eigenschaften des anderen hervor—isst zu laut, lacht künstlich et cetera. Das gute am Anker aber ist, dass die Gaststätte ihren Namen zu Recht führt. Bei gutem Wetter legen dort abends die kleinen Motorboote aus anderen Städten, aus Hamburg und sogar aus Dänemark und Holland an. Gebräunte Greisenpaare kommen in Ausgangskleidung an Land und geniessen den festen Grund unter den Stühlen auf dem Trottoir. Das innere Wellenwallen, das die Tage und Nächte an Deck hervorruft wird von den Bieren besänftigt. Wohliges Murmeln löst sich im Abendhimmel. Mauersegler kreisen.

Steht man auf, kann man vom Vorplatz des Ankers über das Gebüsch bis ans andere Ufer hinüberschauen. Dort ist ein Platz an der Kaimauer, wenn man da seine Füsse ins Wasser taucht und die Zehen sacht hin- und herbewegt, kommen bald darauf die jungen Stockenten herangepfeilt und knabbern einem an den Zehen. Stockenten sehen anscheinend nicht sehr gut, aber sie sind wohl empfindlich für die kleinen Schwingungen im Fluss, die ihnen von hineingeworfener Nahrung künden.

Ein Lastkahn, die «Janine» aus Hennigsdorf schiebt schwarze Dieselwolken aushauchend, zwei schwimmende Container à 32,5 Meter vor sich her. Gefüllt mit—Sand.

Für Friederike, die heute Geburtstag hat

12.7.2019

Es regnet seit ein Uhr, ich war aufgeweckt worden vom Rauschen vor dem Fenster. Der Luftdruck fiel über Nacht um drei Punkte auf 1001 Hektopascal. Schon in den vergangenen Tagen war das Klima so seltsam unter einem blauen Himmel, grundsätzlich warm, aber jedes Mal, wenn eine der kleinen Wolken vor die Sonne getrieben wurde, kühlte die Luft sekundenschnell ab. Wie in den Bergen. Ich glaube, das liegt daran, wenn die Wolken besonders hoch am Himmel stehen.

Von der Hand voll bohnenkernhafter Samen, die ich beim Botanisieren unter den blühenden Bäumen auf dem Rothschild Boulevard aufgesammelt habe, sind inzwischen schon zwei Keimlinge entstanden. Sie brauchen anscheinend sehr viel Licht. Ich habe das kleine Treibhaus direkt am Fenster aufgestellt und trotzdem streben sie beinahe diagonal in dessen Richtung. Zwei Wochen lang haben sie in der Erde geruht, ohne dass etwas zu sehen war. Ich war kurz davor, die Erde wegzuschmeissen. Am nächsten Morgen fing es an.

Die Vorschusslorbeeren für den amerikanischen Wunderschwamm muss ich mindestens zur Hälfte abräumen. Nach zehn Tagen im Praxistest löst sich die erdbeerfarbene Seite, die mit der namensgebenden Schrubbfunktion, auf. Einfach so. Was besonders traurig ausschaut, weil der Schwamm ja als lächelndes Gesicht gestaltet ist. Das wirkt nun wie aus alter, mürb gewordener Wassermelone geschnitzt. Von den Augen hängen ganze Lappen herunter wie nach einem Säureattentat. Darunter freilich das Shit eater grin. Da muss man gar nicht gross paranoid sein, es ist eindeutig so, dass der Hersteller in dieses Material einen progressiven Zerfallsmechanismus programmiert hat. Wäre ja auch zu schön, wenn ein Schwamm länger hielte als ein paar Tage. Da frage ich mich—nicht bloss weil die rote Seite an Rote Grütze erinnert und die gelbe Unterseite an Vanillesauce—wie weilands Walter Kempowski in Anbetracht der ihm ohne die geliebte Vanillesauce aufgetragene Grütze: «Was soll das?»

Traf gestern Nachmittag Gosha, die Wirtin des Ankers, auf der Strasse. Sie hat eine Sehnenscheidenentzündung (vom Zapfen).

8.7.2019

Der Tag fing an mit einem Stromausfall, der das Viertel betraf, aber bloss vier Stunden lang anhielt, bis wieder Saft in die Leitungen fliessen konnte. Dann erfuhr ich (durch mein Hingehen), dass das für mich zuständige Bürgeramt, das sich bislang in einem Einkaufszentrum befunden hatte, «bis auf weiteres geschlossen hat». Das nun für mich zuständige befindet sich angeblich eine Stunde weit entfernt weg. Dort liegt mein neuer Reisepass und mein Führerschein, die ich im März beantragt und dabei auch weisungsgemäss im Voraus in Bar bezahlt habe. Seitdem habe ich von dem Bürgeramt entgegen der Ankündigung keine weiteren Briefe mehr erhalten. Wollte deshalb heute mal nachfragen kommen.

Als ich ins Kräutergärtle kam, hatten dort über Nacht andere sämtliche Tomaten weggeschnitten. Die waren noch grün. Die Beete um die Stauden herum waren zertrampelt. Wenn ich die Tourismusbehörde von Österreich wäre, würde ich im nächsten Jahr nicht mehr in Berlin investieren. Oder zumindest ein Schild anbringen mit dem Zitat von Malcolm Lowry «Gefällt Ihnen dieser Garten? Aber warum wollen Sie ihn denn dann zerstören?» [¿LE GUSTA ESTE JARDÍN? ¿QUE ES SUYO? ¡EVITE QUE SUS HIJOS LO DESTRUYAN!]

In der Tagesschau kam gestern abend kurz vor dem Wetterbericht eines der von mir gefürchteten Hintergrundsfotos in Schwarzweiss: João Gilberto war gestorben. Ich schickte Lino eine Nachricht. Seine Antwort kam binnen Sekunden: «Das ist ein grosser Verlust! (Bin in Portugal).»

Wie lange ist das her, seitdem wir uns an jedem Morgen begegnet sind? Ein Jahr.

Abends, als es aufgehört hatte zu regnen, setzte sich der Mutist nahe zu mir auf eine Laubdecke der Schwarzpappel. Um ihn herum glänzte und glitzerte es frisch abgewaschen. Er hatte sich zurechtgeruckelt. Wartete. Die Batterie meiner Kamera war leer.

«I’m ready for my close up, Mr. DeMille.»

7.7.2019

Am Abend fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag über nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Das kommt bei mir vermutlich öfters mal vor, aber heute war es mir aufgefallen. 

Der Zeitungshändler war im Gespräch mit einem anderen Kunden gewesen, da konnte ich mein Geschäft wortlos abwickeln. Morgen fährt er für drei Wochen in den Urlaub. Ich kenne noch drei andere Geschäfte in seinem Umkreis. 

Am Ufer des Flusses hatten sich die arbeitslosen Männer versammelt, um ihren Hunden Tricks beizubringen. Sie reden andauernd davon, dass sie arbeitslos sind. Und von den Autos, die sich andere, die nicht arbeitslos sind, gekauft haben oder kaufen werden. Audi ist zu teuer. Kia gar nicht mal so schlecht. Mit einem Peugeot oder Citröen aber «kann man sie jagen», weil in den Autos französischer Hersteller die digitalen Anzeigeinstrumente hinter den Lenkrädern derart weit entfernt angebracht sind. «Keine Ahnung, ob das mit dem Körperbau der Franzosen zusammenhängt.»

Am westlichen Ausläufer des Parks hat das Land Österreich ohne jede Kampagne, ohne viel Hinweisschilder einen Kräutergarten anlegen lassen, da wachsen seitdem mehrere Sorten Thymian, Basilikum, Oregano und sogar Liebstöckl. Es gibt reihenweise Tomatenstauden, Gurkengeflechte und scharfe Paprika. Dahinter wurde ein Hügel aufgeschüttet, auf dem, von Bienen, Hummeln und Schwebfliegen umbraust, die verschiedensten Stauden ungefüllter Blüten blühen. Die umstehenden Bänke haben die Einladung, in Österreich Urlaub zu machen, in ihren Rückenlehnen eingebrannt. Dort bin ich gern, und das vorzugsweise am schattigen Vormittag, um mit meinem Taschenmesser Kräuter zu ernten. Bei mir gibt es, seitdem ich den österreichischen Garten in meiner Nachbarschaft entdeckt habe, öfters Omelettes aux fines herbes. 

Im Feuilleton war heute ein okay übersetzter Text von Anne Berest mit dem sie die Unlust ihrer Landsleute beklagt, die deutsche Sprache zu lernen. Sie selbst gehört wohl zu der Generation von Franzosen, die in den neunziger Jahren von ihren Eltern gedrängt worden war, Deutsch als Fremdsprache zu belegen. Temps passé.

Ich könnte ihr aber auch erzählen, dass es unter Deutschen einen grossen und meinem Gefühl nach nur noch stärker werdenden Widerstand gibt, französische Ausdrücke im Fluss der deutschen Sprache akzeptieren zu wollen. Das gilt hierzulande, kurz gesagt, als gespreizt, schwul, oder, tja: etepetete, und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass es mit der Wahl Ursula von der Leyens anders werden wird. Ich könnte bezeugen, dass die schöne Eigenheit der sowohl deutschen wie französischen Sprache, die Suche nach dem Gegenstand der Rede im Reden selbst zu dokumentieren, hier in der deutschen Literatur zuletzt bei Hermann Lenz zu finden war. Das amerikanische Englisch ist via (schlecht übersetzter) Serien und Comments unter Posts schon sehr tief eingewandert in die deutsche Umgangssprache. Und es wird (hier in Berlin zumindest) täglich durch die umher wandelnden Kreativtouristen verbreitet wie durch self-wandering-loudspeakers. Begibt man sich in eine Nachbarschaft, in der Tastemaker sich treffen, hört man eintönig Awesome, vielfach like, und: Do you want me to. Es ist der Angriff einer öden Lingua Franca auf unsere literarische Gegenwart. Das wird von Deutschen als zupackend und pointierend empfunden. Letztendlich wohl als befreiend. Weil: Es macht Sinn und man kann damit einfach toll Dialoge wiedergeben. Dialoge vor allem aus den Serien, mit denen man hier seine Freizeit verbringt.

Eine Frau hatte sich mir von der Seite her genähert und sagte «Sie haben ja ein richtiges Messer.»

Und ich sagte «Ja.»

6.7.2019

Seitdem ich vor vielen Jahren im Zuge einer Reportage in das Laboratorium eines Aromenherstellers eingelassen ward, träume ich von einer alternativen Karriere als Limonadenerfinder. Die in Israel verkosteten Oasentrünke haben meine alte Leidenschaft wiederbelebt. Nachfolgend eine erste Verkostung von vier teils innovativen, teils klassischen Trünken aus dem Zentrum des Commonwealth, aus Afrika und Asien, die ich aus dem überwältigenden Sortiment des «Asiatischen Afro-Shop Katar», der wie gesagt von Sikhs betrieben wird, ausgewählt habe. Dort wurde gestern ein Tesla betankt, den sich die Betreiber wohl für eine Wochenendausfahrt gemietet hatten. Alle umringten das Gefährt und machten Videos.

1. Coco Loto Coconut Juice with Pineapple

Schaut herrlich aus! Der Abfüller «Exotic Food Co., Ltd» aus dem Küstenbadeort Chonburi im Süden Thailands hat das Etikett seines Trunkes wohlweislich mit Bildelementen von Sonnigkeit überdeterminiert: Blütenblätter, eine trinkfertig skalpierte Kokosnuss mit herauslugendem Halm, sowie eine im ganzen aufrecht stehend halbierte Ananas am Strunk—wer da nicht an Erfrischung glaubt, der war noch nie in exotischen Gefilden baden. Selbst die an Schwebteilchen reichen Küstengewässer in der Bucht vor Pattaya wurden detailgerecht nachgeahmt vermittels der reichlich in einem Glas voll Coco Loto herumtreibenden Kokosnussfasern. Oder sind es solche von der versprochenen Ananas? Es ist nicht herauszuschmecken. Der Trunk schmeckt enttäuschend fad, eigentlich bloss trübe (wenn das ein Geschmackserlebnis sein könnte). Innerhalb der thailändischen Geschmacksästhetik handelt es sich eindeutig um ein Texturgetränk. Allerdings habe ich selbst noch nie das Verlangen verspürt auf etwas Trübes. Wird auch in Zukunft nicht vorkommen. 

Geschmacksurteil: 0 von 6 Seifen

2. V-Fresh Drink with Rose Flavour and Basil Seed

Diese in Thailand abgefüllte Flüssigkeit erfüllt meine Vorstellung von einem Oasentrunk auf ideale Weise: sie erscheint milchig, zugleich leuchtend rosa im Glas. Ein Scheinparadoxon, das mit thailändischer Nahrungsmittelchemikerleistung wirklich gemacht werden konnte. Als Cherry on the top bildet sich gleich nach dem Einschenken eine appetitliche Schicht Sediment am Boden des Glases und starrt den Trinker an wie Kopf an Kopf dort lebende Wesen, wie Kaulquappen etwa, auch Froschlaich ist denkbar, aber es handelt sich um die versprochene Basilikumsaat, die dem Trunk in nicht geringer Menge beigemischt wurde. Warum, das sollte man nicht fragen wollen. Auch tut man als Liebhaber des idealen Oasentrunkes besser daran, ihn gottgleich anzubeten, aber niemals wirklich zu versuchen. Selbst eisgekühlt dominiert das Rosenblütenaroma noch lange Zeit nach einem winzigen Schluck. Bei dem Markennamen kann es sich bloss um einen Übersetzungsfehler handeln. Etwas weniger erfrischenderes als V-Fresh ist undenkbar. Selbst warmer Gin käme mir da mehr gelegen. Als Palate Cleanser hilft gegen das anschliessende Mundgefühl einzig der thailändische Hühnersalat Laab Gai. Womöglich liesse sich von dort aus die Entwicklungsgeschichte dieses Trunkes rückwärts erzählen.

Geschmacksurteil: 6 von 6 Seifen (Look, don‘t touch)

3. Vimto Sparkling Fruit

Erstaunlich, dass dieser Trunk angeblich schon seit dem Jahre 1908 auf dem Markt sein soll—jedenfalls steht das so auf der im zeitlosen Design gehaltenen Dose aus England, in der sich demnach auch eine Reinigungsflüssigkeit befinden könnte. Oder ein Raumduft. Und, jetzt ahnt man es als Leser: so schmeckt der Inhalt auch. Immer wieder nimmt man nach den ersten Schlucken die Dose zur Hand, um sich zu vergewissern: gibt es das—ein Sirup, der sprudeln kann? Auch kaum zu glauben, dass man ein solches Aroma mit ausschliesslich auf dem Planeten Erde geernteten Früchten erzeugen kann. Das aber, so will es die Legende von Vimto, das ursprünglich Vimtonic geheissen hatte, soll tatsächlich der Fall sein. Der Farbton der Flüssigkeit indes, ein durchdringendes Rot, das an Lambrusco erinnert (und auch vergleichbar schäumt) deutet vielleicht auf Beeren hin. Angeblich handelt es sich sogar um eine Mixtur aus Himbeeren, Brombeeren und schwarzen Johannisbeeren, sowie nicht näher spezifizierten Kräutern, was damit alles in allem schlicht als «Vimto-Aroma» ausgewiesen wird. Wer, wie ich, in seinem Leben schon eine liaison dangereuse hatte mit dem köstlichsten Likör der Welt, Chambord, sollte sich von Vimto möglichst fern halten, also im Anschluss auch Reisen in die Arabischen Emirate und nach Indien und in sonstige ehemalige Kronkolonien meiden, in denen Vimto auch morgen noch hauptsächlich vertrieben werden wird—die Brause schmeckt nämlich exakt so, wie ein gut gekühlter Drink mit viel Chambord und wird die überwunden geglaubte Leidenschaft wiederbeleben wollen. Leider.

Geschmacksurteil: 4 von 6 Seifen

4. Nkulenu‘s Palm Drink

Dieser Kandidat steht ausser Konkurrenz, da mir erst kurz vor der Verkostung auffiel, dass es sich dabei um einen (wenn auch schwach) alkoholisierten Oasentrunk handelt. Für ghanaesische Verhältnisse aber, und aus der dortigen Abfüllerei Nkulenu Industries Ltd in Madina stammt der Palmendrink, dürfte er mit den irgendwo auf dem hübsch gestalteten Etikett versteckt angegebenen 4,5% durchaus noch als Softdrink durchgehen. Die Vorderseite wiederum ist übersichtlich und durchaus ansprechend im Stile einer britischen Fernsehserie aus den frühen siebziger Jahren («Die Profis») gehalten: auf einem Schild in tannengrün verheissen die im Bogensatz plazierten Buchstaben «Premier Quality». Eine ungewöhnlich beschnittene Nahaufnahme eines Palmenstrunks wird von diesem Qualitätsversprechen eingerahmt. Darunter, mittlerweile hat der Farbton des Hintergrunds in ein souveränes Gold gewechselt, steht in einer klassisch anmutenden Funk-Platten-Schrift der irgendwie an einen Zauberer erinnernde Firmenname «Nklulenu». Für sämtliche weitere Bestandteile auf dem Vorderschild der ansonsten smaragdhellen Glasflasche, von Palm über Drink und Shake&Serve bis Ingredient: Palm Juice wurde ebenfalls eine eigene Schrifttype ausgewählt. In der extrem heterogenen Weise seiner Machart wirkt das ansprechend auf das europäische Auge. Der europäische Gaumen wiederum reagiert in einem beinahe umgedrehten Sinne auf die Einförmigkeit des Geschmackserlebnis des Palmenmosts: Selbst gut gekühlt hat der vorschriftsmässig extrem gut durchgeschüttelte Trunk fernab von seiner Abfüllstätte doch zu viel von seinem autochthonen Charme verloren. Man sollte ihn wahrscheinlich ungekühlt, und dabei unter Palmen wandelnd direkt aus der Flasche schlürfen. Ganz ähnlich dürften übrigens die frisch in Frankfurt angelangten Ghanaesen urteilen, die sich bei Adolf Wagner in Sachsenhausen ihren ersten Bembel teilen.

Geschmacksurteil ausser Konkurrenz, da alkoholisch: 3 von 6 möglichen Seifen.

5.7.2019

«Die künftigen Kriege», prophezeiten mir neulich, vor dem Anker sitzend, Ulrich und Rainer «werden um Trinkwasser geführt». Den beiden glaube ich mittlerweile alles. Und tatsächlich deuten die Zeichen auf dem Mineralwassermarkt darauf hin, dass dort die Kundschaft auf künftige Preissteigerungen vorbereitet werden soll. Das Sortiment einer zwar quintessentiellen, aber physikalisch kaum modifizierbaren Ware, die zudem im Idealzustand farb-, geruchs- und mehr oder weniger geschmacksneutral ist, lässt sich lege artis schlecht ausdifferenzieren. Den Fisch schiesst hier der Abfüller Gerolsteiner ab, der sein von mir bevorzugtes Wasser derzeit als «Sommer Sprudel» vertreibt.  Das üblicherweise mit silbergrauen Elementen gestaltete Etikett wurde um eine aprikosenfarbene Strandecke inklusive Schirm, sowie um besagten Saison-Schriftzug im selben «sommerlichen» Farbton ergänzt. Als wir neulich in einem Frankfurter Supermarkt diese Novität im Gerolsteiner-Regal der Mineralwasser-Abteilung entdeckten, lasen wir uns gegenseitig die Inhaltstoffe von einer Flasche «Classic» und von einer solchen, die als Sommersprudel verkauft werden sollte, vor: die Mineralwerte waren bis aufs Milligramm identisch. Weitere Zusätze, Modifikationen an der Blasengrösse et cetera: niente.

In Israel wiederum, wo das Meer mittlerweile so salzig gemacht worden ist von den Entsalzungsanlagen, dass man sich nach dem Baden sofort mit Trinkwasser abduschen muss, weil man sich sonst wundschürft beim Gehen, gibt es natürlich kein autochthones Mineralwasser zu kaufen. Man trinkt also entweder Eau de Robinet oder Evian. Ich konnte leider nicht herausfinden, was die Israelis gegen sprudelndes Wasser einzuwenden haben—es ist auf jeden Fall kaum vorhanden. Es sei denn, man trinkt, wie früher in den Tropen, das grauslige Sodawasser von Schweppes.

Ich habe mich dort an die ausgezeichnete Auswahl fruchtiger Oasentrünke gehalten, die vornehmlich aus Brasilien importiert werden. Eine Gewohnheit, die mir lieb geblieben ist. Gestern kaufte ich in dem während meiner Abwesenheit hier eröffneten «Asiatischen Afro-Markt», der von Sikhs geführt wird, einige Fläschchen, Flakons und Dosen mir absolut fremdartig erscheinender Oasentrünke, die sich derzeit noch in der Kühlung befinden. Eingehender Testbericht folgt morgen.

4.7.2019

Spaten, eine Traditionsbrauerei aus München bewirbt ihr Bier, das neuerdings in einer bewusst traditionell etikettierten Flasche abgefüllt verkauft werden soll mit dem herrlichen Slogan «Vor allem fürs gemeinsam Munden wurde einst das Bier erfunden». Der darunter in einer Handschrift gesetzte, eigentlich traditionelle Slogan des Hauses lautet unverändert «Lass Dir raten, trinke Spaten». Über die Hintergedanken zu diesem Winkelzug des Marketings spekulierte ich neulich erst trefflichst mit meinem Vater, da uns das überarbeitete Design von Etikett und Kasten im Vorüberschieben aufgefallen war. Mein Vater, jahrelang ein Trinker von Spaten, wie es ihm geraten, erkannte seine Marke erst auf den zweiten Blick.

Jetzt ist hier in Berlin jede U-Bahnstation flächendeckend mit den Plakaten für Spaten ausgeklebt. Anders als Augustiner, Bayreuther, Paulaner und Tegernseer hat Spaten den Export seines Bieres zu lange gescheut, drängt jetzt aber mit Macht auf den Späti-Markt.

Und ich bekomme bei jeder U-Bahnfahrt Heimweh und wünschte mir gerade schon, es gäbe eine Endhaltestelle «Heimerdingen», zumindest aber «Frankfurt», denn von dort aus hat man es neuerdings auch nicht mehr weit, seitdem—ein Novum in über 1200 Jahren Ortsgeschichte!—man vom Hauptbahnhof in Stuttgart mit Bahnverbindungen bis direkt zum anmutigen Bahnhofshäusle von Heimerdingen fahren kann. Passenderweise ist die letzte Bahn, mit der man von Korntal bis dorthin fährt, dann auch ein sogenanntes Bähnele. 

Der Bahnhof liegt übrigens direkt gegenüber des Getränkeladens, in dem ich mit meinem Vater das Redesign von Spaten zuerst gesehen hatte. So it’s kind of an infinity loop.

3.7.2019

Neulich, nach dem Schwammkauf fiel mir auf, dass bei den bewährten Glitzi-Schwämmen von Vileda das Design der Pappumhüllung verändert ward: unschön plazierte Balken in Gelb, Rot und Schwarz formierten ein Banner, auf dem ein Schriftzug verkündete, dass es sich bei den Glitzi-Schwämmen um einen der beliebtesten Exportartikel aus deutscher Herstellung handelt. Die anderen beliebten Exportartikel werden also entweder nicht im Hause Vileda hergestellt, oder bleiben aus anderen Erwägungen heraus auf der Schwammbanderole unerwähnt.

Diesen Welterfolg unserer Schwämme sehe ich allerdings in akuter Gefahr durch ein neu in den deutschen Drogeriemarktregalen plaziertes Produkt aus den Vereinigten Staaten. Anfänglich skeptisch bin ich nach erstmaliger Erprobung überzeugt, dass es sich hierbei um den Schwamm aller Schwämme handelt. Vergleichbar mit Glitzi hat auch er einen debilen Namen: ScrubMommy. Also irgendwie halb russisch «Mütterchen Schrubb». Die Umverpackung kommt komplett ohne Stars and Stripes, Made in the USA oder ähnliches aus, ist in einem mit der biederen Banderole des Glitzi verglichenen geradezu ravigen, zumindest halt schäumendem Acid Orange gehalten. Niedliche Piktogramme laden zum Schäumen mit dem darin enthaltenen Schwamm ein. Der übrigens pricey ist: für den Preis von drei Glitzis bekommt man gerade mal einen ScrubbMommy. 

Für die Gestaltung eines Artikels für Erwachsenenbedürfnisse ungewöhnlich, ist der Schwamm als Gesicht geformt. Piktogramme laden dazu ein, dieses Gesicht schamlos zu benutzen: «Meine Augen dienen als ergonomischer Griff für zwei Finger, um in Ecken und tiefe Gläser zu gelangen.» Und «Mein Lächeln reinigt gleichzeitig beide Seiten von Löffeln und anderen Küchenutensilien.»

Wirklich interessant sind aber die zwei speziellen Schaumstoffe, aus denen der ScrubMommy zusammengefügt wurde: auf der gelblichen Vorderseite handelt es sich um ResoFoam, das tatsächlich wie auf der Packung versprochen einen erstaunlich dichten und schier breitopfhaft aufquellenden, sehr seidigen Schaum zu erzeugen hilft (Testseifenflüssigkeit Palmolive).

Die andere, in Erdbeer gefärbte Seite besteht aus FlexTexture, einem von seinem Prinzip her scheuernden Schaumstoff, der jedoch auch bei scheuerndem Einsatze weich bleibt im Griff und, das ist der Clou: unter Einwirkung von warmem Wasser noch etwas weicher wird. 

Von dem seltsamen Gesichtswurstdesign abgesehen, handelt es sich um einen Schwamm mit Weltmarktführerpotential. Auf eine Innovation aus dem Labor von Vileda bin ich freilich gespannt.

1.7.2019

An der Ampel bewegten sich zwei Tauben auf mich zu. Zu Fuß. Und die eine von ihnen, es war ein schattiger Platz, stuppste mir mit der Schnabelspitze in den Knöchel. Als ich herunterschaute zu ihnen sperrten sie beide ihre Schnäbel auf. Die eine wiederholte ihre auffordernde Geste an meinem Knöchel. Konnte das sein, dass diese Vögel wussten, dass ich ein höheres Wesen war und von daher befähigt, ihnen aus der von meinesgleichen gestalteten Umwelt, das von ihnen benötigte Trinkwasser zu besorgen? Sie beobachten uns seit Generationen (die in ihrem Fall nur wenige Jahre umfassen). Ihre Erfahrung, was wir vermögen, könnte glatt riesenhaft sein.
Neulich, da landete eine von ihnen in einem Baum vor meinem Fenster und fing dort mit ihrem mich nervenden Gurren an. Ich streckte meinen Kopf aus dem Fensterrahmen, schaute sie an, und sie: ruckte. Alles verlief ohne Worte. Ich fühlte mich erkannt.

30.6.2019

Die ultraviolette Strahlung heute so intensiv, dass ich dem Zeitungspapier beim Vergilben zusehen kann. Auf dem Wirtschaftsteil steht «Jetzt geht‘s abwärts», aber das Feuilleton ist heute so gut, dass ich es leise gilbend mit nach Hause trage. Tote Vögel am Wegesrand. Manche noch embryonal mit diesen gespenstisch grossen Mandelaugenlidern. Eine Wespe verschwand in der Brust eines Sperlings.

Filmleute finden den «Bemalten Vogel» von Kosinski gut. Ich liebe sein «Being There: Es war Sonntag. Chance war im Garten. Er bewegte sich langsam, zog den grünen Schlauch von einem Pfad zum anderen und beobachtete sorgsam den Wasserstrahl.»

Mitsamt dem Feuilleton hat sich auf meinem Tisch eine Menge Papier angesammelt. Von links nach rechts: «Die Sekretärinnen» (aus dem Bücherschränkle im Freibad Hausen), «Pippi Langstrumpf» (Thomas Steinfeld in der Südi), Kirsten Stewart in einem T-Shirt, auf dessen Rücken quer steht: GET OFF MY DICK (032c).

Man (also ich) müsste etwas schreiben können, was in etwa so eine Wirkung bekommen könnte wie «River Man». Oder «Club Tropicana»—je nachdem.

Gestern abend kam ich vor dem Anker mit einem älteren Paar ins Gespräch, der eine war seit den sechziger Jahren im Senat beschäftigt («Ich habe sieben Köpfe rollen seh‘n»), der andere ein Emeritus der Sprachwissenschaft (von daher womöglich sein Gesichtsausdruck, als ich im Antwort gab auf seine Frage, was ich machte).

«Wir haben es ja jetzt hinter uns», sagte er. «Wir sind wohl aus der einzigen Generation, der es nur gut ging.»

Da es nach 22 Uhr war, sprachen sie alle sehr leise an den Tischen unter dem Nachthimmel. Die am Nebentisch, das fiel mir mit einem Mal auf, hatten zudem weiß leuchtende Gesichter. Und der Bart eines Mannes schaute nicht aus wie aus Haaren gewachsen, sondern wie ein Geflecht aus Schimmelpilz. Durch das stossende Flüstern und die weissen Gesichter wirkte die Szene auf mich wie Kabuki-Theater. War aber bloss Lichtschutzfaktor 50 in der Nacht.

28.6.2019

Der sogenannte Erholungswert kam bei mir eindeutig dadurch zustande, dass ich kaum ein Wort verstehen konnte. Erst als wir in Frankfurt gelandet waren, wurde mir der Verstehensregler allmählich aufgedreht, und als erstes bekam ich wirklich mit, wie ein (wie ich selbst auch) schwer beladener Mann zu seiner Begleiterin im Angesicht der Rolltreppe flüsterte: «Aber die eigentliche Treppe, kriegen wir die dann auch noch hin?»

Die eigentliche Treppe in Anbetracht der rollenden: Der Begriff von Heimat steht für mich nicht zur Disposition. Heimat ist für mich, was mich mit meinem Dasein verknöpft.

Von daher war ich froh, kein Wort Hebräisch gelernt zu haben. Das einzige, das ich behalten habe, war Tiv-Tov (oder so ähnlich): damit wird die dort typische Bewässerungstechnologie beschrieben. Onkel Elias hatte mir das so erklärt, nachdem ich ihn gefragt hatte, weshalb ausgerechnet in einem der wasserknappsten Landstriche der Erde Bananen angebaut werden müssten (die Gewächshaustunnel ziehen sich durch die gesamte Wüste von Tel Aviv bis nach Haifa und bis an den Rand dieser malerischen Hafenstadt gleich dahinter, wo die Muslime zu wohnen haben.)

27.6.

Der zögerlichste Gratulant war demnach Eric, der Wirt vom «kleinen Café gegenüber» (im 49. Jahr darf/sollte man sich selbst zitieren). Da befand ich mich (innerhalb eines Zuges) in Tüttelstadt (oder so ähnlich), der ICE schlängelte sich hinauf in Richtung der Hauptstadt. We´re passing Glauchau. Ich kenne Menschen, die so heissen: Hallo, Alexander!

«Du hast drei Freunde», hatte Onkel in spe Elias mir aus dem Satz meines Kaffees gelesen. Nicht ohne mir dazu mitteilen zu wollen, dass er das Lesen aus gleichwelchen Kaffeesätzen für Bullshit hält. «Und Du hast bald auch sehr viel Geld.»

Es war halt Sonntag, Tag der Ruhe und der Entspannung, von daher sogar Tag der Ausgelassenheit. Selbst Elias, ansonsten von ausgesprochen zurückhaltendem Wesen, lässt hier an einem Sonntag die sogenannten Fünfe gerade sein und liest aus dem Kaffeesatz seiner Lieben. Unter der Woche gab er sich anders. Einmal, ich wollte nach einem langen Tag am heissen Strand vom Balkone aus die Aussicht auf den Friedhof von Haifa geniessen (in Ermangelung von Alternativen), hatte ich dort eine im Staub gelandete, weisse Taube entdeckt. Ich rief Onkel Elias herbei. Er schaute lange auf das Bild des kleinen weissen Vogels hin. 

Später, da sassen wir dann schon beim Essen und assen, fasste er das von uns beiden bezeugte Bild zusammen in einem Wort: «That was very unusual.»

Bislang hatte ich noch keinen Menschen kennenlernen dürfen, der «nur gut» sein wollte. Seither aber ist Elias zu meinem Vorbild geworden. Ich habe ein mir lieb gewordenes Bild von ihm auf meinem Telefon als Bildschirmhintergrund eingestellt. Dies Bild von Elias ist mir lieb. Ich betrachte es gern.

Es gibt eine gewisse Art des anweisenden Sprechens, im Grunde handelt es sich (sic) um einen Sprechakt, den ich vermisse. Im Flugzeug bat ich eine Frau, die, am Gang sitzend, mir den Weg zu meinem Mittelplatz versperrte: «I’m sorry…» 

Woraufhin sie, hinter einer Joan Didion-Brille verborgen sagte: «Don’t be sorry. Just sit!»

(Und ich dachte an meine Tante in spe, Kaffa, die mir beim Frühstück im Angesicht ihrer köstlich mit Thymian gratinierten Flachbrote zuraunte: «Take another one!» Woraufhin ich entgegnete «Thank you. But I already had three.»

Und Tante: «Why don´t you have four?»)

Irgendwo über Griechenland war dort vor dem Kabinenfenster eine einzige knallweisse Wolke, die sich aus dem Nichts draussen auftürmte, wie eine mittendrin angehaltene Explosion.

26.6.2019

30° im Schatten: abgelesen von meinem Barometer (Fabrikat Lufft), das untendran eine Skala für ein Thermometer zeigt. Geschenk von Friederike. Meinen Arbeitsplatz habe ich bis auf weiteres (morgen soll es drei Grad kühler werden) auf der klimatisierten Piazza im Skyline Plaza bezogen. Das iPad zittert dort so, als ob es friert—innerlich, es zeigt sich am Bildschirm. Mit den sommerlichen Temperaturen hat das aber nichts zu tun, es ist nun einfach am Ende. We had joy, we had fun.

An unserem letzten Morgen in Tel Aviv fand ich am Randstein gegenüber eine Münze zu zehn Schekel. Dann noch eine winzige Meerjungfrau aus Gummi, und daneben lag ein Kristallkügelchen, das facettenreich beschliffen war. Diese Strasse, in der wir wine Woche lang wohnen durften, war etwas besonderes. Sie ist es, die ich, jetzt, da all dies noch eine Woche lang her ist, vermissen werde. Es war eine kurze Strasse. was mir zunächst gar nicht gross auffiel, da ich, bis auf zwei Ausnahmen, von Geburt an bis heute in relativ kurzen Strassen gelebt hatte und lebe. Die in Tel Aviv war zudem noch relativ schmal dergestalt, dass man von unserem Balkon schon scheinbar zu dem unsrigen gegenübergelegenen hinübergreifen konnte. Dort zeigte sich ab und zu eine dunkelhäutige Frau mit mandelförmigen Augen, wahrscheinlich also eine athiöpische Jüdin, die bei ihrem Auftritt, also beim Betreten ihres Balkons eine gelbe Wäscheklammer über ihre Nasenflügel geklemmt trug, um somit ausgerüstet, in einem auf ihrem Balkon gelagerten Halbkanister zu hantieren. In der ebenfalls gelben Plastikwanne befanden sich geheimnisvollerweise dunkelfarbige Kugeln, eventuell also Pilze oder anderswie selbstgezogene Organismen, deren Eigengeruch jedenfalls streng gewesen sein musste, anders konnte ich mir das Tragen einer provisorischen Nüsternklemme bei der Bewohnerin nicht erklären.

In den Erdgeschossen der Strasse, die übrigens als einzige von Tel Aviv von Google fälschlich erfasst und geführt worden ward, wurde beinahe ausnahmslos Grosshandel getrieben mit Meterware von Teppichen und Stoff. Die auf gleicher Höhe mit uns auf derselben Strassenseite sich in der Frühe auf ihrem Balkon präsentierende wuschelhaarige Nachbarin, betrieb ein paar Hausnummern weiter ein schattiges Lädle für Käse und Oliven, so wie man es sich vorgestellt hatte. Allerdings kamen wir nie dazu, bei ihr einzukaufen, weil sie die Metallmarkise immer schon herunterscheppern liess, während wir von unseren appetitanregenden Strandaufenthalten zurück in unser Heim strebten.

Schräg gegenüber und damit unterhalb der Nasenklammerfrau gab es eine nur anscheinend verwaiste Eingangstür zu einem Haus, hinter dessen Fassade womöglich männliche Prostitution betrieben wurde. Jedenfalls hielten dort auffällig oft die schlanken und überpflegt wirkenden Kurzzeitmieter der überall im Überfluss benutzten Elektroroller des US-Amerikanischen Start-Ups Slime. Und in den heissen Nächten der Gay Parade «Pride», kam es vor der Tür dieses Hauses in unserer ansonsten friedliebenden Strasse, deren Name von Google unterschlagen ward, sogar zu einer veritablen liebesdramatischen Schreierei.

25.6.2019

Wenn man Zeit anhalten könnte wie Luft. Am Strand von Tel Aviv fand ich ein iPhone. Das war am Rande des Fussweges zwischen den Strandabschnitten Hilton Beach, Dog Beach und dem durch Stellwände abgeschirmten Bereich der streng Gläubigen. Eine in ein bodenlanges T-Shirt mit langen Ärmeln gekleidete Schwimmerin hatte mich höflich des Platzes verwiesen. Anscheinend war Frauenbadetag. Auf meinem Rückweg über den benachbarten Hundebadestrand entdeckte ich das Smartphone im Sand. Vielleicht war es einem Jogger aus der Halterung an seinem Bizeps gerutscht. Wie ich es aufhob, fing es an zu vibrieren. Eine einheimische Nummer wurde auf dem Display angezeigt. Ich übergab das Gerät einem Bademeister, der das Gespräch sofort entgegennahm und sich gestenreich von mir verabschiedete. Am Abend fand ich weiter südlich nahe eines Priels einen Schlüsselbund. Die Strandaufsicht hatte sich schon längst via Lausprecherdurchsage in den Feierabend verabschiedet. Ich formte einen Kegel aus nassem Sand und befestigte die Fundsache an dessen Spitze, sodass die Schlüssel ihrem eventuell den Strand nach ihnen absuchenden Besitzer noch besser in die Augen sozusagen stechen konnten, als sie das ohnehin mit ihren landestypisch in Signalfarben gehaltenen  Gummiummantelungen am Griffschild müssten. Die Israelis um mich herum droschen unverdrossen mit ihren Strandtennisschlägern auf die bei diesem Spiel  dazugehörenden Hartgummikugeln ein. Wie Friederike herausgefunden hatte, handelt es sich dabei um den Nationalsport Israels. Er macht einen grässlichen Lärm und ist an weiten Teilen des Strandes sogar per Schild verboten. Daran hält sich freilich niemand. Zusätzlich zu dem grässlichen Lärm kommt noch die einschüchternde Verbissenheit, mit dem die Anhänger des Nationalsportes mit ihren ungepolsterten Holzbrettern auf die Hartgummikugeln eindreschen. Durch die enorme Fluggeschwindigkeit des Bällchens gebannt, haben die Spieler keinen Blick für die Schönheit des Sonnenuntergangs. Oder die kleinen Krabben in den Prielen, die sandfarben gepunktet sind, mit gelbem Säumen um die Füsse. Sie haben es auf die Jungfische abgesehen, die schwarmweise durch die flachen Ausläufer der Brandung ziehen. Blitzartig schiesst dann aus einem Sandbunker die weisse Krabbenschere in die Höhe und hat sich schon tief in den weichen Bauch des Fischleins eingeschnitten. Die Krabbe schält sich aus ihrem Versteck im Grund des Priels und zieht ihre Beute am Gedärm gefasst zu sich herab. Das grosse Spiegelauge des Fisches starrt, zur Mimik unfähig, unverändert gross. Der Fisch an sich steht im Judentum ganz oben. Das einzige Tier, das mit offenen Augen schläft.

10.6.2019

Wir erreichten den Strand von Haifa im richtigen Moment. Der Himmel war silbergrün, die Sonne gelb, und der Horizont berührte schon beinahe ihren unteren Rand. Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster unserer Gastgeber auf einen Friedhof am Fuße des Karmelberges. Er schien mir unendlich breit, er reichte, so schien es mir, bis an das linke Ende der Bucht, die dort im dunstigen Licht von einer Landzunge eingefasst wurde; die gesamte Ebene am Fusse des Berges, bis kurz vor dem Strand, der von einer mehrspurigen Schnellstrasse gesäumt wurde und hinter der führte auch noch die Bahnlinie an der Küste entlang, wurde von diesem Friedhof eingenommen, der aus gleichfarbigen und, so schien es mir von dort oben, lauter gleichförmigen Grabsteinen und - platten entstanden war. Nur wenige Zypressen ragten in schwarzen Reihen aus dieser man made desert auf. 

Winzige Autos kurvten zwischen den Steinfeldern herum. Die Windschutzscheiben blitzten im Sonnenlicht.

«Es sind angenehme Nachbarn», sagte Nadida und erklärte mir die Aufteilung der Gräber. «In den den vorderen Reihen am Strand liegen die Soldaten. Dahinter liegen die Juden auf der linken Seite, die Christen liegen rechts.»

Ich konnte keine Mittelachse erkennen, anscheinend gab es dort unten keine Allee.

«Es gab einmal eine Trennlinie», sagte Nadida. «Aber sie können einfach nicht damit aufhören zu sterben.»

Am Vorabend hatte ich beim Abendbrot nach dem Vogel gefragt, den wir am Strand gesehen hatten. Meine App kannte ihn nicht und hatte, wie so oft, wie schon im vergleichsweise unexotischen Zürich, Turdus merula vermutet als Urheber des aufgenommenen Klangbildes. Dabei ließen diese Vögel am Strand von Haifa ganz andere, gänzlich unamselhafte Töne erklingen. Dazu ihr Federkleid von dunklem Braun mit breiten cremefarbenen Querstreifen über den Schwingen. Und rings ums Auge einen orangefarbenen Kajalstrich; katzenhaft.

Laut Friederikes Cousin Sari sind diese Vögel von Indien her ins Land gekommen. Sie wurden, so wird von israelischer Seite vermutet, eingeschleppt. Eventuell versteckt unter dem Turban eines Sikh. Wobei mir das, wenn ich an die penible Durchführung unserer Einreiseprozedur dachte, unwahrscheinlich schien. Schon eher an Deck eines Containerschiffs. Die andere Tante, Rasali hatte im Fernsehen schon mehrfach Berichte gesehen, wonach diese eingeschleppten Vögel ältere Mitbürger attackiert hatten. Der Vogel namens Manya, eine Starenart, hat noch keinen deutschen Wikipediaeintrag. Das andere Thema an diesem ersten Abend in Haifa war die Hochzeit, zu der wir eingeladen waren. Es hieß, es kommen 700 Gäste. Und im Verlauf der Woche wurden wir von Hand zu Hand in der Verwandschaft herumgereicht. Bis hinauf in den Norden nach Jish, einem Bergdorf an der Grenze zum Libanon. Wo wir die fantastischen Zwillinge Jussuf und Nami, die eventuell sogar Drillinge sind, aber vielleicht ist ihr Bruder Henry auch jünger oder halt älter, wer weß, noch näher kennenlernen durften als auf der Hochzeitsfeier. Und den Hund Lassie, eigentlich ein Hündchen. So und nicht anders verging dort die Zeit. Also langsam und zugleich prallgefüllt, sodass ich beim Einschlafen oft das Gefühl nicht losbekam, dass ein Tag hierzulande eher 60 als 24 Stunden hat.

Heute, da wir nach einer Woche nachmittags Tel Aviv erreicht haben, kommt mir all dies schon beinahe vor wie ausgedacht vor oder angelesen. Kaum eine Stunde dauert die Bahnfahrt von Haifa hierher und wir sind in einer komplett anderen Welt. Der Sand ist karibisch fein, die Sonne verschwindet rot gestreift hinter der metallischen See. Ein dubios aussehender Mann mit qualligem Körper und einer Art Kopfhörerrasur liegt als Meerjungfrau in der Brandung und starrt mich auffordernd an. Oder verträumt? 

Eine mädchenhafte Frau trainiert mit ihrem Hula-Hoop. In drei Tagen ist Schwulenparade. Den schönen Vogel Manya gibt es hier allerdings auch.

1.6.2019

Die Leute schauen nach oben, während sie telefonieren. Der Sommer ist da.

31.5.2019

Der Abschied von Berlin fiel mir dann schliesslich doch leicht. Am Hauptbahnhof kaufte ich mir bei Gosch eine sogenannte Fischhappentüte, ging damit durch die hohe Halle nach draussen und setzte mich auf einen der sonnenwarmen Steinquader auf dem Vorplatz. Das Hochhaus mit der typisch gewordenen Fassade war beinahe fertiggestellt. Während ich die Fischhappen ass und abwechselnd nachdachte, ob diese Tüte mit Fischhappen nicht wahrheitsgemässer als Bierteiglappentüte angepriesen werden sollte, um dann wieder die dunkel gebräunten Minderjährigen zu beschwichtigen, die mir Exemplare der Obdachlosenzeitung aufdrängten, starrte ich ins Leere. Dort war der das Hochhaus einfriedende Bauzaun aufgestellt. Ungefähr an dieser Stelle, die mir in diesen Augenblicken die Leere bedeutet hatte, zwängte sich ein in weisse Arbeitskleidung mit weissem Helm gekennzeichneter Mensch mit einem Schrubber aus der Freibadhaften Drehtüre auf den Vorplatz. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, unter Flüchen fragend, warum ich ihn «so schwul angucke». Er machte mir das Angebot, mir «seinen Schrubber hinten reinzustecken» Hubert-Fichte-Style.

Ich sagte darauf freilich nichts. Meine Tüte war leer. Man könnte auch die Tüte selbst aus Bierteig gedreht herstellen. Bei seinem Versuch, mit dem Schrubber und dem Eimer sich zurück durch die Drehtüre ins Innere des Zaunfrieds zu fädeln, versagte dem weissen Mann die Magnetkarte den Dienst. Damit begannen für ihn peinliche Minuten. Bald wendete ich mich ab, um ihm den Gesichtsverlust zu ersparen. Vor mir stand ein vermutlich gleichaltriger Mann mit einladendem Grinsen und hielt mir eine mit Stickern beklebte Tasse hin. Ich sagte «Punk’s not dead.» Und darauf er: «Bisschen Klipper-Klapper für Happa Happa.» Also öffnete ich mein italienisches Wunderwerk und gab ihm in seine Tasse der Barmherzigkeit alles, was ich noch an Euro-Münzen hatte. Mein ICE würde pünktlich sein.

30.5.2019

Es gibt dieses Gedicht von Wyston H. Auden, Christian Kracht zitiert daraus die Szene, in der ein Hase als glücklich beschrieben wird, weil er die Gedanken des erwachenden Jägers nicht kennt.

Und es ist überflüssig geworden, überhaupt noch ein einziges Wort zu verlieren über eine Bahnreise durch Deutschland. So war es auch gestern wieder genau so. Bis auf diese, mir als wesentlich eingeleuchtete Kleinigkeit, da der sogenannte Zugchef beim Versuch, während eines unabsehbar sich in die Länge ziehenden Aufenthalts vor Spandau, den zentralen Wasseranschluss für das Bordrestaurant zu öffnen, den sich beklagenden Bordrestaurantgästen entgegen—tja: leider schrie: «Das ist die Schuld von diesem Kapitalismus! Früher gab es hier noch Bordmechaniker, aber wir werden kaputt gemacht.»

Darauf ging freilich niemand ein. Wohl auch, weil der den Zugchef verkörpernde auf uns so gewirkt hatte und wirkte, als hätte er zuviele Filme mit oder über Hape Kerkeling geschaut. Es war aber auch nicht so, dass dieser Zugchef sich daraufhin für seine Entgleisung ; ) hätte entschuldigen wollen. Im Gegenteil: Ohne sich die Epauletten abgerissen zu haben, ging er kurz darauf umher, um im Auftrag seines Auftraggebers die Fahrscheine zu kontrollieren. 

Mittlerweile war es in dem Zug ziemlich warm geworden. Erste machten sich frei. Ich blätterte im Bahnmagazin. Es handelte sich um die Ausgabe für die Europawahl. Der Fortsetzungsroman stammte aus der Feder eines Tommy Jaud. Darin beschreibt er die Flugreise mit seiner Mutter, die gerade erst Witwe geworden ist. Interessant waren für mich eher die Achtelanzeigen: Italienische Wunderschuhe, mit denen selbst der Vorstandsvorsitzende der Union Europäischer Zeitschriften- und Zeitungsverleger noch sieben Zentimeter grösser erscheinen könnte; oder eine ganze Seite des längst in Vergessenheit geratenen Buchversands Rhenania: Dort wurde angepriesen der Sammelband «Hitler‘s Sex».

Vielleicht passt der Springerverlag auch deshalb so gut zur Deutschen Bahn, weil beide von Deutschland gar nicht so viel mehr wollen. 

Draussen flog wie es heisst: die Landschaft vorbei. Und die Sonne schien. Singuläre Wolken standen, wie stets frisch gewaschen, vor dem eisigen Blau. Die Landschaft darunter schaute unbewohnt aus, wie unbeherrscht auch; so als dürften die Hasen noch träumen. 

But if my thought dreams could be seen—

Es war ein langer Weg nach Mitte. Jetzt sind wir da.

29.5.2019

«Fechten ist eine Mischung aus Schach und Boxen.» Schreiben wie Theatergehen und Schach. Immer Schach.

Manchmal ist der Weg nach Hause eine Erkenntnis; ist wie die Melodie von «Take Five», die ich trotz aller unberechtigten Einwände liebe. Es gibt ein Stück meines Weges, da sind beinahe sämtliche Pflastersteine golden. Und das ungeübte Aug‘ eines Touristen könnte annehmen: Hier wohnte einst ein reicher Mann.

Heute, da ich von einem Vormittag mit «dem Spanier im Getriebe» flugs meinem Heime zustreben musste, weil mich dort der Schornsteinfeger erwartete, sah ich dort, in der Kurve, die meine Strasse heimwärts lieblicherweise nimmt, einen Mann, der war ganz in Schwarz gekleidet, und er hegte mit geöffneten Handflächen eine junge Nebelkrähe ein. Sie hüpfte ihm erst davon, auf diese elastische Weise, wie das nur Nebelkrähen, auch ältere Exemplare, können. Dann aber: Sie war ihm bis auf die Stufe vor einem Hauseingang mit verschlossener Tür entkommen, konnte er sie ergreifen. 

Ich sprach ihn an: «Sind Sie ein Ornithologe?»

«Nein, ich bin Altphilologe.» 

Wir waren im selben Alter. Aber er interessiert sich halt auch für die Fauna der Stadt, in der wir mit denen leben. Die Krähe hatte er eingefangen, weil sie ihm zu jung vorkam «Wohl aus dem Nest gefallen. Das sind wunderschöne Tiere—wenn ich die nicht versorge, wird sie totgebissen.» Dann fragte er mich nach einer nahegelegenen Tierarztpraxis—ob ich ein Smartphone hätte?

Ich war neulich an einer auf Vögel spezialisierten Tierarztpraxis in unserem Viertel vorbeikommen, allerdings wiesen die auf einem Zettel im Fenster darauf hin, dass «die Senatsmittel erschöpft sind», und man bei Einlieferung selbst zahlen muss.

Er nahm das hin, ging des Weges mit dem Krähenjungen in seinen muschelhaft geklappten Händen. 

Abends sahen wir uns wieder, in der Schlange bei Rewe: «So sieht man sich wieder!» Er hatte so ziemlich das gleiche liegen auf dem Band wie ich. Und beim Rausgehen erzählte ich ihm noch kurz vom Mutisten.

Der jungen Krähe geht es wohl gut.

Life is what you make it. There‘s no love song finer

But it‘s strange

The change

From major to minor

People are

Basically 

The same

28.5.2019

Am Nachmittag war der Fensterputzer da. Den hatte ich reflexhaft zu mir bestellt, nachdem es neulich bei mir so reingeregnet hatte, als ich gerade mit Ingo am Telefon gewesen war. Beim Nachhausekommen glänzte das Parkett wie neu, aber am nächsten Morgen fand ich alles schwarz zugelaufen und schmuddelig.

Ein leise auftretender Mann, der sich dazu noch bei Betreten meiner Wohnung bauschige Folienhülsen über seine Strassenschuhe zog, gerade so, als ob er einen Operationssaal betreten müsste.

Als ich zurückkam (und er längst fort), hatte ich eine neue Wohnung—zwar nicht geschenkt bekommen, aber gekauft: ich sah die Blätter draußen wie von Thomas Struth fotografiert. Und es roch alles so gut (wie von Struth parfümiert).

Noch mehr Licht und noch mehr Farben!

«Smog in Frankfurt, schwarzer Nebel

Liegt in Frankfurt, eine fahle Haut,

Die die Sicht mir raubt

In den Augen hab ich Tränen

Von Gas und Rauch

Und weil Du so fern bist, darum auch.»

—Michael Holm

27.5.2019

Beinahe völlig ereignisloses Wochenende bei wechselhaftem Wetter. Einmal musste ich zu einem Termin ins fern gelegene Neukölln fahren. Die Verabredung fand dort statt in der neugeschaffenen Filiale der als heikel konzipierten Kaffeehauskette The Barn. Das Café sitzt dort in einem ehemaligen Ladengeschäft, ich meinte mich noch vage erinnern zu können, was es dort früher einmal gegeben hatte, als diese Strasse noch Ghetto war. Die Einrichtungsidee besteht aus einem überdimensionierten Tisch mit kreisrunder Platte, der die Hälfte des Raumes blockiert. Er ist so weitflächig, dass die an seiner hinteren Hälfte Sitzenden sich beinahe schon dahinterklemmen müssen. Es war sehr still. An dem runden Tisch sassen zwei Männer an ihren Laptops, die in dieser Filiale überraschenderweise erlaubt sind. In der gläsernen Vitrine war ein Keks ausgestellt, der wie ein Modell des Tisches wirkte: überdimensioniert und kreisrund. Ich fragte die Bedienung nach der Natur des Kekses. Sie musste zugeben, dass sie leider das Narrativ des Kekses vergessen hatte. Es handelte sich um eine Herkunftsgeschichte, die etwas mit Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat. Der Rest war ihr momentan entfallen. Ich ass den Keks trotzdem. Mahnte aber mit gespielter Strenge, dass Ralf Rüller dieser Lapsus nicht gefallen würde. Woraufhin sie ungespielt zusammenschreckte «He‘s in town!»

Dann wurde es plötzlich unangenehm heiss und dämpfig, sodass ich bei meiner Rückkehr in die U-Bahn zu leiden hatte.

Später dann Billard mit Anna und Iskender. Der sich als Virtuose an der Queue herausstellte, obwohl er behauptet hatte, allerhöchstens ganz früher ein paar Mal zugeschaut zu haben, wenn andere gespielt hatten. Wir waren von einer überwiegend weiblichen Amateuréquipe herausgefordert worden, die unter der Führung eines fülligen Mannes namens Pätrick trainierte. Der konnte es nicht lassen, Iskender auf seine vermeintliche Herkunft aus Tibet anzusprechen. Iskender erklärte ihm stets aufs Neue in seinem geduldigen Bayerisch, dass er Tatare sei. Pätrick liess das keine Ruhe «Aber für mich siehst Du wie ein Tibeter aus.» Guter Verlierer, trotz alledem.

24.5.2019

Ich besitze seit einem Jahr ein Portemonnaie, das ist ein kleines Wunderwerk, denn es ist aus einem einzigen Stück Leder gemacht, aber man weiss eigentlich nicht: wie. Seine Form ist mehr als halbkreisförmig. Der Deckel klappt auf, und dann ensteht eine Rutsche, aus der mir das Kleingeld entgegenrutscht, aber dabei nie herauspurzelt—weil der Deckel jetzt als eine Lade doppelt. Und das Rätsel seiner Gemachtheit entsteht bei diesem Gegenenstand, den mir Friederike zum Geburtstag geschenkt hat, wahrscheinlich vor allem deshalb, weil mir abends andauernd die Münzen aus der Hose aufs Parkett gerasselt sind beim Ausziehen, vor allem dadurch, dass man keine Naht entdeckt im Leder (und dabei gibt es sogar noch eine Vortasche, in die man etwas stecken kann; beispielsweise Abholscheine von der Reinigung).

Andrea Spottorno hat dies, mein Portemonnaie, einst mit Behagen betrachtet. Es handelt sich wohl um einen italienischen Klassiker. Deswegen aber musste er mich auch tadeln (weil ich einen Schein aus dem Vortäschle zog) «They’re only for coins».

Hier auf dem Vorplatz der U-Bahn gibt es dreimal wöchentlichs einen Markt, der wird von zwei bärtigen Sikhs veranstaltet. Die verkaufen dort billige Blusen und Lederwaren. Das Geschäft läuft anscheinend gut, weil die haben jetzt ein leerstehendes Ladengeschäft nebenan in Besitz genommen und eröffnen dort laut Schild einen «Asiatischen Afro Shop».

An ihrem Marktstand, wo es ansonsten Handtaschen und -täschle, sogar Schirme aus dick abgespaltenem Leder gibt, halten sie auch ein grob vergrössertes Modell meines italienischen Klassikers feil. Es ist allerdings, wie man es sonst bloss von den Jeanshosen bei Kölner Männern kennt: mit orangefarbigen Bindfaden umnäht.

23.5.2019

Dies Auf- und Ab des Wettergeschehens: gestern noch war es trüb und feucht und kalt, heute nun wieder sonnig und einladend. Bald soll schon Juni sein, Monat meiner Geburt und bislang ein Garant für ungetrübte Sommerfreuden.

Am Tag zuvor sassen wir noch mit Christian und Lottmann am Rande des Alexanderplatzes in der sogenannten Alex Oase, wo es korbgeflochtene Sofatische hat mit Glasplatten obenauf und die dazu passenden Sofas. Lottmann, der angeblich seit neuestem in Israel lebt, holte aus seinem Täschle winzige Kunststoffbehälter hervor, aus denen er Campari trank—angeblich der einzige Alkohol, der ihn nicht schläfrig macht. Ansonsten besprachen wir angesichts des ibizenkischen Mobiliars der Alex Oase freilich vor allem die österreichische Staatskrise.

Später fing es schon wieder an zu plattern. Für die Bäume ist das ja gut, aber ich mag es halt beständig—von daher vermutlich meine Liebe zu Vögeln: die singen zu dieser Zeit im Jahr, an jedem Morgen um die selbe Zeit, dasselbe Lied.

21.5.2019

In Zürich konnte ich meine Hosen vier bis fünf Tage lang tragen. Hier ist ein Paar spätestens nach zwei Tagen reif für die Waschmaschine.

20.5.2019

Heute früh stand ich auf aus meinem Bett und ging, ich fühlte mich tatsächlich so wie gesteuert, ans Fenster und schaute in den immer gleich grünen Baum. Das war um 4 Uhr, 56 Minuten. Mir war der Satz eingefallen (oder aufgegangen), mit dem ich den Text für das Buch über Emoji anfangen muss, damit das einen Sinn ergibt. Der hatte mit Arles zu tun, mit den weissen Pferden der Camargue, mit den Flamingos. Und vor allem natürlich mit Beda, denn ich befinde mich ja noch immer in seinem Denksystem. Vor über einem Jahr hat er mir zugeworfen «Du hast natürlich überhaupt keine guten Ideen. Aber: Wenn ich Dir sage, worüber Du nachdenken sollst, hast Du natürlich die allerbesten Ideen!»

On Beda

He’s not wearing a watch. That seems important to me, because Beda is Swiss. And he seems bigger to me in my memory than he actually is when I meet him again. In my memory Beda is about Kirchturmhoch. A friendly giant. We have known each other for more than twenty years, and I can’t remember any meeting where Beda didn’t have to laugh when I told him something to laugh about. And that is, above all his ability: Beda can be inspired. He craves it. I could imagine that there might be people who imagine something that leaves him cold. But he never tells me about them. But always the same about those he thinks are great; extraordinary!

I usually get his calls in the morning, around six. Then Beda joggs through the linden woods on Züriberg, greets the deer sideways and tells the world his feelings of embracing the world.

I can count myself lucky to belong to this circle of the rung.

As already often described, Beda works in his studio on an immense desk, the wooden top is custom made and about six meters long and very wide. This area is covered by a mountainous landscape of books and magazines. He does not use a computer. A tiny mobile (Nokia) is all he needs to call for input from the world outside his studio. Then he sits there, there is no door to this room, and yet you only go in when you are called by your last name and take notes by hand. For example, he keeps these legendary black folders in which he notes down ideas and tasks that he strokes out with a black paintbrush pen during completion or implementation in such a way that when an entire pad is completed, there are only black lines on the pages. As with Jenny Holzer. There’s a whole shelf of it in the adjacent storage room.

And therein lies, in order not to go into too much detail now: his principle. You can also try and write postcards to Beda. If he thinks they are perfect, he will find a place for them.

He lives in a way that has long been forgotten in this country. One could say: out of fashion. Beda lives like a prince. Once when we met for coffee early in the morning, he used his tiny telephone to steer his landlady through the weekly market. She then had to tell him by telephone what kind of vegetables he had on offer at which stand. And he then gave his placet based on her descriptions of tomato shapes. Thereupon we drove, he himself sat at the wheel, in his VW «Lupo» to the countryside to do our work.

Later in the evening the landlady had brought all the vegetables to a restaurant near the studio. They were prepared there. According to Beda’s specifications.

I could go into much more detail about the studio workflow now, but that would probably go too far; it would seem like a fantasy of a working world that no longer exists in this country—perhaps never existed before. It would be too much. And Beda himself would say: there’s not too much (in abundance)!

Sometimes I think of our age, how long we have known each other. I don’t know what I should do without him — though: I already know. But life wouldn’t be pretty anymore.

19.5.2019

Früh auf, von draussen her: wärmende Grüntöne. Die mit Laub bestückten Äste schwingen im Wind, sie locken mich: «Come hither, Darling»—Andere müssen sich eine 3-D-Brille aufziehen, um das genau so erleben zu dürfen. Scharfkantig die Wolken gegen das Blau: Ein weisses Pferd (bei Beda drüben, der jetzt schon in der Camargue, bei den Flamingos* weilt).

Der erste Schluck von der Milch hier: freilich ein Affront.

Im Park zuerst die Schwanen besucht: es waren vier von fünfen ausgeschlüpft. Und sassen dort puschelig auf dem Nest, auf dem sie jüngst noch in den Eierschalen gelegen. Das fünfte schlief noch, wahrscheinlich für immer und ewig in seinem Ei, das abseits lag; tatsächlich so gross und auch so geformt ist wie der Kieselstein aus der Bretagne auf meinem Fensterbrett. Erste Ausfahrten. Die Schnäbelchen glänzen noch schwarz und sind so glänzend und feinsinnig geformt wie Jodhpur Boots von Trickerˋs.

Ein Eichhörnli mit weißem Latz war ganz nah und schaute auf mein Zwitschen hin in die Kamera. Am Ufer, bei dem hellen Stamm, wo die noch roten Blätter der Seerosen an die Wasseroberfläche stossen, machte es plumps, und ich sah von ihr nur noch den Panzer über schlammigem Grund: rundlich rostiges U-Boot der Wasserschildkröte, die ich beim Sonnen gestört.

Und so gern ich alles hasenförmige habe: Ich würde die elf Millionen, die ich nicht habe, sehr viel eher noch zahlen für solch einen gelungenen Morgen im Park kurz nach Sonnenaufgang. Hinter dem Lanzettenzaun wird es sofort wieder feindlich. Ein Bus fährt vorbei, auf dem steht «Sie haben einen sitzen. Wir 45», auf dem nächsten «Nach dem Verkehr müssen Sie leider gehen»: Es ist ja weder lustig, noch ist es informativ. 

Vor gut zwei Jahren, als ich noch bei Interview schaffte, und der Schulz-Zug auf guten Touren lief, schrieb ich an die SPD im Willy-Brandt-Haus mit der Bitte um ein Gespräch mit ihrem Kanzlerkandidaten. Fotografieren sollte Wolfgang Tillmans. Das wurde mir nach einigem Hin und her abschlägig beschieden. Erschienen ist ein Interview dann mit einem Foto von Martin Schulz in der Grünanlage vor dem Golden Shower Tower in der Sonntagszeitung Welt am Sonntag. Jetzt gibt es diese Großplakate mit Katarina Barley. Anscheinend hat man sich im Willy-Brandt-Haus die folgenden Gedanken gemacht «Tillmans will ja bloss diese abstrakten Schriftposter gestalten, die sie neulich in der NZZ auf einer Doppelseite abgedruckt haben. Das versteht hier mein Wähler aber, der in Spandau in seiner Laube sitzt und piept, nicht. Wir nehmen für die Katarina einfach diese Haare-Make-Up-Frau, die bei den Genossen von der Tagesschau die Judith Rakers flott macht. Und dann soll die Katarina noch diesen coolen Hoodie anziehen mit den gelben Europasternen drauf. Der muss aber möglichst unverwaschen rüberkommen, damit man gleich sieht, dass sie den ansonsten niemals trägt. Stylisten können wir uns damit sparen. Und der Fotograf soll halt im Hintergrund einen Streifen Sonnenlicht auf die Bürotapete bannen. Das würde der Wolfgang ähnlich sehen.»

Deutschland, die SPD, ideal vertont von Matthew Dear mit «Slow Dance»: Man will eindeutig Vorwärts, aber da ist noch was—wo war denn gleich noch das Klistier? 

Daheim dann wieder, ich nahm soeben meinen Apéro, gab es plötzlich ein Geflatter. Eine Nebelkrähe war im linken Baum gelandet und verscheuchte die dort Brütende aus ihrem Nest. Um sich daraufhin an den Eiern der nur halb so grossen Tauben mit ihren nur viertelgrossen Schnäbeln, gütlich zu tun. Tja. Es gibt die Kuckucksei-Taktik, aber es gibt keinen Vogel, der brütende Arten aus ihren Nestern vertreibt, um deren Nachwuchs auszubrüten (weil er meint, es besser zu können, weil es sein Fetisch ist, weil er sich füttern lassen will o.ä.)

Und ich dachte an den Roten Milan, den ich am Osterwochenende geschaut, als ich mit Friederike in den Aussichtsturm auf dem Adlisberg geklettert war. Der liess sich von einer Thermikspirale sachte auf unsere Höhe saugen, bis er uns zum Greifen nah gekommen war. Und der Turm mit seinem Boden unter unseren Füssen vibrierte bei jedem unserer Atemzüge. Der Turm ist aus Holz. Und ich hatte Vertigo.

In meinem Feldbuch steht es 28:25 für Berlin. Und der Luftdruck hier liegt bei 1000 Hektopascal. Tag Eins meiner Beach diet. Mein Kopf, er enthält die ganze Welt, passt, von hinten her genommen, schon in meine rechte Hand.

 *Wenn das eine Bein angehoben wird, verschiebt sich der Körperschwerpunkt über das andere Bein. Ein zusätzlicher «Arretiermechanismus» sorgt für die nötige Stabilität, sodass das Balancieren auf einem Bein selbst im Schlaf möglich ist. In der Theorie funktioniert dieser Mechanismus auch, wenn der Vogel tot ist.

Verspüre grosse Lust, auf der Welt zu sein.

18.5.2019

Nach vier Wochen Zürich ist Berlin wie Afrika. Und auch ich selbst machte wohl einen dubiosen Eindruck auf die Eingeborenen. So winkte man mich, nachdem ich 47 Minuten auf mein Gepäck gewartet hatte, bis es sich endlich aus der todmüd quietschenden Schleuse schälen sollte, in der Zollkabine aus dem Strom der Einreisenden heraus. Wahrheitsgemäss gab ich den Inhalt meiner Tasche an mit «ungewaschener Leibwäsche». Doch die darin eingebetteten fünf Kilogramm Cervelat wurden mir abgenommen, weil die Einfuhr von Wurst- und Fleischwaren aus einem nicht-EU-Land nicht erlaubt ist. Wusste ich nicht. Ist doch seltsam, wenn zugleich die Schweizer an den Wochenenden ihre Einkäufe in den grenznahen Supermärkten auf deutschem Territorium erledigen dürfen, und man ihnen dort auch gleich noch die Mehrwertsteuer erstattet. Denke mal, dass es am gestrigen Nachmittag auf einer Reinickendorfer Terrasse würzig mild nach scharf grillierten Wurstwaren aus der Metzgerei Keller am Züricher Manesseplatz geduftet haben wird (und die Dame des Hauses poliert ihre Ernst-Jünger-haft ausladende Sammlung von Nagelscheren aus aller Welt). 

Ich fand die Szene dennoch heiter, da ich ja unter meiner Jacke das T-Shirt trug von einem Schweizer Zollbeamten, das ich in Bulgarien in einem Second-Hand-Shop erstanden hatte. Und den dünnen Stapel Tausendfrankenscheine, umwickelt mit einigen Lindt-Aktien, hätte der Kollege bei seinem nachlässigen Herumkramen in meinem Tascheninhalt wohl nicht aufgestöbert.

Heiter gesinnt, lenkte ich den Dieselklepper heimwärts auf meine Ghostranch. Und fand dort mein Heim, zum allerbesten nur, verändert vor. In den vergangenen Wochen waren die Schwarzpappel zur rechten Seit’, die Winterlinde zur linken, voll ergrünt dergestalt, dass ich nun zum ersten Mal vor Augen hatte, was meine Vermieterin bei der Besichtigung im Januar mit der einmaligen Aussicht gemeint hatte: dass diese beiden Bäume ungewöhnlich nah am Hause wurzelten, war mir schon in deren kahlen Zeit aufgefallen. Jetzt aber greife ich bei geöffneten Fenstern direkt ins volle Grün hinein. Sagenhafte Perspektiven. Andere zahlen Eintrittsgeld für ein paar Stunden im Baumwipfelpark. Ich lebe so.

In dem ausgebauten Restnest, das vor ein paar Wochen noch den Lebensmittelpunkt des Mutisten dargestellt hatte, sass jetzt eine aufgeplusterte Taube. Offenbar brütet sie dort auf einem Ei. 

Ich nahm eine frische weisse Hose aus dem Schrank.

17.5.2019

Geschlafen wie ein Murmeltier, zeichenhafterweise. Wenn der letzte Strich gesetzt ist, wenn die Druck-PDF geschrieben werden, fällt die Spannungskurve, die einen tage- und wochenlang getragen hat. Eine mächtige Müdigkeit legt sich um einen herum und man begreift, was mit Morpheus‘ Umarmung gemeint ist. Mein Feldbuch zeigt insgesamt 25 Einträge von Vogelstimmen und Pflanzen, die ich während der vergangenen vier Wochen bestimmt und eingetragen habe. Ich habe einen bescheidenen Beitrag zur Kartografie der Flora und Fauna im Stadtgebiet Zürich erbracht. Weiter geht es mit dem Botanisieren jetzt in Berlin.

Der Flughafensender spielt Barry Manilow, «Mandy». Gleich kommt «Leaving on a Jetplane» von Singing Sweet.

16.5,2019

Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!
Zieh durch die weite Flut zurück,
Dahin, woher mich trug dein Kahn,
Kehr wieder nur zu unsrem Glück!
Drum sei getreu dein Dienst getan!
Leb wohl, leb wohl, mein lieber Schwan!

(Der Schwan wendet langsam den Nachen und schwimmt den Fluß zurück. Ich schaue ihm eine Weile wehmütig nach.)

15.5.2019

Ich denke hier andauernd ans Essen. Mit Friederike bin ich mir einig, dass die Schweiz das Mundungsland No 1 ist. Im Gegensatz zu mir war sie schon in Japan, aber betrachtet die Schweiz als minimal überlegen, weil die Japaner Schwachpunkte bei den Süssspeisen haben.

Ich bin gespannt darauf, wie ich mit meinen hier verfeinerten Geschmacksknospen die heimische Kost wahrnehmen werde. Und ich bin jetzt erst recht gespannt auf Israel.

14.5.2019

Nachdem es jetzt zehn Tage lang nur geregnet hatte, war gestern zum ersten Mal wieder klarer Himmel beschieden. Die Farben des Züricher Stadtwappens: genau dieser Blauton, dazu das Weiss von den Wolken. Am Abend zeigte sich über meinem Fenster mit einem Mal ein Vlies aus den Wolken; das wurde minütlich dünner und zog sich gespinsthaft auseinander, plötzlich, da kam ich gerade aus der Küche zurück, hatte es sich vor dem lupenreinen Blau in eine einzige, zeppelinförmige Wolke zusammengezogen. Und die wurde vom Uetliberg her von den Strahlen der untergehenden Sonne her angeleuchtet.

Ich spüre die Ungeduld der Leute. Sie deuten in den Himmel und fragen laut, was das soll. Zu dieser Jahreszeit! Vor zwei Tagen gab es am frühen Morgen vor dem Rathaus eine Versammlung von Demonstranten, die forderten über Megaphone die Ausrufung des Klimanotstandes.

Gestern trat plötzlich Yves zu mir in den Raum, ich mag ihn so gerne, er lächelt so schön, und sagte «Ciao, ich reise jetzt in Dein Land.» Er sollte dort den Andruck des neuen Prachtbandes von François Halard begutachten. Der wird freilich in Deutschland gedruckt, denn die Dienstleistungen der Schweizer Druckereien können sich nicht einmal mehr die Schweizer leisten.

François selbst sass mir dann heute den ganzen Tag gegenüber, wo normalerweise nur die Messer und die Lineale liegen. Und schrieb mit einer Engelsgeduld ganze Din-A-4-Seiten ab von Hand. François hat eine unglaublich schöne Handschrift. Werentwegen er seit neuestem vom Studio als Handschriftenspezialist angestellt wird. Das war jahrelang die Aufgabe von Alexis Saile, aber Yves hat mir verraten, dass der mittlerweile eine Ladehemmung hat und nur noch auf jahrelange Vorbestellung liefern kann.

Ich fragte François, ob die Geschichte denn stimmt, die, mit seinem allerersten Job. Und er sagte «Mais oui, das stimmt. Ich war dreizehn Jahre alt und wollte unbedingt Fotograf werden. Ich bekam diesen Job als Assistent eines Fotografen, der war auf Nacktaufnahmen spezialisiert. Und er sagte zu mir: öle sie ein. Und als ich das gut gemacht hatte, durfte ich Kirschen kaufen gehen auf dem Markt. Meine Aufgabe war es, die Kirschen einzeln auszusuchen, damit ihr Farbton zu den Farbtönen der Lippenstifte passt.»

13.5.2019

Meine Zeit hier ist nun beinahe vorüber. Irgendwann neulich machte ich mir einen Kaffee im Studio und nebenan konnte ich zwei meiner Schweizer Kollegen belauschen, die sich eine witzige Situation nacherzählten. Sie lachten laut dabei und ahmten sogar die Beteiligten nach. Da wusste ich, dass ich hier angenommen war; dass ich nicht mehr, wie in den über zwanzig Jahren jetzt zuvor als ein Fremdkörper wahrgenommen wurde, sondern dass es egal war, ob ich ihnen bei Privatgesprächen zuhören konnte.

Eine Theorie der Schweiz ist bislang ungeschrieben. Der Vorurteile gibt es viele. Im Folgenden will ich versuchen, einiges klarzustellen, weil ich, wie gesagt nach über zwanzig Jahren, so denke ich: einiges über die Geheimnisse des Schweizerischen herausgefunden habe, das Bestand haben dürfte. Wer den Kopf herausstreckt, sollte begründen können, weshalb er sich traut. Ich denke, dass es meine Herkunft aus Schwaben ist, die mir ein besseres Verstehen der Schweizer Gepflogenheiten ermöglichen kann. Vor tausend oder noch mehr Jahren, also lange vor der Gründung der Schweiz am 1. August 1291 waren wir womöglich ein Volk, die Nordschweizer und die Schwaben. Jedenfalls denke ich immer an die Kuckucksuhren, die angeblich im Winter in die Hügelzüge des Schwarzwaldes ausgetragen wurden von schweizer Bauern im Winter. Oder war es vielleicht auch andersherum; beidseitig? Bei Baden-Baden haben wir ein Museum für Uhrwerke. Muss demnächst mal wieder hin.

1.  Wie Schwaben und das Schwäbische ist die Schweiz und das Schweizerische nur vor dem Hintergrund eines Agrarvolkes zu verstehen. Das ist der Ursprung. Und er ist nicht vergessen. Er ist tief eingedrungen in die Begriffe, er bestimmt sämtliches Handeln bis heute. Das Wetter ist hier gottgleich zu setzen. Es kann die Ernte reich ausfallen lassen, kann sie aber auch vernichten. Im Gegensatz zu vielen anderen Nationen, bedeutet es in der Schweiz keine Einfallslosigkeit, das Wetter zu loben. Im Gegenteil, ein Lob des Wetters, auch eine Fürbitte ist hier stets willkommen. Abstrahiert vom tatsächlichen Wettergeschehen wirkt in der Schweiz der Kompromiss. Man sagt, die gesellschaftliche Praxis wäre ein Abbild des politischen Systems, einer einmaligen Mischform aus direkter Demokratie und Parlamentarismus, die zuförderst die Langwierigkeit, positiver ausgedrückt: das Nachdenken beinhaltet. Wer neu ist in einem System aus schweizer Auftraggebern und schweizer Kunden wird sich sehr vermutlich fragen, wie überhaupt Entscheidungen getroffen werden? Dieses Fragezeichen ist übrigens aus deutscher Perspektive gesetzt. Aus der schweizerischen betrachtet steht dort ein Punkt. Der Prozess, zu einer idealen Lösung zu finden, läuft hier über drei Stufen ab: zunächst wird eine a priori als konfrontativ empfundene Vorschlagsvariante präsentiert. Die wird meistenfalls abgelehnt. Am nächsten Morgen dann aber, wenn sich sämtliche daran beteiligte Gewerke beraten haben, steht ein Entschluss, der im überwiegenden Maße die anfänglich präsentierte Lösung akzeptiert. Und die dritte Massnahme liegt dann an einem selbst.

Ich habe, wie oft schon erzählt, einige Zeit meines Lebens in Äthiopien gelebt. Ebenfalls eine Nation vieler Sprachen, ebenfalls extrem stark agrarisch geprägt. Das System der Einigung dort war vergleichbar mediatorisch. Sobald es auch nur den geringsten Anschein einer Unzufriedenheit gab, setzten sich Vertreter sämtlicher Parteien, oft auch unter Hinzubitten uralter Weisen, an einen runden Tisch—der dort übrigens auch immer rund zu sein hatte—, um eine allgemein verträgliche Lösung des Konfliktes auszudiskutieren. 

Wenn man Landwirtschaft betreibt, womöglich noch im Hochland, wie in der Schweiz, wie in Äthiopien, ist diese langwierige Praxis einer Sicherung von Solidarität lebensnotwendig. 

Diese beinahe autochthone Verwurzelung der Schweizer in ihrem Erfolgsgeheimnis als Kulturnation, die in einem Zeitschriftenartikel beschrieben wurde mit «Wie konnte aus einem Steinhaufen in nur 150 Jahren das reichste Land der Welt werden?» teilt sich dem erstmalig in der Schweiz tätigen Mitarbeiter vor allem in den Umgangsformen mit: Man erhält keine Anweisungen. Man trifft auf eine exzellent vorbereitete Clientèle, die einem durch Gesten, mit Vorbereitetem vor allem mitteilt, was man für sie tun könnte. Sie ernähren einen gut, lenken dich sachte. Man agiert gemeinsam auf dem Einverständnis, dass man im Einvernehmen die besten Erträge erzielt. Aus Deutschland kommend, in meinem Fall, hat man bei Erledigung dieser Arbeit auch ein permanent schlechtes Gewissen. Ganz einfach, weil man dabei glaubt, das könnten die doch eigentlich selbst genauso gut.

Aber das können sie nicht. Beziehungsweise: sie wollen es nicht.

2. Die Stadt Zürich hat einen Ausländeranteil von 33 Prozent. Die Stadt zählt auch die höchste Porsche-Dichte der Welt. Arbeit schändet zwar nicht, aber man macht sie nur gern in Maßen. Vorangehender Satz könnte in Schweizer Publikationen nicht veröffentlicht werden, weil man hierzulande das ß nicht druckt (und dann stünde dort Massen, also genau das Gegenteil!)

Aber davon abgesehen ist das Mass das Mass aller Dinge in der Schweiz. Wenn man hier längere Zeit seines Lebens verbringt, bekommt man allmählich Lust auf etwas, das nicht gelungen sein könnte. Damit werden einen die Schweizer verlässlich enttäuschen. Diese Perfektion im gesellschaftlichen Getriebe führt freilich zu einer Überreiztheit, hinsichtlich der Fährnisse des Alltags. Der Schweizer muss permanent beschwichtigt werden. Das passiert auch überall und ständig, aber für den Zugereisten bleibt das Bild einer auf Zinne gekämmten Nation.

Die App lädt nicht, die Tram hatte eine Kollision? All diese in benachbarten Nationen alltäglichen Zwischenfälle scheinen hier gut zum Anlass für ein kollektivierendes Ausrasten. Die Selbstmordrate ist ebenfalls hoch. Und Zürich hat, verglichen mit Manhattan, eine weitaus höhere Anzahl von Psychotherapeuten und -analytikern, vulgo Shrinks.

3. Der Umgang mit Geld interessiert natürlich. Etwa 3500 Milliarden der insgesamt über siebentausend in der Schweiz verwalteten Franken stammen von ausländischen Geldgebern. Man kann gar nicht anders, als die Schweizer, speziell in Zürich als Geldexperten anzuschauen. Gezahlt wird hier trotz der hohen Rechnungssummen eher beiläufig, es scheint beinahe lästig und es könnte in naher Zukunft sogar so vorstellbar werden, dass sämtliche Geschäfte während des Aufenthaltes in der Schweiz zahlungsfrei abgehandelt werden (beispielsweise, weil bei dem Betreten der Schweiz ein gewisser Betrag gezahlt werden muss, der schon sämtliche Zahlungen beinhaltet wie in Bhutan und die Einwohner vergleichbar mit dem Zürisack, dem hiesigen Müllbeutel, eine Art Generalplakette auf sämtliche Dienstleistungen erwerben können).

4. Die Schweiz ist eine oral culture. Neulich kam ich an dem Gebäude vorbei, in dem die Redaktion des Idiotikons firmiert. Am Lexikon der Schweizer Deutschen Sprache wird ja jetzt schon seit beinahe hundert Jahren gearbeitet. Bislang sind 16 Bände erschienen, der siebenzehnte lässt auf sich warten. Ich bin mir total sicher, dass die Arbeit dort supergründlich durchgeführt wird. Aber wo gibt es das sonst noch, in Europa: Ein Volk, das seine Sprache nicht definiert? Und das ist dann vermutlich auch der Grund für zweierlei: dass man für schreiberische Aufgaben sich lieber jemand aus dem deutschsprachigen Ausland holt (als ich neulich mit Boris Blank parlierte, sagte der zu Beginn «Soll ich auf Schriftdeutsch reden?»—entschied sich aber daraufhin, im Zürideutsch zu mir zu sprechen). Das geschriebene Wort ist die Totenmaske des im Schweizer Deutsch Gesprochenen. Von daher womöglich die hiesige Liebe zur Typografie.

5. Kritik und Humor: Beides gleich schwierig. Hat man, das ist mir tatsächlich passiert, auf einer gemeinsamen Autofahrt, Google versehentlich auf eine Routenplanung zu Fuss eingestellt, wird niemand etwas sagen. Aber wenn man einen Fehler macht, der einem anderen Menschen nicht hätte passieren können, einen also, der sich nicht auf den Umgang mit einer übermenschlichen Autorität wie Google, Wetter oder Gott bezieht, wird man in der Schweiz hart kritisiert. Da fallen womöglich so gut wie keine Worte. Aber man hat sich als unzuverlässig erwiesen. Und ein Verlassen auf Unzuverlässige kann, insbesondere beim Bergsteigen, tödlich sein.

Mon séjour ici est presque terminé. L’autre jour, je me suis fait un café dans le studio et à côté, j’ai pu écouter deux de mes collègues suisses raconter une drôle de situation. Ils riaient fort et imitaient même les personnes impliquées. Alors j’ai su que j’étais accepté ici ; que je n’étais plus perçu comme un corps étranger, comme je l’avais été pendant plus de vingt ans, mais que peu importait si je pouvais les écouter dans des conversations privées.

Une théorie de la Suisse n’a pas encore été écrite. Les préjugés sont nombreux. Dans ce qui suit, je vais essayer de clarifier quelques points, parce que, comme je l’ai dit après plus de vingt ans, je pense : j’ai découvert quelques choses sur les secrets de Swiss, qui devraient durer. Quiconque sort la tête en l’air devrait être capable d’expliquer pourquoi il ose. Je pense que c’est mon origine souabe qui me permet de mieux comprendre les coutumes suisses. Il y a mille ans ou plus, bien avant la fondation de la Suisse le 1er août 1291, nous étions probablement un seul peuple, les Suisses du Nord et les Souabes. En tout cas, je pense toujours aux coucous qui étaient censés être transportés dans les collines de la Forêt-Noire en hiver par les paysans suisses. Ou était-ce peut-être l’inverse, des deux côtés ? Près de Baden-Baden, nous avons un musée de l’horlogerie. Je dois y retourner bientôt.

Comme la Souabe et le Souabe, la Suisse et la Suisse ne peuvent être comprises que dans le contexte d’une nation agraire. C’est l’origine. Et il n’est pas oublié. Il a pénétré profondément dans les concepts, il détermine toutes les actions jusqu’à aujourd’hui. Le temps ici est divin. Elle peut enrichir la récolte, mais elle peut aussi la détruire. Contrairement à beaucoup d’autres pays, il n’est pas inimaginable en Suisse de faire l’éloge du temps qu’il fait. Au contraire, un éloge du temps, aussi une intercession est toujours la bienvenue ici. Abstrait de la météo actuelle en Suisse, le compromis fonctionne. On dit que la pratique sociale est un reflet du système politique, un hybride unique de démocratie directe et de parlementarisme, qui favorise la longueur, plus positivement exprimée : la réflexion. Qui est nouveau dans un système de clients suisses et les clients suisses se demanderont très probablement comment les décisions sont prises ? D’ailleurs, ce point d’interrogation est posé d’un point de vue allemand. D’un point de vue suisse, il y a un point. Le processus de recherche d’une solution idéale se déroule en trois étapes : tout d’abord, une variante a priori perçue de la proposition conflictuelle est présentée. Dans la plupart des cas, cette demande est rejetée. Mais le lendemain matin, lorsque tous les corps de métier concernés se sont consultés, une décision est prise qui accepte à une écrasante majorité la solution initialement présentée. Et la troisième mesure dépend alors de vous.

Comme je l’ai souvent dit, j’ai vécu en Éthiopie pendant une partie de ma vie. C’est aussi une nation aux multiples langues, également extrêmement agraire. Le système d’unification y était comparativement médiateur. Dès qu’il y a eu la moindre apparence de mécontentement, les représentants de toutes les parties, souvent avec l’aide d’anciens sages, se sont assis à une table ronde - qui, soit dit en passant, devait toujours être là - pour discuter d’une solution généralement acceptable au conflit.

Si l’agriculture est pratiquée, éventuellement dans les hauts plateaux, comme en Suisse, comme en Ethiopie, cette pratique prolongée de solidarité est vitale.

Cet enracinement presque autochtone des Suisses dans le secret de leur succès en tant que nation culturelle, décrit dans un article de magazine comme «Comment un amas de pierres peut-il devenir le pays le plus riche du monde en 150 ans à peine?» Aucune instruction n’est donnée. On rencontre une clientèle très bien préparée qui, par ses gestes et ses préparatifs, nous dit ce que l’on peut faire pour elle. Ils vous nourrissent bien, vous guident doucement. On agit ensemble en partant du principe que l’on obtient les meilleurs résultats d’un commun accord. Venant d’Allemagne, dans mon cas, on a aussi une conscience de culpabilité permanente quand on fait ce travail. Tout simplement parce que vous pensez qu’ils pourraient le faire tout aussi bien eux-mêmes.

Mais ils ne peuvent pas faire ça. Ou plutôt : ils n’en veulent pas.

2 La ville de Zurich compte 33 pour cent d’étrangers. La ville possède également la densité Porsche la plus élevée au monde. Le travail ne profane pas, mais les gens aiment le faire avec modération.

Mais en dehors de cela, la mesure est la mesure de toutes les choses en Suisse. Si vous passez une longue période de votre vie ici, vous ressentirez progressivement le désir de quelque chose qui n’aurait peut-être pas réussi. Les Suisses vous décevront en toute confiance. Cette perfection dans la transmission sociale conduit certainement à une surexcitation face aux dangers de la vie quotidienne. Les Suisses doivent être apaisés en permanence. Cela arrive partout et tout le temps, mais pour le nouveau venu, l’image d’une nation peignée sur un pinacle demeure.

L’application ne se charge pas, le tram a eu une collision ? Tous ces incidents quotidiens dans les pays voisins semblent être une bonne raison pour une panique collectivisante. Le taux de suicide est également élevé. Et Zurich a, par rapport à Manhattan, un nombre beaucoup plus élevé de psychothérapeutes et d’analystes, vulgo Shrinks.

3 Bien sûr, il est intéressant de traiter avec de l’argent. Environ 3500 milliards des plus de sept mille francs administrés en Suisse proviennent de donateurs étrangers. On ne peut s’empêcher de considérer les Suisses, surtout à Zurich, comme des experts financiers. Malgré les sommes d’argent élevées en jeu, le paiement ici est plutôt occasionnel, il semble presque ennuyeux et dans un avenir proche, il pourrait même devenir tellement concevable que toutes les affaires pendant le séjour en Suisse seront traitées sans paiement (par exemple, parce que lors de l’entrée en Suisse un certain montant doit être payé qui comprend déjà tous les paiements comme au Bhoutan et les habitants comparables avec le Zürisack, le sac à déchets local, peuvent acquérir une sorte de badge général sur toutes les prestations).

4 La Suisse est une culture orale. Récemment, j’ai passé devant le bâtiment où se trouve la rédaction de l’Idiotikon. L’encyclopédie de la langue suisse allemande est en cours d’élaboration depuis près d’un siècle. Jusqu’à présent, 16 volumes ont été publiés, le dix-septième est encore long à venir. Je suis absolument certain que le travail sera effectué d’une manière superficielle. Mais où d’autre cela existe-t-il en Europe : un peuple qui ne définit pas sa langue ? Et c’est probablement la raison de deux choses : que les gens préfèrent faire venir quelqu’un des pays germanophones pour écrire (mais quand j’ai parié Boris Blank l’autre jour, il a décidé au début de me parler en zürideutsch, „Est-ce que je parle en allemand écrit ?) L’écrit est le masque mortuaire de ce qui est parlé en suisse allemand. D’où peut-être l’amour local de la typographie.

5. la critique et l’humour : les deux sont tout aussi difficiles. Si, comme cela m’est arrivé, vous avez accidentellement mis Google sur une planification d’itinéraire à pied lors d’un voyage en voiture commun, personne ne dira rien. Mais si vous faites une erreur qui n’aurait pas pu arriver à une autre personne, une erreur qui n’a rien à voir avec une autorité surhumaine comme Google, la météo ou Dieu, on vous critique durement en Suisse. Peut-être qu’il n’y a presque pas de mots. Mais ils se sont révélés peu fiables. Et compter sur le manque de fiabilité, surtout en alpinisme, peut être fatal.

Il mio tempo qui è quasi finito. L’altro giorno mi sono fatto un caffè in studio e l’altro giorno ho potuto ascoltare due dei miei colleghi svizzeri che raccontavano una situazione divertente. Hanno riso ad alta voce e hanno persino imitato le persone coinvolte. Poi sapevo di essere stato accettato qui; che non ero più percepito come un corpo estraneo, come lo ero stato per più di vent’anni, ma che non importava se potevo ascoltarli durante le conversazioni private.

Una teoria della Svizzera non è stata ancora scritta. Ci sono molti pregiudizi. Di seguito cercherò di chiarire alcune cose, perché, come ho detto dopo più di vent’anni, penso: ho scoperto alcune cose sui segreti della Svizzera, che dovrebbero durare. Chiunque sporga la testa dovrebbe essere in grado di spiegare perché osa. Penso che sia la mia origine sveva che mi può dare una migliore comprensione dei costumi svizzeri. Mille o più anni fa, molto prima della fondazione della Svizzera il 1° agosto 1291, eravamo probabilmente un solo popolo, la Svizzera settentrionale e gli Svevi. In ogni caso, penso sempre agli orologi a cucù che in inverno sarebbero stati portati sulle colline della Foresta Nera da contadini svizzeri. O forse è stato il contrario, da entrambe le parti? Nei pressi di Baden-Baden abbiamo un museo dell’orologeria. Deve ripartire presto.

Come la Svevia e la Svevia, la Svizzera e gli svizzeri possono essere compresi solo nel contesto di una nazione agricola. Questa è l’origine. E non viene dimenticata. Ha penetrato profondamente nei concetti, determina tutte le azioni fino ad oggi. Il tempo qui è divino. Può rendere ricco il raccolto, ma può anche distruggerlo. A differenza di molte altre nazioni, in Svizzera non è inimmaginabile lodare il tempo. Al contrario, un elogio del tempo, anche un’intercessione è sempre benvenuta qui. Astratto dal tempo reale in Svizzera, il compromesso funziona. Si dice che la pratica sociale è un riflesso del sistema politico, un ibrido unico di democrazia diretta e parlamentarismo, che promuove la lunghezza, più positivamente espressa: la riflessione. Chi è nuovo in un sistema di clienti svizzeri e i clienti svizzeri si chiederanno probabilmente come vengono prese le decisioni? A proposito, questo punto interrogativo è fissato da una prospettiva tedesca. Dal punto di vista svizzero, c’è un punto di vista. Il processo di ricerca di una soluzione ideale si svolge in tre fasi: in primo luogo, viene presentata una variante di proposta conflittuale percepita a priori. Nella maggior parte dei casi, questo viene respinto. La mattina seguente, tuttavia, quando tutti i mestieri coinvolti si sono consultati a vicenda, si giunge a una decisione che accetta a stragrande maggioranza la soluzione inizialmente presentata. E la terza misura dipende da te.

Come ho detto spesso, ho vissuto in Etiopia per una parte della mia vita. Anche una nazione di molte lingue, anche estremamente agraria. Il sistema di unificazione vi era comparabile mediatoriale. Non appena c’era anche la minima manifestazione di insoddisfazione, i rappresentanti di tutte le parti, spesso con l’aiuto di antichi saggi, si sedettero ad una tavola rotonda - che, tra l’altro, doveva sempre essere lì intorno - per discutere una soluzione generalmente accettabile al conflitto.

Se si pratica l’agricoltura, possibilmente negli altipiani, come in Svizzera, come in Etiopia, questa lunga pratica di solidarietà è di vitale importanza.

Questo radicamento quasi autoctono degli svizzeri nel segreto del loro successo come nazione culturale, che è stato descritto in un articolo di una rivista come »Come può un mucchio di pietre diventare il paese più ricco del mondo in soli 150 anni?« Non vengono date istruzioni. Si incontra una clientela ottimamente preparata che, con i gesti e il preparato, racconta quello che si potrebbe fare per loro. Ti nutrono bene, ti guidano delicatamente. Si agisce insieme a patto di raggiungere i migliori risultati di comune accordo. Venendo dalla Germania, nel mio caso, si ha anche una coscienza permanentemente colpevole quando si fa questo lavoro. Semplicemente perche‘ pensi che potrebbero farlo altrettanto bene anche loro stessi.

Ma non possono farlo. O meglio: non la vogliono.

2 La città di Zurigo ha una quota del 33% di stranieri. La città ha anche la più alta densità di Porsche al mondo. Il lavoro non profana, ma alla gente piace farlo con moderazione.

Ma a parte questo, la misura è la misura di tutte le cose in Svizzera. Se passi molto tempo della tua vita qui, sentirai gradualmente il desiderio di qualcosa che potrebbe non avere avuto successo. Gli svizzeri vi deluderanno in modo affidabile. Questa perfezione nella trasmissione sociale porta certamente ad un’eccitazione eccessiva rispetto ai pericoli della vita quotidiana. Gli svizzeri devono essere permanentemente tranquillizzati. Ciò accade ovunque e in ogni momento, ma per il nuovo arrivato rimane l’immagine di una nazione pettinata su un pinnacolo.

L’app non si carica, il tram ha avuto una collisione? Tutti questi incidenti quotidiani nei paesi vicini sembrano essere una buona ragione per un freak collettivo. Anche il tasso di suicidi è alto. E Zurigo ha, rispetto a Manhattan, un numero molto più alto di psicoterapeuti e analisti, vulgo Shrinks.

3 Naturalmente, trattare con il denaro è di interesse. Circa 3500 miliardi degli oltre settemila franchi amministrati in Svizzera provengono da donatori stranieri. Non si può fare a meno di guardare gli svizzeri, soprattutto a Zurigo, come esperti di denaro. Nonostante le ingenti somme di denaro in questione, il pagamento qui è piuttosto casuale, sembra quasi fastidioso e nel prossimo futuro potrebbe anche diventare così concepibile che tutte le attività commerciali durante il soggiorno in Svizzera saranno gestite senza pagamento (ad esempio, perché quando si entra in Svizzera deve essere pagato un certo importo che include già tutti i pagamenti come in Bhutan e gli abitanti paragonabili allo Zürisack, il sacco della spazzatura locale, possono acquistare una sorta di badge generale su tutti i servizi).

4 La Svizzera è una cultura orale. Recentemente ho passato l’edificio in cui opera la redazione dell’Idiotikon. L’enciclopedia della lingua svizzera tedesca è in fase di sviluppo da quasi cento anni. Finora sono stati pubblicati 16 volumi, il diciassettesimo è in arrivo da molto tempo. Sono assolutamente certo che il lavoro sarà svolto in modo superspiegabile. Ma dove altro esiste in Europa: un popolo che non definisce il suo linguaggio? E questo è probabilmente il motivo di due cose: che la gente preferisce avere qualcuno dai paesi di lingua tedesca per scrivere (ma quando ho parato Boris Blank l’altro giorno, ha deciso all’inizio di parlarmi in Zürideutsch, „Devo parlare in tedesco scritto?) La parola scritta è la maschera mortale di ciò che si parla in svizzero tedesco. Da qui forse l’amore locale per la tipografia.

5. critica e umorismo: entrambi ugualmente difficili. Se, come è successo a me, avete accidentalmente impostato Google su una pianificazione del percorso a piedi in un viaggio in macchina comune, nessuno dirà nulla. Ma se commettete un errore che non sarebbe potuto accadere a un’altra persona, che non ha a che fare con un’autorità sovrumana come Google, il meteo o Dio, siete criticati duramente in Svizzera. Forse non ci sono quasi nessuna parola. Ma si sono rivelati inaffidabili. E affidarsi all’inaffidabilità, soprattutto nell’alpinismo, può essere fatale.

12. Mai. 2019

Es ist Sonntag, und ich sass in meiner Mittagspause vor dem Volkshaus, als das Folgende sich zugetragen hat: Ein silbriger Mercedes Benz aus den späten siebziger Jahren bog ein in die Strasse am Helvetiaplatz und bremste dann bis auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Die Fenster waren heruntergekurbelt und aus dem Autoradio schallte Hava Nagila. Dies Volkslied abspielend, dabei mit dem linken Arm, eine Zigarre zwischen den Fingern, rhythmisch aus dem Wageninneren gestikulierend, rollte der Daimler in Richtung Stauffacher, auf den Paradeplatz zu.

Für mich bleibt es mysteriös, warum die Schweiz so flachbrüstig ist hinsichtlich Literatur.

11.5.2019

Eine Geschichte von «universaler Niedertracht» (Borges), die in der NZZ heute berichtet wurde: In Gelden am Niederrhein haben bislang Unbekannte zwei Bienenstöcke umgekippt und die Tiere mit einer Mixtur aus Chlorpulver, Lackfarbe und Duschgel vergiftet. 140 000 Bienen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Das sind zehn Völker. Bei einem Mediangewicht von 82 Milligramm einer Arbeiterbiene wiegt der Leichenberg des Völkermordes gerade mal mehr als ein Kilogramm. Eine leichte Fracht. Aber wer macht so etwas, frage ich mich. Zumal die verwendete Mixtur nach Einschätzung der untersuchenden Kriminalbeamten mit Bedacht verwendet wurde, da die Substanzen von klebrigem Duschgel und Lack die Völker aus den umgestossenen Stöcken getrieben haben, wo sie dann in der Einflugschneise mit den Chlormolekülen behaftet wurden, mit denen sie bei ihrer waidwunden Rückkehr zum Schwarm weitere Artgenossen töteten. 

In den Genfer Konventionen fällt diese Taktik unter Perfidie.

In «More Than Honey», dem Film von Markus Imhoof gibt es eine unvergessliche Szene, in der ein Schweizer Imker feststellen muss, dass seine Völker von einer unheilbaren Krankheit befallen sind. Um den restlichen Bestand zu retten, entschliesst er sich zur Einschläferung der befallenen Völker. Der Tod der Insekten rührt ihn zu Tränen. Diese Dokumentation sei anempfohlen.

10.5.2019

Die erste Aprikose des Jahres. Immerschon etwas ganz besonders für mich. Andere Früchte esse ich lieber, aber der Anblick der Aprikose und dazu der innere Wohlklang ihres Namens, das Wortbild ist für mich eins mit ihrer Gestalt. Diese herrliche Form, die marzipanhafte Mattigkeit ihrer Oberfläche, auf der die Farbtöne wie mit Airbrush draufgeblasen ineinander übergehen. Sogar die Grösse der Aprikose erscheint mir ideal.

9.5.2019

Ich wurde heute zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein ausgesandt, um unsere Strecken zu präsentieren. Und es war in beiden Fällen ein voller Erfolg. Man redete jeweils in Schweizer Deutsch zu mir. Zwar gab es bei dem Portfolio von Walter Pfeiffer Beschwerden seitens der Confiserie Sprüngli, weil die jetzt plötzlich nicht mehr präsent sein wollten (auf den Fotos von Walter sieht man hauptsächlich halbnackte Knaben mit ausgestopften Schwänen, auf denen die Schachteln der Confiserie drapiert sind), aber der Kunde schüttelte den Kopf. Und Martin rief: Wir wagen es! Und wenn sie uns verklagen, wird der Skandal umso grösser. Denn der einzig mögliche Einwand tönt homophob. Und das passt nicht zu meiner Message von einem liberalen Zürich!

Anyway: Das schaut alles derart grossartig aus. Und am Himmel treiben die Wolken ganz schnell übers Blau.

8.5.2019

Christian schrieb «Dein Eintrag: Uff» Was heisst das übersetzt aus der Netzsprache? Irgendwas mit Überforderung. Aber ich kann halt nicht loslassen von meiner Begeisterung, beispielsweise von der Site https://www.patrimoineculinaire.ch Da ist doch jeder einzelne Text hervorrragend geschrieben. Das ist doch genau das, was es bei uns nicht gibt. Diese Liebe zum Detail und die Hingabe. Und die es wahrscheinlich auch niemals geben wird. Aber wie willst Du eine Kultur behaupten, wenn Du dich andauend fragst, ob das jetzt zu weit geht, mit einer literarisch wertvoll gefassten Beschreibung von Würsten (die wir ja in Deutschland sehr wohl auch haben).

Also meint «Uff» wohl auch Maulhalten. Wir warten halt bloss schon so lange. Und mir geht es so, dass ich jetzt so langsam nicht mehr glaube, dass es überhaupt noch passiert.

Es schifft hier wie aus Kübeln. Der Luftdruck liegt bei 950 Hektopascal.

7.5.2019

Il fumo uccide: selbst die Abschreckbildchen auf den Zigarettenschachteln hier sind während langwieriger Prozesse durchdacht worden, die Motive präzise ausgewählt. In der Schweiz, das vermittelt auch dieses Gefühl von Sicherheit, passiert nichts «einfach so».

Zum Mittag war Ingo zu Gast, gerade erst zurück aus der Südsee von einer Insel, wo die Eingeborenen wohl sämtlich blondhaarig sind. Er war dort auf einem Schiff unterwegs mit Mara J. Hardt, deren Buch «Sex and the Sea» ich einst mit Genuss gelesen habe. Und Ingo erzählte mir, dass sie wohl Tränen geweint hat, weil die Unterwasserwelt dort bei dem Archipel noch so intakt war, wie sie es vor den Küsten vor Kalifornien und Australien, wo sie als Meeresbiologin normalerweise taucht, nicht mehr kennt.

Wir sassen vor dem kleinen Metzgerimbiss in der Langstrasse, den ich liebe und assen Zerzupftes von der Ziege (Ingo) und Pseudojapanische Rippli (ich). Die Sonne schien, die Leute waren gut drauf. Ich noch immer ein bisschen traurig, weil ich am Vorabend ausgerechnet hatte, dass ich bloss noch zehn Tage hierbleiben darf.

In dem Gespräch mit Heinz Bude, das Ende Mai in 032c erscheint, erklärt er mir seinen Solidaritätsbegriff mit einer Formel: «Was brauchst Du?» Also nicht: Was hättest Du gerne, oder Was willst Du, oder Was stellst Du dir vor? Und genau dieser Satz fiel dann in meiner Sitzung, nachdem Ingo wieder heimwärts gefahren war nach Basel. Es sass dort vor uns eine Künstlerin, die mit der Anfertigung von Collagen beauftragt werden sollte. Und nachdem ihr alles erklärt ward und sie ihr Einverständnis bekanntgegeben hatte, frage Beda «Wieviel Geld brauchst Du?» Die Auskunft ihrerseits wurde anstandslos akzeptiert. Denn es ist hier immer und von vorneherein klar, dass die Wahrheit gesagt wird.

Ich glorifiziere nichts. Und wie Phillip, bei dem ich vor zwei Wochen, die mir mittlerweile vorkommen wie ewige Zeiten, vor meiner Abreise noch auf dem Balkon sass und er sagte «Joachim, wir dürfen uns da nichts vormachen, weil selbst in der Schweiz hinter den Kulissen wahrscheinlich schreckliche Dinge geschehen», glaube ich auch nicht, dass hier alles viel besser ist; aber immerhin um so viel, dass ich als Deutscher doch extrem viel darüber nachdenke (eigentlich von Morgens bis Abends), warum das mit Deutschland nach dem Weltkrieg, nach Kohl vor alledem: so schief gehen musste. Als ich mit Ayako im Auto von Küsnacht nach Bellevue sass, hat sie mich gefragt «What in the world happened to you? Germany used to be our idol. You were ahead of us in every field. Now you seem to disappear completely. Why canˋt you put a lid on what happened while nazi-regime?»

Ich hatte keine Antwort, fand keine. Ich war embarassed, aber Ayako lachte mir zu via Rückspiegel, um meinen face loss aufzufangen. Mein Grossvater, lange tot, war Nazi. Ich kann mich nur aus seinen Schwarzweissfotos an seinen Krieg erinnern. Und aus Büchern. Aus Schriften. Aber jetzt sollen wir das bauhaus-Jahr feiern. Ich sehe aber keine Bauten in dieser Tradition mehr in Berlin. Was ich sehe an Neubauten ist die allerbilligste, im Grunde die Seele wie auch den Geist beleidigendtste Billigarchitektur aus den Computern. Auch, und das macht es besonders schlimm: in den Neubauten der Regierungsarchitektur. Wohingegen hier in Zürich zumindest die öffentlichen Gebäude wenigstens formschön und nicht wehtuend aus Beton und Aluminium hochgezogen werden. Zusätzlich ausgesucht bepflanzt und um all das macht man hier keinen Trubel. Man tut halt so, als ob das alles selbstverständlich ist. Und jede Nachfrage bezüglich des Luxus der vielen Mülleimer aus Chromstahl, ohne dümmliche Slogans der Stadtreinigung; jede Nachfrage bezüglich der erstklassigen Qualität eines Falafelsandwiches oder der Geschwindigkeit, mit der ein Kartenlesegerät eine Buchung vornimmt, wird mit Bescheidenheit zu sich genommen.

Es gibt kaum noch etwas, das mich zurück nach Deutschland ziehen kann. Gut, eine Behausung in meiner Heimatsphäre im Strohgäu wäre nicht schlecht. Ansonsten waren diese Wochen hier in Zürich unter vielem anderen zu einem gut: Ich will Deutschland jetzt endlich verlassen. Ich glaube nicht, dass in einer Regierung nach Angela Merkel sich irgendetwas noch zum Besseren ändern kann. Die ganze Hoffnung, die ich all die vielen Jahre immer wieder hegen, manchmal auch anheizen konnte, dass aus dieser Nation noch einmal etwas werden könnte, ist mir perdu gegangen.

Ich habe seinerzeit Faserland nicht gelesen. Aber heute scheint mir dieser Satz daraus immer bedeutender: «Deutschland, die grosse Maschine, die sich selbst herstellt.»

Manchmal hilft einem die Schweizerische Präzision auch dabei, sich mit der hier sogenannten Sachlage auseinanderzusetzen.

6.5.2019

Jan kam zu Besuch. Er war auf der Durchreise von Württemberg nach Venedig. Wir setzten uns in eine Terminusklause für die Stunde, bis sein Anschlusszug abfahren würde. Dort sagte er das Unaussprechliche über unser Heimatland. Ich habe das in letzter Zeit öfter, dass es mich regelrecht graust, wenn ich an Berlin denke. Hauptstadt der Lustlosigkeit. Ich bin nicht verwöhnt. Aber hier funktioniert alles so schön. Auf eine unaufdringliche Weise ist alles immerzu da, alles zuhanden.

Kaum hatten wir Abschied genommen, geschah das Unvorstellbare: Für knappe zwei Stunden fiel das Mobilfunknetz der Swisscom aus. Später rief mich Olivier an «Das Netz war weg, es ist unfasslich!» Es kam gerade noch rechtzeitig wieder, um David Wagner zuzuhören, der auf RadioEins für das Büchle sprach und sagte, ich sei «der Knausgaard Schwabens».

Die tiefen Temperaturen machen die schönsten Sonnenuntergangshimmel. Gestern stürzten sich kleine Hunde auf gewaltige Lachse. Heute hat ein zittriges Handgelenk mit breitem Pinsel beinahe alles türkisfarbend Leuchtende zugetuscht.

5.5.2019

Am Morgen war der Uetliberg, den ich durch das Fenster in meiner Kammer sehen kann, weiss gepudert. Unter dem Dach war es kalt geworden. Ich verliess das Haus und fuhr mit dem Niederflurbus auf den Züriberg hinauf, um mich im Tropenhaus des Zoos aufzuwärmen. Dort hatte es leuchtend orangefarbene Vögel, die zutraulich waren. Von Nahem betrachtet, schauten sie genau aus wie Spatzen, denen man die karamellfarbenen Teile ihre Gefieders mit Textmarker übermalt hätte. Ich stieg dort auf einen Aussichtsturm, der aus ungefähr zehn Metern Höhe einen majestätischen Blick über die Wipfel des tropischen Waldes unter dem gläsernen Dach möglich machte.

Gestern sass ich mit Michel Comte zusammen, der in einem ringsum verglasten Penthouse wohnt. Gleich hinter dem Haus beginnt ein Wald. Auf seiner Terrasse führten seine Hunde sich auf, als müssten sie dringend hereingelassen werden. Der kleine Braune hielt ein Hinterbein eingezogen und tat so, als könnte er nur noch auf dreien herumhumpeln. Der grössere Weisse zitterte, als hätte es minus dreissig Grad. Unten auf der Wiese ästen die Rehe. Comte hielt einen schwarzen Kater auf dem Schoss, dessen langhaariges Fell sich anfühlte wie Kaschmir. Der Kater heisst Cocteau.

Ich fragte, wie er und seine Frau Ayako sich kennengelernt haben. Ich glaube ja, Kennenlerngeschichten sind die besten von allen. Er sagte: Auf einem Formel-1-Rennen, das war vor elf Jahren. Und seitdem hat sich sein Leben komplett verändert, wie er sagt. Und das zum Besten. Er hat die Fotografie so gut wie aufgegeben, malt viel, seit neuestem macht er Land Art in einer Wüste an der syrischen Grenze. Er ist in den vergangenen elf Jahren einmal beinahe ums Leben gekommen; ein ander Mal riss ein Sicherungsgurt an der Ladefläche seines Rahmenlieferanten und fetzte ihm mitten ins Gesicht. Comte trug eine Brille mit Gläsern. Über einhundert Glassplittern mussten ihm während vieler Operationen aus den Lidern und Augen entfernt werden. Heute trägt er meistens eine Sonnenbrille, deren Gestell er für sich selbst entworfen hat.

Während er mir das erzählte, besprühte Ayako die auf dem Fussboden versammelten Grünpflanzen mit Waserdampf. Die Hunde sassen ihr zugewandt hinter der Scheibe und verfolgten jede auch noch so kleine ihrer Bewegungen. Das Haus macht ziemlich was her. Durch die Scheiben hinter dem Kamin schaut man auf den See. Er scheint nah, aber das ist trügerisch. Zu Fuss geht man bestimmt an die zwanzig Minuten bis ans Ufer bergab.

2.5.2019

Wiedersehen mit Olivier. Prinzipiell wohnen wir ja eigentlich in der selben Stadt (Berlin), aber es war bestimmt schon wieder knapp zwei Jahre her, dass wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnet waren. Wie ich ist er derzeit als Gastarbeiter des Studios engagiert. Allerdings für ein anderes Projekt, er zeigte mir Fotos von den wulstigen Wollschweinen auf den sonnenbeschienenen Wiesen der Alm ausserhalb Zürichs, wo er Möbel fotografiert.

Zur Feier unseres Wiedersehens hatte Beda eingeladen zum Eröffnungsabend des Pop-Up von Pierre Jancou in eine wunderschöne Fabriketage gleich hinter der Metzgerei Keller. Doch hatte dort leider die Köchin ihren Flug verpasst, weshalb es bloss Vorspeisen gab, und auch von denen bloss wenige, vor allem waren es in Öl gewälzte Stängeli. Wir tranken dabei zuviel von einem Naturwein, der zu ungutem Bauchgurgeln führte, und wärmten uns an den gemeinsamen Erinnerungen. Als klar war, dass aus der Küche nichts weiter mehr kommen würde (worüber vom Servicepersonal nicht gesprochen wurde; diesbezügliche Fragen wurden nicht einmal ausweichend, sondern einfach gar nicht beantwortet wegen drohendem Gesichtsverlust), überlegte Beda laut, ob er Pizza in das Restaurant liefern lassen sollte. Aber stattdessen brachen wir auf in die nieselnde Nacht, wo uns wie plötzlich der kichernde Raphael entgegenkam, mit einem Pizzakarton in der Hand. Es hatte sich schon zu ihm herumgesprochen, dass man zu diesem Restaurant sein Essen selbst mitbringen sollte. Und so teilten wir uns seine Napoli im Stehen auf dem Parkplatz.

Für den Sonntag ist Schnee angesagt. Meine Nachbarn hören «Good Vibrations».

1.5.2019

Unverhofft schäumender Nachmittag in der Kronenhalle. Wir hatten ein paar Leute eingeladen, die sich, im Geiste Niklas Luhmanns einfach mal natürlich geben sollten. Luhmann selbst, damals im Gespräch mit Alexander Kluge: «Es gibt ja nichts Schlimmeres, was sie zu ihrer Frau sagen könnten als ˋSei doch mal natürlich.´»

Aber dann mit dem Essen und mit dem Wein. Bedingt durch den Auftrieb zum Internationalen Tag der Arbeit war es freilich nicht ganz einfach, in die Rämistrasse durchzustossen. Auf der Brücke über die Limmat hatten sich die Mitarbeiter der Kantonspolizei in Battle gear an beiden Flanken ihres Mineralwasserwerfers postiert, um die linksradikalen Demonstranten vor dem Beschreiten der Innenstadt abzuwehren. Immer wenn eine Tram nahte, musste dieser mit Gummigeschossen bewehrte Trupp die eigens aufgebauten mobilen Zäune beiseite räumen, um die pünktliche Durchfahrt garantieren zu können.

Innen, man bekommt wegen der in St. Gallen geklöppelten Vorhänge von dem Geschehen auf der Rämistrasse so gut wie überhaupt nichts mit, wurde im Voiture heute Bollito Misto serviert. Jemand machte mich aufmerksam auf die an einem langen Tisch präsidierende Susi Wyss, deren Lebenserinnerungen, streng limitiert bei Patrick Frey erschienen, ich in den Tagen zuvor inhaliert hatte. Das Buch hat 800 Seiten, aber gedruckt in einem Satzspiegel wie bei Henry Miller. Es dürfte sich also um 1200 Normseiten handeln, auf denen sie circa 350 Bettgeschichten mit weit mehr als 350 Männern erinnert. Ein hochinteressantes Dokument eines Schweizer Frauenlebens von den späten dreissiger Jahren bis ans Ende der Siebziger. Ich erwies ihr meine Hochachtung (sie ist ja mittlerweile 80 Jahre alt). Da plumpste schon die festlich geschmückte Diane Brill neben ihr auf die grünlederne Bank und kommandierte: «Susi, tits out!» Woraufhin diese nicht lange Zeit verstreichen liess und es damit tatsächlich geschah. Mitten in der Kronenhalle. Am Internationalen Tag der Arbeit. In Zürich. 

Auf Zwinglis Grossmünster waren auf beiden Türmen die Flaggen gehisst: rechts die Schweizerische, links die von Zürich. Ich kann noch immer nicht sagen, welche mir die Schönere ist.

30.4.2019

Nach der Arbeit im Studio machte ich einen Ausflug ins jüdische Viertel um den Manesseplatz. Hier mischen sich hebräische Schriftzeichen in die Schweizer Typographie der Ladenschilder. Auf die hohen Hüte der orthodox lebenden Männer, die hier auf Mountainbikes cruisen, passt freilich kein Fahrradhelm mehr obenauf—vielleicht handelte es sich ja auch schon um Integralhelme. Inmitten der koscheren Schlachter und Bagelbäckereien gibt es die für ihre Reformationswurst berühmte Metzgerei Keller (seit 1934). Dort kaufte ich ein, um mich für die anstehende Spätschicht in meinem Studiolo zu stärken. Yves hatte mir erzählt, dass die unvergleichbaren Cervelat am Sternengrill von der Metzgerei Keller bezogen werden. Interessanterweise findet sich die Bäckerei der sagenhaften »Gold Bürli«-Wecken ebenfalls dort in der Gegend. Die hatte allerdings schon zu.

In der Metzgerei selbst fragte ich, ob ich zugreifen dürfte bei den Cervelat, die vakuumisiert in einem Aquarium bereit lagen. Ja, schon, aber: das sind die Züri Stumpen, erklärte mir die Frau. Sie liessen sich rein äusserlich nicht von den Cervelat unterscheiden vor meinem Auge. Ich nahm also von beiden Sorten welche, um in einem Test mir meine Meinung bilden zu können. Und dazu fragte ich natürlich auch noch nach den berühmten Reformationswürsten. Alles wurde mir ohne eine scherzhafte Bemerkung verpackt und abgerechnet. Aber als ich hinsichtlich des Internationalen Tages der Arbeit einen schönen Feiertag wünschte, wurde sie fröhlich. Der 1. Mai, man fragt sich warum, gilt hier nämlich viel.

Die App kann die Laute der Schwalben nicht entziffern. Ihr Wetzen und Feilen klingt vielleicht zu mechanisch für das mechanische Ohr. Jedenfalls kreisen sie andauernd über mir. Und der Himmel zeigte heute ein Grand ballet. Mit tausenden von unten her angegoldeten Wolken. Die Sonne als Laserstrahl schnitt rot inmitten hindurch. So ein schönes Bild, und ich gedachte all meiner Verstorbenen; dass die das nicht mehr sehen.

Später, da war ich längst wieder in Hottingen, daheim im Kreis 7, das Zunftwappen zeigt ein vierblättriges Kleeblatt auf rotem Grund, und bereitete mir aus Neugier zunächst einen Stumpen zu. Scharf grilliert: Merveilleux! Vor allem mundete mir die nachfolgende Cerverlat, die ja als Nationalwurst geführt wird, kaum anders. Angeblich sind zwei Drittel der als schweizerische Nationallebensmittelheiligtümer geführten Erzeugnisse wursthaft. Auf der Verpackung von sowohl Stumpen als auch Cervelat las ich, dass die Würste bei Kellers mit Flüssigrauch verfeinert werden (das ist in Deutschland verboten.) Es bleibt wohl eine Glaubenssache. Wie so manches hier. So wie ich weiterhin glaube, dass mir über die Stuttgarter Rote nichts kommen kann in Sachen Würscht. Wenn man alles hat, geht es halt um die feinen Unterschiede.

Lorenz Jäger schickte mir eine Radiosendung über Wettertagebücher. Und ich sagte zu Markus: «Bislang habe ich Sprachen am Anfang mit den Zahlen gut gelernt.» Ich wollte eine Telefonnummer notieren. Und er gab mir, zunächst zweifelnd, vor: Driunachzig—sächzig… In mir waren die schweizerischen Zahlwörter allmählich da.

«Wir brechen wie die Strahlen, um zu funkeln»

29.4.2019

Erledigt, aber halt leider nicht müde. Fernsehen wäre genau das richtige gewesen, aber ich habe hier keinen (und auf dem Telefon fernsehen, dafür bin ich zu alt.) Über den Tag hatte ich mehrfach das Bedürfnis verspürt, zu malen. Erschien mir nicht einmal als Wunsch nach einer Übersprungshandlung, sondern wahrhaftig. Auch das Motiv war mir klar, es war vor mir im Halbschlaf aufgetaucht: im Stile Segantinis an einer kahlen Wand im Gebirge, wo ein früher Eidgenosse in einer Höhle lebt. Aus deren Schatten er soeben herausgetreten ist halbnackt, mit einer frühen Lederhose angetan, um in der Morgenröte furchtlos einen brüllenden Bär, der sich dort auf seinen Hintertatzen an dem Unterstand mit den Molkereivorräten des Menschen gütlich getan, zu verjagen. Dies mit Hilfe einer langen, starken Stange, im Grunde Stamm einer Esche, an deren Wipfel das Schweizerwappen gefügt aus Fetzen von Bärenfellen befestigt ist; der Wind reisst ihm die Fahne schon beinahe aus den Fäusten, doch er widersteht.

Das würde Monate brauchen, alleine um den Berg mit Wolkenhimmel gut hinzukriegen. Oder die Fellflagge im Wind. Da fiel mir der Gedichtband ein von Gerhard Falkner, »Schorfheide«—Gedichte gehen ja immer. Und nach den ersten zwei Kapiteln fand ich die sogar richtig gut und im ganzen unterhaltsam. Sie heißen alle gleich (nämlich Schorfheide) und beackern sozusagen die gleichnamige Landschaft zwischen Brodowin und Prenzlau, die ja für vermögende Berliner zum Green panel de rigeur geworden ist. Sehnsuchtsort auch. Und beim allwochenendlichen Wandern in die Überwältigungsfalle der Natur hinein entstehen die Gedichte. Ging übrigens schon Brecht so in seinem Buckow. Dem widmet sich Falkner in seinem den Band beschliessenden Gedicht, in dem er Brecht nachweist, das der von Bäumen, obzwar von ihnen umgeben keine Ahnung hatte; noch nicht einmal, wenn er sie anzudichten versuchte. Wahrscheinlich war Brecht, wie angeblich viele Männer, nicht einmal baum-, sondern bloß farbenblind.

Das erheiterndste aber war für mich dieses hier:

SCHORFHEIDE

Was geht hier ab

mich so aus tausend runden Augen

anzupixeln, mir mit Gewalt das Maß

der Dinge auf den Leib

zu schneidern

die Pappeln flüstern zu den

bleichen Buchen: suchen! suchen!

nie werde ich so sehr als Frage 

aufgeworfen, wie wenn ich im Gebiet

des Sommers mich als Landschaft durch 

die Gegend trage

das Licht durchwühlt nicht nur die Heide

das ganze postmoderne Wissen

wird in die Suche mit hineingerissen

28.4.2019

Die Konditoren und Chocolatiers von Zürich haben sich blitzschnell umgestellt. Schon am Dienstag nach dem langen Osterwochenende waren die Schaufenster freigeräumt von Hasen und Eiern, in den Supermärkten wurde die Fabrikware (nicht aber die Goldhasen!) als Occassion mit 50 % Rabatt angeboten. Eine Woche lang wurde mit zeitloser Ware interim dekoriert, jetzt geht eine neue Saisonware an den Start: Die Maikäferli. Es gibt sie aus Schokolade, gebacken, aus Baiser gespritzt et cetera wie gehabt. Aber auch aus Macarons, die mit angeklebten Schokoladenbeinchen und einem aufgespritzten Käfergesicht zu Käfern umdressiert werden. Zu irgendwelchen Käfern übrigens, denn im Gegensatz zum Hasen ist die Welt der Käfer vielgestalt. Und während beim Hasen allenfalls Körpergrösse und die Länge und Form der Ohren variiert vom Farbzwerg bishin zum Belgischen Riesen, ist beim Käfer aus Sicht des Taxonomen schier alles möglich. Das Käferfest im Mai scheint also nicht allein auf den braunen Maikäfer bezogen; es geht um alle Käfer, auch Marienkäfer natürlich, die ja, glaube ich, weltweit als herzig und lieb, also süss und somit mundend wahrgenommen werden.

Wohne und vor allem schlafe — das fiel mir gestern abend im Bett ein — derzeit seit langer Zeit wieder in einer Wohnung unter dem Dach. Das letzte Mal war das im Jahr 2000, in München. Seitdem haben nicht wenige Umzüge stattgefunden. Aber nie wieder direkt unters Dach. Dabei, fiel mir gestern ein, gibt es nichts Gemütlicheres; beinahe schon wie in einem Zelt. Von der Form des Gehäuses her, aber auch von seiner Natur, seinem Platz in der Welt: Nur noch das Dach zwischen mir und dem Himmel. Es regnete auf die Fensterscheiben in den Dachschrägen über mir. Von allen Seiten her wurde mir Zuspruch zuteil.

27.4.2019

Nach dem Hinweis von Jan habe ich die App Naturblick geladen. Wieder einmal eine, die verspricht das Bestimmen von Pflanzen zu übernehmen. Naturblick greift ausserdem auf eine Datenbank mit Vogelstimmen zu, an deren Aufnahmen die selbst gemachten abgeblichen werden können, um einen unbekannten Sänger zu identifizieren. Das funktioniert verblüffend gut mit jenem Vogel hier im Garten gegenüber, der manchmal Nachts singt. Eindeutig kein Nachtigallenhahn, so weit war ich auch schon. Die App sagt, es ist die Mönchsgrasmücke. Ich höre den Melodien noch lieber zu, seitdem ich weiß, von wem sie erzeugt werden.

Bei der Pflanzenerkennung gibt es kaum Treffer. Das hat aber vermutlich damit zu tun, dass die App mit Förderung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit für die Deutsche Städte entwickelt wurde. Von daher gibt es wohl keine Bilder für die fraglichen Pflanzen aus Zürich in der Datenbank. Aus Zedern macht sie Kiefern. Aus Judasbäumen Pfirsichbäume. Und zu Glyzinien oder dem dreiblättrigen Orangenbaum aus Japan fällt ihr gar nichts ein. Aber Bärlauch erkennt sie. Wildapfel, Besenheide, Kuchenbaum und Maulbeere. Dazu wird eine schöne Funktion angeboten, die »Feldbuch« heißt, da werden einem sämtliche Funde in eine Stadtkarte eingetragen. Und das funktioniert auch exterritorial hier in Zürich. Der Stadtplan verzeichnet dann Vogelsichtungen (mit Tageszeit) und Pflanzenfunde. Nach vier Tagen ist mein Feldbuch schon gut gefüllt.

26.4.2019

Am Nachmittag hatte sich vor der Blüte des Titanenwurz eine Warteschlange gebildet. Der das Tropenhaus umgebende Botanische Garten war tropfnass vom Regen, aber unter der gläsernen Kuppel war es dämpfig und warm. In diversen Zeitungen war die Blüte als Sensation aufgemacht worden: zum letzten Mal hatte ein Titanenwurz in Zürich vor 70 Jahren geblüht. Vor fünfzehn Jahren hatte ich, obwohl in der Monatszeitschrift der Deutschen Kakteen Gesellschaft darauf hingewiesen eine viereinhalb Meter hohe Sukkulentendolde verpasst. Den Titanenwurz, laut 20 Minutes »Grösste Blume der Welt«, wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Auf der Beschreibungstafel im Tropenhaus, immerhin gehört der Botanische Garten zu den Organen der Universität, stand weniger reisserisch formuliert: »Grösster unverzweigter Blütenstand«. Hätten sich die Journalisten an die Sprache der Wissenschaft gehalten, die stets aufgrund der Sachlage formuliert, hätten sich viele der um den unverzweigten Blütenstand gescharten Züricherinnen und Züricher ihre Enttäuschung ersparen können. Denn auch die Seelensprache des Schweizers ist auf die Sachlage geeicht. So aber flüsterte eine hell gekleidete Greisin »In der Zeitung sah sie grösser aus.« Ihre Begleitung nickte zustimmend, während sie mit ihrem grossen iPhone Bilder machte von der angeblichen Blume. Das Exponat reichte mir bis zum Solarplexus. Überraschenderweise ragte aus der glatt geharkten Erde lediglich eine Art Zucchini, rundlich, auf den nach einer weiteren, hellgrün gefärbten Schwellung der gewaltige Kelch aufsetzte, der ungefähr 65 Zentimeter hoch aufragte und sich in einem Durchmesser von etwa einem Meter geöffnet hatte. Aus dieser Öffnung ragte vom Ursprung des Kelches ein unverhältnismässig langer Blütenstab senkrecht in die Höhe und das dergestalt, dass seine abgerundete Spitze den Rand des Blütenkelches noch um eine Unterarmlänge überholt hatte beim Höhenwachstum. 

Ein Greis mit umgehängter Kamera schnüffelte behutsam an dem gelben Stab, beugte daraufhin seinen Kopf tief in den Kelch hinein, um dann, nun wieder vor der Blüte aufrecht stehend seinen Begleiterinnen zu berichten »Es riecht gar nicht.« Auch andere machten die Probe. Kopfschütteln.

In den Zeitungen war süffisant auf den angeblich widerlichen Duft hingewiesen worden, den der unverzweigte Blütenstand des Titanenwurz verbreitet. Wie verfaultes Fleisch sollte die grösste Blume der Welt nämlich angeblich riechen, um Aasfresser unter den Insekten anzulocken in den tiefsten Kelch des Käferuniversums hinunterzusteigen, um den dort lagernden, weiblichen Blütenstaub des Titanenwurz mit dem vom Kelchrand mitgebrachten männlichen der Pflanze zu vermählen. Aber vielleicht tut sie das wie Jasmin erst bei Sonnenuntergang, wenn das Tropenhaus im Botanischen Garten längst geschlossen hat?

Mit dem lateinischen Namen des Titanenwurz Amorphophallus titanum wurde in der Zeitung freilich ein bisschen frivolisiert. Eventuell hat das auch für Zulauf gesorgt. Mehrheitlich denke ich, dass die landwirtschaftliche Sensation, eine derart rare Blüte zum Knospen bringen zu können, für das Publikum anziehend gewirkt hat. Auch durch den verbreiteten Hinweis, dass die Blüte bloss wenige Tage hält, um dann zu verfaulen. Und aller Voraussicht dann erst wieder in siebzig Jahren, also lange nach meinem Tod zum Beispiel, erneut eine Blüte in Angriff zu nehmen. Um eine Blüte von diesen Dimensionen überhaupt austreiben zu können, muss sich in der zucchinihaften Knolle ein mindestens 20 Kilogramm schwerer Vorrat an Stärke befinden. Der zuständige Gärtner im Tropenhaus befürchtete von daher, dass der hiesige Titanenwurz seine Anstrengung nicht überleben würde, weil in seiner Knolle nur zehn Kilo im Vorrat waren. 

So interessant das alles zu erfahren war, fand ich am enttäuschendsten, dass der Titanenwurz komplett ausschaute wie ein von einem nicht so guten Bühnenbildner hergestelltes Modell eines blühenden Titanenwurz. Sein Kelch aus lila Krepppapier, der Blütenstab aus Bauschaum geschnitzt und mit Plakafarbe angemalt. Das ganze auf einen grünlackierten Gummiball geklebt.

25.4.2019

Die Zukunft sagt Grüezi. Der Professor, mit dem ich heute sprach, forscht seit sechzehn Jahren an der Entwicklung sehr kleiner Roboter für medizinische Einsatzgebiete. Die Winzlinge werden einst durch die Blutbahn zu einem Tumor fahren können, um den gezielt mit Chemotherapie zu behandeln (was weitaus weniger belastend für das System sein wird.) Oder sie beseitigen ein Blutgerinnsel, an das man mit herkömmlichen Methoden nur schwer und unter hohem Risiko herankäme. Mich erinnerte das an einen Film aus den sechziger Jahren, den ich als Kind gesehen hatte: »Fantastic Voyage«. Da wurde ein U-Boot mitsamt der Mannschaft geschrumpft und einem Geheimnisträger eingeimpft, um in dessen Gehirn ein Gerinnsel zu beseitigen. Ich fragte den Professor, wie der Nanoroboter im Körper navigiert — GPS hilft da nicht weiter —und ob denn alle Menschen innerlich nach der gleichen Landkarte aufgebaut sind.

Er sagte Ja, interessanterweise aber lediglich was das Adernsystem anbetrifft und den Aufbau der inneren Organe. Bis auf das Gehirn. Da hätten sie herausfinden müssen, dass es bei der Gefäßverzweigung ins und durch das Gehirn höchst individuelle Lösungen gebe. Bis auf weiteres ist also ein Navigieren im Gehirn lediglich mit Fernsteuerung denkbar. Weitere Schwierigkeit, wie bei jeder mobilen Technologie: die Stromversorgung. Wobei es bei Nanorobotik nicht auf die Batterie ankommt, denn die Winzlinge haben gar keine, sie werden von außerhalb des Körpers, durch den sie fahren, mit Ultraschall bepulst. Es gibt auch welche, die werden durch radioaktive Strahlung angetrieben. Denken Sie an einen Moskito, sagte er. Winzig klein, er kann kaum Energie in sich speichern. Deshalb muss er andauernd essen.

Ich fragte ihn, an welchen Objekten sie ihre Prototypen testen — an Leichen? In gewisser Weise ja. Sie kaufen Rinderherzen und Lungen von Schweinen. Für spezielle Aufgabenstellen drucken sie sich Teile eines menschlichen Körpers mit dem 3-D-Drucker aus.

Albert Hofman hat sein LSD an sich selbst ausprobiert, sagte ich. Würde er sich einen der Nanoroboter injizieren lassen?

»Ich würde nie etwas in jemanden injizieren lassen, was ich mir nicht auch selbst injizieren würde.«

Am Abend war der See aufgewühlt und an dem Kiesstrand brachen schäumend die Wellen. Der starke Wind hatte die Sicht auf die Berge freigeräumt. Die nächsten drei Tage soll es durchgehend regnen.

24.4.2019

Heute bekam ich meine vierzehntausendvierhundertvierundvierzigste EMail seitdem ich die Adresse @me.com benutze. Der Zauber dieser schönen Zahl blieb mir leider nur für kurz vor Augen. Dann trafen weitere Sendungen herein. 14444 in 13 Jahren. Komisch, dass mir das gar nicht als viel vorkommen will. Fuhr dann mit der Polybahn, einer selbstfahrenden Seilbahn aus dem 19. Jahrhundert auf den Vorplatz der Technischen Hochschule. Die Roboterforscher sind überraschend philosophisch gestimmt. Weil sie bei ihren Versuchen, die Systeme mit den menschlichen vergleichbaren Fähigkeiten auszustatten, viel Einsicht bekommen, wie komplex diese für uns irgendwie selbstverständlichen Fähigkeiten bei Lichte betrachtet funktionieren. Vor allem unsere Fähigkeit zur Navigation. »In der Evolution haben wir überlebt,« sagte mir einer »weil wir nach Hause finden.« Das gelingt seinen Robotern zwar immer besser (auch weil die Tiefensensorik Fortschritte gemacht hat), aber oft genug gelingt es ihnen auch nicht. Da reicht es schon, dass sich die Witterungsverhältnisse ändern, und ein Roboter findet nicht mehr in das Labor zurück.

23.4.2019

Beim Spazierengehen einen außergewöhnlichen Strauch entdeckt, denn ich zuerst für eine eingefärbte Forsythie halten wollte. Bloß halt mit magentafarbenen Blüten. Wenig später kamen wir an einem (wegen Ostern geschlossenen) Blumengeschäft vorbei, die exakt so einen Strauch als Topfpflanze vor dem Laden aufgestellt hatten. Auf dem Schildchen daran befestigt stand »Judasbaum«.

Cercis siliquastrum kann wohl in mehreren Farben blühen, aber es heißt, die eigentlich fahlen Blüten wären errötet aus Scham über die Schmach, die Judas Ischariot über sich selbst gebracht hatte durch seinen Verrat. 

Vom Wikipediawissen abgesehen: eine wunderschöne Pflanze, die wohl nach der Blüte noch sehr schöne Blätter entwickelt. Sie war mir neu. Ich hatte sie bislang noch nirgendwo anders auf der Welt entdeckt.

Man kann hier als Blumenhändler solch eine Kostbarkeit über die Feiertage auf dem Trottoir vor dem Geschäft einfach stehen lassen. Auf dem Schildchen stand nebst der Bezeichnung auch noch der Preis für das Gewächs: 480 Franken. Mir fiel freilich als zweites gleich ein, dass noch niemand den Topf zerschlagen hatte; die ganze Staude gestohlen. Zumindest die Erde mit Kippen voll gesteckt.

Seltsam, aus welcher nahegelegenen Welt ich hierher gebracht wurde. Zivilisatorisch doch sehr, sehr fernliegend: die Hauptstadt von Deutschland, Berlin.

22.4.2019

An der Schiffsanlegestelle steht bei Sonnenschein ein Mann, ehemaliger Architekt, der für Kinder aus Seifenlauge Blasen macht. Er hat sich dafür ein Gerät gebaut aus umfunktionierten Angelruten, zwischen denen er ein mit vielen Schlingen versehenes Seil aufspannt. Aus jeder dieser Schlinge löst sich eine Kaskade von Seifenblasen in den Wind. Er hat gute Laune, obwohl die Stadtverwaltung seit geraumer Zeit versucht, ihm dies Handwerk zu legen. Den Schriftverkehr mit der Bußgeldstelle hat er auf einem Pappaufsteller in Nähe seines Laugenkübels aufgestellt. Offenbar verstösst er mit seinem geräuschlosen Tun gegen eine Verordnung, die ursprünglich die Straßenmusikanten von der Uferpromenade fernhalten sollte. Außerdem, so wird in einem der ersten von mehreren Amtsbriefen argumentiert, trieben die von ihm hervorgebrachten Seifenblasenschwärme durch die Kapriolen des Windes unkontrollierbar bis in die Bäume des nahen Parks, wo sie sich teilweise im Geäst verfangen. Er sagt »Ich habe schon tausende Franken an Bußgeldern bezahlt.« 

Beim späten Mittagessen in der Kronenhalle waren wir glücklicherweise so gesetzt worden, dass unser Blick auf den schönen Picasso dort ging, auf dem er sich selbst beim Malen festgehalten hatte. Dass er es ist, darauf weisen drei blaue Querstriche hin, die sein gestreiftes Matrosenhemd andeuten. Besonders schön finde ich, wie er den Pinsel in seiner Hand gemalt hat: mit einem einzigen Strich schwarzer Farbe, der eine schwungvolle Gespanntheit in sich hat und trotz aller Abstraktion ganz Pinsel ist.

In unserem Rücken saß, das war leider deutlich zu hören, ein deutscher Erfolgsmensch, der seinen Schweizer Gastgebern in der Tonalität eines Alphorns eine ununterbrochene Rede hielt, die dann so lang dauern sollte wie unser Mittagessen. Also anderthalb Stunden. 

Es begann mit einer von ihm als Urszene seines Erfolgslebens begriffenen Begebenheit in New York City, da war er gerade erst achtzehn Jahre alt und von seinem Vater nach Übersee geschickt worden für ein Praktikum. Untergebracht in der Wohnung eines Geschäftsfreundes des Vaters an der Fifth Avenue und dort wiederum im 48. Stock, traf er dort an einem der ersten Abende gleich in der Aufzugskabine auf eine deutlich ältere Frau, die eine Orange schälte. Auf dem gemeinsamen Stockwerk, dem 48. angekommen, bat sie ihn in ihre Wohnung herein, wohl unter einem für ihn nicht durchschaubaren Vorwand, um ihn »zu nageln.« 

Friederike, dabei von ihrem Weißen Schwartenmagen aufgabelnd, meinte kopfschüttelnd, dass eine Frau doch einen Mann gar nicht nageln kann.

Er aber, der sich, sein erzähltes Ich Oli nannte, fuhr fort damit, dass er in Folge und noch immer erst achtzehn Jahre alt, mit dieser Frau, die er jetzt als Mrs Robinson in blond bezeichnete, ein Verhältnis führte, im Zuge dessen sie ihn allabendlich vor dem Nageln in die schönsten Restaurants in Manhattan ausgeführt hat, wo sie ihm dann jeweils unter dem Tischtuch die nötigen Dollars zugesteckt hatte, damit er die Rechnung begleichen sollte, damit niemand auf den Gedanken käme, dass er ihr Toy Boy sei. Seine sentimental education gipfelte dann eines Nachts darin, dass er sich, neunzehnjährig, in einem Jacuzzi wiederfand mit Ausblick auf den Central Park »Whisky in der einen Hand, Zigarre in der anderen. Und ich dachte: Oli, geiler als jetzt wirst du es nie wieder haben.« Da hatte er mittlerweile schon Donald Trump kennengelernt. An ihm hatte sich, daran ließ er keinen Zweifel, ein Gutteil des späten zwanzigsten Jahrhunderts manifestiert.

Ungerührt vom unaufhörlichen Blasen des Hornes hatte der Kellner einen fahrbaren Rechaud an unseren Tisch herangerollt, um uns den zweiten Rösti zu braten. Auch als der sogenannte Oli verkündete »Die Schweiz ist ja inzwischen mehr Steuerhölle: ich zahle hier 40 Prozent!« rief dieser Affront in der weiten Halle noch weniger hervor als ein Brosamen, dem man dem Schwan drüben am Ufer auf die Oberfläche des Sees hinwirft.

Ringsum unter der Decke sind die Zunftwappen der Stadt angemalt. Neben dem von Meisen steht in Fraktur »Edle Künste sind nicht Dünste, wie ein niedrer Sinn Euch lehrt. Auch den Musen hat am Busen unser Zürich Raum gewährt.«

21.4.2019

Das Quietschen von Tulpenstengeln.

Pflanzenblindheit, also dass man die nicht wahrnehmen kann wie bei Farbenblindheit, ist eine Theorie von Elizabeth Schussler und James Wandersee, die wenige Jahre vor seinem Tod (2014) in Fachzeitschriften verbreitet wurde. Der Biologiedozent Wandersee glaubte festgestellt zu haben, dass es auf dem Territorium der Vereinigten Staaten zunehmend Bürger gibt, die Details ihrer pflanzlichen Umwelt nicht mehr wahrnehmen können. Das Phänomen ist mir durchaus vertraut, wenn ich beispielsweise einen Freund beim Spazierengehen auf ein speziell schönes Gewächs hinweisen will und der dann bloß: Ja. Um übergangslos wieder von seiner Sache zu berichten. En variation bekomme ich auch oft kein feedback, wenn ich von einer pflanzlichen Entdeckung erzählen will (beispielsweise von dem halb ausgetrockneten Zedernbaum im Schlosspark, der mittlerweile mit Latten gestützt werden muss, um aufrecht stehen zu können; oder von der Geschichte des Granatapfelbäumchens in der Orangerie der Herrenhäuser Gärten zu Hannover: wie das einst im 18. Jahrhundert dorthin hingelangt war; wie lange es dort schon steht.)

Ich kenne Leute mit herrlichen Gärten, um die sie sich natürlich nicht persönlich kümmern müssen. Das Grün dort draußen ist für sie wie das leuchtende Türkis im nächtlichen Garten während einer Nacht in Los Angeles, als ich den Besitzer des Pools fragte, ob er denn auch darin schwimmt. Und er sagte »Rarely. For us it’s just a light panel.«

James Wandersee nun dachte, der Grund für die Übersehenheit der Pflanzen läge wohl in ihrer Unbeweglichkeit. Es gibt ja Theorien, dass Lebewesen überhaupt erst die Fähigkeit zur Bewegung ausbilden mussten, um anderen, ihnen entgegenkommenden Objekten auszuweichen. Von daher die Fixation des tierischen Auges auf Vertikalen (»Was kommt da?«)

Im Märchen vom Tapferen Schneiderlein kracht die Wildsau gleich mehrfach hintereinander in einen Eichenstamm, ohne dass der eine Miene verzieht.

Wandersee führt das als nächstes an: die scheinbare Ungerührtheit, die Stoik der Pflanzen, die sie uns übersehen läßt. Es gibt ja inzwischen eine Bewegung—der New Yorker hatte gerade einen langen Artikel über eine Frau aus Brooklyn, die mit mehr als 300 Topfpflanzen zusammen in einer Wohnung lebt—die Pflanzen sich wieder ins Heim zu holen wie Haustiere (oder Einrichtungsgegenstände, es scheint etwas dazwischen.) 

Die Frau aus Brooklyn, die mit den dreihundert Töpfen in ihrer Wohnung, sagt über ihre aufgeflammte Liebe zu Pflanzen, dass sie es an denen gut findet, dass die Pflanzen ihre Bedürfnisse nicht drängend melden (wie Hunde, die raus wollen.) Sonst fühlte man sich als Mensch halt wie an eine Maschine angeschlossen. Aber so—Man versorgt seine Pflanzen und sieht an deren Blattfarben, ob es ihnen gut geht. Falls nicht, dann trifft diese Nachricht (durch Welken etwa, Blattverfärbungen, durch Schädlingsbefall) verzögert ein. Das macht die Pflanzen für mich der Literatur ähnlich, die ihre Wirkung erst im Leser entfaltet—nicht spontan, immer verzögert; manchesmal erst in den Jahren nach der Aufnahme durch den Augenschein.

In dem Video sieht man sie dann, wie sie ein Gefäß öffnet, aus dem Käfer in ihre Pflanzenwände fliegen. She calls them good bugs.

Und dann sieht man die üblichen Schrägos, die in Manhattan an einem Samstagnachmittag Pflanzen bingen. Einer, er schaut Terence Koh ähnlich (mag an seinem asymmetrisch geschnittenen T-Shirt liegen,) plappert einfach drauflos: Ja, Pflanzen! Irgendwie toll. Wir sind hier doch alle Worcaholics. Da will man es sich doch zuhause schön machen—mit Pflanzen. In New York geht es darum, dass man es daheim schön hat.

Im Buch von Emanuele Coccia gibt es diesen einleuchtenden Satz »Die Pflanzen waren vor uns da, ohne sie gäbe es die Atmosphäre nicht.« Das nickt man nicht einfach so weg, sie sind kein Green panel. Auch nichts, das nervt, weil man es andauernd gießen soll. Am nächsten Mittwoch treffe ich einen Emeritus hier an der ETH, der viel erfunden und erforscht hat in der Robotik. Auch ein System, das besteht aus einer über den Feldern kreisenden Drohne, die einem Gewehr bei Fuß stehenden Bodenroboter meldet, wo Unkraut wächst. Der fährt dann rund um die Uhr unermüdlich aus, um »unerwünschte Pflanzen« zwischen den Feldfrüchten herauszureissen. Erbarmungslos, wie es seine Art ist.

James Wandersee vermutete als zweiten wichtigen Grund für die Pflanzenblindheit, dass die Menschen die Individuen der Pflanzen aufgrund ihrer Eigenschaften bald pars pro toto nehmen. Die sind halt Grün. Das ist das Grüne. Und, sobald sie keine Blüten mehr treiben, oder sonstwas spektakuläres veranstalten: langweilig. Bei denen tut sich ja nichts. Bloß ein Hintergrund.

Die Produkte der Pflanzen, ihre Amputate stellt man in Vasen aus. Uns eine Augenweide. Aus ihrer Sicht sind das lediglich Stufen.

Heute morgen, so kam ich drauf, war ich beim Floristen Urs Bergmann und kaufte zwei Mohnblütenknospen. Die eine war dick und schon etwas geöffnet. Ich konnte zwischen den Spalten das Gelb der Blüten sehen. Bergmann drehte mir den restlichen Strauß hin »Welche mögen Sie noch?« Ich deutete auf eine noch ganz mandelhaft geschlossene: »Die da, die Geheimnisvolle. Ich bin gespannt, in welcher Farbe die rauskommt.«

Er sagte: »Vielleicht müssen sie ihr ein bißchen helfen.«

Die grünen Knospenblätter der Mohnblüten kleben gerne aneinander fest.

Meine Nachbarin von gegenüber hat einen pervers grossen Bildschirm an ihrer Wohnzimmerwand. Es läuft die Animation eines Saurierskeletts. Es grast.

20.4.2019

Der Nachmittag des Karfreitags war mir zur freien Verfügung gestellt. Und nachdem ich mich zunächst unverhofft eingesperrt fand im verlassenen Studio, weil man mich offenbar übersehen hatte in meiner Versunkenheit, befreite mich ein Kurier mit dem Schlüssel und ich konnte mich aufmachen, die durch den Feiertag noch einmal ganz anders belebte Innenstadt zu durchstreifen. Das ist ja der Vorteil, wenn man hier niemanden kennt und keinerlei private Verpflichtungen hat: Man kann Detektiv spielen. Das verbindet mich mit Sophie Calle. An den Fassaden blühten Glycenien, die man bei uns ja so gut wie gar nicht mehr sieht. Gleichwie all die seltsam flachen Automodelle, die hier durch die Straßen gurgeln.

Am Bleicherweg, nahe der Gerechtigkeitsgasse entdeckte ich die Auslagen des Einrichtungshauses Exceptis am Wasser, Firma Real Stein (»More than Stone«), dessen Schaukästen von hinterleuchteten Wänden aus gefügten Achatscheiben eingefasst oder gehalten wurden — gut möglich, dass Sigmar Polke diese Auslagen auch schon kannte und sie mit den blauen Vogelformen von Giacometti vereint hatte. Eine mit ihm Vertraute hatte mir neulich erst erzählt, dass er, Polke, in den achtziger Jahren oft und gerne nach Zürich gekommen war, um sich hier von den Zumutungen Kölns zu erholen. Möglicherweise hatte er damit auch einen Wissensvorsprung gegenüber Grosse und Eliasson eingeheimst für den grossen Fensterwettbewerb. Das mag magisches Denken sein; vielleicht ist es bloß Zufälligkeit—jedenfalls erscheint mir das Bezugssystem als fein. Und durch zartfingriges Ahornlaub leuchtete die Sonne.

Abends dann vor dem Volkshaus am Helvetiaplatz, meinem liebsten Platz in der Stadt. Am Blickrand hatten sich gewaltig aufquellende Wolken formiert. Unbeweglich, und bei sinkender Sonne schienen sie mir bald wie die Berge selbst, die man von dem Platz aus doch gar nicht zu sehen bekam. Als Abbilder eben dieser unverrückbaren Giganten mit einem goldenen Rand verziert: der war erschienen an ihrem Saum, wie sonst an verschneiten Flächen. Im verblauenden Dunkel zwischen den Gipfeln kreuzten drei Kondensstreifchen auf ein imaginäres Zentrum zu—sternförmig wie in dem Logo der Star Alliance. Davor sammelten sich die Stare, jagten die Schwalben. Nach Sonnenuntergang hatte es noch gut 20 Grad.

Wenn ich meine Forschungsergebnisse in den Sitzungen vortrage, wird gelauscht. Dann sagt Markus, dann sagt immer auch Yves »Du bringst uns die Schweiz näher.« Gerade so wirkt das auf mich, als ob ich etwas aussprechen dürfte in meiner Naivität, was ihnen selbst versagt ward. Also gibt es hier ein Geheimnis.

Mir kommt die nördliche Hälfte von Deutschland so furchtbar misslungen vor.

Heute ist Vollmond.

19.4.2019

Gottesdienst im Grossmünster. Die Sonne bleibt draussen und lässt die Chorfenster leuchten. Die drei Motive wurden von Augusto Giacometti Anfang der dreissiger Jahre gestaltet. Ich konnte meinen Blick nie lange ablenken von diesem Glühen von Rot und Blau. Das mittlere Fenster erwies sich als das mit der grössten Anziehungskraft auf mich, weil es dort über der Marienfigur noch einen dichten Wald gibt aus dem ansonsten kaum verwendeten Grün, in dem drei blaue Vögel sitzen, deren Farbe heraussticht aus der sie umgebenden Dunkelheit. Und es sind diese drei blauen Formen, die Sigmar Polke aufgenommen hat für die Gestaltung der Fenster in den Seiten des Kirchenschiffs (in dem Wettbewerb wurde er den Mitbewerbern Katharina Grosse und Olafur Eliasson vorgezogen.) In sämtlichen Fenstern von Polke (sechs an der Zahl) tauchen immer wieder diese drei blauen Formen auf. Zunächst, noch nahe am Chor, in figürlicher Kombination mit einem Lamm und einem Meer aus heiter schaukelnden Lampions. Die übrigen Fenster sind aus Scheiben bunter Achate zusammengesetzt. Ansonsten ist der Kirchenraum steinfarben und hoch und weit und so leer, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auf den Bänken allerdings war jeder Platz besetzt.

Das Collegium Vocale sang aus der Matthäuspassion. Der Pfarrer hatte seine Predigt unter das Motto Ein Riss von oben bis unten gestellt. Er spannte den Bogen vom Brand der Notre-Dame bis zu den Bildern des Schwarzen Loches in der Galaxie M87 »Aufschrei, Aushauchen und Vergehen.« Die Kollekte ging zugunsten der Dargebotenen Hand, dem Schweizer Sorgentelefon (Tel 143.)

Draussen vor der Tür blendender Sonnenschein, ringsum sind die Häuser aus demselben hellen Stein gemacht wie auch das Münster, das sich aus ihrer Mitte vom Platze erhebt. Der Pfarrer gab zum Abschied jedem Besucher die Hand.

18.4.2019

Mein Schlafzimmer hier liegt laut GPS-Daten 412 Meter über dem Meeresspiegel, was erklären könnte, warum ich hier so gut schlafe: Heimerdingen liegt auf 413.

Gestern, beim Nachtessen im Morgenstern da Mario wurden Telefone herumgereicht zur Begutachtung. Auf dem einen war der Gebäckhase von Sprüngli zu sehen, auf dem anderen das gebackene Modell des Chocolatiers Vollenweider. Im Vergleich mit dem Sprüngli-Hasen direkt unansehnlich, denn der Mandelbiscuitteig ist dunkel glasiert, tendierend ins Umbra. Der von Sprüngli hingegen goldbraun gebacken und klar glasiert, über den Rücken nur sachte mit Zuckerpuder bestäubt. Der von Vollenweider hat nichts liebliches an sich, seine Ohren sind spitz; ein expressionistisch verzerrter Dürerhas`. Und trotz all dieser ästhetischen Contrapunkte fällt das Votum zugunsten des Vollenweiderschen aus. Weil dessen mir als zu dunkel glasiert erscheinender Teig wohl doch (noch) besser mundet, als die gleichwohl bewährte Teigrezeptur von Sprüngli. Zudem reicht der Hase von Vollenweider in der Ausführung Gross für bis zu zwölf Personen (124 Franken).  Wo wir schon mal dabei waren, stellte ich die Saisoninnovation des Chocolatiers Läderach zur Debatte: Das mittlerweile auch in Deutschland erfolgreiche Haus hat gerade ihrem formschönen Klassiker, der Schokoladenhäsin Cleo, einen Schokoladenhasen namens Lou beigesellt. Der, wie ich finde, ultra dämlich aus der Wäsche schaut. Meine These, es handele sich um eine schokoladene Verkörperung des sexistischen Blickes auf den Mann (aus weiblicher Perspektive) wurde nicht geteilt. Als lieb ausschauend wurde der Neuzugang ins österliche Universum betrachtet; erschreckt.

Später, im Bett las ich noch in den Signaturen von Lorenz Jäger. Das ist ein schönes Abendbrevier, in dem man sich jeweils noch ein bis zwei Geschichten zur Brust nehmen kann, bevor man das Licht ausmacht. Genial seine Erzählung von Richard Wagner in Paris, der dort den Tannhäuser aufführen lassen will, aber er kann in der gesamten Stadt keine zwölf Waldhörner auftreiben. Gezwungenermassen trifft er sich mit Adolphe Sax, den er unangenehm findet, aber wie sonst sollen die kühnen Jagdrufe im ersten Akt erzeugt werden? Im Zweifel halt mit Saxophonen. Für Lorenz Jäger begegnen sich hier, wie zwei Tonabnehmer auf zwei parallel aufgelegten Schallplatten die Sounds von Symphonik und Jazz. Der Crossfader freilich mittig eingestellt.

Der Luftdruck liegt bei 970,1 Hektopascal.

17.4.2019

Zur Fingerkuppe sagt man hier Fingerbeere. Ich musste leider gleich an Arcimboldo den Schrecklichen denken. In der Uckermark war großflächig ein Motiv plakatiert, das für die AfD werben sollte. Mit Arcimboldo-Gemüsezombies, die sich gegenseitig die Fingerbeeren—wurscht, es ging irgendwie gegen die Grünen.

Verständigung über die Grenze unserer Sprachen hinweg: Als ich gestern nachmittags nach unserem Auftritt vor dem Stiftungsrat mit Beda auf die Rämistrasse trat. Plötzlich hielten wir beide inne, weil wir es zugleich gespürt hatten. Es lag in der Luft.

»Merkst Du das, jetzt kommt der Frühling!«

»Aber total.«

16.4.2019

Ziemlich geschockt vom Brand der Notre-Dame de Paris. Wusste gar nicht, dass dieser mittlere Turm auf einer Holzkonstruktion aufgebaut war. Erfuhr davon freilich erst heute früh aus einem Newsletter, weil ich in meinem Dachstüble keinen Fernseher habe. Dafür gibt es hier Vögel, die auch mitten in der Nacht noch singen — keine Nachtigallen, es ist etwas anderes, stimmlich wie gesanglich zwischen Amsel und Drossel, eventuell ein Ortolan.

Auf dem Weg ins Studio nehme ich jetzt an jedem Morgen einen anderen Weg durch die Gassen bergab. »Ja, so lernt man die Stadt kennen«, hat Marcus gestern gesagt, als ich ihm von meinem Beschluß erzählte. Heute führte mich der Weg an einer Kantonsschule entlang, auf deren Vorplatz eine ausladende Magnolie mit langlippigen Dolden in Mauve dominierte. Ich wollte schnuppern, da entdeckte ich die um deren Zweige gebundenen Bänder in rot und weiß, wie wir sie aus Bulgarien vom Märzenfest dort kennen. Fragte dann gleich im Studio herum, ob dies auch (oder gar ursprünglich) ein Schweizer Brauch sein könnte (zeigte das Foto): Nein. Nicht, das sie wüssten. Aber dass es Bulgaren geben könnte in Zürich, wurde für absolut möglich gehalten »Sicher, warum denn nicht?«

15.4.2019

Es war kurz nach 17 Uhr, als die Maschine durch die Wolkendecke stieß. Dort oben war gleißender Sonnenschein. Der Boden, über dem wir zogen, war schneeweiß gehäuft. Ich saß am Fenster und spürte die wärmenden Strahlen. Es hatte den ganzen Tag über geregnet. Hier oben war das Wetter optimal.

In Zürich dann schon angenehm müde während der Wohnungsübergabe. Die Vermieterin stellte mich den anderen Bewohnern des Hauses vor. Im Keller ein Waschküche: man muss eine Münze einwerfen, um die Maschine in Gang zu setzen. Soll dafür aber keine der Münzen aus dem eigenen Besitz nehmen, es steht eigens dafür eine Henkelkanne bereit, gefüllt mit Münzen. Wie diese Münzen generiert werden, aus welchem Besitz sie entstammen, weiß niemand. Und es gibt auch noch einen Waschkessel aus Kupfer, in dem früher noch von Hand die Wäsche gebrüht wurde. Früher, das heißt wahrscheinlich vor sechzig Jahren, fünfzig.

Das Haus an sich ist hoch und alt. Die Wohnung ist sehr schön, verwinkelt und mit niedrigen Decken, aber Fenstern hinaus nach allen drei Seiten. Ein Haus gegenüber hat einen Garten auf seinem Dach. Mein Fußboden besteht aus ungewöhnlich breiten Dielen, die malerisch knarren, wenn ich um die Ecken biege. Ganze Baumstämme wurden hier verlegt.

Legte mich ins Bett und las noch im Schwäbischen Parnaß, den Konstanze uns in zweifacher Ausführung geschickt hatte (»Ein Buch kostet weniger als ein Eis mit vier Kugeln.«) 

Schlief ausgezeichnet. Fühle mich daheim.

13.4.2019

Dass heute der 13. April ist scheint mir insofern bedeutend, dass ich, dabei schon auf dem Weg zum Flughafen, noch einen letzten, eigentlich den ersten Blick auf mein Flugticket warf, um festzustellen: Aha, Du fliegst ja erst morgen. Seit ich meine Armbanduhr mit den Hosen bei 1400 Umdrehungen in der Waschmaschine geschleudert (und zuvor gewaschen) habe, hat sich ihre Gangungenauigkeit von +3 Minuten vollständig gegeben; allerdings hinkt nun ihre Datumsanzeige. Man kann halt immer nur eines haben.

In Sternhagen Gut ging der Blick von Dächern ungehindert frei nach allen drei Seiten hinaus in die Weite, bis es selbst dort nicht mehr weiterging. Am Horizont zeigten sich gestern früh noch über dem Waldsaum strahlend weiß heraufquellende Wolken aus der Ferne, worüber der alles überspannende Himmel längst dunkelgrau war. Das Weiße leuchtete mir als das Künftige der Alpen ein, als die Schweiz.

Wenige Tage nur (auf dem Papier), aber nun liegt auf meinem Fensterbrett ein kleines Nest, das wir im Unterholz des Seeufers gefunden hatten, wo es herabgeweht ward. Die eingetiefte Sitzfläche ist so groß wie ein Fünfmarkstück—also für Rotkehlchen? Auf dem gleichen Gang erspähten wir ein Schneckengehäuse von dieser Größe, das man sonst, auch als Schneckenhaussucher, noch nie gefunden hat. Es hat die Form eines Posthornes, wahrscheinlich heißt die dazugehörige (längst verblichene Schnecke) auch Posthornschnecke—aber seit dem Wikipedia-Streik schaue ich so gut wie nichts mehr nach, weil ich mich davon nicht mehr abhängig machen will. Hier also liegt das Schneckenfossil in einem verwaisten Nest.

Interessanterweise zwitschert und jubiliert es ja hier in der Stadt sehr viel mehr und auch vielgestalter, als dort auf dem flachen Land. Dafür lebten wir dort umgeben von Katzen, die es hier hauptsächlich auf Fotokopien gibt, weil andauernd eine vermißt wird (derzeit, hier im Viertel: Findus, Fiete und natürlich noch immer Mützle, wobei wir in deren Fall kaum noch Hoffnung aufbringen können.)

Beim kurzen Gang durch den Schloßpark gestern konnte ich zeigen: zwei Blässhühner auf ihren Nestern, zwei Fischreiher auf Habacht, wie eingefroren, ein Eichhörnchen, die brütende Storchenhenne, unzählige Amselhähne beim Kopfsprung ins Erdreich, einen Buntspecht, einen Biber.

Aber auf dem Land begegneten wir insgesamt nur vier Menschen. Dafür schauten uns, oft durch die Zäune hindurch, überall Tiere an. Wenn ich abends die Augen zumachte, sah ich dort im Augengrau nicht bloß die Sonnenstäubchen, sondern mittig zentriert zwei dunkel glänzende Sphären, die wie ein Summarum der Blicke von Kühen und Schafen, von Katzen und sonstnochwas waren.

10.4.2019

Nach angenehmer Fahrt im Regionalexpress erreichten wir nach anderthalb Stunden die Kleinstadt Prenzlau. Im überraschend aufgeräumt wirkenden Zentrum besorgten wir uns in einem Geschäft für regionale Spezialitäten, was wir für die nächsten Tage in unserer selbstgewählten Abgeschiedenheit auf dem Sternhagen Gut brauchen konnten: Uckermilch und Uckereier, sowie einen Uckerkäse, eine Uckerwurst und ein rundes Brot mit Namen Luther. Dann kehrten wir fürs Mittagessen in dem nahe des Bahnhofs zwischen einem Wahlplakat der Linken und einem von der SPD gelegenen Flachbau ein, über dem in schnörkellosen Buchstaben Imbiß Ecke stand. Der Gastraum im Inneren der schmucklosen Baracke war auf eine extreme Weise nüchtern gehalten—was auf uns schon wieder berauschend wirkte. Die vielen blankpolierten Tische aus jenem Holz, aus dem man einst die Kegel gedrechselt hat, waren unbesetzt. Wir hatten freie Platzwahl. Nur ganz hinten in dem langen Raume saß eine Runde aus drei Männern, der eine von ihnen war auf seinem Sitz eingeschlafen und erwachte nur für kurz, als er von seinem Tischgenossen in die Brust gestoßen ward. Der Wirt fungierte auch als Koch. Von seinen zahlreichen, an allen möglichen Stellen vor, hinter und neben ihm an den Wänden und am Tresen selbst befestigten Angebotstafeln bestellten wir die Nudeln mit Gulasch und die Topfwurst mit Kraut. Beide Speisen mundeten vorzüglich. Wir aßen alles restlos auf. Hätten sogar, wäre nicht unser aus Berlin vorbestelltes Taxi vorgefahren, auch gerne noch Nachschlag bestellt. Ein ausgezeichneter Ort, eine anständige Gaststätte in Prenzlau, die wir uneingeschränkt an- und weiterempfehlen können, falls und wannimmer sich ein Aufenthalt in diesem an Attraktionen sonst armen Städtchen ergeben sollte.

Mit dem Wagen ging es dann ins Hinterland von Prenzlau. Es wurde rasch idyllisch. Der aus dieser Gegend stammende Fahrer unseres Mobils sagte, von Friederike auf die endlosen Alleen angesprochen, die wir passierten »Ja. Deshalb haben wir hier in Brandenburg auch die meisten Verkehrstoten.«

Das Gut selbst dann freilich ein Knaller. Umgeben von Auen und Wäldern und von der Dachterrasse aus mit Blick auf den See, der hinter den Wäldern rauscht. Herumstreunende Katzen, wollige Lämmchen und kalbende Kühe wo auch immer man hinschaut. Die Sonne stach zwischen gewaltig weißen Wolken herunter, es gibt massenhaft Liegestühle, ein Bussard schraubte sich gleitend in eine Thermikspirale empor.

Im Abendlicht sitzen die Stare in den blattlosen Ästen der schätzungsweise dreihundert Jahre alten Eiche, knattern mit den Schnäbeln und sondern dann wieder ihre lustigen Melodien ab. Dann war die Sonne untergangen und es wurde unglaublich still.

9.4.2019

Während eines Telephongesprächs mit Jan bekam ich bei seinem parallel dazu abgewickelten Bezahlvorgang mit, dass er gerade 24 Terrabyte an Speicher bezahlen mußte. Wir kamen anschließend nicht ganz darauf, was das an Raum bedeutet für Zeichen. Und er sagte, ganz Freund: »Als Schriftsteller brauchst Du dir darum keine Gedanken zu machen.« Stimmt auch! Ich habe gerade wieder meinen schönen Laptop aus der zweiten Generation des MacBooks ans städtische Stromnetz angeschlossen, und er funktioniert tadellos. Nehme mal an, ich käme insgesamt mit einem Gigabyte aus, so von der von mir verursachten Textmenge her.

Im Park gibt es jetzt ein Schild, das verkündet, dass die Rasenflächen fortan nicht mehr gemäht werden, sondern von einer Schafherde bewaidet. Heute war davon noch nichts zu sehen, aber dafür brüten die Blässhühner auf teils schwindligen Konstruktionen frei flottierender Nester. Und machen dabei, ihrem schlichten Wesen zum Trotz, einen konzentrierten Eindruck auf mich bei dieser Tätigkeit. Bei der kleinen Brücke, die zu meiner Lieblingsbank führt, auf die ich mich gerne pflanze, brütet indes eine Schwanenhenne. Das Nest ist überraschend riesig, uch hätte es mir vorstellen können, bekam aber tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben die Dimension eines Schwanennestes vor Augen geführt—wie groß wohl die darin verborgenen Eier sind? So groß wahrscheinlich wie der bretonische Kieselstein, der daheim auf dem Fensterbrett ruht. Es ist doch seltsam mit den Wasservögeln in städtischen Parks, weil man die außerhalb ihrer Brutsaison, wenn sie sozusagen ihrem Privatleben nachgehen (sitzenderweise), als städtische Angestellte betrachten will, die halt die Wasserflächen beleben.

Alles um mich herum blühte und trieb und baute und brütete. Ich kam mir selbst ganz müßig vor.

8.4.2019

Wobei mir der Weg zur Kirche selbst versperrt war: vor Absperrbändern, die mit ihrer Gestreiftheit in Rot und in Weiß unter Bulgaren als Zeichen des Festtages Martiniza verstanden werden, zogen Athleten auf Rollschuhen vorüber. Ich nahm die Unterführung, denn es war ein Halbmarathon angesagt.

Und meine Kirche war dann doch eine andere, als die schicke, die ich mit Christian und Friederike besucht hatte. Der Navigator wies mir den Weg zu einem gelb angestrichenen Haus.

Der Trick beim Kirchenbau—diese ist von Schinkel—besteht ja wohl darin, einen Innenraum zu erzeugen, dem man seine Größe von außen her nicht ansehen kann.

Wir waren zu dreißigst. Allerhöchstens. Und es war, anders als bei Georges Bernanos: Eine lebendige Gemeinde. Ich kann mich an einige Gottesdienste erinnern, die mir das Eintauchen in den gelebten Glauben nicht möglich machen konnten. Aber in der Gemeinde Luisen gibt es eine Pfarrerin, sie heißt auch noch Aline Seel, die ihre tragende Rolle wirklich sehr gut spielen kann. 

Mir wurde das vor allem bei der mir Zuteilung des Abendmahls klar gemacht, als sie mir in die Augen schaute, und ich zurück, während sie zu mir sagte: »Dies ist der Kelch der Liebe und des Lebens.

Setzte mich hernach vor das C‘est La Vie. Die Marathonläufer bildeten einen dicken Strom von Körpern, die voranstrebten.

Und abends stand hinter der goldenen Locke von Judith Rakers: Die weltweite Getreideproduktion reicht nicht mehr für den Bedarf (»Getreideernte deckt weltweiten Bedarf nicht.«) Danach kam Fussball (Was mir »aus rechtlichen Gründen« nicht gezeigt werden konnte.)

7.4.2019

Heute früh traf doch wieder der Newsletter von Maria Popova ein. Ihren Brainpickings habe ich seit vielen Jahren abonniert, am vergangenen Sonntag kam er nicht, es gab keine Erklärung, sodass ich mich fragte mich: war‘s das?

Heute zitiert sie aus einem Interview mit James Baldwin: »Jemanden zu lieben, von jemandem geliebt zu werden bedeutet eine erhebliche Gefährlichkeit, weil wir uns verantworten sollen. Eine anständige Beziehung unter Menschen, in der die beiden das Recht erwerben, den Begriff von Liebe zu verwenden, fordert nach einem Vorgang, der zart ist von seinem Wesen her und zugleich brutal anstrengend. Häufig auch furchterregend für die beiden, die in ihm involviert sind—weil er sie dann erst an die eigene Wahrheit führt, die sie dann voreinander aussprechen wollen«.

Seitdem mir Friederike das Fernrohr zurück gebracht hat, sehe ich das Treiben der Vögel im Hinterhof wie mit neuen Augen (dabei macht die Prothese meine Sehkraft nur stärker.) Vergrössert zeigt es mir die jahrzentealte Oberfläche der Zweige, das jahrjunge Knospen an deren Enden. Emanuele Coccia schreibt, das Blatt sei der Sinn des Baumes. Alles, sogar das unsichtbar im Erdreich verzweigte Wurzelwerk diente allein den Austreiben der Blätter. Die Fangen die Ultraviolette Strahlung ein. Photosynthese. Ohne die Bäume und Pflanzen könnten wir Menschen nicht weiterleben. Das macht er klar.

Und meine Mutter schreibt (auf einer Karte,) dass gestern die Gärtner da waren und unsere Arbeit an dem kleinen Obstgärtle beim Brennholzhaufen gelobt haben. Quasi professionell.

Heinz Bude sagt, so weit bin ich im Band: »Ich weiß mehr über die Gesellschaft, als ein Mediziner über den menschlichen Körper.«

Um zehn Uhr ist Gottesdienst. Leider mit Posaunenchor.

6.4.2019

Am Donnerstagabend stellte Jan im Nebenraum des Grill Royal seine 360°-Verfilmung eines Teils der Oper Figaro vor. Um sich das anschauen zu können, mußten die Teilnehmer eine VR-Brille aufsetzen und ein paar Kopfhörer. Man erlebt das also zwar gemeinsam an einem Ort, aber jeder für sich. Vergleichbar mit dem Konzept der Silent Disco. Diese Brillen sind von der Form her wie Taucherbrillen, durch deren Glas man ja auch eine Art für den Menschen virtuell bleibender Wirklichkeit betrachten kann, die der Meeresbewohner.

Emanuele Coccia schreibt: »Die Welt als Eintauchen zu betrachten, wirkt wie ein surreales kosmologisches Modell, und doch machen wir diese Erfahrung häufiger, als man meinen möchte. So erfahren wir die Welt des Fischs zum Beispiel jedes Mal, wenn wir Musik hören. Wenn wir das Universum, das uns umgibt, nicht ausgehend von dem Stück Wirklichkeit konstruieren, zu dem der Sehsinn uns Zugang gibt, sondern die Struktur der Welt von unserer musikalischen Erfahrung ableiten, dann müssten wir die Welt als etwas beschreiben, das nicht aus Objekten besteht, sondern aus Strömungen, die uns durchdringen und die wir durchdringen, aus Wellen unterschiedlicher Intensität und in ständiger Bewegung. Stellen Sie sich vor, Sie sind aus derselben Substanz gemacht wie die Welt, die Sie umgibt.«

Und so, auf eine anfänglich mich beängstigende Weise habe ich das Geschehen durch die VR-Brille erlebt. Ich fand mich aufgelöst in dem, was vor meinen Augen hinter der Brille geschah. Ich konnte beispielsweise nach unten schauen, da ging es tiefer zu Boden, als ich es fühlte (ich saß dabei.) Man kann, während die Darsteller sich vor einem bewegen, den Kopf umherwenden und schaut dann in eine unbespielte Ecke des Raumes, so als bewegte man sich frei in dem aufgezeichneten Raum. So ein Film wird wohl von einer Kugelkopfapparatur aufgenommen, die an einer Stange mitten in dem Bühnenbild befestigt steht. Der Kugelkopf enthält viele einzelne Kameras, die, ungefähr nach dem Prinzip des Facettenauges einer Libelle, lauter Teilausschnitte des räumlichen Geschehens aufzeichnen. In einem Computter wird dann aus den einzelnen Filmen die 360°-Illusion zusammengerechnet (der Vorgang nennt sich Stitching.)

Ich weiß nicht, ob ich die Erfahrung noch einmal machen will. Stellte mir vor, Gaspar Noé hätte seinen Enter The Void in dieser Technik verfilmt. Da würden einige Zuschauer sterben. Die ersten zwanzig Minuten wären dazu völlig ausreichend.

Ich wachte am Morgen jedenfalls auf und fühlte mich wie seekrank. Fuhr dann aber trotzdem mit dem Fotographen bis an die Stadtgrenze hinaus, um mit Heinz Bude zu sprechen. Dort gab es den größten jüdischen Friedhof Europas, wie er uns erzählte. Und durch das sprechen mit ihm, auch wie wir uns entsprachen wurde ich wieder an den Strand der Wirklichkeit geholt. Auch weil der Fotograph mich noch mitnahm in einen Baumarkt, weil er sich, plötzlich ganz dringend, eine Schlagbohrmaschine kaufen wollte. Am Stand mit »Neuester Technik« gab es ein Alexa-förmiges Türmle aus schwarzem Plastik, das nach dem Einschalten vibratorenhaft surrte und zwei Lappen aus Zellophan durch die Luft wirbeln ließ. Das war ein elektrischer Fliegenverscheucher. Auf dem Werbeschild stand »Sie können jetzt abends mit ruhigen Händen draußen essen. Der Fliegenverscheucher hält ihnen die Insekten vom Leib.«

5.4.2019

Die sogenannte Therme springt jetzt tagsüber kaum noch an, weil es schon morgens so schön warm ist – das Ende der Heizperiode ist da. Wie ich es im Buch geschrieben habe: Hin und zurück ist gleich weit. Und: Draußen wie drinnen wird es gleich schön. Der Luftdruck war überdies gesunken auf 993,0 Hektopascal.

Wahrscheinlich müsste ich aber die Dunkelzone etwas ausleuchten mit meinen Beschreibungen, um den Hintergrund aufzuhellen, vor dem die Lesung, vor dem auch Robert Habeck mir gestern so leuchtend erschienen war.

Es ist für mich eine unliterarische Umwelt (obwohl jeder und jede zweite, selbst im Gehen, andauernd liest). Es ist eine Umwelt, in der die Anzeigefelder an den Stangen der Tankstelle mir zu jeder Tageszeit den aktuellen Spritpreis in roten Ziffern anzeigen, ohne weiteren Kommentar. Und gleichzeitig habe ich gerade noch ein Eichhörnchen betrachtet, das, beim Sprung vom belaubten Baum hinüber ins Gerippe des anderen, seinen Schwanz wie beim Yoga über seinen Körper vorangebogen hat bis auf seine Schnauze hin und ich fragte mich: Was will mir diese Geste bedeuten?

Die gleiche Welt übrigens, in der ich mich dabei noch fragte, wieso der rechte Baum, von mir aus betrachtet, um Wochen früher austreibt als der linke. Und: Was ich für den Spätzünder tun könnte? Und in diesem Baum, dem kahlen, gibt es seit dem Winter schon Äste, von denen das Eichhörnchen unter anderen die Rinde abgeschält hat bis auf das Innere, das Fleisch seines Gewächses. Tags landen dort auf den Wunden des Baumes auch die Vögel, um Fasern herauszureissen. Die werden abtransportiert, als Material für den Nestbau. Eine Nebelkrähe, die gibt es angeblich bloß hier, in Berlin, hüpft mit einem Bündel dieser Holzwolle einen Ast aufwärts. Dann schwebt sie, anscheinend schwerelos geworden, damit davon.

Es ist eine Welt, in der sich, im Nachbarhaus der Buchhandlung zur Stunde der Lesung von Robert Habeck, massenhaft junge Leute versammelt hatten, um dort, bei Risa (einer Systemgastronomie für frittiertes Hähnchenfleisch) zu zweit oder zu dritt am Tisch beieinander zu sitzen, um diese auf Papierservietten ausgebreiteten Hähnchenfleischteile mit Pommes frites zu schmausen (und dabei hatten viele den persönlichen Bildschirm in der anderen Hand).

Wenig später fragte ich mich im Stillen, ob der Petersilienstrauch, den ich dabei war zu kaufen für weniger als zwei Euro, denn nicht unnatürlich hoch geschossen mir vorkommt, weil mir die am Rande seines Topfes aus blauem recycelten Kunststoffes herausragenden Stiele der Pflanze als etwas zu bleich scheinen wollten. Das war in dem Supermarkt, an dessen Front große Plakate verkünden, dass ich beim Kauf eines bestimmten Joghurts mittlerweile einundvierzig Prozent spare von meinem Geld.

Manchmal schrecke ich auf aus einem meiner Tagträume, weil der Xylophonakkord in »The Lost Generation« genau so klingt, wie der Benachrichtigungsklang meines Telephons (Und eventuell von The Lost Generation oder von »So lebe ich« von Blumfeld gesampelt ward).

Und es ist diese Welt, in der mir in der Zeitung eine Tauchdrohne vorgestellt wird, hergestellt in Schleswig, die über eintausend Euro kosten soll, und deren Hersteller sein Produkt an die Freunde des Angelsports offeriert: »Sie können den Fischen beim Anbeißen zusehen.« Und abends steigt die neueste Errungenschaft der Verkehrsbetriebe mit ein in die S-Bahn. Auf dem Rückenschild seiner gelben Weste steht »Kamera«. Demna Gvasalia dürfte das gefallen.

Andere wiederum kaufen Ostereier. Wieder andere färben die selbst. 

Die Welt, in der die Lesung von Robert Habeck gestern stattgefunden hat, ist natürlich noch größer. Am gleichen Tag telephonierte ich mit einer Autorin aus der Schweiz, die mir verständlicherweise mitteilen musste, dass sie für diesen Textauftrag nicht weniger als zweitausendfünfhundert Franken zu bekommen braucht. Und es war in der gleichen Welt, verbunden durch das Internet, als ich beim Ausfüllen des Mitgliedsantrages bei den Grünen feststellte, dass ich sehr wenig verdiene (man soll dort einen Prozent seines Monatsgehaltes eintragen als Beitrag – das war mir peinlich. Ich habe das Formular nicht abgeschickt).

Als ich Ingo neulich erst fragte, warum er seine Wohnung hier in Berlin nicht aufgeben will, sagte er: Eine Lagerfläche für meine Bücher in der Schweiz kostet mich mehr im Monat als eine Wohnung in Berlin.

Von einer Lagerfläche in der Schweiz wage ich nicht mehr zu träumen. Und zeitgleich schieben die Fingerspitzen des Postboten oder der Postbotin einen Brief durch den Schlitz in meiner Wohnungstüre, in dem mich die evangelische Gemeinde Luisen hier willkommen heißt und einlädt, zu den Gottesdiensten zu erscheinen. In diese Kirche übrigens, die ich schon mit Friederike und davor mit Christian bewundert hatte, weil die wirklich großartig gebaut ist.

Stelle die Musik aus, hör‘: Wie schön das draußen ist! (Abends legt sich alles in mir und ich traue mich nicht einmal mehr Musik anzumachen. Das ist wohl Erfurcht.)

Und die Welt ist ja noch viel größer. So groß, dass ich mich selbst nicht außerhalb ihrer vorzustellen vermag.

Das Eichhörnchen lebt auch in dieser Welt. Und Robert Habeck sagte gestern: »Wenn meine Leute im Bundesvorstand hören, dass ich hier Celan vorlese, drehen sie durch«.

Ah ja, warum eigentlich? Ist doch furchtbar traurig. Eigentlich. 

The world spins so fast, that I might fly off — Duran Duran haben das gesagt, Simon Le Bon hatte es gesungen. Ist mega lange her. War damals lustig gemeint (oder subjektiv), wirkt heute wie prophetisch auf mich, weil es ja die Motorizität des Planeten beschreibt. Gleich so, als ob der Tag nicht bloß vierundzwanzig Stunden hat, sondern auch noch einen ihm eigenen Rhythmus, gegen den man nun mal nichts aufzubringen hat. Gegen den man nicht an kann. Als Mensch. 

Aussteigen geht auch nicht. Mitmachen lohnt sich. Die abscheulichste Vorstellung, die ich von mir selbst haben kann, wäre die:…(Raum für Notizen)

My Heart Will Go On (Roman Flügel Club Mix).

4.4.2019

Robert Habeck hat in einer Berliner Buchhandlung gelesen, und ich war dabei. Warum? Ja, warum nicht, könnte ich schreiben, wenn dieser Entgegnung nicht eine Selbstverständlichkeit innewohnte; aber Spitzenpolitiker lesen nicht in Buchhandlungen—weder in Berlin, noch außerhalb des Hauptstadtareals; weder die von der Regierungspartei, noch die von den Grünen. Also war das außergewöhnlich, deshalb war ich dabei.

Robert Habeck kommt natürlich erst kurz vor Beginn seiner Lesung, die drei-, bis vierfach ausverkauft war. Die Reihe »Meine Lieblingsbücher« zieht regelmäßig einhundert Leute aus Prenzlauer Berg in die Buchhandlung von Katharina von Uslar und Edgar Rai, aber dieses Mal war es extrem.

Ich muß ja gestehen, dass ich Robert Habeck als gesichtsähnlich empfinde mit Campino—was nichts Schlimmes bedeuten soll, weil ich mag den ja auch. Aber Habeck wiederum braucht keine Pose. Und im Gegenteil nahm er sein Publikum ein mit Verletzlichkeit, mit Fehlern. Denn die Bücher, die er als seine Lieblingsbücher vorstellen wollte, die waren nicht etwa Raupe Nimmersatt und Die Kinder von Schewenborn, Die Grüne Wolke oder der »Hirbel«: Habeck las aus Celan. Dann Levinas. Und aus dem Sisyphos von Albert Camus, den auch Heinz Bude als zentral befindet für das Verständnis unserer Krise.

Was mich beeindruckt hat—in und zu dem Maße, dass ich vor ihm niederknien wollte—war, wie er das vorgetragen hat. Nämlich verletzlich. Und unvollkommen. An den Texten selbst scheiternd. Als nicht dabei Gewesener sollte man es sich so vorstellen, dass da ein Spitzenpolitiker vorne steht, in seiner spärlichen Zeit, vor zweihundert Berlinern, und aus einem Buch vorliest, dass er selbst nicht versteht. Und das sagt er auch so: Ich verstehe den Text nicht, aber er scheint mir wichtig.

Als ich niederknien wollte, sagte Robert Habeck: In der Kuhle, wenn der Stein noch nicht wieder heraufgeschoben wird, aber eben erst herabgerollt ist; wenn der Sisyphos dann einen neuen Anlauf nimmt, scheint für mich das Kreatürliche im Menschen hervor.

Und dann, so dachte ich: welcher andere Politiker würde das oder so etwas vor Publikum sagen?

Wer traut sich, derart laut zu denken?

2.4.2019

Der Kleine Wagen ragt über das Dach der Häuser gegenüber, der Grosse steht zentral: Ich kann in den Sternen lesen (Allein auf meiner Ghost Ranch.)

In der glücklicherweise immerwährenden Frage, welches Stück der Popmusik wohl diesem Gefühl nahe kommen könnte, votiert Johanna Adorjàn für »Nine Out of Ten« von Gaetano Veloso. Ich finde »Listen Love« (von Jon Lucien.) 

Kein Disput.

Ja. Weil

Das Leben verlangt nach einer zartbittr‘en Symphonie

Als Soundtrack, weil wir dem Gelde versklavt

Jemanden suchen, der uns zur Seite

Steht, uns doch kaum zu ändern im Stande

Dann doch sterben werden

Müssen

Und Pure Vernunft darf niemals siegen.

1.4.2019

Am Morgen, bei der Zubereitung des Kaffees dachte ich, noch schlaftrunken, aber dabei erfrischt vom quadrophonisch aus allen Ecken des Hinterhofes hereinschallenden Konzerts der vier Amseltenöre: Warum wohl die Menschen sich als ersten Trunk des Tages noch Tee oder Kaffee machen, wo es doch einfachere Formen gäbe? Ob es vielleicht daran liegt, dass sie sich, aus in Gehirnwellen gebadet und gewiegt jetzt wieder am Strand der Wirklichkeit abtropfend erleben wollen: Feuer machend (am Gasherd), mit pulverisierten Gewächsen hantierend, Geräte bedienend, Tierprodukte schäumend, ihre Gefäße befüllend, diese zum Munde führend.

Dann unter der Sonne in den Fenstern die Zeichen und Wunder entdecken (und lesen können, gemeinsam als Paar.) Hat man sich erst eine eigene Welt erfunden, beziehungsweise eine eigene Sprache für deren Phänomene erarbeitet, spricht die Welt unaufhörlich zu einem; wir sind wie eins zu zweit. Die Wärme und der Stich des Lichts tut ein Übriges dazu—schwellendes Wohlbefinden.

Am Abend, jetzt, bin ich völlig erledigt. Kann nicht einmal mehr lesen. Meine Augen haben alles getrunken. Mach den Ofen aus; bin satt.

31.3.2019

Die Schatten vorbeifliegender Vögel auf den Fassaden: grelles, sommerlich lockendes Licht. Es riecht jetzt auch endlich so: nach warmer Erde und dem sich reckenden Gras. Plötzlich roch es wie in Cagnes Sur Mer. Wenn man erst ganz viele Sehnsuchtsorte angesammelt hat in seinem Herzen, wird es unmöglich, diesen Bedürfnisse der Seele noch nachzukommen. Man spürt das, sagt aber: »Gedulde Dich.« Und weiß, dass man lügt.

Am Himmel zeigen sich verwischte Strukturen, gerade so als ob da ein himmlischer Tintenstrahldrucker mit verschmutzten Düsen ein schräg herausgequetschtes Papier produziert.

Beneide ich meine Nachbarin vom Gegenüber um ihren Südbalkon, auf dem sie sich sonnt? Eigentlich nicht. Weiter oben und ihr schräg gegenüber, auf der Sonnenseite werden wohl Schnitzel geklopft. Neulich saßen da, bei ersten Sonnenstrahlen die Bewohner auf ihrem angebauten Balkon wie auf dem Präsentierteller—fühlten sich anscheinend aber ganz wohl dabei, in ihrem Ausguck zu frühstücken. Angeblich will der Senat in Pankow jetzt das Anbauen von Balkonen verbieten lassen, weil es für Mieter den Anfang vom Ende bedeutet.

Schreckliches Wort: Eigentlich. Im Rhein-Main-Teil war heute eine Todesanzeige, ein Nachruf, der in jeder Zeile dem Verstorbenen nur noch einen gasig aufgeblähten Hund hinterher geworfen hat; jede Formulierung war eine Verletzung—wie taub und gefühllos, eigentlich dumm Menschen sein können: »Da schwimmt er hin, unser kleiner Traum-Flussschifferkapitän. Wir sind eigentlich allzeit gut mit ihm gefahren;« und es ging noch weiter.

Und die Sonne singt (wie bei James Joyce) »Komm‘ raus zum Rho-Do-Dendron, und zu den Orchi-deen!«

Ich interessiere mich für Goldfische ausschließlich wegen Pink Floyd. Und ich gehe die Wilmersdorfer Straße gerne hinunter oder hinauf und entlang, weil ich dabei in mir Gaetano Veloso hören kann.  

Und Construção von Chico Buarque.

30.3.2019

In seiner Laudatio auf die Opernsängerin Edita Gruberovà schreibt Jürgen Kesting: »Alles Vollkommene in seiner Art muss über seine Art hinausgehen, es muss etwas anderes, Unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinaus und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich Singen heiße.« Das Zitat ist wohl von Goethe. Ich nehme an, er hat den Vogel Nachtigall als Topos verwendet—es bleibt doch Geschmacksache, ob man die Tonfolgen der Nachtigall als besonders kunstvoll empfindet. Bei Hermann Lenz gibt es die schöne Episode, wo er seine Frau nachts an ein Gebüsch in Stuttgarter Hanglage führt, weil ihm sein Vater zuvor erzählt hatte, dort hocke eine Nachtigall. Tut sie auch, aber auf dem Heimweg vom Konzert beklagt sich Hanne Lenz (Treutlein im Buch), dass sie vom Gesang der Nachtigall enttäuscht war. Sie hatte etwas noch ganz anderes erwartet. So gefallen mir die Lieder der Amselhähne besser, aber der Gesang der Nachtigall hat allein dadurch etwas Magisches, weil sie halt dann singt, wenn alle anderen, vor allem die menschlichen Zuhörer und Autos den Schnabel halten.

Mit den Vergleichen ist es ja merkwürdig. Vorsicht ist geboten, wenn beispielsweise ein Mann den halb übrig gelassenen Teller seiner Frau leer ißt mit den Worten, er sei halt der Mülleimer in der Beziehung (weil seine Frau esse wie ein Spatz.) Da ist etwas schiefgelaufen in der gegenseitigen Selbstwahrnehmung. Neulich aber hörte ich das allertraurigste von einer Frau in den besten Jahren, die sagte »Ich bin wie das letzte Stück Pizza. Alle wollen, keiner traut sich.«

Wer bekommt Karl Lagerfelds Büchersammlung?

29.3.2019

Am Morgen gesellt sich jetzt ein Zaunkönig zu den Vögeln im Baum. Er bewirtschaftet die Äste auf den unteren Etagen des Stammes. Ich kann ihn nur von oben sehen, aus der sogenannten Vogelperspektive. So winzig und rund wie er ist, wirkt er gar nicht wie ein Vogel auf mich, eher wie ein neuartiges Spielzeug. Ein motorisierter Pompon: seine Flügel zwei Wölkchen aus bräunlichem Staub, wenn er die für ihn riesige Distanz zwischen den Zweigen durchfliegt, die eine Amsel mit einem einzigen Hupf nimmt. Allein der Weg von seinem Schlafgebüsch in den Hof und zum Baum hinauf wird ihn Minuten kosten, in denen er wie ein großes Insekt durch die Dunkelheit schwebt.

Heute kommt das Buch in den Handel. Atlantis taucht auf, es erscheint. Ich war bezaubert von seiner anmutigen Gestalt, zierlich wie ein Zaunkönig liegt es in der Hand. Ansonsten sind jetzt die Schaufenster prächtig ausgeschmückt mit Hasen sämtlicher Art. Sogar beim Metzger findet sich noch ein Plätzle zwischen Schäferfrühstück und Stracke für einen Hasen aus vergoldetem Porzellan (und beim Goldfasan haben sie einen Hasenwein, aus dessen Etikett bunte Federn ragen.) Das wird selbst mir, der ich dem Hasenförmigen an sich, auch dem Hasentum stets zugeneigt bleiben werde, zu viel. Als jüngst in den Kanon der österlichen Dekorationen integriert kommt mir die Karotte vor. Ich sehe sie aus orangefarbenem und grünem Karton gebastelt in den Fenstern der Kindergärten hängen neben den gewohnten Ei-Basteleien und Hasenfriesen. Sie wird aber auch als karottenförmiger  Präsentierteller verkauft, es gibt flauschige Karotten, die mit Osterküken und Osterhasen kombiniert werden könnten. Die breiteste Auswahl hat Flying Tiger im Angebot, dort scheint mir, auf die Wilmersdorfer Straße bezogen, das Epizentrum einer Proliferation der Osterrotte. Eventuell handelt es sich also ursprünglich um einen dänischen Brauch.

28.3.2019

Lese Emanuele Coccia. Er denkt so wunderbar über die Pflanzen. Die Lektüre verändert mein Schauen noch entscheidend, wie mir scheint, als ich durch den Volksgarten von Wilmersdorf ging—allein was er in dem Kapitel Philosophie des Blattes schreibt. Auch Heinz Budes Buch zur Solidarität verstehe ich so: Nicht als These, auch nicht als Devise. Eine Vergegenwärtigung dessen, was uns schon beinahe verloren gegangen ist.

Betrat nachdenklich gestimmt den Rias-Palast am Hans-Rosenthal-Platz. Das Taschenmesser blieb, trotz vieler schön blühender Zweige, unbenutzt stecken. Drinnen auf den Fluren ein behördenmäßiges Kaffeebechergeschleppe. Trotzdem ist Radio eine großartige Veröffentlichungsform. Hätte sehr gerne eine eigene Sendung. Man spricht in ein Mikrophon. Wird nicht gesehen, sieht niemanden.

27.3.2019

Alles beginnt mit einer empfindsamen Gleichgültigkeit. Schlicht wunderschön ist die Skulptur, die Urs Fischer bei Max Hetzler zeigt: auf dem blanken Parkettboden ist ein nierenförmiger Teich mit verspiegeltem Grund ausgelegt. Seine Ufer sind dicht an dicht mit Topfpflanzen bestanden. Da ist von der Blattpflanze aus subtropischen Gefilden bis zum Usambaraveilchen alles dabei. Künstliche Vegetation. Alle Augenblicke fällt aus einem unauffälligen Bewässerungsautomat an der hohen Zimmerdecke genau ein einzelner Wassertropfen auf den Spiegel des Teiches. Der verändert das Bild; macht einen appetitlichen Klang. Lange Zeit habe ich dort verbracht, allein mit dem Werk.

Bei Daniel Buchholz in der Fasanenstraße gab es die Zeichnungen von Andy Warhol zu sehen, die er für Buchumschläge und als Illustrationen für kleine Auflagen angefertigt hatte. Unter anderem ein komplettes Alphabet, das derart zauberhaft, weil zerbrechlich und ewig auf mich wirkte. Auch dort wieder lange, und auch allein.

Die Kunst ist keine Ware. Sie hat vielmehr etwas natürliches (Widersinn!), wie etwas Gewachsenes, das ein Recht auf Existenz und würdevolle Behandlung verdient. Die Werke haben ihren Preis, aber ihr Wert wirkt unmittelbar und selbst dann, falls sie nicht erworben werden. Man kann Menschen charakterlich ganz gut beurteilen nach der Zusammensetzung ihrer Sammlung. Hat man nicht genug Geld, um sich Kunstwerke kaufen zu können, bleibt gottseidank der Gang in die Galerien.

26.3.2019

Von Schrauben und von Batterien wird mein Leben zusammengehalten. So kommt mir das manchmal vor. Tatsächlich wie ein Wunder finde ich, dass Friederike jünger ist als ich, vor allem anders, sie verkörpert mir Lebendigkeit—und ich vor mir selbst empfinde mich als einen kahlen Ast um diese Zeit, tarnmaschinengrau, von Flechten bedeckt, aber innerlich verholzt und staubtrocken. Mein Vater sagte mir am Telephon »Auch das geht vorbei.«

Im Donath saßen wir an einem grotesk überdimensionierten Tisch für zwölf Personen, wir waren zu dritt und aßen Nudeln nach Art der Hafennnutte (zwei Tage später habe ich immer noch Durst, derart salzig waren die.) Im Gespräch ging es um die drei großen Texte, die an diesem Wochenende erschienen waren: um den von Walter Schübler über Bibiana Amon im Literarischen Leben, um das Gespräch mit Judith Schalansky von Susanne Kippenberger und um den von Kolja Reichart über die Künstlerin, die andauernd ihren Namen ändert, mit einem Fels um den Kopf aufgetreten war in der Öffentlichkeit, und die auf seine schriftlich gestellten Fragen mit Zeichnungen geantwortet hatte. Lauter Meisterwerke.

Frau Schalansky kündigt an, im Herbst ein Buch über Schleim herauszubringen. Da würde ich gerne das Nachwort schreiben, denn zum Schleim habe ich viel zu sagen. Sie sagt, auch das ging mir sehr nahe: »Meine Analyse gehört zu den drei besten Sachen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Die Erfahrung, aus einer großen Krise heraus eine Beziehung zu sich selbst anzufangen.«

Zu sich selbst.

25.3.2019

Es lief nicht gut. Es lief gar nichts, und ich hatte mich mit Lina und Christian auf meinem Lieblingsflohmarkt verabredet. Wahrscheinlich, weil ich mir den Trost im Angesicht alter Dinge versprach. Aber das war eine schlechte Idee. Ich bekam ungewohnt schlechte Laune. Was nicht daran lag, dass ich den Kauf dreier identisch modellierter Hasen aus rot glasiertem Porzellan verschoben hatte, um mir zunächst einen Überblick auf das gesamte Angebot zu verschaffen—als ich eine Viertelstunde später wieder an jenem Stand vorbeikam, waren sie weg. Verkauft, und das auch noch einzeln, wie der Verkäufer mir erzählte. Dabei war das der Grund gewesen, der mich hatte zögern lassen (weil ich unausgesprochen angenommen hatten, die würden nur ensemble verkauft.)

Es war viel zu voll, so war es doch längst nie gewesen, und insbesondere die Männer dort, die mehrheitlich aufgezäumt wie Karusselpferde herumgingen und -standen gingen mir auf meinen Sack. Woher die schlechte Laune, so will ich doch gar nicht sein—und so fiel mir die Fahrt in der Straßenbahn ein, der Weg dorthin, als mein Abteil geflutet wurde mit schlanken jungen Frauen aus vermutlich den Vereinigten Staaten, die angetan und behängt mit dem latest shit ihre Rollkoffer um mich herum zusammengeschoben hatten, um sich blasiert zu unterhalten, was sie demnächst zu tun gedächten, hier, nach Ankunft in dieser Stadt. Das war ein altes Gefühl, das ich dabei hatte. Ein Re-Run, wie als ich vor ein paar Jahren zum letzten Mal nachmittags in der Panorama Bar war und dort beschließen mußte: Das war es jetzt also. Mit dem normalen Ausgehen hat es sich für Dich. Denn ich fühlte mich wie aus Glas, ich wurde nicht mehr wahrgenommen oder beachtet. Ich war anscheinend herausgewachsen aus der Gruppe, meine Codes waren veraltet.

Und so gingen wir in ein Restaurant, aßen Nudeln, ist ja auch ganz schön. Ich hatte das wundervolle Lied von Barbara Morgenstern im Ohr: Come to Berlin.

24.3.2019

Auf dem Markt einen Händler entdeckt, der sehr kleine Mengen divers zusammengestellter Gemüsesorten in appetitlichen Schalen aus schwarzem Kunststoff anbietet. Mit seinem Angebot wendet er sich ausdrücklich an Singles. Ich nahm ein paar mit je drei Dolden Radicchio und Radieschen und zwei mit jenen winzigen Artischocken, die man in dieser Zeit des Jahres in Rom alla giuda zubereitet. Nun brauchte ich bloß noch einen Corriere della Sierra, um das Frittat authentisch (wenn nicht autochthon!) abtropfen zu lassen. Notfalls tat es auch eine Gazetta dello Sport. So ziemlich das einzige also, was es auf diesem phänomenalen Markt nicht gab im ansonsten tadellosen Angebot: Zeitungen. Am Kartoffelstand dafür Sieglinde, aus denen ich mir dann später am Mittag ein Salätle bereiten würde können. Im Vorübergehen kriegte ich mit, wie eine bis auf das Gesicht verhüllte Frau skeptisch an einem Bündel Bärlauch schnüffelte, wobei der Händler ihr ermutigend zusprach »Wie Knoblauch«, und sie, nachdem sie eines der Maiglöckchenlaubhaften Blätter in der Mitte geknickt und über die Bruchstelle geleckt, glückselig: »Ja!« Da könnte man ganz gut etwas Satirisches herausschlagen, dachte ich (und war längst weiter.) À la »Kopftuchayşe, mein erster Bärlauch«. Doch froh, dass ich kein Satiriker bin.

Und noch während ich vor der Bodega dort am Rande des Marktgeschehens saß, liess eine sehr weit über mir auf dem Rand der Regenrinne hockende Taube ihren schwarzen Strahl auf mich herunterfallen. Das spritzte und ich war von Kopf bis Fuß versaut. Vom Ekel einmal abgesehen, konnte ich dermaßen besudelt wohl kaum dort sitzenbleiben in der Sonne. Aber ich blieb heiter gestimmt, denn ich hatte doch neulich erst gelesen (in der Schirrmacher-Biographie), dass es Glück bringen soll, von Tauben angeschissen zu werden. Und außerdem hat meine neue Waschmaschine ein Programm, das preist sich an mit »Hygiene«. Gerade so, als ob dies eine Zusatzleistung wäre, die man sich eigens wünscht. Wie die Geldautomaten in Amerika, die flöten und blinken, wenn sie Cash aufblättern. Damit man glaubt, dass man etwas gewonnen hat, und nicht bloß schnöd vom eigenen Bestand abgehoben.

23.3.2019

Die Stunde zwischen halb zwei und halb vier in der Nacht, ich wache dann häufig auf und kann nicht mehr einschlafen, gebe den Versuch also bald auf und versuche das Beste daraus zu machen. Am geöffneten Fenster sitzend lausche ich dem Klang dieser Stunde: kein Rauschen, es ist viel weniger, es gibt kein Wort dafür; der Klang ist so wie die Musik, die bei dem Musikverlag A Strangely Isolated Place seit Jahren auf sehr schön ausschauende Platten in farbiges Vinyl gepresst wird (und die Hüllen sind ebenso.)

Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Mein Schneuzen sticht heraus.

Bis auf diesen Klang der Welt, der seine Stunde hat—zu jeder anderen am Tag, beispielsweise, wüßte ich sofort, es ist etwas Furchtbares geschehen—, regt sich nichts. Abgesehen, im Wortsinne, von dem automatischen Lichtlein an der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes, das sich arhythmisch ein und dann wieder ausschaltet, weil der darin eingebaute Sensor auf das wenigste zu reagieren scheint, vielleicht sogar auf Wind, auf dessen Hauch?, gibt es dort draußen jetzt keine Regung. Keine Nachtmaschine vor dem Bild des Mondes, kein Sonnenaufgangsbegrüßungslied eines Vogels. Die Tauben sitzen zum Greifen nah in dem blattlosen Baum vor meinem Fenster; hingegossen als nachtschwarze Kleckse. Ganz selten nur ertönt für kurz ein Martinshorn.

Um diese Stunde auf den Straßen ist die Stadt vollkommen menschenleer (bis auf die Autos.) Man fürchtet sich nicht. Sollte aber wahrscheinlich.

Als ich bei meinen Eltern war, schlief ich so lange und so ununterbrochen wie sonst kaum. Meine Mutter meinte, das liegt an der Stille des Landes. Ich sagte »Weil die Familie zusammen ist.«

In New York City schlafen sie jetzt unter Schwerkraftsdecken. In die Steppdecken sind in deren Quadratstaschen winzige Glasperlen eingenäht. Der Schläfer wählt die Füllung nach seinem Körpergewicht. Bis zu 15% davon sind angeraten für ein Schlafgefühl, als ob er von jemandem umarmt würde. Raving revues. Ursprünglich stammt das Prinzip einer lastenden Zudecke aus der Psychiatrie.

22.3.2019

In Zürich war Sommer. Schon den ganzen Flug über war es in der Kabine strahlend hell gewesen. Halbvolle Maschine (von Bombardier, das hört sich mit einem Mal weniger bedrohlich an als Boeing.) Die Zeit war, nun ja, wie im Fluge vergangen, weil ich den hervorragenden Text in der New York Times lesen konnte, der die Kredit-Saga von Donald Trump und der Deutschen Bank erzählte. Mikroskopisch betrachtet und dabei in diesem angenehmen Ärzte-Ton vorgetragen, den Reporter dort einfach draufhaben, weil sie sich im Vollbesitz der interessanten Fakten wissen.

Ich war irrigerweise viel zu warm angezogen, konnte aber nicht ablegen. Auf den Vorplätzen saßen die Greise unter kahlen Kastanienbäumen und rauchten ihre Villinger. In Zürich wird ab fünfzig Zigarre geraucht.

Der Nachmittag lief vergnüglich, wie beinahe immer im Studio Achermann, weil man sich dort im Vollbesitz der interessanten Themenzugänge weiß. Kurz nur kam es zum Stocken, weil mir aufgefallen war, dass wir nichts zum Themenkreis des Geistigen Lebens, der Schriftstellerei in Planung hatten. Man kramte im inneren Gesellschaftsverzeichnis der Willensnation, bei der es mir manchmal so vorkommt, als ob es für die gesamten Schweizer nur circa vierzehn Nachnamen hat. Jeder dritte heißt Fischer oder Fischli (und kein Schweizer heißt Bergli oder gar Berg.) Warum dieser Ort in Graubünden aber Susch heißt? Keine Ahnung, angeblich. Ich bekam wieder große Lust, mir dieses ominöse Idiotikon zu kaufen, das Wörterbuch des Schwyzerdütschen, an dem seit Jahrzehnten gearbeitet (geschafft) wird, das aber wohl niemals für vollständig erklärt werden wird. Es fielen ihnen dann, außer Lukas Bärfuß und Martin Suter, keine weiteren Schriftsteller ein. Die anderen waren alle schon tot.

Mit dem Rückflug hätte ich beinahe noch Gewinn gemacht, weil die Maschine überbucht war (bis heute weiß ich noch immer nicht, wie es dazu kommen kann.) Man hatte mir angeboten, die Nacht im Flughafenhotel zu verbringen und dazu als Prämie noch 280 Franken. Ich sagte freudig zu. Dann aber erschienen ein paar Umsteiger aus dem Thailandurlaub doch nicht, und ich mußte zurück nach Berlin. Las im Wannsee-Buch von Helmut Krausser, das sich nach den widerborstigen ersten Seiten zu einem veritablen Pageturner aufrichtet.

Vollmond. Der Luftdruck liegt um Mitternacht bei 1025,1 Hektopascal.

21.3.2019

Die Wikipedia streikt. Der Computer tut erst so, als würde er sie aufschlagen können, aber dann erscheint ein Plakat mit weißer Schrift auf schwarzem Grund. Man soll sich beim zuständigen Europaabgeordneten beschweren. Eine Schaltfläche führt zum Verzeichnis der Abgeordneten Deutschlands. Der erste, den ich seines Gesichts wegen anwähle, heißt Reimer Böge. Er stammt aus Hasenmoor. Momentan hat er eine Eingabe verfasst, die sich gegen den innereuropäischen Handel mit Haustieren wendet.

Interessehalber wäre ich dafür, dass der Streik der Enzyklopädisten noch ein paar Monate andauert. Auf die Stellungnahmen und Anweisungen aus dem Deutschen Bundestag wäre ich gespannt. Dass ich das noch erleben darf!

20.3.2019

Die Dampfsäule stand dort freilich zum Zeichen der Sedisvakanz bei den Herausgebern dieser Zeitung. Ein Exemplar zum Sammeln war die gestrige Ausgabe, weil dort unter dem schönen Schriftzug auf der Seite Eins bloß noch drei Namen (D‘Inka, Kaube, Kohler) präsidierten. Holger Steltzner, so wurde innerhalb eines quadratischen Textfeldes vermeldet war aus der Gruppe der Herausgeber ausgeschieden. Ich glaube, es war Steltzner, der 2002 auf dem Weg in die Zeitungskrise zu Protokoll gegeben hatte »In der ersten Runde wurde viel Fett abgeschnitten, jetzt geht es ans Fleisch.« Ich fand das damals widerlich und es schaudert mich noch immer, wenn ich daran denke. Wie man seine Redaktion als einen Rollbraten betrachten kann.

Als ich die Zeitung gestern kaufte, stand dort in dem Laden eine Frühstücksrunde, allerdings am Nachmittag schon in extremer Auflösung begriffen. Deren Sprache und Zungenschlag war mir fremd. Ich sagte »Excuse me, what ist this beautiful language that you are using?« Eine der Damen antwortete »It‘s norwegian.« Tatsächlich hatte ich noch niemals zuvor jemanden Norwegisch sprechen gehört. Und kenne eigentlich bloß Mari Kvien Brunvoll aus Norwegen, und auch die bloß vom Hören. So also war die Sprache von Hamsun in Wirklichkeit.

Sonst freilich alles beim Alten. Es wird trotzdem immer schwieriger für mich allein schon beim Eierkauf die allgemein für richtig gehaltene  Entscheidung zu treffen. Das Eierregal, so kommt es mir vor, wird ja immer ausladender. Ökologisch—natürlich. Aber wie genau gehalten? Freiland, aber dann Brüderchen und Schwesterchen-Eier, bei denen die männlichen Küken nicht geschreddert werden, sondern pensioniert? Meine Eltern hatten diese Geschichte erzählt, als sie einen schottischen Hütehund zur Pflege hatten für ein paar Wochen und auf einem Spaziergang stürmte der auf das unumzäunte Gelände eines Hühnerhofes, um dort die Hühner einzukreisen wie eine Herde. Da kam wohl unter Protest eine Mume aus dem Haupthaus gelaufen und nahm die Hennen hoch auf ihre Arme, um sie zu beruhigen. Weil die, wie sie ausrief: sonst zwei Tage nicht mehr legen. Hühner sind ja wie Sparschweine, bloß umgekehrt.

19.3.2019

Beim späten Kippenberger gibt es diesen Satz, wo er es schon länger als eine halbe Stunde fertig gebracht hatte, nicht zu rauchen, um dann aber zu notieren »nach 43 Minuten endlich die HB.« Vergleichbar hinsichtlich Wohligkeit war unser Genuß, als uns kurz vor der Abreise noch zum Mittagessen die Stuttgarter Roten vom Grill serviert wurden. Bloß hatten wir diese Köstlichkeit schon seit der Vorweihnachtszeit im vergangenen Jahr, also viele Millionen Minuten lang entbehren müssen. Seit langem kennen Friederike und ich ein Spiel um die Frage »Welche Speise wähltest Du, wenn Du sie bis zum Lebensende ausschließlich essen dürftest.« Anfänglich antwortete ich »Butterbrote« und Friederike ebenso—glaube ich erinnern zu können, aber es kann auch sein, dass sie »Corn Flakes« gesagt hatte, oder ich war das, und sie nannte die Butterbrote; jedenfalls wußte sie jetzt, dass es bei mir Rote sind, die ich morgens, mittags und abends vertilgen möchte. Davor hatten wir einen langen Spaziergang gemacht über die Wiesen bis zu den Wellingtonien hin, die dort schon seit 1865 wachsen. Der Baumbeschnitt war schon erfolgt gewesen, und wir konnten viele grüne Zapfen einsammeln. In der Luft lag schon der Frühling. Man will sich nicht mehr beeilen. Darin macht es sich bemerkbar, auch wenn es noch nicht optimal ist, von der Wärme her. Eine Feldlerche hatte sich aufgeschwungen und sang hoch über unseren Köpfen. Mit einem Koffer, halb voll mit Brezeln, fuhren wir im Zug nach Frankfurt zurück.

Abends waren wir in den Salon von Frau Crüwell eingeladen. Die verstand meinen Namen erst wie Jobim, nach der Lesung nannte sie mich kurzfristig Jakob, stellte mir ihre Schwester Dorothee vor und rief, nachdem wir von unser Reise berichtet: »Sie sind Schwabe! Ich doch auch. Ja, und warum stehen wir dann hier und reden hochdeutsch?« Am Morgen hatte ich für Friederike ein Gedicht in unserer Mundart verfasst, das trug ich den Crüwellschwestern vor. Zu großem Wohlgefallen. Rest des Abends dementsprechend. Man versammelte sich in der Küche, wobei schon bald diverse Mobiltelephone zu klingeln anfingen, weil bei den anwesenden Satiregranden sogenannte O-Töne eingeholt werden sollten von einem Redakteur bei Focus Online, was denen denn zur Bekanntgabe der Scheidung von Thea und Thomas (Gottschalk) einfiele. Klar, es war das Rilke-Blatt, das in der Mühle von Malibu verbrannt. Fleischbällchen wurden serviert.

Am nächsten Morgen drangen um kurz nach fünf schon die Sonnenstrahlen durchs Fenster. Und über dem Fabrikdach ragte eine undurchdringlich weiße Säule aus Dampf ins endlose Blau. Ein Verkehrsflugzeug flog in einer waagerechten Linie darauf zu und wurde einen Augenblick lang vollends von ihr verdeckt.

18.3.2019

Sechs herrliche Tage in der Heimat, jetzt sind sie verstrichen. Am Samstag hat mir mein Vater noch die Grundzüge seines Rosenschnittwissens vermittelt, die er schon von seinem Vater vermittelt bekam. Wieviele Augen man abzählen sollte am Holz, bevor man den oberen Rest mit der Schere abnimmt—wobei diese Zahl keine starre Größe darstellen darf, es zählt auch das Gefühl. Man hat, erzählte mein Vater, die Auszubildenden im Gärtnerberuf einst mitten in der Nacht auf die Bäume geschickt, wo sie sich ihne Licht mit ihren Scheren in der Krone betätigen mussten—um eben dieses Gefühl für den gut plazierten Schnitt zu schärfen. Der Merksatz lautet »Wenn es oben licht ist, bleibt es unten stark.«

Da mußte ich freilich ans Schreiben denken, denn für das Auslichten eines Textes scheint mir dieser Merksatz ebenfalls anwendbar. Jedenfalls sah ich heute vor dem Abschied, dass an sämtlichen von uns beschnittenen Rosenstöcken inzwischen die grünen Blätter hervorgetrieben wurden. Noch frisch und vom Wachs wie neu glänzend. Sie sind es ja auch (neu.)

Nach einer intensiven Session des Baum- oder Strauchschneidens geht man mit ähnlich geschärftem Blick durch die Welt, wie nach einem Tag am Schreibtisch, wenn man einen Text durchkorrigiert hat. Dann redigiert man im Geiste sogar Speisekarten und Ladenschilder, Graffitis, es hört nicht mehr auf. Ähnlich ging es mir beim Anblick von Bäumen und Strauchgesellen in anderer Leute Gärten: Hier sollten die noch; das ist doch zu viel. Unter Obstbäumen stehend soll man bequem einen Hut durch die Krone himmelwärts schleudern können. Unter einem Rosenstock wäre es wohl der Hut einer Maus, den man sich vorstellen muß, und wie sie ihn durchs Rosenzweigegeäst himmelwärts schleudert.

16.3.2019

Ausfahrt nach Schwäbisch Hall, weil ich mir endlich einmal die Sammlung Würth anschauen wollte. Selbst bei der nieseligen Stimmung unter isabellenfarbener Wolkendecke stimmte mich die Geschwungenheit der Landschaft heiter. Und in der Ortschaft Aspach, am Fuße eines Bergs mit Burg, die derzeit zum Verkauf ausgeschrieben steht, war direkt am Straßenrand ein hoher Zaun aus blickdicht aneinandergefügten Brettern, die malerisch grob gehobelt belassen waren. Ein darauf befestigtes Schild machte Werbung für sdoerfle.info: eine gated community für Anspruchsvolle, wie ich recherchierenderweise herausfinden sollte, während mein Vater das Auto unbeirrbar durch das Hohenlohische steuerte. Kurios, so ein Dörfle im Dorf, dessen Häuser im sogenannten Chaletstil errichtet wurden, um den Pensionsgästen endlich wieder einen schwäbischen Lifestyle anbieten zu können, wie es ihn vielleicht ja schon einmal wirklich gegeben hatte.

In den Ausstellungsräumen der Sammlung Würth hatte es einen sehr schönen Tony Cragg aus Holz, der rot lasiert war, sodass die Maserung des Holzes durchscheinen konnte, sowie einen aus unbehandeltem Weidenholz, der meinen Eltern einhellig noch besser gefiel, wobei mein Vater vermutete, dass Cragg eine CAD-Fräsanlage einsetzt. Wolfgang Ullrich hat neulich gesagt, dass sich die Museumsgastronomie zur Schauseite der Museen entwickelt. In dem Sinn kehrten wir auch noch bei Würth ein und ich ließ mir Käsespätzle schmecken, die mit dem regionalen Romadur zubereitet waren, der seine sahnigen Qualitäten laufen ließ.

Heim ging es auf anderem Weg, durch eine von erkalteten Vulkanen strukturierte Landschaft, in der mein Vater einst auf seinem Rad, später auf dem Mofa von der NSU namens Quickly seine Erholungsfahrten vom patriarchalisch geprägten Familiengetriebe unternommen hatte. Und zwar vom fernen Heilbronn aus, in das wir dann bald einfuhren. Hier waren meine Mutter und mein Vater in der gleichen Straße, nur wenige Häuser voneinander entfernt, aufgewachsen. Die Häuser gibt es immer noch. Die beiden Schulen, längst nicht mehr nach Geschlechtern sortiert, auch. Das Haus meiner Urgroßmutter, in dem sie beinahe ihr ganzes Leben lang gewohnt hatte, wurde, wie wir leider feststellen mußten, mittlerweile abgerissen und durch ein leider auch weniger hochwertig wirkendes Häusle ersetzt. Das mit der Wohnung der Urgroßmutter war solide, aus Sandstein gefügt. Na ja.

Meiner Mutter fiel ein, wie sie mit der Urgroßmutter, also ihrer Großmutter einmal Ferien machen durfte im Hohenlohischen, wo sie ursprünglich her stammte. Da war sie also aufgeblüht und hatte den Pensionswirt, bei dem sie sich eingemietet hatten gefragt, ob sie seine Wiese mähen dürfte. Ließ sich eine Sense geben und mähte los. Dann erst war für sie der Erholungsaufenthalt auf dem Lande perfekt.

15.3.2019

Angesichts anhaltenden Regenwetters beschlossen wir einen Ausflug ins Stuttgarter Planetarium. Das steht ja derzeit in seiner charakteristischen Pyramidenform einsam und verlassen da auf weiter Flur. Beziehungsweise ragt seine schwarze Pyramide auf einzig heil auf aus dem schier unendlichen Loch der berüchtigten Baugrube von Stuttgart 21, die gleich neben dem alten Hauptbahnhof beginnt und beim Planetarium noch längst und lange nicht zuende ist.

Leider war der Programmplan auf der Website anscheinend mißverständlich, sodass wir in einer Kindervorstellung gelandet waren. Aber das machte nichts, überraschenderweise, denn kaum war das Licht im Saal verlöscht, fuhr aus dem Boden dort der wuchtige Kugelkopfprojektionsapparat von Zeiss empor wie früher und malte in das Schwarz der Kuppeldecke den Sternenhimmel strahlend hell. Einzelne Gestirne wurden zur näheren Betrachtung herangeholt und drehten sich dort oben um sich selbst. 

Erst als wir wieder draußen waren bemerkten meine Mutter und ich, dass uns schwindlig war. Das war ein Drehschwindel vom Betrachten der Sterne, der sich in uns als Nachwirkung erhalten hatte. Ansonsten regnete es immer noch. Der Luftdruck hält sich konstant auf 1015 Hektopascal.

14.3.2019

Schon auf der Anreise zeigte sich der Himmel über der Gegend von Nürnberg verändert: maßvoll in gleichmäßige Abstände zueinander gesetzt schwebten die Wolken zu blütenweissen Haufen geballt, wie um dazwischen ebenso große Stellen von Himmelsblau zum Vorschein zu bringen. Bei dieser prachtvollen Aussicht störte es mich nicht, stundenlang in einem angeblich neuartigen ICE ohne Strom, ohne Heizung und demzufolge auch ohne Verpflegung aus der nicht funktionierenden Bordküche durchs Land gefahren zu werden. 

An den Himmelszeichnungen konnte ich ablesen, dass wir die in der Landschaft unauffällige Grenze zum Schwäbischen passieren würden. Dort war das Weiß wie mit der Rückseite eines Löffels in sahnigen Streifen über den Zeltstoff geschmiert. Dabei meldete sich natürlich auch der Hunger, der mir solche Visionen eingab. Bei der Ankunft im Hauptbahnhof widerstand ich dennoch dem nun schon deutlich artikulierten Verlangen nach einer Butterbrezel und zögerte das noch hinaus, weil wir ja bald schon en famille nach Heimsheim fahren würden, um beim Nachtessen im Hirschen den Geburtstag meines Vaters zu feiern. Er geht jetzt ins 77. Jahr.

Dort war zwar vor kurzem die Wirtin verstorben, die ihre Stammgäste ungefragt mit einer Extraschüssel von ihrem Kartoffelsalat zu ehren pflegte, aber der Rostbraten war von unveränderter Qualität, also wie immer. Der Kartoffelsalat ebenso und vor allem auch ihre Sauce. Rezepte werden vererbt und tun über die nackte Anwesenheit ihrer Schöpfer gute Werke.

Wir erzählten die gelungene Integrationsgeschichte der Metzgerswitwe aus Heimerdingen, die nach dem schlagartigen Tod ihres Mannes (Vater ihrer acht Kinder), der damals für Aufsehen in der Gemeinde gesorgt hatte, die verwaiste Metzgerei am Ortseingang an eine indische Großfamilie verpachtet hatte, die darin den ersten Lieferservice in der Umgebung eröffnet hatte. Ist erst ein paar Jahre her. Die Inder firmieren unter dem Namen Pizza Blitz und liefern »Indische, Chinesische, Italienische und Mexikanische Spezialitäten« in sämtliche Dörfer nah und auch ziemlich fern. Das Unternehmen wurde wider Erwarten zu einem großen Erfolg. Vor allem auch nachdem die in einer Wohnung über dem Pizza Blitz lebende Wittwe ihren Pächtern erklärt hatte, dass sie zu jeder Bestellung auch einen kleinen Salat, ein Salätle halt, mitliefern müssten, weil sich das hier so gehört. Im vergangenen Jahr wurde sie, die Metzgerswitwe nun in die Heimat der Pächter eingeladen und reiste daraufhin mit ihrer Tochter aus Heimerdingen ins ländliche Indien, wo die Verwandschaft der Pizza Blitzer unter glühendster Sonne auf Matten in den Innenhöfen niedriger Lehmbauten schlafen. Aber für den Besuch hatte man eigens zwei Betten westlicher Bauweise beschafft. Durch den positiven Verlauf der südindisch-schäbischen Völkerfreundschaft ermutigt, hat die Belegschaft des Pizza Blitz jetzt das dem Heimerdinger Stammhaus gegenübergelegene Reihenhäusle gekauft. Sie haben sich niedergelassen und werden, ich gehe da von persönlichen Erfahrungswerten aus, in etwa dreißig Jahren vollends in der Dorfgesellschaft assimiliert sein. 

Der Luftdruck steht bei 1015 Hektopascal. Abgelesen allerdings an der analogen Wetterstation im Elternhaus. Die App hingegen behauptet ihn bei 950 Hektopascal. Somit erweisen sich auch sämtlich in Berlin festgehaltene Messwerte als Makulatur. Denn zum Vergleich gibt die App die Höhenlage mit 426 Metern über dem Meeresspiegel an. Heimerdingen liegt aber, das ist verbrieft, auf 400 Metern. 26 Meter höher befindet sich bekanntlicherweise die Spitze unseres Kirchturmes. Diese Anregung erhielt ich von meinem Vater, der damit die Meßtechnologie aufgrund von GPS-Daten entzauberte. Wie soll es dass Telephon auch anders fertig bringen? Digital ist nicht immer besser.

11.3.2019

Am Sonntag nachmittags langer Spaziergang. Ich war wandmüde, wie es der Vater von Herrman Lenz wohl zu nennen pflegte. Ging durch eine mir noch unbekannten Teil der Stadt, in dem es so gut wie nichts zu sehen gab, außer dem Rohbau eines mehrstockigen Mietshauses der von den ihn bewerbenden Plakaten umstellt war. Das städtische Unternehmen verkündet darauf in roter Schrift »Berlin baut.« Von der Architektur her stellt es nicht mehr dar als umwandeten Wohnraum mit einem Deckel obendrauf. Wenige, auch recht kleinvormatige Fensteröffnungen zur mehrspurigen Straße hin. Ein Haus zum Selbstausdrucken, um sich darin selbst einzulagern. Schaut wahrscheinlich noch grausamer aus, wenn es erst fertiggestellt ist.

Abends dann in der Schaubühne, großer Andrang, damit hatte ich nicht gerechnet. Heinz Bude stellte sein neues Buch vor. Mehr als hundert Leute im Publikum. Es geht um die Zukunft der Solidarität. Bude trägt seine Thesen frei vor. Im Anschluß noch ein Gespräch mit Thomas Ostermeier. Die Leute hören konzentriert zu, ab und an gibt es Zwischenrufe. Bude sagt: Zur Solidarität gehört der Kampf. Beim Hinausgehen fällt Schnee, draußen vor den Scheiben. Dachte zuerst an einen inszenierten Effekt. Wohl noch unter dem Eindruck des Nebelmaschinengewitters vom Freitag.

Zur späten Stunde dann noch eingekehrt in diesem neu entdeckten Thai-Stüble, in dem es richtig gut schmeckt. Die zerhacken dort einen Fisch in flockenzarte Partikel, die dann zu knusprigen Wolken frittiert werden. Eine Texturspeise. Große Köstlichkeit. Die Kellnerinnen sind eineiige Zwillingsschwestern. Sie schminken, frisieren und kleiden sich auf identische Weise.

Morgen breche ich ins Schwäbische auf.

10.3.2019

Wie ein Strauß will ich sein, der sich nie verändert, sogar in seinem Welken nur noch schöner wird.

Karl Lagerfeld hat, auf die Frage von Olivier Zahm hin, warum er als Fotograph niemals die Mißstände von Paris aufgenommen hat, zur Antwort gegeben »Auch heraus aus meiner Prüderie. Meinetwegen auch Rücksicht. Sie müssen sich ja vorstellen, wie das auf diese Leute wirkt: als ob sich eine Comicfigur schlagartig auf sie herabbewegt hätte.«

Und Andy Warhol hat über die idealen Wohnumstände festgehalten: »Alles was man braucht, ist ein Bett und ein Tablett. Es sieht ja auch alles besser aus, wenn man es im Bett macht. Sogar Kartoffeln schälen.«

Die »offene Zeit«, die Rainald Goetz einfordert, deren Mangel er ablehnt, vor allem im Angesicht finanzieller Einbußen: wie das stimmt, wie unmöglich es einem gemacht wird, noch irgendetwas zu denken, geschweige denn: schaffen zu können, wenn einem die Zeitmauer vor Augen geführt werden darf. Schöpfen: ja, gerne, beglückenderweise—aber nur aus einem Ozean. Es darf, soll : kein Limit geben (©️2unlimited.)

Es gibt kein schöneres Lied über die Zeit als das von den Chromatics. Schön auch, dass es so lang ist (Tick of the Clock.) Ansonsten leider misèrable Band.

9.3.2019

Gestern, pünktlich um 18 Uhr auf dem Vorplatz des Hauses der Berliner Festspiele: wie man mit einhundert Quadratmetern Folie und fünf Nebelmaschinen etwas Schönes macht. Zwar ging die Sonne da noch nicht unter, aber als die Nebelschwaden umhergeblasen wurden vom Abendwind, fiel es mir erst auf, worin die Veränderung am Gebäude bestand. Die Fensterflächen waren mit einer metallisch spiegelnden Folie beklebt, sodass ich mich zwar nicht unmittelbar an die Fassade des Palast der Republik erinnert fühlte, aber durch diese Idee dann schon. Ein Bühnentechniker stand am Rande des Bildes unter einem immergrünen Baum und hatte, vom Nebel beinahe verschluckt, etwas Japanisches für mich. Noch schöner war der Anblick des verkleideten Theaterhauses freilich später in der Nacht geworden, als sich das große Baumgerippe in der folierten Glasfront spiegelte und gleichzeitig, von Innen heraus die Lampen im Treppenhaus erschienen. Wie in der Doppelbelichtung meines Blicks schwebte dort eine rote Kapuze.

Interessant auch die verschiedenen Aufzeichnungsgeräte der Berichterstattenden, es war viel Fernsehen vor Ort: große Kameras mit aufgesteckten Monitoren aus der Ära Beta Digital, aber auch die Cine-Alta Venice MPC-3610, eine Black Magic, die vor fünf Jahren avantgarde war. Einer hielt einen mit Dioden besetzten Pistolengriff aus greigem Kunststoff, auf dem sein vergleichsweise großes iPhone in einer kardanischen Halterung eingespannt war. Keine einzige Drohne.

Trotzdem glaube ich nicht, dass einer dieser Filme vermitteln kann, wie zauberhaft das alles live war.

In der Zeit, als der Palast der Republik noch nicht abgerissen war, gab es einen Berichterstatter, der kam auf die Vernissagen mit einer Videokamera, die er mit Paketklebeband auf seinen Bauarbeiterhelm montiert hatte. Ich hielt den für irre.

8.3.2019

Der Mutist bleibt sich treu und sagt weiterhin nichts. Sitzt dort in den Tagstunden auf den Ästen unterhalb der Nestruine und äugelt. Immer wieder öffnet er seinen Schnabel und klappert damit (was aber lautlos bleibt, zumindest dringt davon kein Geräusch zu mir herüber.) Wobei von anderen Orten im Hof die Melodien anderer Amselhähne zu hören sind. Wie es ihm wohl damit geht, mit seiner Störung an der Syrinx (wie sich der sogenannte Stimmkopf am Bronchialsystem der Vögel nennt?) Er kann um die Hennen, die sich unverdrossen um ihn Scharen, nicht artgerecht werben. Er sitzt einfach bloß rum. Ob die Genossinnen seinen Durchbruch erwarten, sowie ich? Ob es bei denen das Geräuschemachen braucht, wie bei Menschen den Kuß, um das Räderwerk der Vereinigung in Gang setzen zu können? Falls dieses Nest dann doch noch gebaut werden sollte in diesem Jahr, freute das mich. Blackbird wäre ja auch noch besser, wenn Paul Mc Cartney nicht sänge.

Die Kunstform des Scratchings, einst groß, ist eigentlich schon verschwunden. Verweht worden durch ihre Reproduktion—ist das eine Reproduktion?—von virtuellen Plattentellern, auf denen sich eine Dummy-Scheibe dreht, die dann den Prozessor ansteuert, der wiederum den Dateien befiehlt, sich so, oder so herum zu bewegen. Via Traktor.

Fehlt da, wie Roland Barthes es mit seiner Körnung der Stimme angeregt hat, diese eigentümliche Kratzigkeit eines Saphirs auf dem Vinyl? Kaum vorstellbar, dass Meisterwerke auf diese manuelle Weise geschaffen wurden. Alleine, was DJ Premier mit Tönen von irgendwelchen Flohmarkts-Schallplatten komponiert hat: Come Clean für Jeru the Damaja. Hervorragenderweise. Erinnerte mich damals, bei Erscheinen, an die Tropfsteinhöhle mit der schröcklichen Krabbe auf meiner Platte von »Urmel aus dem Eis.« Man kann die Frage einfach eintippen bei Whosampled.com und dann die fragliche Aufnahme sofort bei Applemusic streamen. Wie viele Jahre ich zusammengenommen in Plattenläden verbracht habe… Mit Durchhören. Stapelweise. Ohne eine Ahnung, was sich wo finden läßt. Was ich aus dieser Zeit gelernt habe (immer positiv bleiben!): Man sieht es den interessanten Obskuritäten beinahe immer schon am Cover an.

7.3.2019

Auf meinem Weg zum Einwohnermeldeamt stieß ich an der nächstgelegenen Kreuzung in ein aktives Unfallszenario: Viel Feuerwehr, kaum weniger Nachbarn. Katzenstreu auf dem Asphalt. Schönes Licht. Erwischt hatte es den Fahrer eines Sushi-Lieferanten in seinem schwarzen Kleinwagen. Die müssen sich ja beeilen, trotzdem der Fisch nicht mehr kälter werden kann.

Das »Niemandsland zwischen Alleinsein und Gemeinsamkeit«, das Handke an diesem Tag vor 42 Jahren beschreibt, es existiert noch immer.

Auch gibt es das Erstaunen, meines in dem Fall, dass seit dem Jahr 1977, da war ich eingeschult!, inzwischen 42 Jahre vergangen sind. Ich komme mir jünger vor. Und teilweise gefüllt mit Wut auf die angeblich mir entgegenkommende Sprache der Software: Willkommen! Schön, dass Du wieder dabei bist—ich weiß, dass es programmierte Freude ist. Wie dieses »Alles Gut!« das ich andauernd zu hören bekomme, wenn ich um ein Pardon bitte. Dass ich schlucken soll. Aber die Wut gehört Handke. Oder der Zorn? Ich könnte den Unterschied nicht empfinden. Im Hotel Amour hängt ein gerahmtes Plakat, darauf stehen untereinander gereiht die Copyrights einzelner Künstler, also Pierre Soulages owns Black, Martin Margiela owns White, Yves Klein owns Ultramarine, John Baldessari owns Noses, Barbara Kruger owns Supreme und so fort (ich zitiere das aus meinem Gedächtnis, weil die Notizbücher im Keller sind; kann sein, dass nichts davon dort wirklich so steht, aber vom Prinzip her stimmt es schon.) Und solche konzeptionellen Copyrights gibt es natürlich in der Literatur. Wenn jemand ein Tagebuch im Internet schreibt und in seinen Texten einzelne Textbestandteile versal setzt, sehe ich direkt Abfall vor mir. Rainald Goetz owns it. Und die Uhrzeiten. Gerade sah ich im Saturn am Gesundbrunnen ein Schild über dem Regal mit den Glühbirnen, darauf stand in Versalien »Licht.« Und dachte »Rainald.« Das geht also nicht mehr. Oder halt genau doch, aber dann richtet man sich an eine andere Gemeinde. Es werden ja andauernd Filmstoffe noch einmal verfilmt. Keks vom Keks und Tee vom Tee.

Hinter dem Dach gegenüber sind die Wolken dunkelst grau »wie eine Wand.« Ein Vogel taucht hindurch, er kommt direkt auf mich zu.

6.3.2019

Teile meines Körpers, die ich am vertrautesten empfinde, sind meine Handrücken: Ich beobachte sie unwillkürlich andauernd, während ich tippe. In Spiegel schaue ich vergleichsweise selten. Mein Gesicht kommt mir ewig bekannt vor. Selbst im Zusammenhang mit dem Spiegelbild zusammenhangslos. Als mir Sebastian ein paar alte Fotos aus den frühen neunziger Jahren et cetera geschickt hat, kam ich mir bekannt vor, könnte aber nicht beschreiben, was sich genau verändert hat an mir. Irgendwie schöner halt. War ich. Kompakter auch, einfacher, um das Gesicht auf einen Blick hin erfassen zu können (kann am Punctum liegen.) Und ursprünglich sollte ich Klavierspielen lernen, fand dann aber Freude an der Gitarre. Ist doch furchtbar, wenn die eine Hand weiß, was die andere macht.

Ich tippe mit den Zeigefingern. Und das auch nicht blind, ich verfolge alle ihrer Wege. Das iPad war für mich die große Erleichterung, weil es die von sich aus leuchtende Tastatur mit sich brachte. Zudem ist es an sich leicht, beinahe wasserdicht, man kann es überall einsetzen. Und die Lautlosigkeit der Tastenimpulse: dieser mir magische Effekt hat sich noch immer nicht abgenutzt—wie dort am Ort des Tippens mein Denken erscheint.

Diese Materialität des Handwerks ist mir einerseits nicht wichtig. Beim genaueren Hinschauen dann freilich doch. Gerade als ich in Blankenese eine Postkarte beschriftete, deren Karton bemerkenswert andersartig war, sodass meine Füllerspitze darauf bemerkenswert andersartig gleiten durfte—woraufhin meine Handschrift großzügiger zeigte, was ich geringfügig kleiner gedacht; und manchmal nehme ich einen Satz von neulich doch ernst, bloß weil er dort so-und-so-haftig auf dem Papier geschrieben steht. Beim Übertragen handschriftlicher Sätze in ein Dokument ergeben sich interessante Effekte. Wer bloß tippt, als Kleinverleger im Self-Publishing-Segment, nimmt von sich aus alles wichtig (weil es von vorneherein schon ausschaut, wie gedruckt.)

Meine Schreibmaschine hole ich im Vergleich zu früher nur noch sehr selten aus ihrem braunen Koffer. Wenn ich in Büros etwas schreibe, fällt den jüngeren Mitarbeitern trotzdem mein enormer Punch auf, ich lasse es halt klappern. Bei gepflegtem Dahingeklipper käme ich mir wie eine Fremdsprachenassistentin vor.

Einmal sagte mir eine Buchhalterin am Telephon, dass sie meine Rechnung deshalb vorrangig behandelt habe, weil ihr die meine, auf der Schreibmaschine erstellt, als besonders dringlich erschienen war. So von wegen Armut und Bedürftigkeit. Dafür habe ich sie (die Tippse, die tatsächlich Baby heißt.)

Manchmal fällt mir auf, dass ich blind weiß, wo welche Taste liegt (vor allem in der Schweiz, wenn ich einen fremden Computer verwenden soll und damit kaum zurecht komme.) Manchmal, wenn ich mich gut gelaunt fühle, setze ich das Leerzeichen mit der Kante des rechten Daumens. Synästhetischerweise erklingt dabei in mir ein »So!« (und ich muß an Jerry Lewis denken, an seine Zeilenendsglockenpantomime, die mich als Kind erheitert hatte.)

In dem ansonsten irritierend drögen Interview von Hans Ulrich Obrist mit Cyprien Galliard bei Vimeo gibt der ihm die schöne Antwort auf dessen erste Frage, womit das denn bloß alles angefangen habe bei ihm mit der Kunst: »It seemed to me like a shelter for all my activities.«

5.3.2019

In der Wikipedia wird im statistischen Absatz die Kaufkraft in Hamburg pro Einwohner aufgeführt: Sie liegt 9,8 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Im Eintrag zu Berlin fehlt diese Information. In denen zu Stuttgart und München aber auch. Frankfurt dito.

In einem Buch, das ich lange nicht mehr geöffnet hatte, fand ich auf der Seite 52 eine Wimper. Eindeutig von mir. Wieso eindeutig?

4.3.2019

Abschied von Hamburg natürlich in der Deichtorhalle, Hyper, zusammengestellt von Max Dax und benannt nach dem für mich und Sebastian einst zeichenhaften Supermarkt am Rande des Heiliggeistfeldes, an den sich heute wohl kaum jemand noch erinnern können wird.

Es gibt eine Wandzeitung von Wolfgang Tillmans, die wirklich großartig geworden ist. Und eine schöne Studio-Situation von Thomas Scheibitz, mit einer Art Mischpult, auf dem seltsam geformte Instrumente ausgestellt sind, sodass ich zum ersten Mal verstanden habe, was die seltsamen Formen auf seinen Gemälden bedeuten könnten.

Das Eintrittsgeld in dieses Sammelsurium alleine wert aber ist die Wiederaufführung von Cyprien Galliards Film Nightlife für mich, den ich zum letzten Mal vor ein paar Jahren schauen durfte (in der Galerie.) Und jetzt sind es vermutlich weiterentwickelte 3-D-Brillen, wahrscheinlich auch weiterentwickelte Projektoren, auf jeden Fall sehe ich seinen Film, der mich damals schon umgehauen hat, noch einmal ganz und wie neu. 

Ich kann danach nichts mehr aufnehmen und mußte sofort gehen. 

Schönerweise hält sich der Effekt dieser inneren Benommenheit noch bis in den nächsten Morgen. Der Luftdruck war über Nacht bis auf 981 Hektopascal gefallen, Friederike vermutete, dass es an den heftigen Stürmen in Frankfurt gelegen haben könnte, die uns in Berlin die Luft abgesaugt. So blieb ich am Fenster und schaute den kahlen Wipfeln zu, wie sie dort draußen sich elastisch wippend bewegten. Durch den Genuß des Filmes von Cyprien wie noch einmal anders geschärft für die Schönheit des pflanzlichen Draußen erlebte ich meinen Blick. Dann riß der Himmel auf, es wurde kurz heiter, wobei die Wolken rasant über das Blau gezogen wurden. Abends baute sich eine finstere Wand auf, aus der ein hämmernder Regen hervorplatzen sollte. Von durchsichtigen Händen wurde ein kompletter Regenbogen über der Spree aufgespannt. Und die Fenster in der weiter hinten gelegenen Fassade leuchteten golden, gerade so, als ob in den sie umgebenden Gebäuden die Fußböden herausgebrochen wurden, und in der Rückwand dort befände sich eine einzige, das gesamte Monument von innen her ausbrennende Quelle des Lichts.

3.3.2019

In Hamburg geht es um ein gutes Leben bei schlechtem Wetter. Im Witthüs steht ein Gericht auf der Karte, es nennt sich »Qualle auf Sand.« Hinter dem Haus ist ein Rhododendron zu einem gewaltigen Haufen gewachsen. Hans Henny Jahn hat ihn schon gekannt, damals war er noch jung und niedrig. Die lockigen Wurzeln sind heute dicker als mein linker Arm. 

Der Fotograph meint, er hätte Hamburg im Kasten. Und ich—hatte es vielleicht schon (in meinem,) vor meiner Rückkehr nach Hamburg; wollte bloß noch einmal mein Ohr ausführlich auf die Schiene hier legen. »I put my ear to a seashell and it all comes back,« wie es bei Skylab heißt. 

Die Erinnerung an mein Leben ist ein Fluß ohne Ufer. 

2.3.2019

Erwacht war ich unter silbrigem Himmel, vor dem als Schattenrisse Möwen kreisten. Man hatte mich inzwischen nach Hamburg gebracht.

Die Türe zum Old Commercial Room stand offen, wobei die Küche noch geschlossen war. Der Chef näherte sich mit einer mächtigen Kanne, die zur Hälfte mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt war, die duftete. Die stellte er vor sich auf den kleinen Tisch im Alkoven, über dem in Buchstaben aus Messing »Künstlertisch« geschrieben war. Sein Hund, ein zierlicher Mops mit langem Kinnbart und schräg herausquellenden Augen, rollte sich nach kurzem Umherblicken wieder ein. Tschah, so war das damals mit Fichte, so war es mit Jäcki, als am Gänsemarkt noch die Palette, als: Der Labskaus noch nicht mit Kartoffeln (zerstampft), sondern mit eingeweichtem Schiffszwieback zubereitet ward. Ein Problem heute, so der Chef am Künstlertisch: es gibt keinen Schiffszwieback mehr. Ein Versuch mit handelsüblichem Zwieback scheiterte »Der ist pappsüß.«

Zweites Problem: Von fünf Kilogramm tiefgefrorenem Spinat besteht die Ware dieses Lieferanten aus zwei Kilogramm Wasser (in der Kanne auf dem Künstlertisch vor ihm) »Die muß ich mitzahlen.«

Abends mit Sebastian im Vienna. Ich aß ein Herz (vom Kalb.) Die U-Bahnstation »Jean-Luc Godard«, brandneu in der Hafencity, auf die er mich hingewiesen hatte ist gigantisch breit und menschenleer. Sie reicht bis tief in den Grund hinunter. Und je tiefer ich stieg, desto lauter wurde das Geräusch eines Sprudelns und Gurgelns von Wasser. Das kam vom Band und wurde durch unsichtbar angebrachte Lautsprecher in den leeren Raum um mich herum abgestrahlt. Der Luftdruck sank über Nacht um knappe zehn Hektopascal auf 1009.8. Morgen soll es—regnen.

28.2.2019

Schon wieder ist ein Teil des Jahres rum. Stuttgart, im Jahre 1969, eineinhalb Jahre vor meiner Geburt: Ich schaute einen Film über John Cranko. Weiß gar nicht, wie oft wir als Jugendliche an seinem Grab, weiter unten am Hügel des Solitudeschlosses gesessen hatten (mit Ausblick auf die Schnurgerade nach Ludwigsburg, Monrepos) ich nehme mal an: ziemlich oft. Why Can the Bodies Fly?

Cranko ist an meinem Geburtstag gestorben, so wie auch Foucault. Das hat natürlich gar nichts zu bedeuten, es ist bloß eine Zahl, aus zwei Ziffern zusammengesetzt. Im Nachbargarten werden seit heute früh ein paar Bäume gefällt. Sie sind wohl »zu sehr« gewachsen. Das war zwar abzusehen, ist doch natürlich, aber die Grundstücksgrenzen stehen nun einmal fest. Die Arbeiter, die teils an schicken Seilen in den Stümpfen pendelnd sägen, unterhalten sich lautstark. Ihre Stimmen werden durch die Wände des Innenhofes noch zusätzlich verstärkt. Beim Gang um die Kirche sah ich durch die Schaufensterscheibe ein Paar, noch nicht alt, im Verkaufsraum des Bestatters zwischen den Särgen umhergehend. Mir sahen die dort aufgebahrten Modelle sämtlich gleich scheußlich aus.

Trotzdem bin ich heiter. Mir hat Jan, der zugleich mein Fürsprecher ist wie auch mein Verfüger, gestern abend Mut gemacht, eine alte Idee zu entwickeln. Seltsam, wie, zumindest ich bin halt so, es einen anderen Menschen braucht, um zum Selbstgedachten Zutrauen fassen zu können. Von wegen Austausch. Es gibt keinen Wechsel.

27.2.2019

Dann also sollte tatsächlich gedruckt werden. Beim Eintippen meiner diese Arbeit beschliessenden EMail fiel mir ein, dass ich keinen Druckergruß kannte, den ich nach Bad Langensalza bestellen könnte—ich dachte an etwas wie das »Gut Holz!« von Kegelbrüdern; das »Petri Heil!« der Angler (»Ski Heil!« bei den Freunden der sämig gleitenden Bretter;) vielleicht ja etwas Zünftiges aus der Bibel? »Schwarzer Spiegel, Dunkles Wort!« etwa? 

Ich schrieb an Friedrich, um ihn mit seinem enzyklopädischen Fachwissen zu befragen. Ich war mir sicher: Wenn er keinen Druckergruß wüßte, dann gäbe es den nicht.

Seine Antwort kam postwendend: »so etwas gibt es: »Gott grüß die Kunst!« – Antwort: »Er grüße sie« (oder war es »Gott grüße sie«? Ja, das war es). Begegnet einem in Branchenbüchern mindestens bis ins frühe 18. Jahrhundert. Wer dächte da nicht an den Gruß des Ersten Weltkriegs, »Gott strafe England!« / »Er strafe es«; gewiß war der Buchdruckergruß die Blaupause. Bzw. das Hochdruckklischee.«

Herrlich. Also tippte ich: Gott grüß die Kunst! Und drückte auf »Senden«.

26.2.2019

Ein Abendessen, an das ich noch immer ungern zurückdenke fand statt zu Ehren eines Bauunternehmers aus London; es waren noch andere dabei, aber man konzentriert sich doch immer auf den Ehrengast—in dem Falle war das der Stimmung abträglich. Denn er kramte in der dort in jenem Lokal kurzen Speisekarte ewig herum, man hätte schon vermuten können, er sei vielleicht magenkrank, bis er, auf Nachfrage der Gastgeberin vor sich hinbrummelte, dass er hier, als Londoner, keinen rechten Appetit entwickeln könnte, weil er von daheim her so viel besseres gewohnt sei.

Das ist wahrscheinlich nur ein Baustein gewesen für meine Mauer aus Ablehnung gegen die Briten (ich kenne freilich welche, die ich sehr gerne mochte und mag.) Was ohnehin merkwürdig ist, weil ich ja die Musik von dort sehr gerne höre, aber vielleicht lebe ich nach einer pervertierten Erziehungsmaßregel aus dem Reich der sogenannten Insulaner: »Britons should be heard, but not seen.«

Oder so ähnlich. Machte mich dementsprechend auf ins Reich der Mitte, wo mir aus der Alten Schönhauser Strasse die vollendete Reparatur meiner Espressomaschine versprochen ward. Schaute, auf dem Weg dorthin (nach Mitte), bei Andreas vorbei, den ich, das fand er ebenso: ewig schon nicht mehr gesehen hatte. Seine Sonderausgabe »Von Hundert« zum Thema Immobilien ist extrem gut geworden. Es ist ja mittlerweile das bestimmende Gesprächsthema in Berlin—wer hätte das einst gedacht?, beinahe so öd ist es hier schon schon wie in London, gesellschaftlich, und der Streß mit den Immobilien ist wohl auch der Grund, weshalb man sich nur wenig noch über die facts of life unterhält: namentlich Wetter, Tiere und Mundungen. Weswegen man doch eigentlich mal hierher gezogen war, aber.

Vermutlich fände es der Bauunternehmer heute noch immer öde hier in Berlin, kulinarisch betrachtet. Aus meiner Hasenperspektive aber hat sich einiges, sogar ziemlich sehr einiges, getan. Erschöpft vom Schleppen der Maschine kehrte ich kurz vor meiner Haustüre in einem von außen her total unauffälligen Imbiß ein, dessen lachhafter Name am Sonntag erst Friederike aufgefallen war. Das sind wohl Chinesen, aber auf Nudeln spezialisiert. Die Nudeln werden jeweils frisch produziert, weshalb der Gastraum durchgerüttelt wird vom Eiern der motorbetriebenen Maschine. Serviert wird in blechernen Schüsseln, die Radkappen gewesen sein könnten. Raffiniert schmeckt das nicht, aber geil. Die mir in dem (schmucklos wäre noch geprahlt) Gastraum am Tisch gegenüberschlürfende Frau beschwerte sich zwar auf, vermutlich chinesisch, bei der Kellnerin und machte dabei Gesten, die eine mangelnde Elastizität ihrer Nudeln verdeutlichen sollten. Oder ein Übermaß an Elastizität—vollends entziffern konnte ich diese Geste jedenfalls nicht. 

Die Kellnerin sportete Wandersocken in Filzpantoffeln, sie schlurfte grußlos ihrer Wege. Es gibt noch so viel zu munden. Und im Gegensatz zu den Wohnungen: Andauernd wird es immer besser und mehr.

25.2.2019

Die Beziehungsform »Fern-« steht, dies zu einem Gutteile zu Recht, in dem Ruf, lediglich eine Durchgangsphase darstellen zu wollen; ein Korridor, im Vergleich mit dem Weg eines Würmchens durch das Fleisch einer Frucht, wobei das dann, um in diesem Bilde zu bleiben, am Ende doch die beinahe unveränderte Ausgangssituation vorfinden würde. Denn es strebt doch alles, was da kreucht und fleucht: zum Licht.

Licht und flauschig zeigten sich Wölkchen. Das angekündigte Hoch schaute im Zahlenwerk der Prognose weit weniger eindrucksvoll aus, als es sich dann in der Brust fühlen ließ. Endlich—wobei: war dies nicht der allerkürzeste Winter meines Gedenkens?—wieder auf dem breiten Trottoir im Sonnenschein sitzen; beim Vorführen der herrlichen Kirche von Alt-Lietzow gerieten wir dort am Nachmittage in den sich auflösenden Gottesdienst einer südkoreanischen Gemeinde hinein, deren Messdiener prachtvolle Gewänder wie aus dem Faschingsbedarf trugen. Eine Greisin ludt uns ein, mit den anderen vom Brötchenbuffet zu nehmen, das im nahen Gemeindehaus aufgetischt ward. Da stand über dem Rathausturm der Streifen eines Regenbogens. Dabei ganz gerade. Wie ein Schnipsel Masking Tape. Man lernt auch meteorologisch nie aus.

Schon der Korridor aber ist hell. Und wie es bei Sensorama heißt: freundlich. Ausflug nach Kreuzberg, eigentlich also in eine andere Stadt. Am Kottbusser Damm haben Italiener eine Futterluke eröffnet, dort gibt es frittierte Pizza. Das hörte sich zwiespältig an, aber es schmeckt wundervoll. Außen knusprig und innen scheimig-aromatisch. Vom kulinarischen Prinzip her ein Samosa, aber halt aus Pizzateig. Liegt weit weniger schwer im Magen, als man denken könnte. Es ist eine Köstlichkeit, und würde ich in Kreuzburg leben, dann ginge ich in den nächsten Tagen wohl andauernd hin. 

Denn die Sonne soll bleiben. Der Luftdruck liegt derzeit bei 1027,0 Hektopascal. Und ich trage die Erinnerung an den inneren Sonnenschein der vergangenen Tage noch wie zusätzlich verstärkend in meinem Herzen. Zum unaufhörlichen Gespräch kommt dann halt ein unaufhörliches Feiern des Wiedersehens.

24.2.2019

Denn nur was richtig sauber ist, kann richtig glänzen—freilich eine Tautologie, aber ich mußte gestern nachmittags an den alten Slogan denken, dazu stieg mir die unterliegende Marschmelodie ins Gedächtnis, als ich mit dem General meine Böden pflegte. Ich habe ja zwei: einer besteht angeblich aus Holz (der Luftdruck lag bei 1034,6 Hektopascal), der andere eindeutig aus Fliesen. Aber zu meinem Glück aus ganz schlichten, von »ganz einfacher« Herkunft, sodass ein Abwischen mit dem Putzmittel ihm zu genügen scheint. Im vergangenen Sommer habe ich einem schwedischen Importeur seinen Prospekt übersetzt, mit dem er marrokanische Zementfliesen anpreisen wollte. Seitdem kenne ich mich besser aus als mir lieb ist, mit dieser Gattung extrem anspruchsvoller Bodenbeläge—High maintenance ist da übrigens noch untertrieben. Aber wie Mike Meiré selbst mir einst aufs Band gesprochen hatte: »Nachdem wir in den achtziger Jahren den Gesundheitsschuhmarkt aufgerollt hatten, wurde mir allmählich klar, dass auf dem Sanitärsektor noch einiges ging.« Und aus seiner langjährigen Beratertätigkeit für Andreas Dornbracht ist der sogenannten Kunstwelt ja wirklich noch so manches entgegengewachsen.

Verbrachte danach die längste Zeit in dem phantastisch sortierten Asia-Supermarkt am Stuttgarter Platz. Gerade Samstags ist das vergnüglich, weil alle dort ihre Wochenendseinkäufe machen. Und phantastisch sortiert meint in seinem Falle, dass sämtliche Regionen dieser riesigen Geschmackswelt dort abgedeckt werden. Man trifft den braungesichtigen Inder im Gang mit den für ihn interessanten Pulvern, die schwer Zuzuordnenden (Koreaner? Taiwanesen? Laotiker?) in den übrigen, und ganz am Ende, kurz vor den Kassiererinnen, ist das freilich vergleichsweise schmale Regal mit den Produkten aus Japan aufgebaut.

Langnasen wie ich fallen natürlich auch dadurch auf, dass sie nach glutenfreier Sojasauce fragen (weil sie heute abend mal selbst Sushi machen; deren Sexualkultur will ich, kann sie mir aber ansatzweise doch freilich, nicht vorstellen.)

Seltsam, dass ich mich nicht als Parvenu bloßstellen will, weil es gibt dort fraglicherweise etwa zwei Meter lange Wurzeln, die einzeln in knisternde Folie eingepackt angeboten werden. Denn die asiatische Kultur bleibt, gleichwohl, wie oft man dort in Ferien war, ein klandestiner Raum. Beim Verlassen hatte ein japanisches Paar gleich vier dieser Langwurzeln dabei. Was man wohl damit anstellen kann?

Der Sirup mit Ananasaroma, den ich, vom Etikett her, noch aus Thailand kannte, duftet unverdünnt wie Red Bull—für mich ist das ein ekelhafter Geruch. Aber, Oh Zauber: kaum hatte ich ihn mit Mineralwasser aufgegossen, entfaltete sich der angenehme Reiz frischest aufgeschnittener Ananasfrüchte im Raum. Im Zusammenklang mit dem Bergfrühlingsduft des Generals wirkte das überwältigend auf mich. Da ist die Zirbe nichts dagegen. Vor allem auch viel zu winterlich!

Mein Nachbar polierte weit unten auf seiner Terrasse die marmorierte Platte seines Marmortischchens. Der über mir schleift das Parkett ab. Alle anderen saugen, und an der Tankstelle gibt es schon bald keine normalen Zeitungen mehr, von wegen Fensterputzen. Es wird jetzt Frühling, daran kann es keine Zweifel mehr geben.

What a wicked thing to do, to let me dream of you.

23.2.2019

Bei meiner Rückkehr befand sich meine Wohnung angeblich zwölf Meter höher in den Lüften, als ich vor paar Stunden noch aus ihr herabgestiegen war auf den Erdboden. Ich nahm es als Signal für meine Laune, die ebenfalls gestiegen war; zwar nicht um Meter, aber halt auch so um die zwölf ganze Striche herum auf der inneren Skala. Vor meinem Fenster fanden in angeblich 75 Metern über dem Meeresspiegel gemessen, Luftkämpfe statt zwischen einem deutlich kleineren Amslerich und dem Mutisten. Die hüpfen dabei aufeinander zu, wobei der aggressivere von beiden offensichtlich danach trachtet, den Schwächeren vom Zweig zu drängen. Weil die ja verblüffend leicht sind von ihrem Lebengewicht her, reicht ihnen die Planche bis in die Verästelungen am Ende eines Zweiges, bis es wirklich nicht mehr weitergeht. Sie flattern dann einander entgegen, bis einer die Nerven verliert und in die benachbarte Baumkrone flüchtet. Fliegenderweise. Davon ungerührt machten zwei Ringeltauben Etagen tiefer ein Ei. Der Vorgang an sich dauert blitzartig. Bevor man sagen kann, es blitzt, ist es vorbei.

So schweigt der Mutist zwar weiterhin, aber er kann seine hohe Warte halten. Ich war auch froh, wieder daheim zu sein.

22.2.2019

So lebe ich (inklusive meiner Wimpernschläge und dem Zeitkristall.) Dann kamen die Fahnen an. Und es war wieder so, wie beim ersten Mal: obwohl mein Name dort vorne dranstand, fing ich an, diesen Text zu lesen und konnte den nicht mit mir selbst in Verbindung bringen. Wer hatte das geschrieben! Und wie zuletzt bei den Fahnen von Untitled, mußte ich inmitten jeder Seite aufstehen und weggehen vom Lesestoff. Aus einem philobaten Fluchtreflex heraus. Es war schwer nur erträglich. Unheimlich nah und gleichzeitig extrem fremd. Rainald hat mir damals in Philomenes alter Galerie in der Schellingstraße diagnostiziert: »Sobald Du weißt, wer Du bist, wirst Du nichts mehr schreiben können.« Das war nach der Lesung mit Ingo und Thomas Meinecke. Auf dem Flyer stand »Like Vanishing Cream.«

Die Wogen. Die Gischt. Und mein Schäumen. Es gibt nur zwei Maßnahmen, die mich beruhigen können. Ich telephonierte lange mit Friederike. Parallel dazu las Jan. Obwohl er ein, wie er es nennt »langsamer Leser« ist. Die Nacht blieb ich schlaflos. Es war dann dunkel, krappenschwarz, und es war auch sehr still. Die Vögel schwiegen. Den Vollmond konnte ich nicht anschauen, weil der Himmel bewölkt war. Ich hatte aber die Erinnerung an den vorigen Tag, als er wie ausgeblasen im blauen Himmel über den Häusern gestanden hatte (viele Fotos gemacht.)

Der Luftdruck war auf 1015,0 Hektopascal gestiegen. Wobei ich dieser App mittlerweile nicht mehr trauen kann, denn mal liegt meine Wohnung angeblich auf 39 Metern über dem Meeresspiegel, dann wieder auf 54—ich brauche vermutlich eine traditionelle Wetterstation, an deren Barometerglas mein Vater früher an jedem Morgen mit der Zeigefingerspitze klopfte, um dann den silbrigen Erinnerungszeiger neu zu justieren.

Georges Simenon mußte sich angeblich schwallartig übergeben, während er seine Romane schrieb. Daran mußte ich denken, es gibt wohl so unterschiedliche Ausprägungen dieser Krankheit, wie es unterschiedliche Schriftsteller gibt. Warum war ich bloß kein Ornithologe geworden! Warum hatte ich die Lehre abgebrochen! Warum habe ich mich nicht gemeldet, als es um den Generationswechsel in der Gartenbaufirma meines Großvaters ging! Weil ich partout ein Künstler sein wollte. Ohne auch nur irgend eine Spur davon zu ahnen, was das bedeuten könnte. Und aber es macht mir einfach bloß reine Freude. Von gestern mal abgesehen—so schlägt mein Herz. Stunde um Stunde. 

Heute besuchte mich Christian, und wir haben den Nachmittag zusammen verbringen können, weil der Internetklempner zwar lange, aber nicht zulange auf sich warten ließ. Das war sehr schön, im Park hat Christian die kuriosen Statuen fotographiert, mir die Aufnahmen auf dem Bildschirm gezeigt und dabei gefragt: »Was mache ich bloß damit?« 

So ist das nämlich. Ich schreibe ja auch nie irgendwas einfach so und für mich.

21.2.2019

Man muß die eigene Poetologie für sich im Stillen so weit treiben, damit man im Falle einer Frage seine Antwort nicht anfangen müsste mit »Ach, wissen Sie«. Und als ich mit der neugekauften Schachtel Corn Flakes daheim war, stellte ich zu meiner eigenen Überraschung fest, dass sich in der Corn-Flakes-Dose noch Corn Flakes fanden. Sie war sogar gefüllt damit. Also hatte ich sie gefüllt umgezogen, und es war mir seit, wahrscheinlich: Monaten entgangen, dass ich damit noch einen Vorrat hatte. So lange also hatte ich schon keine Corn Flakes mehr begehrt zu essen. Was auch ein gutes Zeichen war für mich, denn es heißt ja: Der ißt den Kitt aus den Fensterrahmen. So lange also (unbestimmte Zeit) ging es mir schon besser als gut.

Ich schaute den Amselhahn an, der mir krank scheint, weil er noch immer nicht singt, obwohl es um ihn herum schallend tönt. Kurioserweise gelingt es ihm, dennoch den gesamten Baum für sich zu behalten (und zeitweise versammeln sich bis zu drei Amselhennen über ihm; wahrscheinlich des Nestrestes wegen.) Dann flog er weg, weiter nach unten und, wo er war, erschien mir ein Schatten eines dahintergelegenen Fensters als seine Form. Bis ich das feststellte. Dass er das nicht mehr ist.

Peter Handke, im Februar 1977: »Eine Frau, die ihre Geschlechtsteile häßlich findet.«

iOS 12.1.4 enthält wichtige Sicherheitsupdates und wird allen Benutzern empfohlen.

Der Luftdruck: 1011,0 Hektopascal

20.2.2019

Ich stand inmitten einer Kassenschlange bei Hit Ullrich, die am Bahnhof Zoo besagten Junkie-Markt betreiben, aber hier, bei mir um die Ecke: ein elegantes Warenhaus für Lebensmittel, in dem sich die gläsernen Türen für die Milchprodukte et cetera bei Berührung durch menschliche Hand automatisch öffnen, als mich die Nachricht von Christian erreichte: Karl ist tot. 

Und ich, wie blöd, schrieb zurück: Welcher Karl?

Immerhin hatte ich ihn dreimal treffen können. Das wird für mich sein wie ein Guthaben auf einem Konto. Ich behalte es für mich. 

Alles, was alle jetzt schreiben werden wird stimmen. So in etwa. Aber was ich in seiner Anwesenheit mitbekommen hatte, das war: Genie. Er war das, was ich mir unter dem Begriff des Genies vorstellen kann. Ungefähr also so, als wenn jemand mit der linken Hand, nein: wenn ein Mensch mit drei laufenden Motorsägen jongliert.

Er war ein Liebhaber, ein Bewahrer und deshalb auch ein Produzent der Bücher. Er hat ganze Schlösser gekauft, bloß wegen der Tagebücher einer Prinzessin; wegen derer Briefe, die es damit für ihn gab, darin. Godspeed! Und irgendjemand kocht Kaffee, in der Luftaufsichtsbaracke.

Dann, noch immer stand ich an der Kasse an, darauf wartend, bezahlen zu dürfen, hatte ich auf meinen Anruf hin meine Mutter am (R)Ohr. Es wurde vergnüglich, wir redeten über ganz andere Dinge und sie sagte »Hauptsache, der Tag geht rum, und das Geld kommt rein.«

Das hätte ihm gefallen.

Der Luftdruck: 1007,6 Hektopascal

19.2.2019

Ob es das überhaupt geben kann, einen stummen Vogel, das würde ich jetzt so gern mit Professor Berthold besprechen können. Einmal, das ist schon viele Jahre her, noch bevor er emeritiert wurde, habe ich ihn droben in Radolfzell besucht. Eine lange Fahrt, der Ort selbst war mir bis dahin bloß als Herrstellungsstätte von Unterwäsche der Marke Schiesser ein Begriff gewesen. Der Firma ging es damals schon schlecht, obwohl sie da gerade eine von Kostas Murkudis neu entworfene Kollektion in Feinripp herausgebracht hatten, die bis heute Bestand haben dürfte. Als ich am Bahnhof von Radolfzell ausstieg, war es dort still und schön.

Professor Berthold, für den ich von einem auf CD bei supposé verlegten Vortrag entflammt worden war, sprach auch in der Natur einherstapfend genau so animiert und animierend über die Vögel. Wir trafen uns auf einem weiten Stück Landschaft mit langstieligen Wiesen, das von der Heinz-Sielmann-Stiftung gestiftet ward und Berthold erzählte mir alles, was ich wissen wollte und von der noch nicht auf der CD geredet hatte. Im freien Vortrag übrigens. Die Aufnahmen waren in einem Stück gemacht worden. Wie Berthold meinte »Abends, beim Bier.«

Heute früh saß der Amselhahn wieder sang und klanglos im Geäst an der üblichen Stelle. Gut, heute ist es zudem noch trüb, aber das scheint die anderen Kollegen nicht zu kümmern: sie flöten ihre Lieder. Er aber macht auf mich einen schwermütigen Eindruck. Ab und an sperrt er den Schnabel auf, als müsste er gähnen. Dann wieder schabt und wetzt er mit dem geschlossenen Schnabel an den Zweigen herum, so als würde er gerne etwas daran haftendes loswerden—so kam ich drauf, dass er möglicherweise stumm ist: er scheint zu spüren, dass er lossingen will, aber es geht nicht. Da ist eine Sperre, wie ein durchsichtiges Gummiband rings um den Schnabel stelle ich sie mir vor, die ihn daran hindert. Ob die nun physisch besteht, oder unbezwingbar in seiner Psyche agiert: unmöglich herauszufinden. Oder halt erst nach eingehender und bestimmt sehr teurer Untersuchung inklusive Magnetresonanztomographie. Den Streß würde er am Ende vielleicht nicht einmal überleben.

Erfreulich war, als ich gestern nach dem Lesen im Park von der Bank aufgestanden war, hatte mein Pullover lauter winzige gelbe Flecken. Ich konnte mir erst nicht erklären woher. Aber ich war die ganze Zeit unter einem Haselnußstrauch gesessen, dessen biegsame Zweige über und über voll hingen mit ihren gelben Haselnußwürschtle. Und jetzt hörte und sah ich es auch: es summte dort vor lauter Bienen, die sich ihre Beintaschen vollstopften mit dem gelben Blütenstaub, von dem auch mein Pullover getüpfelt war.

18.2.2019

Wobei das auch nicht bloß Vorteile hat, gemeinsam mit wenigen auf einer Fläche zu leben. Daran mußte ich gestern denken, während ich den Amselhahn vor meinem Fenster beobachtet habe: Wie ich im Winter 2017 durch die aus Frankfurt beschafften Säulen samt optimaler Futtermischung eine für mich spektakuläre Crowd an unterschiedlichsten Vögeln heranlocken konnte auf meinen Balkon und wie gerade das plötzliche Erscheinen eines Kernbeißers mich fasziniert hat. Welche Freude das für mich war, sodass ich mich jeden Abend schon auf das frühmorgendliche Hinausschauen freute, wenn ich, noch im Liegen, die Meisen hörte, wie sie auf der Querstrebe des eisernen Gartenstuhls hockend, darauf die Körnlein schmiedeten. 

Aber das ging oder währte dann halt nur bis zu jenem Abend, als ich an meiner Türe einen handgeschriebenen Brief, eigentlich wars ein Schmierzettel, hängend vorfinden mußte, auf dem mich mein Nachbar abmahnte, weil er, von einem Südseeurlaub zurückgekehrt, seine unter meinem Balkon gelegene Terrasse voller nicht weggekehrter Vogelfuttersamenkörnerschalen vorfinden hatte müssen. »So macht das keinen Spaß!« stand für mich als irgendwie imperativ zu verstehen darunter. Als ob er meine Telephonnummer nicht hätte. Gerade so, als liefe man sich nicht circa dreimal täglich über den Weg. Na gut.

Die Amsel hier jedenfalls schweigt beharrlich. Bedauerlicherweise. Wie Cord Riechelmann geschrieben hat, benötigen die Amselhähne nach der Winterpause einige Tage zur Einübung, bis ihnen die Melodien wieder wie geölt aus den Schnabelhälften gleiten. Aber dieses hier scheint mir mutistisch. Oder vielleicht ein Fall mit Lampenfieber? Gestern abend jedenfalls, zur blauen Stunde, öffnete ich mein Fenster und studierte ihn durch den Fensterrahmen direkt ins gelb umrandete Auge. Er gewahrte dies. Wippte, doch machte keinen Ton. Im oberen Stockwerk des der Hausfassade nahen Geästs hatten sich indes gleich zwei Amselhennen niedergelassen. Denn der Stammbaum des Mutisten weist in idealer Höhe einen Nestrest aus Vorjahren auf: Der ließe sich ausbauen. Doch schwieg der Hahn. Die Hennen hüpften. Ich schaute sie alle an.

Er flog dann schließlich in den nächstgelegenen Baum. Auch sein Flattern schien mir zaghaft, irgendwie unrund. Hoffentlich ist er nicht krank. Beim Schließen des Fensters stob das Fragment einer Melodie durch den Luftraum über dem Hof. So kurz, kürzest, dass ihr Nachhall schon länger schien als die Tonfolge selbst. Ob er das war?

16.2.2019

Von der Praxis her kommend, sann ich nach über eine Theorie, dass womöglich Schmutzpartikel, also beispielsweise Staub auf einer eher kleinen oder eng umgrenzten Wohnfläche aufdringlicher wirken im Sinne des sie beseitigen zu wollen, denn auf einer großen, in ihrer Leere schier unendlich weit ausgedehnten. Angeblich war es Mies van der Rohe, der zu einem Kollegen, der sich über ein Problem der Raumaufteilung den Kopf zerbrach, gesagt haben sollte »Mach das Ding doch einfach groß genug, dann gibt es keine Probleme.« Jedenfalls glaube ich, dass Professor Kollhoff mir das so erzählt hatte. Jedenfalls wäre diese Theorie vom großen Schmutz in kleinen Räumen, und vom winzigen in riesigen dann sicherlich auf Berlin anwendbar—im gesellschaftlichen Sinne dergestalt, dass sich hier viele halt deshalb so blöd aufführen, weil die Stadt so weitflächig ist. Und ihr krümelhaftes Wirken auf dem unendlich weiten Fußboden nur im allerengsten Umkreis unangenehm auffallen kann. 

So kam ich morgens beim Überqueren des Richard-Wagner-Platzes in eine Szene, da hatten zwei Sanitäter einen Stuhl zum Krankentransport über das Trottoir bis zu einer bestimmten Hausnummer zu rollen, weil sie von dort gerufen worden waren. Doch mischten sich Passanten ein, die aus dem Tchibo gelaufen kamen, denn auf der Bank unter dem Omnibushäuschen lag ein Mann unter einer Decke, der keine Lebenszeichen mehr von sich gab. Auf dem Asphalt unter ihm hatten sich über Nacht teils schon versickerte Pfützen seiner Körperflüssigkeiten gebildet. Die Passanten hofften nun, die Sanitäter könnten sich um den Bewußtlosen kümmern.

»Wir sind doch kein Pennertaxi!« rief der eine, der andere sagte gar nichts. Dann schoben sie ihren blauen Stuhl weiter zu ihrer Kundschaft. 

Das waren jetzt keine Sanitäter des Roten Kreuzes. Zwar waren sie hell gekleidet, aber auf dem wild in Rot lackierten Auto stand City Ambulance.de. Oder so ähnlich. Es handelte sich wohl um ein Start-Up in der Krankentransportsbranche. Vermutlich waren die schon irgendwie als Erstretter ausgebildet, aber der Mensch, den der eine von ihnen als Penner bezeichnet hatte, war für sie halt ein nichtrettungswürdiges Leben. Wahrscheinlich weil bei dem unklar war, wer die Fahrt dann zahlt.

Gut, ich mußte aber selbst auch weiter, obwohl ich vor dreißig Jahren auf dem Wege zur Erlangung meines Führerscheins bei Josef Apold einen viele Lehrstunden umfassenden Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte. Apold, ein kleiner Mann mit Backenbart, der außer seiner ehrenamtlichen Tätigkeit fürs Rote Kreuz im Gemeindeleben von Heimerdingen als Koch in Erscheinung trat, hatte eine zu ihm völlig gegensätzlich geformte, sehr große und vor allem sehr dicke Ehefrau. Als die dann eines Nachts—Heimerdingen liegt ja sehr abgelegen—eine Art Herzinfarkt im Schlaf erlitt, konnte er es auf sich gestellt nicht fertig bringen, sie aus dem Bett herunter auf den Fußboden zu schieben, um ihr dort eine Herz-Rhythmus-Massage verpassen zu können. Weshalb sie ihm, noch vor dem Eintreffen des Notarztwagens aus dem fernen Leonberg unter seinen Händen starb. Das erzählte er uns in der betreffenden Stunde, als wir an einem männlichen Torso aus Kunststoff das Reanimieren erlernen sollten.

Traf mich dann mit Beda im Soho House zum Frühstück, was für mich, bis ich dann erst mal oben im siebten Stockwerk eintreffen konnte, mit einigem Ordeal verbunden war. Der Schweizer lachte bloß. Seitdem er, aus Paris und zuvor von Arles kommend, in Berlin gelandet war, kam er aus dem Lachen kaum noch heraus. Wir unterhielten uns gerade angeregt, da schob eine zierliche junge Dame ihren Kopf zwischen die unsrigen und plinkerte. Sie hatte die hellblaue Soho-Bluse an: »Excuse me!« Sie hätte da zufällig mitgehört, wir sprächen über Tel Aviv?

Das konnten wir nicht in Abrede stellen. Sie freute das. Denn immerhin stammte sie von dort her, aus Tel Aviv. Sie hörte nun gar nicht mehr auf zu reden, gab uns vielerlei Tips, die ich mir gar nicht merken konnte. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Ich bestellte mir ein BLT. Ein Brot mit Speck, Salat und Tomate. Sie war noch ganz euphorisch von ihrem Tel Aviv-Vortrag. Kam dann aber ein wenig später amtlicher gestimmt zurück an unseren Tisch und sagte, dass sie uns leider die Brote nicht mehr bringen dürfte, denn es sei ja jetzt 11 Uhr 32 und die Frühstückskarte war laut Aufdruck nur bis 11 Uhr 30 gültig. Tja. Aber in einer halben Stunde wäre 12 Uhr und dann gibt es Lunch.

Gut. So ist das. So muß es nicht sein, aber die Widersprüche gilt es auszuhalten. So groß ist Berlin. So vielfältig auch. Das 20. Jahrhundert ist jedenfalls definitiv vorbei, wenn Engländer es schaffen, Israelis dazu zu bringen, Deutsche und Schweizer so zu behandeln, wie man es sonst bloß den Schweizern und Deutschen nachgesagt hat. Und das ganze, wie ich nicht müde werde zu betonen: in den Hallen des ehemaligen Parteizentralengebäude der SED.

Ging dann den ganzen Weg nach Westen zu Fuß heim. Der Sonn‘ entgegen…

15.2.2019

Um acht nahm jemand den Innenhof in Beschlag, ich konnte ihn aus dem Fenster gelehnt sehen: ein Greis, aber anders geartet als der von gegenüber. Ultra-klassisch gekleidet in einem staubfarbenen Kittel und einem Cordhütchen auf dem silbrigen Haar. Der andere staubsaugert ja bloß, dieser nun hieb mit erstaunlicher Virilität auf die am Erdboden befestigten Holzlatten ein, die einst wahrscheinlich jemandem Terrasse gewesen waren, die er, der Greis mit dem Hammer, nun gekommen war, um sie zu beseitigen. 

War, vom spektakulären Anblick wie es heißt abgesehen: andauernd laut. Mit Tendenz zu. Es war ja der schönste Tag bislang mit Sonnenschein. Als ich das Haus am frühen Abend durch das Kellerlabyrint verliess, schrillte er dort auf Metall kniend mit einer Flex. Ich rief ihn fragend an, ob er da etwas baue—»Nein!« Ich wartete noch ab, aber von ihm war nichts weiter zu erwarten, ausser dem brenzlig stinkenden Lärm seines Geflexes.

Am Spreeufer entlang dafür frühlingshafte Stimmung: das Wasser glatt, die Weidenkätzchen platzen aus den Hüllen. Das Abendlicht machte die Backsteinfassade am Heizkraftwerk noch schöner, intensivierte das unnachahmliche Rot des alten Materials. Mir war, gleich nach dem Umzug, hier gegenüber des schönen Kraftwerks ein abstoßend häßlicher Neubau ins Auge gestochen, den ich mindestens für eine Behörde hielt, circa 1994, vom Schlage altes Innenministerium, aber es handelt sich, ich hätte es mir gleich denken müssen anhand seiner blutergußfarbenen Klinkerfassade, satiniert selbstverständlich, dass es sich um ein Werk von Professor Hans Kollhoff handelt. Es hat, wie alle Bauwerke des Professors einen angenehm demutspfeifenhaft dröhnenden Namen, in dem Falle »Haus am Luisenplatz«. Nur von wegen Haus: Der Klotz ist circa dreihundertfünfzig Meter breit, sechs Stockwerke hoch und hat auf dem Dach eine Art Leitwerk, wie es sich Elon Musk nicht besser ausdenken könnte. Will aber, trotz dieses Space-Age-Elements vor allem anschließen, wie mir gestern klar wurde: an die Fassade des kaum 500 Meter entfernt aufragenden Heizkraftwerks. Dass dort natürlich schon viel länger Existenzrechte beansprucht, als das dafür doppelt so große und vierzigmal weniger formschöne Haus des Professors Kollhoff. 

Es geht ihm ja um die »Kontinuität der europäischen Fassade«. So gesehen soll man als Betrachter eine harmonische Verbindung erkennen und als Wohltat zu sich nehmen können vom Klingenbergschen Kraftwerkstil mit schönen Backsteinen, die im Abendrot noch schöner werden und seinem verklinkerten Mietshaus mit Lufthutze auf dem Dach. Die erkenne ich aber nicht. Ich erkenne diese Verbindung und noch nicht einmal zur Schließung irgendwelcher Fassaden nirgends, wo ich einen Bau des Professors sehe. Im Gegenteil: ich sehe dann vor allem auf sich selbst hinweisende Solitäre; meistenfalls, weil sie so klotzig sind, dass ich mich frage, was das soll. Bis auf das Türmchen mit den vergoldeten Zinnen in Frankfurt, das dort total isoliert steht. Und ein Frühwerk für Sozialwohnungen, das er im Wedding gebaut hat. Das hat mir Oda Pälmke, die für ihn gearbeitet hat, einmal gezeigt. 

Es wird eindeutig Frühling. Meine Laune steigt. 

Wie rechtzeitig war ich zum Sonnenuntergang an der Straße des 17. Juni angelangt. Ab und an drang der Gesang von Amselhähnen durch den Verkehr bis zu mir. Weit drüben drehte sich der Mercedes Stern, leuchtend, und es läuteten Glocken—woher denn? Von dort drüben offenbar. Bis es mir aufging, dass die von der sogenannten Gedächtniskirche sein müßten. Aus dem kaputten Turm.

14.2.2019

Am Himmel zieht eine Formation von Vögeln—schaut aus wie der Drache eines sehr großen Kindes: Die erste Hälfte als pulsierender Winkel, danach alle in einer senkrecht dem hinterhersteuernden Linie. Ob das ein einziger Schwarm ist, der immer in dieser Formation unterwegs ist, oder Schwärme zweier Arten, die bloß in die selbe Richtung wollten? Ich kann das von hier unten aus nicht erkennen. Sie sehen alle gleich schwarz aus.

Auf jeden Fall kommen sie jetzt zurück. Und ich, glaube, ich komme jetzt auch mal wieder zurück.

13.2.2019

Es ist mir also doch möglich, an zwei Texten gleichzeitig zu arbeiten. Abwechselnd, aber im selben Zeitraum. Das habe ich bis gestern für mich für nicht möglich gehalten (und wie alles, was ich für mich für nicht möglich halte, auch nie probiert. Aus einer Voreingenommenheit, aus Angst.) War dementsprechend gelöst von der selbstgemachten Verkrampftheit. Heiterkeit. Wenn es gut läuft, gibt es nichts besseres für mich. Na ja. Zumindest auf diesem Feld. 

Abends kehrte ich heim. Und las bei Rainald Goetz im Abfall für Alle, wie er im Sommer 1998 Bücher von Schriftstellern liest, die zu der Zeit, da sie die Texte geschrieben haben, im gleichen Alter waren, wie er jetzt, da er diese Bücher liest. Und entdeckt Ähnlichkeiten in den Perspektiven. Als er wiederum Abfall veröffentlicht hat, war er ein paar Jahre jünger als ich heute, da ich darin lese. Zum soundsovielten Mal. Erinnerung an die Party zum Erscheinen des ersten Buchs von Elke Naters in den Räumen der Agentur von Matthias Landwehr und, damals noch bis zum Split kurze Zeit später: Petra Eggers, am Lietzensee. Ich lernte den Vater Naters kennen, der Vorsitzender war des Vereins der Freunde Herbert Rosendorfers. Oder so ähnlich. Da hatte ich gerade angefangen bei Franz Josef Wagner, BZ, Berlin.

12.2.2019

Die Post kommt früh, hierzulande. Zu den wenigen Besonderheiten des Hauses zählt das Fehlen einer sogenannten Briefkastenanlage: Der Postbote steckt die Neuigkeiten durch einen Schlitz in der Wohnungstür. Dabei sehe ich seine Fingerspitzen.

Also hat er meine Paketsendung gleich, ohne überhaupt zu klingeln oder mich sonstwie zu erreichen versuchen, in einem benachbarten Zigarettengeschäft deponiert. Mir ist das Recht. Es handelt sich um die Belegexemplare des Textes von Oskar Panizza, zig Stück gleich. Danke, lieber Moritz Müller-Schwefe: es ist wirklich sehr schön geworden, das Bändchen, für das ich dieses Vorwort schreiben durfte.

»Cabinet« steht draußen an dem für Werbung vorgesehenen Metallschild des Fahrradständers: »Von Menschen für Menschen«. Stammt das aus Nach-Mauerzeiten, oder war das in der DDR auch schon, wie heute in der Schweiz, so, dass in der Werbung die Produktnamen mit einem bloß noch pflichtschuldig, möglicherweise aus graphischem Grund für notwendig befundenen Zusatz hingedruckt wurden: »einfach gut«, »immer frisch«, oder »beste Qualität«. Totale Langeweile, letzendlich. Vertrauensseligkeit, nach der ich mich sehne.

11.2.2019

Im Aufwachen gestern schon den Regen gehört, beim Blick auf das Telephon dann erfahren, dass sich die Lage, während ich schlief, noch einmal verändert hatte: jetzt wurde die Regenwahrscheinlichkeit für den Tag mit 100% angegeben und somit über den gesamten, mit Stundenstrichen unterteilten Zeitstrahl hinüber. Von allen Wettern hasse ich allein das Regnen. Mir stand ein Tag ohne Ausgang ins Haus. Passenderweise hatte ich eine Arbeit über die Seife zu schreiben. Innen schäumend, außen strömend. Später warfen die Strahler im Innenhof Schatten des Geästs an die Decke. Die sich wiegten. Da hatte ich mich schon wieder abgeregt und wurde versöhnt.

Viel gelesen. Über eine ideale Leselampe nachgedacht (ich hatte schon einmal eine.) Langer, ununterbrochener Schlaf. Mein Gehirn war derweil in einer Phiole von den Anhaftungen gereinigt worden.

10.2.2019

Wenn ich mir drei Spiegeleier mache, ist da ein Auge zuviel.

Mein Freund mag scrollen Komma aber: es gibt hier inmitten Charlottenburgs natürlich eine noch schönere Vielfalt an Vögeln. Wer hat schon einen Buntspecht, direkt vor der sogenannten Tür? Gibt ja auch mehr zu essen, Reste, es wohnen ja sehr viel mehr Menschen hier in der Innenstadt. Die bezaubernde Entenart (vom Grundton her schwarz, mit seidig wippendem Schopf, grauen Flügel, blauem Auge,) die wir vor einer Woche auf der Spree fahrend schauen durften, stammt, laut Google-Reverse-Image-Search: aus Südamerika, dort vor allem an der Küste Perus beheimatet. Ich dachte gleich an Herrn Maschkes »Peru ist ein Langküstenstaat.«

Wie aber, hier dürfte meines Freundes scrollender Finger mittlerweile angelangt sein: diese Entenart nun exakt nach Berlin gelangt ist—dafür interessiere ich mich null (Stoff für Daniel Kehlmann?)

Alles und jeder hinterläßt für mich eine Spur. Ich mag keine Trompeten.

Was ich an meinem Freund habe: seine Unbestechlichkeit. Selten gewordene Ware.

Man sitzt derzeit am geöffneten Fenster (bloß nicht am »offenen«, dafür wurde die kleine Amina vom Vater gewatscht!) Draußen wird es herrlich laut. Ganz auf einmal. Aber traurigerweise frage ich mich, ob ich den Vögeln denn noch trauen darf in ihrer vorhandenen Funktion als Naturanzeiger (vergleichsweise mit Thermostaten)—könnte ja durchaus möglich geworden sein, dass auch sie, die von mir als Natur verstanden und ernstgenommen sind, die sogenannte Umwelt falsch verstehen.

»Selbst«: der Titel ist genial.

Ich bin nicht Made in China. Und je länger ich nachdenke, je älter ich werde, desto mehr bekommt meine Mutter Recht. Mein Vater aber auch. Rief ihn gestern an, weil ich mit meine Aktivboxen nicht mehr weiterwußte: Aus deren klotzigem Netzteil drang seit dem Umzug ein nervtötendes Sirren. Und er sagte, kaum hatte ich es zuende erklärt (was bei mir freilich dauern kann:) »Dreh den Stecker um.« Damit hatte es sich es. Dem Ingenieur ist wahrlich nichts Punktpunktpunkt

9.2.2019

Der Greis, schon wieder.

Was kann das sein, nächtlicher Staub, Abrieb meiner Träume—oder gehört das ganz einfach zum Ritual seiner Tage, dass er den Staubsauger weiden läßt? Mir macht es Freude, die Bettdecken auszuschütteln. Wallend, wie schwebend für einen Moment. In der vergangenen Wohnung war dafür kaum Platz vorgesehen. Fehlt sie mir? Da waren Rasenmähroboter vor dem Fenster (ganz unten.) Ich glaube nicht. Bislang.

Was mir gestern einfiel, als Beda mich röhrend, mit einer Stimme, so als hätte er mit Eiszapfen gegurgelt, aus einem Taxi, angeblich war es »eine Kutsche,«* aus München anrief: Bei all der Perfektion der Schweizer Maschine glauben die dennoch stark an die Kunst und an die Figur eines Künstlers. Gleich als ob man sich die bewahren will. Für die Erinnerung an die Wesenheit des Menschen. Bei allem, was kommt.

Hier ist das mittlerweile schon anders: Wenn es nicht funkelt, throw it away. Auf der Supermarkttüte steht, aufgedruckt: Echte Vielfalt.

*a surrey with a fringe on top

8.2.2019

Im Haus gegenüber bearbeitet ein Greis mit benbeckerhaft gefärbtem Haar den Fußboden seines Balkons mit dem Staubsauger. Seine Beine sind nackt, er arbeitet in dunkler Unterhose, aber aus dem Anglerparka, den er sich für die Arbeit im Freien übergestreift hat, lugen die Zipfel eines weißen Oberhemdes. Ich muß also annehmen, dass er die Tage in seiner Wohnung im Hemd unten ohne zu verbringen gedenkt. Schön wieder hier zu sein, auf meiner Parzelle.

In dem Hotel in Zürich, das in dem rings um die Europazentrale von Google erbauten Retortenquartier zwischen Hauptbahnhof, Bahnhofs- und Langsstrasse hochgezogen wurde in den vergangenen zwei Jahren, gab es kein Zimmermädchen, keine Rezeptionistin, keine Kellnerin, die nicht aus Deutschland angestellt ward. Teils kam es zu herzzerreissenden Szenen—Heidi in reverse—als die Rezeptionistin meiner Bankkarte ansichtig ausrief »Sie kommen aus Frankfurt? Grüßen Sie mir meine Heimat; bitte! Ich war zum letzten Mal an Weihnachten dort. Es ist die beste Stadt.«

»Ja, das ist schon so,« sagten die Schweizer. »Von uns will das keiner mehr machen.« Das war, als ich gerade mit Yves die bißchen lästige Aufgabe absolvierte, aus dem von mir geschriebenen Text, der für Österreichische Leser bestimmt war, die mir eigenen Schreibungen und diejenigen, die viel zu Schweizerisch waren, auf ein allgemein verständliches EU-Deutsch heraufzuvermitteln. Und währenddessen wurde es neben uns, wo bloß eine sehr dünne Türe uns vom benachbarten Bureau trennte, sehr laut. Eine Frau schrie zuerst, es hörte sich für mich an wie Fluchen, dann steigerte sich der Ton ihrer Stimme noch zu Gekreisch. 

»Jaja,« sagte Yves auf meine Nachfrage hin »Das ist die Nachbarin, ein wilder Mensch.« Aber keiner von den umstehenden zeigte sich dennoch bereit, mir, dem Deutschen, den Inhalt dieser Kreischworte zu übersetzen. Stattdessen wurde noch zweimal, dabei stets heiter wiederholt, unisono »Sie ist halt ein wilder Mensch.«

7.2.2019

Zürich, wie herrlich. Markus erzählte mir neulich, wie er mit dem seinem Boot nach Kopenhagen gesegelt war und der Hafenmeister ihn dort begrüßte, mit »Welcome to the first world.«

So fühle ich mich hier. Schnee auf den nächtlichen Wiesen entlang des Rollfeldes. In der Stadt ist er leider getaut. Oder weggesaugt worden? Es hat -3° am Morgen. Der Himmel ist blau. Der Fußabtreter macht Werbung für Käse aus Tilsit (evtl. Ironie?)

6.2.2019

Mit den Clowns kommen die Tränen und mit dem Umzug die Schlafschwierigkeiten, was gar nicht mal an der neuen Umgebung liegen wird, sondern an der inneren Umwälzung. So vermisste ich nach der Abreise Friederikens meinen Hasen.

Proxy, ich besaß ihn seit dem Sommer 2011, war, ursprünglich, wie ich sagen muß, aus pinkfarbenem Frottee genäht, dazu passend: mit Ohren aus gelbem Frottee. Diese Ohren aber waren durch heftiges Hineinbeissen und dann daran ziehen, durch veritable Zerrbisse also von Friederike über die Zeit zunächst zerfleddert, schließlich sogar, dies geschah in der Vorweihnachtszeit: abgerissen worden. Da man ein Stofftier ja schlecht ausgerechnet am Heiligabend in die Mülltonne aussetzen will, hatten wir beschlossen, den ohrenlosen Hasen in einen Igel umzumünzen. Als seidiger Igel (das Frottee war über die Jahre durch meinen intensiven Gebrauch bar jeder Schlingen, so auch beinahe seidig geworden vom Griff her,) durfte und sollte Proxy noch einmal (ich wußte da schon, es würde sein letztes Mal) unsere Krippe schmücken. An der Seite des sogenannten Proxof Paprikov, der, von seiner äußeren Erscheinung her, ebenfalls Hase war, allerdings weitaus weniger ansehlich (wie ich fand, als wir ihn in Velingrad aus seinem Glaskastenverließ vermittels eines silbrigen Greifarms befreien konnten, was uns alles in allem gerade einmal eine bulgarische Münze gekostet haben sollte.) Dann aber, mitsamt dem Weihnachtsbaume, verließ auch Proxy, einst Hase, nun vermittels Abbeißen der Ohrklappen zum seidig schäumenden Igel degradiert, unseren Besitz. 

In stillen Nächten habe ich ihm meinen ausgestreckten Zeigefinger zwischen die Pfoten geschoben. Mein erster Stoffhase hieß Werner und hielt an dieser Stelle eine aus Frottee genähte Möhre, die sich herausnehmen ließ.

Das Innenleben dieser Stofftiere ist ja enttäuschend für ein Kind. Ich dachte lange Zeit, Werner wäre von innen genauso wie ich. Bloß halt stiller. Aber wie es mir kürzlich erst der Verkäufer in der Bettenabteilung aufklärerisch vor Augen führte, als ich ihn nach der Füllung einer mir als angenehm preiswert erscheinenden Bettdecke befragte: »Da ist Bastelwatte drin. Die können sie nicht einmal waschen, sonst ist das Müll.«

Aber man braucht eine Form.

5.2.2019

Casa incognita—Eine neue Wohnung studiert man wie ein entführtes Tier: man versteht weder tierisch, noch spricht man wohnisch; man äugt und lauscht. Immer öffne ich, aus einer veralteten Gewohnheit, die falschen Türen und Schubladen im Küchenkabinett.

Noch am Mittag saßen wir auf der Straße vor Butter Lindner und ließen uns die Sonne in die Gesichter scheinen. Milde wärmend. Zumindest hell. Spazierten ans Ufer und fütterten die Enten im Schein der abscheidenden Wintersonne mit Brot.

Inzwischen hatte die heimische Heizung anscheinend ihren Dienst aufgegeben. Auch das Wasser kam aus der Leitung in Quellwasserkälte. gebirgsbachhaft klar. Ich griff zum Hörer und wählte die Nummer der Firma, die ihren Inspektionsaufkleber an der Therme angebracht hatte. Wer hat die Warteschleife erfunden? Frauen wie Männer werden von ihr geschunden. Nach einigen Durchläufen von Swingin’ Safari hatte ich endlich Hans Duschke am Rohr. Ein Bariton, beruhigendes Grundrauschen: Tja, da hat er heute leider keine Möglichkeit mehr. Am nächsten Tag gegen 17 Uhr gäbe es einen Termin. Ich verlieh meiner Hoffnung flehentlichsten Ausdruck, bis dahin nicht erfroren sein zu wollen. Duschke, heiter: »Na, wir haben doch nicht einmal Minustemperaturen!«

Später am Abend, wir flambierten gerade etwas Brot, rief Duschke noch einmal an: Es hätte sich da jetzt doch noch eine Möglichkeit für morgens um sieben ergeben. Im Schlaf friert man ja merkwürdigerweise weniger—Martin Margiela hat einmal einen Mantel aus einer Daunendecke gemacht dergestalt, dass er in die zwei Löcher eingepasst hatte, durch die man seine Arme stecken konnte, um dann von der Decke umflauscht durch das winterliche Paris zu ziehen.

Duschkes Mitarbeiter dann, anerkennend »Oh, sie haben es aber frisch hier drin.« (Er kam von draußen.) Das kennt man ja von Ärzten, wenn die durch die Zähne zwitschend feststellen, dass es sich um eine prachtvolle Entzündung handelt. Die Reparatur dauerte keine zehn Minuten. Gelernt ist halt gelernt und wer im Sommer Kappes klaut, der hat im Winter Sauerkraut. Beim Abschied schaute er skeptisch auf die Anrichte: »Wasistdenndasfüreinriesenbrot—Daskanndochkeinmenschessen!« Für den Landarzt der Thermen ging es nun weiter »Raufbiskurzvorpolen—da hat einer ein Haus.«

3.2.2019

Diese Einsamkeit des Einsiedlerkrebses, der umzieht, von Hörnchenmuschel zu Seeschneckenhäuschen (wobei die ihm verhältnismäßig vorkommen dürften wie Herrenhäuser,) und dann dort nie Besuch empfangen kann. Frage mich auch, wie die das entscheiden, ob und wann sie umziehen—wenn die Muschel beschädigt wurde, wenn der Hinterleib zu sehr gewachsen ist, um noch hineinzupassen, oder auch einfach so, weil ihnen eine andere besser gefällt? Kein Brot zum Einzug, aber das Meer ist ja immerhin salzig. Ich habe jetzt jedenfalls Brote für die kommenden Wochen. Und Salz für den sogenannten Rest des Jahres. Der in Wirklichkeit das Jahr selbst ist. Es entsteht, wie ein Weg, im Vergehen.

Samstagabend köstliche Kutteln im Restaurant einer Kunstgiesserei mit Philomene und Jan. Dazu gab es einen Wein, der wohl zur Reife in Amphoren vergraben wird. Schmeckte man irgendwie. Zum Nachtisch eine herrliche Sache, ein Halbgefrorenes aus Campari. Später kam Friederike an in der Nacht. Zum Glück bin ich nur vom Prinzip meines immerwährenden Umziehens her wie ein Einsiedlerkrebs. Und die neue Behausung ist vom Karmischen her 1a.

2.2.2019

Einfach so—aus Interesse, aus Bock: den alten Router in die Buchse gesteckt. Da ist das Internet, laut Botho Strauß »Anschluß an die heftige Welt.« Bekam natürlich gleich heftig Panik, weil ich am Vortage meine Kündigung des Vertragsverhältnisses per Einschreiben abgeschickt hatte. Im Vodafone-Shop zeigte man sich ebenfalls fassungslos. Der Fehler, das gibt es halt nur in Berlin: Meine Strasse gibt es zweimal—also vom Namen her. Und in der gleichnamigen, in Neukölln, ist wirklich kein Glasfaserinternet verfügbar. Bei mir aber schon. Langweilig, aber.

Irgendwie essentiell: Ronja von Rönne bloggt jetzt auf Instagram aus der Psychiatrie.

1.2.2019

Auspacken dauert länger als Einpacken—rätselhafterweise, ist es doch ein und derselbe Vorgang, bloß halt rückwärts abgespult. Aber das Erkennen, Wiedererkennen, in den neuen Kontext sortieren—passt das noch; wenn ja, dann wohin?—kostet Zeit.

Im Vodafone-Laden war man freundlich zu mir. Das Internet hier ist mit dem Internet am See nicht identisch. Ich brauche einen neuartigen Empfänger, der kommt freilich wie gehabt mit der Post. Öffentlich Schreiben kann ich einstweilen nur auf dem Telephon, da machen sich die japanischen Gleitsichtsgläser bezahlt.

Ich lese in den Zeitungsseiten, in die ich die Objekte und Gegenstände eingewickelt hatte (keine E-Paper!) »So reich ist Helene! Finanziell ist sie schon Weltstar« Da fragte ich mich: Was muß jetzt noch kommen?

Aber auch diese lange Erzählung im Dossier der Zeit über das lange Sterben des Jungens namens Josh, wie der sich, noch nicht einmal geschäftsfähig, mit Drogen, die er sich aus Facebook-Gruppen frei Haus bestellt hatte, vernichtet hat. Erschütternde Geschichte. Ich denke die ganze Zeit daran. Habe ich selten bei etwas, das in der Zeitung steht.

»Und so, über Gräber vorwärts.«

31.1.2019

I studied the blaesshuhn from beak to tail. John Coltrane spielt »Bye bye black bird.« Drei Jahre am See, in meiner Erinnerung war es die fruchtbarste Zeit. Aber jetzt »müssen wir umziehen, in einen anderen Wald,« wie es im Totenvogel heißt.
»Schreib alles auf,« schreibt Dirk von Lotzow »Dann wirst Du lernen, die Zeit zu überlisten. Das ist das ganze Geheimnis. Das ist das einzige Gesetz.« Dem gibt es von mir aus nix hinzuzufügen. I tried my best. Und andere Wasser haben auch schöne Vögel. In diesem Sinne: I’ll never stop living this way.

30.1.2019

Zu schön um nicht wahr zu sein: Der Aufgang der Sonne malt die vordere Hälfte des Sees in zartem Rosa, das vom Mittelgrund ausgehend verblaut. Reif liegt auf dem Land, Gras und Eiben zeigen ein taubes Grün. Das Bild sagt: Betreten ist zwar nicht verboten, aber es hat einen Preis. Bloß weil Vögel nie schlottern, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht frieren können. In Orlando fallen Möwen tot aus dem Himmel »frozen in mid-flight.«

Am blauen Ufer schilfert Eis in dünnen Schollen. Wie mundgeblasen. Ab und an eine Ralle darauf stehend, und das auch noch einbeinig »Schau, was ich kann.« Um dann jäh und kreischend durchzustarten, ein fliegendes Gewicht.

Vom Hügel aus äugte ich nach einer Gestalt bei einem alten Baum. Eine Frau, die hockte dort, bloß teils bekleidet, ihre Notdurft verrichtend. Keine Obdachlose offensichtlich, sie telephonierte dabei vermittels drahtloser Ohrstöpsel. Warum mich das verstörte—hatte ich doch bestimmt hunderte Männer schon zwischen Bäumen und auch anderswo in der Stadt beim Abschlagen ihrer Wasser mitangesehen. Das andere Geschlecht.

Alles was traurig macht oder mutlos, wird im Bewußtsein als feucht und kalt markiert. Trost wiederum hat keine Temperatur.

29.1.2019

»Briefwechsel mit diversen Kollegen«: Was sich durch den neulich von der Stiftung freigeschalteten Suchapparat bei Arno Schmidt ergötzlich liest, wird wohl zukünftig eher mau bleiben. Immerhin schreibt mir Degens, dass die von uns besuchte Bar in der Barockstadt Potsdam nicht Unsichtbar geheissen hatte, sondern: Unscheinbar.  Gut, waren wir halt in der Unscheinbar. Auch heiter.

Wobei mir im Nachhinein erst so richtig klar wurde, wie dermaßen un-heiter mir dort, in Potsdam, die auch noch hinterleuchteten Plakate der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung erschienen waren, vor, und teils auch: inmitten der heiter, weil barocken Kulisse entlang der eisigen Prachtstraßen. »Deutschland sucht den Impfpass« wirkt ja schon vom Slogan her verschleiernder, denn aufklärend. Aber dann ist dazu dann auch noch ein Jugendlichendarsteller abgebildet, der einen einhändigen Handstand macht und dabei seinen Hut aufbehält. Allein dieses Wunder entgegen der Erdanziehungskraft lenkt tüchtig ab vom Impfpass an sich, der ja gelb ist. Und warum macht der Jugendliche diesen Trick, fragt sich die Passantin—nun, es steht dort, in seinem papierfarbenen Zimmer auch eine Plastikbox mit Vinylschallplatten drin. Mit der Musik aber hat sein Verhalten anscheinend nichts zu tun, denn der im Hintergrund deutlich und scharf abgebildete Plattenspieler, ein veritabler Turntable soll es sein, trägt zwar eine der schwarzen Scheiben, aber die sogenannte Nadel des Tonträgersystems ist darauf nicht aufgesetzt. Es kann also de facto keine Musik sein im dargestellten Raum; der Musikus sucht seinen Impfpass im Stillen, handständig, und wenn man ganz viel Zeit hat, dann kommt man irgendwann schon auf die Idee, dass er in dieser Pose eventuell nach dem ihm übereigneten gelben Faltblatt suchet dergestalt, dass er es zwischen seine Plattensammlung gerutscht vermuten tut. Weitere Fragen, beispielsweise: Muß, oder sollte ich zum Auflegen meinen Impfpass immer dabeihaben et cetera könnten sich anschließen. Auf jeden Fall aber fehlt dort die Heiterkeit. Auch weil man an die Mitglieder der Gremien dort, in der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, sich gezwungen fühlt, zu denken, man hat sie leider schon plastisch vor sich im Kreise ihrer Berater, wie die ein solches Plakatmotiv als »stimmig« oder gar »heiter« in Auftrag geben, bezahlen, abnehmen, drucken lassen, verbreiten, aufhängen, hinterleuchten et cetera.

Von der anderen Kampagne aus diesem Hause, da geht es um sexuell übertragbare Krankheiten, und man hat sich bei diesem heiklen Thema für einen Cartoonisten in der unseligen Epigonenschaft Uli Steins entschieden, will ich sehr gerne schweigen.

Gipsköpfe klingt so altmodisch. Salzknaben werden es sein.

Vincent Klink, der heute Geburtstag hat, schreibt in seinem Tagebuch, dass er den Beruf des Koches für weit weniger anstrengend hält als den des »ernsthaften Kopfarbeiters.« Heiter ziehe ich meinen nicht vorhandenen Hut.

26.1.2019

Jemand hat geschrieben, ich weiß nicht mehr wer: Barock, also die Architektur dieser Epoche, sei heiter. Also dadurch gekennzeichnet? Denke ja seit längerem nun schon nach darüber, was Heiterkeit bedeuten, oder gar: sein könnte. In Bundestagsprotokollen wird es phrasenhaft mitgeschrieben als Stimmungsnotiz: »Heiterkeit«.

Ging dementsprechend gestimmt durch Potsdam, einen Nachbarort mit reichlich Barock, und jedes zweite Haus war entweder eine Anwaltskanzlei oder eine sogenannte Vermögensverwaltung. Die Stadt wie Ludwigsburg: »Wiener Art«, also mit dem Hammer breit geklopft. An der Prachtstraße saßen in einem Grillimbiss ein paar beim Abendbrot. Für den sehr kleinen Hunger war ein Viertelhähnchen im Angebot. 

Degens las um die Ecke in einem dunklen Villenviertel. Lesungen sind ein feuchter Mantel, den man seinem Text umlegt. 

Später wurde es freilich noch kurz amüsant in einer Bar am Nauener Tor, die Unsichtbar hieß. Kannte ich noch nicht. Auch Adebar wäre möglich.

25.1.2019

Bei den Allzeitbereitisten der sogenannten Prepper-Szene sorgt die Nachricht vom Produktionsende der Erbswurst natürlich für unbehagliche Gefühle. Offenbar zählt sie, die Erbswurst, bei diesen Stadtparanoikern zum Inventar eines Fluchtrucksacks (der in dieser Szene natürlich mit dem aus dem Amerikanischen übernommenen Code BOB bezeichnet wird (für Bug Out Bag). Diskutiert wird unter anderem die richtige Farbe des BOB, also ob man im »urbanen Umfeld« nicht eher auffallen würde im Ernstfall, wenn man einen militärisch grünen BOB geschultert trägt—da frage ich mich: Und was ist mit dem Farbton der Erbswurstsupp‘?)) Bei ihnen stellt sich aber vor allem jetzt die Frage, ob und vor allem wie sich die Erbswurst autonom herstellen ließe. Ein Prepper (die haben übrigens gerne mal Munition als Profilbildchen oder einen hungrigen Hund) verlinkt auf das How-To-Video eines amerikanischen Kollegen, der sein Rezept erklärt. Allerdings dauert das Trocknen der Pampe beinahe 70 Stunden. Das wird von den Preppern aber nicht groß als Problem verbucht. Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt.

Im Deutschunterricht hat man uns mit den Gedichtchen aus den Maulwürfen von Günther Eich gequält. In einem kommt die Erbswurst gleich nach der Erbsünde vor.

24.1.2019

Viel gibt es nicht aus dem Reich der Produkte, in dem ich aufgewachsen war und von denen ich dann das eine oder andere, mit ihnen stark, zumindest: älter geworden, überlebt hätte. Yps gibt‘s, glaube ich zumindest, noch immer als eine Website (bloß jetzt halt ohne sogenanntes Gimmick, dafür im Gimmick selbst begriffen.) Alles übrige war entweder nie weg oder kam irgendwann wieder. Sogar Leckmuscheln.

Und jetzt lese ich zufällig, dass die Firma Knorr die Produktion der Erbswurst zum Jahresende 2018 eingestellt hat »Mangels Nachfrage.« Klanglos. Ganz plötzlich, wie es mir scheint. Das Geschäft lief unfassbare 129 Jahre lang! Wir hatten selbst immer mal wieder eine im Küchenschrank herumliegen. Für preussische Zeiten.

Es gibt ja Leute, die sind der Ansicht, dass es sich bei Maggi und Knorr um siamesische Unternehmenszwillinge, um eine Art Etikettenschwindel handelt. Aber die Erbswurst gab es bloß bei Knorr. Ein Unternehmen, zu dem meine Familie eine emotionale Bindung unterhielt, da meine Mutter dort ihre Karriere gestartet hatte (allerdings nicht in der Erbswurstproduktion!) Diese Wurst, die keine war; noch nicht einmal so ausschaute, wie eine, hat auf mich als Kind eine gewisse Faszination ausgestrahlt—das Zubereiten von Fertiggerichten aus Pulvern und ähnlichem war damals in etwas so ungewöhnlich, wie es das heute wieder ist. Die Erbswurst hatte ja schon vom Namen her etwas zwittriges, so dass man sich halb grauste, dabei aber nicht abwenden konnte. Von ihrem Geschmack habe ich nichts im Gedächtnis behalten, außer dass der mehlig war. Mindestens einmal habe ich von einer der Portionsscheiben in deren Trockenzustand etwas abgebissen, um die Pulverbrocken im Mund zur Suppe aufschäumen zu lassen. Aber was diesen verpönten Rohgenuß anbelangte, waren mir Brühwürfel und dann natürlich Knorr-Würze, die euphemistisch als »Maggi« bezeichnet wurde, tropfenweise auf die Zunge geschüttelt, natürlich lieber.

23.1.2019

Wenn was dran hängt, erinnert das Gefühl des Erwartens einer Antwort an das bei einem Liebesbrief. Dann denke ich mich »wie auf Kohlen« – wobei ich doch bezweifeln will, dass bis vor dreihundert Jahren noch irgendjemand tatsächlich diese Erinnerung abrufen konnte aus seinem tatsächlich Erlebten, als er, damals, auf Kohlen saß.

An Zuschriften mangelt es mir ansonsten nicht. Musste immer daran denken, als im TV die Bilder aus den vom Schnee verschütteten Ortschaften gezeigt wurden (wie zur Mahnung!). Vielleicht weil Schnee weiß ist wie Papier? Hüben wie drüben muss man aber vor allem darauf achten, dass einem das Dach nicht kollabiert.

Schaute eine Dokumentation über Michelin-Aussteiger, also Köche, die ihre Nase voll hatten vom Tanz um den Stern. Da ging es unter anderem um eine Dame in Erfurt und ich dachte: Momentchen. Fragte gleich Erik an. Der aber kannte zwar besagtes Restaurant, die Bachstelze, wohl noch aus Kindstagen, betritt sie aber, seitdem sie Marias Ostzone heißt, nicht mehr aus Prinzip. Kann ich freilich verstehen. Verabredeten uns lose für den April zu einer Tour durch Erfurts schattige Seiten. Nebenbei überreichte er mir noch etwas Text. Es schneite. Die Fahnen für seinen Roman Burial of the White Man sind fertiggestellt. Im Anhang schreibt Ingo interessant über die Frage, ob man denn lebt, um davon erzählen zu können. Ob man sich womöglich Häuser kauft, Unfälle baut, Pyramiden, alles mögliche auch, weil doch sonst niemand davon zeugen können wird (darauf zeigen können wird), dass man überhaupt Punktpunktpunkt

Und alles weitere steht bei David Gahan und Martin Gore in Precious.

22.1.2019

Die Freude an meiner neuen Brille hält an, ungebrochen. Frage: Ist sie ein Spielzeug für mich, oder doch bloß Prothese—ich weiß es nicht. Wahrheitsinstrument alleinig am Morgen, wo ich sie heute, im Grunde versehentlich, aufhatte, als ich dort vor den Spiegel trat. Und so zum ersten Mal seit—wielange ging das wohl schon so von mir unbesehen, sah: wer ich dann wirklich war.

21.1.2019

Ob die unabsehbare Zeit der Liebe schadet? Wenn kein Abschied droht, bringt das Geborgenheit—oder ensteht das Gefühl eher bei den seltenen Zusammenkünften, wenn die Zeit, die man voneinander weit entfernt verbracht, sich zu einer Schleife um uns schürzt. Die löst sich wieder im Abschied und die beiden Enden des Bandes flattern auseinander, in scheinbar entgegengesetzte Richtungen.

Im Wind. Als wir am Nachmittag am Ufer des Sees standen (gestern war der beinahe gefroren, wie Gelee), scharten sich die Blässhühner im Wasser zu meinen Füßen. Was Konrad Lorenz den Graugänsen, bedeute ich den Blässhühnern. Aber da waren auch zwei Schwäne. Und die Köpfe der Stockerpel schimmerten samtig im Sonnenlicht. Es gibt keine Vogelart, die Fernbeziehungen führt. Kein Vogelweibchen bleibt in Afrika und wartet auf das Männchen bis zum nächsten Herbst. Deren Wege sind gefahrvoll, das Risiko wäre zu hoch. Zu groß auch die Distanzen, tausende Luftkilometer, die ein kleiner Schnabel nicht zu durchdringen schaffen kann mit einem Vogelgeräusch zum anderen hin.

19.1.2019

Im Soho-Haus reiten sie weiterhin die Kakteen-Welle. Mittlerweile ragt dort aus dem hauseigenen Store, in dem ich einst—zwei Jahre her, drei?—Götz Offergeld dabei begleiten durfte, wie er eine ihn selbst überragende Stachelgurke erstand—ein veritabler Altar, beladen wie zu Erntedank von mexikanischen Kaktusbauern in die samtene Lobby. So einfach in die Bar hinauffahren darf man dort bekanntlich nicht und ich vermutete, Roehler gegenüber, dass es sich beim Soho an sich um ein sadistisches Experiment der Engländer mit den deutschen Ureinwohnern handeln dürfte. Das aber, den von mir unterstellten Sadismus, bezweifelte er. Hatte trotzdem seine argen Schwierigkeiten, dem seltsamen Wesen hinter dem Empfangstresen seinen eigenen Namen auf Englisch zu buchstabieren, weil der wiederum (flamingofarbene Frisur, Knopf in der Lippe, um den Hals einen Rollkragen aus Tattoos) deutsche Buchstaben nicht verarbeiten konnte. Vielmehr sei es sogar so, erzählte Roehler, jetzt schon im Lift, dass er neulich bezeugen mußte, wie Ian Mc Ewan hier seinen Namen buchstabieren mußte, was dann aber wohl zu keinerlei Sonderreaktion auf der anderen Seite des Tresens geführt hatte.

An der Bar wiederum glaubte ich noch immer zum guten Teil an meine Theorie, denn dort hatte ich versucht einen Spätburgunder zu bestellen, der ja eigentlich in der englischsprachigen Welt als Pinot gehandelt wird (in Los Angeles, gutgeölt »Cab or Pinot?«, wenn es um die Roten geht), den der Barmann aber nicht zu bieten habend den Anschein machte »We only have Spaetburgunder.«  Wahrscheinlich ist diese babylonische Sprachverirrung die Strafe für den Einzug des Geldes in die heiligen Hallen der SED.

Ansonsten ist der Blick natürlich 1a, das Licht milde, sogar ein Kaminfeuer prasselte. Rest des Abends dementsprechend erfreulich (wir unterhielten uns auf Deutsch.) Über The Joy of Writing. Roehler baut sich Routinen. Versuchte ihn zu überreden, Tagebuch zu schreiben.

18.1.2019

Aber warum ich so bemerkenswert gut schlafe, wenn es in der Nacht geschneit hat, weiß ich immer noch nicht. Ahnte es, als ich heute früh vom sanften Klang eines Gongs aus süßem Traum geweckt wurde. Und tatsächlich: Schnee. Ein milder, röschenfarbener Himmel säumte die Bucht. Sonnenlicht und schwarze Schatten.

Die Süße der Träume, der erholsame Schlaf rührte vermutlich auch daher, dass ich gestern ein dramaturgisches Problem lösen konnte. Es ging um ein Ende. Da sagte Jan: Fragmente sind doch auch etwas schönes (wir sprachen über Julia von Arno Schmidt, der heute Geburtstag hätte.) Und zitierte Tschaikowsky »wie jedes Finale etwas Banales hat….«

Das war die Erlösung. Ich müßte nichts finden. Es ginge einfach nur immer so weiter. Refrain wiederholt sich. Fade out.

Manchmal sehe ich den Punkt nicht. Dann schaut man zu zweit hin, und an der Spitze der Pyramide erscheint ein Stern.

17.1.2019

Ludwig van Beethoven aß gerne Brotsuppe, sämig gerührt, dazu zehn Eier. Mozart: Grüne Leberknödel. Adorno: Rehbraten in Rahmsauce. Arno Schmidt: »Maccaroni mit Käse (Kann Maggi blank trinken.)« Vladimir Horowitz: Seezunge, dazu Apfelsaft. David Bowie: Teewurst aus dem KaDeWe (Berliner Zeit.) Roland Barthes: »Steak-frites, aber nicht so.«

Ich kann zur Zeit so ziemlich alles (außer Ziege und Schaf), und das andauernd. Was will man auch anderes machen, bei diesem Wetter, wenn es schon vor der Blauen Stunde finster wird? Zusätzlich fühle ich mich auch angespitzt durch die Lektüre von Vincent Klinks Tagebüchern, die uns von meinen Eltern in gebundener Form geschenkt wurden.

Also ging es nach Einbruch der Dunkelheit hinüber zum Vorplatz des Bahnhofs Nikolassee, wo ich das schöne Spezialitätengeschäft Grünspecht entdeckt habe, in dem die herrlichsten Dinge aus der dem Schwäbischen kulinarisch artverwandten Pfalz verkauft werden. Die Blut- und die Leberwurst dort sind Kracher, genialer Senf (und dazu dann noch das Quittengelée meiner Mutter!) und es gibt das delikate Stipp-Pulver Dubbes von der Wonnegauer Mühle, eine Art Granulat für ein Pesto zum Selberanrühren, sowie halt vor allem den Sonnentropfen, einen Riesling, dessen Etikett allein einen zum Nachdenken bringen kann.

Die Wirtin selbst, eine Winzerstochter, war allerdings nicht zugegen. Wie ich erfahren mußte, war ihr vor dem Wochenende ein Unglück passiert. In der benachbarten Buchhandlung, die ich auch gern besuche, hatte es eine Lesung gegeben. Weil die dort mit den gelieferten Schaumweinen nicht zurechtgekommen waren, hatte man sie um Hilfe gebeten. Und gleich die erste Flasche (aus Italien,) war ihr beim Versuch des Entkorkens in den Händen explodiert dergestalt, dass die Schrapnelle ihr das linke Handgelenk total zerfetzt haben. Arterie, Sehnen, Nerven: alles durchtrennt, mehr oder weniger. Jetzt ist sie im Krankenhaus, anschließend Reha. Und weil es ja immer noch schlimmer kommt, versagte zum Wochenanfang auch noch die Kaffeemaschine ihren Dienst. Zwar gab es Filterkaffee, aber ich selbst wurde zum Zeugen, dass die hereinschauende Laufkundschaft pikiert abwinkt und weiter zieht, wenn man den Wunsch nach einem doppelten Macchiato oder einem Flat White nicht mehr erfüllen kann. Bei diesen Margen, bei den Mieten hier in Berlin geht das zumal bei einer One-Woman-Show ganz schnell ans Eingemachte.

Gastronomie kann lebensgefährlich sein. Nicht bloß der Messer wegen. Die meisten Leute wissen das nicht. Weil sie allgegenwärtig ist wie Leitungswasser, denkt man nicht groß darüber nach.

16.1.2019

Wie Tobias Döring im Feuilleton schreibt, hat Lion Feuchtwanger zu Lebzeiten bestritten, Tagebuch zu schreiben. Angeblich hat er behauptet, »das Genre verführe zu Akten von Wunschprojektion und Selbststilisierung.« Da frage ich mich, was ein Mensch denn anderes sein könnte als ein Produkt seiner Selbststilisierung und Wunschprojektion? Stelle ich mir trist vor.

Abends bei der Liveübetragung aus dem englischen Parlament: Hatte versäumt mich vorher einzulesen (kann mich auch nicht erinnern, dass die englische Abstimmungspraxis bei uns im Gemeinschaftskundeunterricht Thema gewesen war), und dachte also, der Vorsitzende mit der irren Krawatte riefe »Eyes to the left, and nose to the right.« Auch weil dabei vor seinem Pult drei Abgeordnete standen und wie Schüler nickten. Aber dass die jetzt mit Augenrollen und Nasenspitzen ihr Votum abgeben müssten?

Machte dann ein zusätzliches Fenster auf und las auf der Website des Parlaments, dass es sich um Jargon für Jasager nach links aus dem Saal, Neinsager zum rechten Ausgang, handelte. Also vom Prinzip her ein Hammelsprung. Tja. Da kann man noch so viel Zeitung lesen. Zu lernen gibt es immer und immer wieder noch etwas.

15.1.2019

Auf die bestimmte Weise so interessant wie egal, dass es in den Formatvorlagen meines Schreibprogramms bis heute noch keine für Drehbücher gibt, obwohl speziell diese Textsorte sich durch ihren stumpfen Bedarf an Formatierungen doch einzigartig anbietet für eine Arbeitserleichterung durch ein Computerprogramm. Was es hingegen gibt, die Vorlagen für Broschüren, Rundbriefe, Flugblätter und sogar Zertifikate: Wer benutzt die? Bizarr steht da heraus eine mit dem Titel »Essay.« gerade so, als ob man das, formal daran scheiternd, schon häufiger versucht hätte und von daher dankbar zur endlich verfügbar gemachten Vorlage im gültigen Format greift. Antippenderweise. 

Eric vom kleinen Café gegenüber ludt dann traditionellerweise ein zur Verkostung seines Rumtöpfles, in dem der Früchtesegen des fernen Sommers ein halbes Jahr lang schlafen durfte. Es ist ein herrlich wärmendes Gesöff dabei herausgekommen, richtig winterlich. Brombeeren sehen auch nach der Entfärbung in der Sauce aus wie Brombeeren. Sie besitzen eine charakteristische Gestalt.

Man kann schon schöne Dinge machen mit dem vor sich hin wachsenden Naturreichtum der Pflanzen. Diskutiert wurden unter anderem deutsche Birnensorten. Ich befürwortete freilich das Geißhirtle, Eric ließ auf die Weizenbirne im Garten seiner Großmutter nichts kommen. Sein neuer Barista, ein über zwei Meter hoch gewachsener Schwede, ein ausgebildeter Minentaucher, der hier in Berlin unter anderem auch als Dog coach tätig ist und rudern kann, hatte zu diesem Thema natürlich nichts beizutragen. Zur Gestalt der Brombeere—Skandinavier sind halt Beerenfreunde—dafür umso mehr. Ein am Rande dieser Degustation herumschlürfender Mann gestand uns allerdings unter dem Einfluß des Rumtöpfles ein, dass er von der Tragelust seines beinahe hundert Jahre alten Quittenbaumes Mal ums Mal stärker überfordert ist. Der wirft angeblich an die 80 Kilogramm dieser phantastisch vielseitig verwendbaren Früchte ab, die er dann an Selbstabholer verschenkt. Ganz einfach, weil es ihm die Mühe nicht wert ist, die ihm zuwachsenden Quitten zu verarbeiten. Schon das Ernten findet er belastend. Die Quittenblüte, den Baum an sich will er freilich nicht missen. Ein sterilisierter Baum wäre nach seinem Geschmack. Ähnliches hatten wir ja im Sommer erlebt auf den heimischen Streuobstwiesen, wo es im Gras rot leuchtete, soviele Äpfel faulten dort vor sich hin, weil die Leute zu faul geworden sind, sich dort ihre Früchteschalen kostenlos voll zu füllen und lieber Äpfel aus Australien kaufen, wie ich einst mal, als ich den Retortenapfel mit dem Wollüberzug kaufte aus Neugier. Geschmacklich war der allerdings eine Niete. Mein Hinweis auf die Preisentwicklung von sowohl Rohquitten wie insbesonders auch von deren Produkten wie Saft, Gelée und Chutney oder gar Quittenbrot, machte den Baumbesitzer schuldbewußt dreinblickend. Dies aber bloß kurz. Er scheint besseres vorzuhaben mit seiner Zeit. Beispielsweise im Café herumhängen. Was dann wiederum gut ist für Eric und den an ihm hängenden Rest der Volkswirtschaft.

14.1.2019

Landschaft im Wind. Kurz nach drei Uhr war ich aufgewacht von dem Geräusch und konnte nicht mehr wieder einschlafen; lag da und lauschte dem Wind. Die App zeigte den Wind an mit einem seltenen Symbol: gewellte Linien, von denen die zuunterst dargestellte sich einrollt wie ein Bischofsstab oder der Trieb eines Farns. So tief ins uns eingeschrieben ist das Wissen um die Erscheinung des Windes, das man ein abstraktes Symbol unzweifelhaft begreift. Die App zeigte in der Vorschaufunktion der Tagstunden auch einen Slot an, in dem die Sonne durchscheinen würde, bevor es sich zuziehen würde am Himmel nach Mittag. Ein Gang in den Wald schien mir angezeigt. Lange war ich nicht mehr dort gewesen. Wußte schon nicht mehr, wie er ausschaute.

Und erkannte ihn dann auch nicht wieder. Im Eingangsbereich war ein Schild aufgestellt, auf dem mitgeteilt wurde, dass derzeit die Holzernte eingebracht wird. Vor und hinter den Geräten habe man »einen Abstand von 50 Metern« einzuhalten. Was mir aber gleich nicht möglich war, denn eins der Geräte wurde direkt hinter diesem Schild betrieben. Holzernte ist vom Prinzip her nichts anderes als Mais- oder Getreideernte, bloß sind halt die Halme vergleichsweise riesenhaft. Baumstämme werden deswegen mit riesenhaften Mähdreschern geerntet. Deren riesenhafte Profilreifen hatten den mir in seiner ursprünglichen Version vertrauten Waldweg in einen artisanal-brotkrustenhaft geprägten Hindernisparcours verwandelt. Entlang der nicht kurzen Strecke durch den deutlich gelichteten Wald meiner Erinnerung türmten sich linkerhand die Packen mit dem geernteten Holz. Es war mir in den vergangenen Zeiten nie wirklich klar gewesen, dass dieser Wald, den ich mir zur Freude aufsuchte, im Kern ein Feld war aus Bäumen, die dort zum Zwecke der Holzgewinnung wuchsen. Ganz schön naiv.

Meine Privatplantage mit dem Wellingtonienkeim hat ja leider über die Stille Zeit das Zeitliche gesegnet. Stattderen wächst nun aus dem Topf eine Eiche, die schon vier ihrer charakteristisch geformten Blätter zeigt. Da ich mit dem fünfzig-Pfennig-Stück aufgewachsen bin und von daher mit dem Bild der eine junge Eiche umsorgenden Frau, die übrigens ein Kopftuch aufhatte, etwas wie Wert verbinde, bringe ich es nicht fertig, die Eiche in spe wegzuschmeissen. Auch nicht, wo mir doch jetzt drastisch vor Augen geführt worden ist, wohin Baumwachstum im Endeffekt führen kann.

Am See schwebten die Möven kunstvoll im Wind, surften seitwärts durch die Lüfte, manche standen einfach still in der Luft bei ausgebreiteten Flügeln. Ich machte ein Foto von der Wirkung des Windes, bei dem mir der Apparat ins Flattern kam. Aber auf dem Bild war der Wind selbst natürlich nicht zu sehen.

13.1.2019

Es stimmt übrigens überhaupt gar nicht, dass es hier im deutschsprachigen Internet »überall nur so wimmelt« von Tagebüchern. Ich beschäftige mich ja jetzt schon seit ein paar Jahren mit dieser Sache und: bis dato kenne ich original* genau drei Stück, deren Fortgang ich dann auch täglich verfolge: Kemp, Klink, meines natürlich und seit neuestem: Haupt.

Warum aber ausgerechnet Klink, mag sich da jetzt der Leser fragen. Nun: Mich interessiert das Kochen. Einerseits. Zudem ist Vincent Klink nicht allein Schwabe, wie ich, sondern wahrscheinlich auch der letzte gute Koch, der sich darüberhinaus in seinem Metier auch für Literatur interessiert.

Und so kommt beides zusammen: mir ist nämlich aufgefallen, dass es unter den Menschen, die eigentlich meine Leser sein müßten, erschreckend viele gibt, die überhaupt gar nicht mehr wissen, wie das gehen soll: Kochen. Und dass es unter den vielen Köchen unter meinen potentiellen Lesern erschreckend viele geben dürfte, die überhaupt gar nicht mehr wissen, wie das gehen soll: Lesen. Daran darf ich freilich überhaupt gar nicht denken.

Vincent nun, wir kennen uns nicht persönlich, bloß durch das Tagebuch, hat eben dort (wie es in der Philologie so schön heißt) vorgestern ein Rezept veröffentlicht für eine winterliche Suppe. Und deren Verschriftlichung erschien mir als Anlaß zu folgender Erklärung für Millenials und Digital Nomads:

Anscheinend handelt sich es um ein einfaches Rezept. Auf der Zutatenliste stehen eine Stange Lauch, Wasser, sowie Salz (und Würzl, eine Art Suppengewürz ohne Hefesubstrat; man könnte auch das übliche namens Vegeta einstreuen, oder etwas in dieser Art. Aber ich empfehle das hochwertige Würzl, ein staubiges Granulat, das man in beinahe jedem Biosupermarkt tütenweise bekommt und daheim in ausgespülte Marmeladengläser umfüllen könnte zum Bleistift.)

Blogger aufgepasst: Diese Suppe sieht halt hinterher sogar richtig super aus (laut der Website vom Farbmischer Pantone: »Das menschliche Auge sieht mehr Grün als jede andere Farbe. Die Farbe von Blättern, Gras und wachsenden Pflanzen, vollen Bäumen, saftigen Rasen und kletternden Reben, die Farbe der Wälder und des Dschungels, der Elfen und Kobolde, die Farbe Irlands und des St. Patrick’s Day: Grüne Töne treten in unserer Welt in so vielen Facetten auf, dass sie ganz unterschiedliche Stimmungen wiedergeben können.«)

Gut. Also wie rührt man diese, offenbar synästhetisch krass reinsmashende Brühe an?

Vincent Klink gibt sich bedeckt. Aber er steht halt auch schon in seinen Siebzigern und kann sich von daher kaum vorstellen, dass es mittlerweile eine fette Generation von Deutschen gibt, die nicht einmal mehr wissen, wierum man ein Messer hält. Wenn er beispielsweise schreibt, dass er besagte Lauchstange »ganz klein« schneidet, fragen sich sehr viele: wie denn genau?

Demzufolge: Wie klein jetzt, in welcher Form einer angegebenen Kleinheit—würfelig, halbmondhaft, oder etwa in diese nicht mehr für das bloße Auge erkenntliche Partikelform?

Meine Antwort, aus Erfahrung gespeist: egal. Generationen von Nachkochern wurden schon in die sogenannte Irre geführt vermittels der Anweisung etwas »in Scheiben« zu schneiden. Wobei ja jedem gesunden Mensch bei seinem Denken an Scheiben blitzhaft etwas rundlich geformtes vor Augen steht. Köche aber—seit es Kochfernsehen gibt kennt man deren Lingo und weiß von daher unbewußt, dass die auch französische Fachbegriffe aufgrund ihrer déformation professionelle wie Japaner aussprechen, also Bèchamel statt Béchamel usw,—meinen, wenn sie von Scheiben reden, grundsätzlich: Stückchen.

Die vom Lauch geschnittenen, manche werden sie gehackt haben, werden in—so rät es Vincent, dabei auf seine Faulheit rekurierend—in Olivenöl angebraten. Sanft übrigens, auch wenn noch viel zu oft und überall »schwitzen« gefordert wird. Ist übrigens ein hochinteressantes Genre: Was Köche für sich selbst nach Feierabend kochen. Aus diesem Genre stammt ja diese Rezeptur von Vincent Klink. Was essen denn diese Hochleistungsarbeiter, wenn sie zehn bis zwölf Stunden lang für andere gekocht haben? Mir hat einst Siegfried Roggendorf, den ich kurz vor seinem Tod noch sprechen durfte, folgendes verraten: Marzipan, Leberwurst, dazu Bordeaux.

Dem Rat zu den angerösteten Brotstücken, den Vincent Klink freilässt in seinem Rezept, sollte man wirklich Folge leisten. Obwohl er zugibt, sich selbst diese Gnade nicht zuteil werden zu lassen aufgrund von Faulheit nach zwölf Stunden am Herd. Die Suppe wird dadurch nämlich echt genial.

Für Fritz Schmidt-Garré

* Zitat: Moritz von Uslar

12.1.2019.

Arbeite am Vorwort für die Buchausgabe von René Kemps Tagebüchern, die Marc Degens besorgt, und soll dabei wohl über dieses sogenannte Genre nachdenken, in dem ich selbst Punktpunktpunkt

Rahel Varnhagen schrieb tausende Briefe. Es war ihre Form. Geht das?

Andererseits erfahre ich aus einem derartigen Brief Friederikes an eine konzeptuell reduzierte Öffentlichkeit, dass ich selbst mich in Bälde als Olivenbauer im aramäischen Teil Israels (kann gut sein, dass ich bezüglich des exakten Wordings  dieser Gegend in den nächsten Tagen noch so einige Verbesserungen oder gar Verschlimmbesserungen werde einbringen müssen zu haben, weil ich halt vom sogenannten Konflikt in Nahost usw usf) zur Ruhe werde setzen können (gärtnenderweise.) Selbst für die dortzulande wesentliche Bewässerungsfrage wird angeblich gesorgt sein. Mir soll das alles recht sein. Meine Mutter fragte mich gestern am Telephon »Wie schaut es bei Euch aus mit den Vögeln?« Ich kenne außer Friederike niemanden, der sich dafür interessiert.

11.1.2019

Tag des Apfels. Welch‘ ein Tag—so würde ich gerne empfinden, mit diesem Gefühl ging ich gestern zu Bett, aber leider hat sich das Hochgefühl nicht in den nächsten Tag hinüberrettenlassen: Gestockt, regelrecht abgeschreckt fand ich mich heute früh im Angesicht des gestern noch angeblich Erreichten. Nichts davon gut genug, alles von vorn aber auch nicht, es steht an die quälende Arbeit am hier und am da, die doch leider, das lehrt die Erfahrung, kein Ende nimmt.

Woher überhaupt diese Lust auf ein Ende? Weil Arbeiten »grässlich ist«, wie Jan mir einst sagte? Nein, nicht für mich. Wenn es läuft, soll die Arbeit doch gerade kein Ende nehmen. So aber, in der Unsicherheit herumstochernd, besser ohne mich.

Ausflüchte: stimmt schon, ich hatte die Zeitungen vernachlässigt, und in der Zeit—übrigens eine schöne Entsprechung des Buches von Bulwer-Lytton, wenn jemand in den Zwiebelfisch kommt und dann sitzt dort jemand hinter einem monströs hohen Blätterwerk und liest nicht etwa nur über seine, »meine Zeit«, nein gleich die Zeit an sich und die Zeit aller an sich. Maxim Biller erzählte dort vom Finden eines Albumtitels für Malakoff Kowalski. Fühlte mich direkt eingeladen, die Zeit war von gestern, noch einen Vorschlag zu machen (per SMS), den Malakoff aber »Horrible« fand (mit drei Ausrufezeichen.)

Daheim dann im Wechsel das dritte Programm des Hessischen Fernsehens und das des Südwestfernsehprogramms. Wenn ich Heimweh habe, oder mich bloß wegträumen möchte aus dieser Welt, oszilliere ich zwischen den Dritten. Von der Tagesschau abgesehen (sic) wird es früher oder später sowieso dazu kommen, dass bloß noch für die Dritten bezahlt werden muß. Und das meiner Meinung nach auch zurecht, dort ist Fernsehen für mich. Im Vorabendprogramm werden Tierheimsdirektoren befragt, es werden saisonale Torten gebacken, man erfährt Weisheiten wie »alte Apfelsorten wie Berlepsch sind für Allergiker ungefährlich«, es geht also im Grunde so zu wie daheim, in der Herkunftsheimat: bißchen einschläfernd, auch langweilig, bißchen anstrengend manchmal, aber mir bereitet es an unfreundlichen Tagen das heimelige Gefühl. Für Gottfried Benn waren es Kriminalromane, mir sind die Dritten »Radiergummi fürs Gehirn.«

Auf ihrem Blog der Sezession schreibt Ellen Kositza, dass in Schnellroda seit kurzem die Tagesschau verfolgt wird. Sie nennt das »den Tiger reiten« und erwähnt natürlich auch das Unverständnis von Götz Kubitschek, der im Vorbeigehen auf dem Bildschirm die notorische Werbung für das Reizdarm-Mittel mitbekommt und daraufhin eine neuartige Kulturdeformation feststellen muß. Na ja. Wahrscheinlich schauen die sich dann heimlich die »beißende Mediensatire« über die Verlegerfamilie Labaule an, die »nach einer Idee von Harald Schmidt« in sechs Folgen produziert wurde. Und finden die gar net übel.

Ich ja leider schon. Um 20 Uhr 15 kommt eine neue Folge der Inselärztin im Ersten. Also nur verschwindend viel besser als die. Und in Württemberg breitet sich die Blauzungen-Krankheit aus.

10.1.2019

Freunde erkennt man jetzt daran, dass sie einem nicht »Frohes Neues Jahr« wünschen. Oder in der Grauzone halt so, wie Marcel gestern im Souterrain, der dann auf die ihm eigene und mir liebgewordene Art den Sermon sotto voce und im Grunde vor allem pantomimisch, gestisch eher, aber dies im Gesicht, zitierte, als Zitat eines den anderen, uns nicht näher bekannten, abgeschaut.

Der Fotograph, den ich dort zum ersten Mal seit der von ihm so genannten Silly season wiedersah, fühlte sich vom Wetter niedergeschlagen: »Tief Benjamin.« Under the weather ist ja wohl nautischer Begrifflichkeit entwachsen; man trug die der Krankheit verdächtigen Matrosen in das Logbuch ein, und weil es bei den Ansteckungsmöglichkeiten rasend schnell viele wurden, brauchte es den Übertrag der Namen in eine Spalte des Buches, die dort eigentlich für die Notizen zum Wetter vorgesehen war. Seiner erschien also under the weather.

Trotzdem blieb es dabei, dies wurde bekräftigt: Es wird ein Jahr der Kunst. Und wir halten es mit John Baldessari.

Friedrich Merz rief ja erst kürzlich in den Saal als Aussprecher eines von ihm so vernommenen Volkswillens »Lasst uns doch einfach in Ruhe arbeiten!« Wobei er vermutlich »Geld verdienen« meinte. Ich aber bleibe bis auf weiteres bei seinem Wort, wie ursprünglich gegeben.

9.1.2019

Restauration »Wendel« am Richard-Wagner-Platz: Hier kommt man normalerweise nie hin, hier will man—normalerweise—sofort um die Ecke wohnen; leben. Hier will man: sein. Der Koch, August-Sander-Gesicht, steht in seiner Uniform untätig vor einer silbrigen Wand. Über ihm die Esse aus punziertem Blech. Das Zeitmagazin kommt nächste Woche vorbei für ein Shooting.

Das ganze geht zurück auf eine Raststätte für Kutscher namens »Dellner’s Am Knie.« Der Turm des Rathauses, aus den allergröbsten, den ansonsten weggeworfenen oder einfach gleich dort, wo sie gewachsen waren, im Erdreich, gelassenen Gesteinsbrocken gefügt, er steht noch immer (so wie die Poster, sie hängen auch lange nach Cindys Auszug in ihrem Zimmer.) Er wird sogar angestrahlt, gelblich, im EG leuchten die Reklamen für »Augenoptik«, für »Tchibo« und für »Fascinating Family.« Und es glänzt die Otto-Suhr-Allee. Die Butzenfenster haben Männer mit Lutherkappen in Rot, die anscheinend von frühen Tablets ablesen.

Im Schaufenster stehen Flaschen im Vogelsand, die, noch aus Mauerzeiten stammend, beschriftet sind mit dem Slogan »Trinkt Berliner Bier.«
Kennt ja heute kaum jemand mehr, diese Zeiten, als die Eier hier im Westteil noch vorwiegend aus dem Ostteil der Stadt her geliefert worden waren.

Ein bunter Drachen hängt im Baume fest. Seine Fransen wirbeln müd herum. Ich staune. Unter anderem darüber, dass, wie ich dem Bildschirm entnehme, nur wenige Kilometer von diesem beinahe versunkenen Ort entlegen, an der neuesten Küchenphilosophie der low intervention gearbeitet wird. »Für Boris Lauser, Raw-Food-Chef, Culinary Artist und Buchautor war Leitungswasser schon immer ein wichtiges Thema.« Und im Wendel gibt‘s, allerdings braucht es der Nachfrage, Stampf mit Sauce und Kloß.

8.1.2019

Schreien im Nieselregen: wohl das unerträglichste in dieser Stadt, Berlin, dass keiner schreit, obwohl die meisten in der Ringbahn danach aussehen; als ob einer gleich schreit. An nächster Stelle: das Wetter selbst. Seidig grau, wie aufgebläht dieser Himmel weit oberhalb der Sonnenburg. Die Leute stehen für Kettwürste an.

Hier, wo man den Kiez noch mit tz zu schreiben pflegt, irrt eine Frau am Steuer ihres Porsches, malvenfarbend, durch die nieseltrübe Welt. Hier also befindet sich ihr Frauenarzt, eine Notapotheke, ein Fachgeschäft für exotische Lebensmittel? Im Feuilleton schreibt Jürgen Kaube furios, kühl über den Religionsunterricht. Und inmitten des Ganzen, auf meinem Tisch ein schmales Paket. Darin der Stempel eines goldenen Hasen. Vor Jahren für mich gekauft in London. Irgendwie in Vergessenheit geraten. Nun aus nicht näher beschriebenen Gründen wiedergefunden und in lilafarbenes Seidenpapier gewickelt an mich verschickt.

Dieses Irgendwie interessiert mich natürlich. Doch auch der Stempel ist schön.

7.1.2019

Am frühen Himmel kreuzen sich zwei Kondensstreifen, bezeichnet wird die Stelle über einer großen Stadt im Nordosten des Landes. Wo ich hin soll.

Will ich? Temperaturen wie im Frühling, auch von der Trockenheit her. Für mich nicht zusammenzubringen mit den Bildern aus Bayern, wenige hundert Kilometer weiter südlich, wo der Schnee zu hohen Haufen aufgeschichtet liegt. Miesbach schlägt Katastrophenalarm.

Vor Abfahrt noch in einem Zug, auf ex den kleinen Aufsatz fertiggemacht, der hier wegen Krankheit, Festlichkeit, Raketen und so weiter liegengeblieben war. Und aber es fehlte irgendwas. Oder war darin erwas überzählig? Kam selbst nicht darauf, blieb einfach unbefriedigt. Ein verlässliches Signl, das mir aber leider nie anzeigt, was genau nicht stimmt im Detail (bloß, dass.) Wobei mir Friederike dann den entscheidenden Hinweis gab, gleich nach ihrer ersten Lektüre; es gibt also noch immer keine Rivalität, die zwischen uns steht. Und wenn bis jetzt noch nicht, dann wird das wohl bleiben.

5.1.2019

So langsam sitzt die neue Jahreszahl, eine 19, die mir noch nie sympathisch war (die 17 hingegen!) Wolfgang Ullrich schreibt »2019 wird für uns ein erfolgreiches Jahr.« Das wirkt, zumindest milde. Noch in meinem 48. Lebensjahr bin ich empfänglich, wie es scheint, für die Autosuggestion. Habe noch immer nicht aufgegeben. Kein Zyniker geworden. Wunder geschehen.

Wie schnell das geht, dass ein Gesamtpaket der Festlichkeit mit Bäumen, Liedern und speziellen Speisen, Kleidern auch, Dekoration allgemein bishin zu den Stimmungen und Gefühlsvorgaben und einer, gleich wie persönlich gestalteten, universalen Dramaturgie wie in einen dieses Paket umfassenden Karton geladen und weggeräumt ward. Ich denke an unseren Weihnachtsbaumverkäufer von der Firma Super Weihnachtsbäume, die im schon bayerischen Schöllkrippen ansässig ist und was er mir erzählt hatte, hinsichtlich der groben Absatzzahlen: 2000 Bäume mehr oder weniger allein im Stadtgebiet von Frankfurt—hochgerechnet auf das Bundesgebiet komme ich auf schwindelerregende Zahlen; was er jetzt gerade macht? Neue Bäume hochziehen für die kommende Saison, säät er die von Hand? Pikiert er bloß koreanische Setzlinge? Wie wehrt er die der Rehe, wie düngt er den Boden? Und: Ob man davon leben kann?

Im ersten Eintrag seines Tagebuchs 2019 schreibt Vincent Klink: »Oft ertappe ich mich beim Schimpfen auf unser Land […]«

Von Deutschland aus, über Europa hinweg sich ausbreitend gedacht wie ein vom Wassertropfen verdünnter Tintenfleck: so viele Tannenspitzen. Und eine noch immer irgendwie weihnachtliche Milde ergreift mich für Menschen, das ist wohl die Rührung, in Anbetracht dieser festlichen Tradition des Kalenderglaubens, allüberall.

4.1.2019

»Das war die von Sprißler so sehr verachtete Dummheit von Thewe, dass er sein Verhalten nicht als das nahm, wie es wirkte, sondern, wie er es meinte.« – ein ewiger Satz. Traditionell lese ich, wie es heißt: zwischen den Jahren, das Werk von Rainald Goetz. Die sogenannte eigne Sprache muss geübt werden. Das geht allein bloß mit dem Lesen von anderen. Und deshalb ist mir der mündliche Austausch mit Friederike auch wichtig, weil sie die meiner ähnliche Lust hat, die Sprache anderer zu lesen und sich das Gelesene anzuverwandeln. Wie es für leidenschaftliche Gärtner wichtig sein wird, von Grünendem umgeben zu schaffen. Kluge im Gespräch mit Michaelsen, neulich: »Ohne Sonne leuchten meine Sterne nicht.« (Ohne das sie umgebende Vantablack aber halt auch nicht, generell betrachtet, doch was wäre das für ein Standpunkt Punktpunktpunkt.)

Eine ganz kurze Zeit lang sollte ich jungen Schreibern beibringen, oder vermitteln als Dozent, wie man schreiben könnte (2008.) Da musste ich aber bald schon aufgeben, weil die partout nicht lesen wollten, auch nie richtig gelesen hatten, aber gleich schreiben wollten. Ließ ich sie machen, kamen dabei für mich unlesbare, wie auf Stelzen daherkommende Sätze heraus. Die waren, so dachten es meine Schüler auf Nachfragen hin, in der von ihnen phantasierten »Drucksprache« gemacht. Da sie so gut wie nie Zeitungen lasen oder ähnliches, hatten sie natürlich kaum Gespür für die deutsche Sprache, die derzeit geschrieben und gelesen ward. Berufswünsche hingegen wurden dieser Ausstattung zum Trotz und klar formuliert vorgebracht: Kolumnistin / Kolumnist (damals war Sex And The City noch populär.) Der einzige aus einer Klasse von zwanzig, der es wider meiner Erwartung zu etwas gebracht hat, war David Kurt Karl Roth, der zwar nicht berühmt schreiben konnte, aber mir damals, und da hatte ich keinen Schimmer, was für die Branche kommen würde, schon erklären konnte, dass er bald schon als ein Kolumnist der ganz anderen, einer neuartigen Art in Erscheinung treten wollte. Das iPhone war damals gerade in Verbreitung gekommen. Kurz darauf gründete David Roth auf extrem erfolgreiche Weise mit Carl-Jakob Haupt den Visual-Blog Dandy Diary.

Der eingangs zitierte Satz entstammt Johann Holtrop und beileibe nicht allein seinetwegen frage ich mich – irrerweise –, warum dieser Text derart ungelesen geblieben ist. Die Selbstfrage freilich ist eine Schutzfunktion, die mich bewahren soll vor der Fürchterlichkeit jener Antworten, die den mir entgegenplärrenden Brünnlein entspringen: zusammengefasst, dass »man« »das« besser, anders, im Zweifel aber doch pointierter, warum nicht gleich knackiger hätte abfassen müssen. Da frage ich mich doch: wer?

Im Text schreibend, werden einem Verhältnismäßigkeiten klar zwischen Menschen, denen man im alltäglichen Miteinander, auch unter Freunden, ansonsten nicht derart invasiv nahe kommen kann. Die Niederschrift, das Aufschreiben, Figuren zu machen aus dem, was man mitbekommen hat im Erleben – bis sie dann wie aus Glas geblasen sind, sich aus dem Text erheben können und über das Blatt hinweg: anfangen zu gehen.

Im Birkenbaum, der momentan als knochenfarbiges Gerippe steht mit braun gefrorenem Laub, landete eine Blaumeise und schaute sich um, wie immer. Nichtwissend, wie sie jetzt auf mich wirkt.

3.1.2019

Halb Charlie Brown, zur anderen Hälfte Linus van Pelt geworden, frage ich mich, ob die bloggerischen Aktivitäten (die würde ich ausgesprochen ungern von einer Sprecherin des Kölner Dialektes so bezeichnet ausgesprochen hören) Friederikes zu einem zunehmenden Zurückhalten des von ihr Erlebten im mir mündlich Erzählten münden könnten; zumindest wähne ich uns in der Gefahr, weil sie sich jetzt zu allen möglichen Gelegenheiten mit ihrer ominösen Formel beschäftigen will. Komme mir beinahe vor wie diese Männer, deren Frauen an einem todsicheren Roulettesystem feilen.

Zudem noch negativer Bescheid am Tintentresen bei Fleischhauer, dem Schreibwarengeschäft auf der Münchner Straße: Die von mir verlangten Patronen im Farbton Midnight Blue sind noch immer nicht eingetroffen. »Die sind im Rückstand« – gut, das hieß es dort genau so schon vor den Festtagen, aber mir bleibt in dieser Sache nichts, als mich weiterhin zu gedulden.

Vor dem Plank hatte sich da schon ein Ring aus Schaulustigen um die Hunde des bemützten Mannes gebildet; man fotografierte sie auch, handelte es sich doch um den Designer der regionalen Sportswear-Kollektion Hauptwache 2.0, der an genau diesem Platz in den warmen Monaten zu sitzen pflegt, momentan stand er, und irritierenderweise war ihm über die Winterzeit zusätzlich ein Bart am Kinn gewachsen. Dazu hatte er folgende Zusatzinformation (zu seinen Hunden als Instagram-Motiv): »Ja, die sind krass. Sind halt Brüder, gell.« Wobei ja der eine Hund zweifelsfrei einen getigerten Mops mit Fledermausohren darstellen soll, der andere etwas latent Wuscheliges mit zwei schlappen Lätzchen (eventuell einen Terrier?). Doch lauschte ich beinahe ehrfürchtig, denn mir war dieser Mann, dessen Namen ich bislang noch nicht in Erfahrung habe bringen können, schon einige Male als ein Quell von mir geradezu stoisch anmutenden Wahrheitsverkündungen aufgefallen. So sagte er beispielsweise einmal, es war ein heißer Samstagmittag, zu zwei ihm wohl bekannten Frauen, die laut und lange überlegten, ob sie sich denn noch zwei von den im Plank extrem sorgfältig und von daher gut zubereiteten griechischen Eiskaffees gönnen sollen dürften: »Tja, chillen ist teuer.«

Am Nebentisch gestern unterhielt man sich derweil über Katerrezepte: Er habe »da auf einer griechischen Insel« etwas neuartiges von schlagender Wirksamkeit gereicht bekommen: »Man trinkt zuerst einen Shot guten Whiskey, danach von dem Gurkenwasser. Der Mund wird durch den Whisky irgendwie vorbereitet. Man nimmt das Gurkenwasser dann ganz anders wahr.«

Wobei ja, wie ich klandestin (innerlich) notierte, der Frankfurter Dialekt selbst bei der Wiedergabe von Exotika noch dem Kölschen als überlegen sich erweist, weil ja der Kölner speziell beim Aussprechen von »griechischen Inseln« arge Unschönheit produziert dergestalt, dass dann »griechiche«, im Stadtteil Köln-Sülz gar »grieschiche Inseln« heraufbeschworen werden; teilweise wird das auch von Dialektsprechern aus Köln-Porz und Köln-Bilderstöckchen so zu hören sein (wobei die letztgenannten einen selbst dort in der Region raren Spezialfall bilden, da die in Bilderstöckchen beheimateten Sprecher aufgrund des Dialekts noch nicht einmal ihren eigenen Stadtteilnamen korrekt aussprechen können. (Korrekt im Sinne der deutschen Schreibung.)) Der Frankfurter hingegen hat es lässig: »grieschisch« waren die Inseln halt.

2.12.2019

Auf dem Neujahrsspaziergang zum Café Laumer eröffnete mir Friederike, vermutlich dabei allein mich überraschend, ihren Entschluss, ab sofort selbst ein Tagebuch im Internet veröffentlichen zu wollen. Nadelfein, geradezu zeichenhaft umwehte uns beide dabei ein von den Wettergourmets sogenannter Sprühregen von Myriaden Tränchen, die, derart fein und leicht wie die Luft selbst, in der sie umherwirbelten, bloß mir durch die, wie gesagt: in Japan geschliffenen Gläser meiner neuen Brille, sichtbar gemacht wurden.

Im Café selbst dann versuchte ich mich abzulenken durch erneutes Umherblicken, doch ward dort, wie leider halt immer, eine Reihe von abscheulichen Gemälden an die dafür frei geglaubten Stellen der ansonsten ja zweifelsfrei sehr schönen Inneneinrichtung des Traditionscafés gehängt; es handelte sich um die kleinformatigen Leinwände einer Malerin namens Laura Arc, die dazu etliche Bilder von einer Pusteblume beigesteuert hatte, aber auch ein durch Bewegungsunschärfen eher unnötig dramatisiertes Porträt des »Disko Derwisch« ward angeboten (jeweils 80 Euro.)

Am Nebentisch des Belauschhimmels saß eine Frau, die halt so ausschaute, wie Frauen ihrer Ära auszuschauen haben, und hörte einem Mann zu, dessen Stimme ihr wie ein gemütlich knarrender Schaukelstuhl geworden war, den man geerbt hat, und von dem man bis dato nicht weiß, wohin damit. Er sagte: »Was hältst Du von Miller – als Vornamen?«

Da meine Gefährtin die ganze Zeit über schrieb dergestalt, dass sie vor allem mit einem magischen Papiere hantierte, auf dem, wie sie mir knapp beschieden hatte, sich »Die Formel« für ihr Online-Tagebuch in aufgeschriebener Form fände, versuchte ich mich von den mich vage bedrängenden Rivalitätsimpulsen abzulenken durch eine konzentrierte Lektüre der NZZ, wo im abseitig gehandhabten Buche Kunst und Literatur ein extrem langer Aufsatz von Peter Sloterdijk abgedruckt ward, den die Derwische aus Zürich mit Bildern gähnender Katzen illustriert hatten. Seiner Themenstellung »Zur Aktualität des Zynismus im 21. Jahrhundert« war der Karlsruher allerdings nur auf eine mich wenig befriedigende Weise, eine den Illustrationen hingegen perfide entsprechenden gefolgt: erst nach in etwa achthundert Zeilen verfing bei mir ein erster Satz: »Der Expansionismus der Kommunikationen bewirkt die Konvergenz von Medienpräsenz und Sein.«

Wie albern, sich abwenden zu wollen, bloß weil neben mir jemand schreibt! Zumal ich dann gleich wieder mit liebendem Auge registrieren konnte, dass sich meine alte Theorie, nämlich, dass Schreiben, bei minimal externer Aktivität, demnach maximal interner, extrem hungrig macht, im Augenblicke bewiesen sah, weil meine Gefährtin sich nach einer Platte mit Lachsbrötchen, mehreren Eierspeisen und immer wieder tassenweise Kaffee, gerade ein breites Stück der dort sogenannten Glückstorte hatte bringen lassen, aufs Kräftigste bestätigt sehen konnte. Auf ihrem Stücke war ein aus grün gefärbtem Marzipan gestanztes Kleeblatt aufgesetzt. Das meine hatte ein zwinkerndes Schwein.

In New York kommt, kaum hat man seine Tasse geleert schon die Kaffeehauskellnerin und fragt, ob sie die Rechnung bringen soll. Im bis auf weiteres konservativ Frankfurterischen Laumer kann der Schreibende vor seiner leeren Tasse schreibend (Roman!) noch so lange sitzen, wie es ihm beliebt. Ein Super-Size-My-Verweildauer, wie es sich in Berlin bereits durch die beständig größer werdenden Gefäße (Marrokkanischer Minztee, Ingwersud, Latte Macchiato) schon konstantieren lässt, findet hier bis dato nicht statt.

1.1.2019

Im Fenster des Antiquariats Tresor am Römer wird ein rotes Buch ausgestellt. Auf dem Rücken steht »Unsere Ganze Geschichte«. Das Buch ist großformatig, dabei vergleichsweise dünn. Ich will es unbedingt in meinen Besitz bringen, aber das Antiquariat hat seit Tagen geschlossen.

Arno Schmidt war beinahe neidisch auf Edward Bulwer-Lytton. Dessen Romantitel My Novel hielt er für den besten überhaupt. Er stellte sich vor, jemand sitzt beispielsweise im Café und liest dieses Buch, und jeder andere im Raum denkt, der liest seinen eigenen Roman, während er, ganz woanders natürlich, fortgeschrieben wird.

In diesem Sinne: Du kommst auch drin vor.