2020

24.12.2020

Die Nacht «ein Meer von Dunkelheit» mit zahllos vielen Lichtern auf ihren Wellen. Mit all seinen Tagen blickt das Jahr zurück: Wie war ich? Es ging, erstaunlich, gut. Und schief geht nur, was auch schiefgehen kann. Vielleicht war ja die Konstellation aus Hegel-, Hölderlin- und Beethoven-Jahr zu ambitioniert. Aber mit dem Ablauf des kalendarischen Jahres treten wir nach Ansicht des astronomisch-astrologischen Komplex‘ in die Ära des Wassermannes ein. Zudem beginnt das Proust-Jahr. Sogar ein Flaubert-Jahr wäre denkbar. Auf jeden Fall wird es epic. Zudem der Frühling wie eh und je im Zeichen der Amsel steht.

Das Tagebuch des Jahres 2021 hat den Titel Schäumende Tage. Es wird ab dem 1.1. auf einer eigens dafür geschaffenen Seite erscheinen, deren Adresse so lautet wie ich heiße (joachimbessing.com).

23.12.2020

Bei geöffneten Fenstern zum Klang des warmen Regens eingeschlafen. Wenig später, vermutlich nach dem üblichen Intervall von anderthalb Stunden, erwacht vom inzwischen stark angeschwollenen Geschehen; in der Dunkelheit: dort fiel Tropfen neben Tropfen, a wall of sound. Und wieder einen Intervall später, vielleicht auch zwei, wachte ich auf, weil es jetzt still geworden war. So still, wie es nur nach dem Regen still wird. Ich konnte mich, hörend, in die Stille hineinbegeben wie in die unendlich verzweigten Gänge eines komplexen Muschelgehäuses. Ich lauschte der Stille der Stadt, die vollkommen war. Dann ein Geräusch, wie ich es noch nie zuvor vernommen. Lange, sehr lange brauchte ich für die Rekonstruktion, was sein Verursacher — da schon längst: gewesen war. Ein Fahrzeug mit elektrischem Antrieb glitt durch die wechselseitig entstandenen Pfützen. Allein sie, das Herausplatschen ihres Wassers war laut geworden. Entfernte sich zügig, dabei gemächlich. Behaglich blaues Glosen der Instrumentenbeleuchtung. Heads-Up-Display. Sänfte durch die Nacht.

Ob es im nächsten Jahr noch einmal so viel neuartige und dabei schöne Musik zu entdecken geben wird, wie im Jahrzehnt zuvor, 2011, als Ingo mir an einigem einzigen Sommertag Washed Out und Nicolas Jaar nahebringen konnte und Com Truise und Dj Screw und Picture Plane und Balam Acab. The world that summer…

22.12.2020

Der Film von Thomas Vinterberg ist ein Meisterwerk. Fürchterlich, wie ähnlich sie sich sehen: Oliver Masucci und Mads Mikkelsen. Ich kann mich an einen Abend erinnern, in Stuttgart—West, nehme ich an—und im Hintergrund lief «Fast Car». Und ich fragte Tim

Und er sagte «Vernon Reid», Du musst Dir Vernon Reid anhören… Jim’o Rourke kannten wir damals beide noch nicht. Und ich sagte: Tim.

I’ve got a feeling that I’ll be someone—

Aber, nein. Ich fragte ihn nicht.

21.12.2020

Am Nachmittag, heimgekehrt von einem weniger kalten, dafür feuchten Spaziergang im Stadtwald und nachher noch Toddies unter freiem Himmel in der Grossarthschen Permakultur, die natürlich nur einen reichlich abgewirtschafteten Eindruck noch machen konnte: A Live lived (über Philip Guston). Ein wunderbarer Film, man sieht ihn auch malen; gezeigt wird sein Haus, ein Traumhaus für mich, und darin seine Gemälde und Zeichnungen aufgeschlagener Bücher… Obwohl Malerei und Schreiben sich so nahe sind wie sonst keine zwei, bleiben Filme über Schriftsteller echt unbefriedigend. Die Anekdoten dürften indes identisch sein. PG erzählt, wie er nach einem Tag im Atelier, als sich ihm endlich das Gemälde offenbarte, dessen Bett er seit Stunden und Tagen bearbeitet hatte, selig und erfüllt von seinem Durchbruch noch in die Bar ging, wo ihn ein Malerfreund ansprach: «Great Strokes?» Es war ihm wohl anzusehen. An der Nasenspitze, am Glanz, dem christlichen Funkeln. New York City in den neunzehnhundertsechziger Jahren a.D.

20.12.2020

Arroganz hat die Eigenschaft, sich selbst in verschriftlichter Form noch am Leben zu halten. Mit Arthur Jaffa habe ich nur zweimal am Telefon gesprochen, aber als ich gestern einen langen Text las, den der New Yorker hat, war meine Erinnerung an seine schroffe, zugleich maulfaule Art (interessanter Gegensatz zum foul mouthed im Englischen btw) beinahe körperlich da; mehrfach musste ich das Heft sinken lassen, um Stärke zu fassen, damit ich mein Rad weiterrollen konnte durch seinen Text.

Damals, es war in den letzten Tagen von Interview, die Schweizer schon längst von Bord, hatte der Doge von Moabit sich zur Idee einer «Black Issue» inspirieren lassen. Rassismus war da gerade groß in Mode gekommen, aber anders als früher, natürlich, und im Schwarzen Heft sollten sämtliche Leute, über die geschrieben würde, mit dunkler Hautfarbe ausgestattet sein. Die Zusammenstellung dieser Töne von der dunklen Palette war vom Dogen an eine junge Kunstsammlerin übertragen worden (das war der zweite Megatrend neben Blackness: Curated by). Ungewöhnlich war hingegen die Idee des Dogen, dass diese Frau, eine Weiße übrigens, auch die Gespräche mit den von ihr ausgewählten Schwarzen selbst führen sollte. Allein das Abtippen der Bänder, so der Plan des Dogen, obläge dann mir. Gerne übernahm ich im Zuge dessen auch die Anbahnung des Gespräches selbst und auf diese Weise kam ich zu meinen Telefongesprächen mit Arthur Jaffa, während derer ich anfänglich irritiert war ob seiner Lustlosigkeit, bald selbst abgeturnt von seiner Arroganz. Beim Abtippen der Bänder kam ich aber dann auch dort an eine Stelle, wo er zur jungen Sammlerin jenen Satz sagte, den er auch mir gegenüber zweimal vorgebracht hatte: «I’m not talking to you. I talk to black people.»
In dem Gespräch für den New Yorker jetzt, das Calvin Tomkins geführt hat, sagt Jaffa zum Abschluss noch einmal seinen Satz, aber dieses Mal führt er ihn aus: «I’m super-pleased when white people like my work, or are interested in it, or provoked by it. But I’m talking to Black people, not to everybody. I’m certainly not trying to talk to white people, and I don’t think it serves white people to be spoken to. It makes them feel like they’re the center of the universe, in a way that is profoundly problematic. In Eric Clapton’s ‘Layla,’ which I think is the greatest hard-rock love song ever, he’s not singing to everybody. He’s singing to Pattie Boyd. He fell in love with his best friend’s wife, and he’s singing to her. And everybody else is listening in.»
Die Message ist Love.

19.12.2020

In meiner Ausgabe des Charlie Brown Dictionary aus dem Jahr 1974 fällt der Eintrag «Christmas» relativ enttäuschend aus. Der Fernsehfilm A Charlie Brown Christmas wurde schon 1965 zum ersten Mal gezeigt aber besagter Eintrag wurde eben nicht mit einem Bild des schütteren Weihnachtsbaumes aus dem Film illustriert, sondern — schnöderweise: gar nicht; es ist sogar einer der ganz wenigen Einträge in diesem an Einträgen nun wirklich nicht armen Wörterbuch, der ohne eine Zeichnung bestehen muss. Das Filmbäumle von Charlie Brown ist mein Ideal eines Weihnachtsbaumes seit vielen Jahren. Heute haben wir sein Pendant in der Wirklichkeit (bei Rewe) gefunden, gekauft und mit nach Hause getragen.

18.12.2020

Am dritten Tag in Folge zeigt das Telefon eine Nebelwarnung. Das Symbol dafür besteht aus vier parallel übereinander angeordneten Linien, die in sich leicht gewellt erscheinen (Unknown Pleasures). Ich mag den Anblick des Symbols auf meinem Bildschirmchen lieber als den tatsächlichen Nebel draußen vor der Tür. Obwohl, gestern waren dort die oberen Stockwerke der höchsten Häuser vom Nebel verborgen, sie ragten bis in die undurchsichtige Schicht. Der Übergang dorthinein, das lässt sich an den Fassaden studieren, währt nur wenige Meter. Die Fenster darunter zeigen noch alles, die darübergelegenen nichts mehr.
Ich frage mich, ob man noch alles so machen würde, wie man es macht, wenn man andauernd dabei gefilmt würde. Beziehungsweise frage ich mich, ob es jetzt vielleicht einige gibt, die es stört, dass sie nicht mehr gesehen werden, beobachtet — auch nicht im Vorübergehen — von anderen, während sie genau das selbe tun, das sie schon immer getan haben; ob die Arbeit von ihnen jetzt als belastend empfunden wird, weil sie, die Arbeit selbst jetzt in den Mittelpunkt gerückt wurde und nicht mehr die Darstellung des Arbeitens, weil dabei niemand mehr zuschauen kann.
Gestern war ich Reis kaufen. Ich kaufe Reis nicht im Supermarkt, weil ich davon überzeugt bin, dass ich das exotische Getreide bei einem Fachhändler kaufen sollte, der sich damit auskennt. Obwohl ich schon sehr lange Reis zubereite, esse und auch serviere, bin ich mit dieser Strategie für Reisbeschaffung stets gut gefahren. In Frankfurt kaufe ich Reis bei einem Inder. In Indien wird viel Reis gegessen, auf die Auswahl eines Inders ist meiner Ansicht nach Verlass. Nicht unbedingt im Gegenteil, aber schon anders als bei Asiaten aus Korea oder China, in deren Küche der Reis eine nachgeordnete Rolle spielt. Reis wird hier häufig als Sättigungsbeilage aufgetragen, ja es gilt geradezu als unfein, sich zuviel vom Reis aufzuhäufen (vergleichbar hier bei uns Adorno mit seinem Fimmel, auf jedem Teller ein Restle liegenzulassen «die Neige nicht zu trinken, um sich nicht der Armut verdächtig zu machen»). Unter Indern hingegen, gleichwie gestellt, wird Reis an sich als Delikatesse gerühmt. Da zeigt sich der persische Einfluss. Auf dem Weg zu dem indischen Supermarkt komme ich auch an einem persischen vorbei, der sicherlich auch eine vertrauenswürdige Reis-Range zu bieten hat, aber vor seiner Eingangstür lungern die dubiosesten Gestalten aus Afrika herum, lauter Männer, alles Dealmaker, die auf ein Geschäftle hoffen. Von daher bleibt es leider bei meiner trockenen Sympathie. Drogensüchtige und -dealer kennen übrigens, das fiel mir gestern ein, keinerlei Weihnachten. Selbst die Getauften unter ihnen nicht. Und gerade in Afrika wird ja auch heute noch viel und breit getauft. Aber für sie bleibt jeder Tag gleich. Er wird bestimmt vom Kreislauf des Drogenhandels, der wiederum von der Droge selbst angetrieben wird: wie rasch sie sich abbauen lässt in den Systemen. Wie häufig einer nachlegen muss, um nicht durchzudrehen.

Der Reis, den ich neulich für uns endeckt habe, hat extra lange Körner. Das wurde zwar auf der Packung schon so angekündigt, aber sie war halt auch undurchsichtig, aus einem metallisch grünen Material. Daheim aber: Tatsächlich. Beinahe so lang wie die Hälfte meines kleinen Fingers. Duftend und weiß.

15.12.2020

Aus Interesse, aber auch um den Übergang in mein städtisches Ich vor mir selbst zu akzentuieren, begab ich mich am Abend in ein Webinar mit einem Kunsthändler von Sotheby`s. Sein Thema war die Krise des Kunstmarktes, beziehungsweise «Warum es dieses Mal anders ist». Er hat ein Buch dazu veröffentlicht und im Vorraum des Gespräches selbst zeigte sich seine aus Berlin zugeschaltete Verlegerin mit diesem Buch in der Hand vor einem Bücherregal. Der Kunsthändler selbst hatte wiederum eine Allegorie seines Feldes als Szenenbild einrichten lassen. Dort saß man auf einem hochglänzend gefliesten Boden, in dem sich die Stuhlbeine spiegelten. Im Hintergrund war ein massiver Strauß aus roten Rittersternen und Ilex aufgebaut. Daneben hingen zwei alte Gemälde, das eine zeigte eine Infantin im bodenlangen Kleid. Und die Krise des Kunstmarktes ist dieses Mal wohl anders als 1990 (als in Japan der Aktienmarkt kollabierte), 2000 (Dotcom-Blase) und 2008 (Hypothekenblase), weil die finanziellen Mittel der vermögenden Schicht, die für den Kunstkauf in Frage kommen, dadurch nicht angefasst wurden. Die Krise bestünde momentan vor allem darin, die Kunstwerke an diese Leute bringen zu können. Der Kunsthändler bezeichnete die Kunstwerke als mobile Wertspeicher. Und das Zeigen und Verkaufen dieser mobilen Wertspeicher würde durch die Beschränkungen der Corona-Krise erschwert. Krankenhäuser, das ominöse Gesundheitssystem erscheint in diesem Zusammenhang als gemeinsame Sphäre aber deswegen halt auch als Membran zwischen den Vermögenden und den anderen Schichten. Der Ausblick sieht umfassende Umbauarbeiten am System des Kunstmarktes vor, um solche Kontamination künftig ausschließen zu können. Man hat vor, vom Marketing der Luxusgüter zu lernen, so wie auch die Marketingleute der Luxusgüter vom Kunstmarkt gelernt haben «Denken Sie an die künstliche Verknappung, an das Blacklisting».
Für den Kunsthändler bedeutet die Erfahrung der Corona-Krise den von ihm längst ersehnten Schub seines Gewerbes in die Welt des digitalen Handels. Schon heute gibt es für junge Sammler Auktionen online, die 24/7 laufen. Das soll sich nun auch in die älteren Schichten seiner Kundschaft durchsetzen. Die Kataloge werden weniger werden. Dadurch entstehen zunächst Mehrkosten — «Wo wir im Katalog eine Abbildung benötigen, brauchen wir online drei; für Skulpturen einen kleinen Film» — auf lange Sicht entstehen aber Spareffekte: Die ganzen Leute, die ein Kunstwerk in den Saal tragen und wieder heraustragen, die es reinigen und so weiter, braucht es dann nicht mehr.
Ich schaute fasziniert auf dieses sprechende Bild in meinem Rahmen mit der Infantin und den Vasen im Hintergrund (wie in der Schlussszene bei Kubrick und by the way). Webinare sind noch viel besser als Fernsehen. Radikaler irgendwie, weniger choreografiert: Man schaut einfach irgendwelchen Leuten beim Denken zu.
Trotzdem leider leichtes Halskratzen, obwohl ich nicht einmal mein virtuelles Händle gehoben hatte, um mitzuchatten. Vermutlich vom Singen. Ihr Name sei Slippery Elm, die glitschige Ulme.

14.12.2020

Zurück von ein paar Tagen in der Heimat. An manchen Bäumen auf den Wiesen hängen noch immer rote Äpfel an den nackten Ästen. In anderen Jahren waren wir um diese Zeit über die Weihnachtsmärkte gezogen, heute blieben wir unter uns On Christmas Island, waren einander zu Gast. Trüb hingegen blieb der Himmel, wie immer um diese Zeit; das Laub auf dem Waldboden, vom Regen hochglänzend, mit Glanz überzogen. Heute früh dann erst winterliche Sonne, blitzend im Blau. Am Zugfenster las ich über den hinterhältigen Humor von Nabokovs Lolita (hinterhältig, wenn man selbst Amerikaner ist oder war). Auf dem Küchentisch: die Zeitungen von heute, von gestern und vorgestern. Seltsam, schon das Papier wirkt dunkler als sonst, grauer, die darin eingeschlossene Schrift. Einer hat die ganze Bibel auf 86 Hör-CDs eingelesen (er lebt noch): «Die größte Produktion aller Zeiten!»

Echter Buchweizen, übrigens, zählt zum Pseudogetreide. «Der gottverlass’ne Kascha» von Roz Chast.

10.12.2020

Dass es anderswo irgendjemand immer noch schlechter gehen darf, finde ich untröstlich. Einer Meldung aus dem Vermischten zufolge erfüllt das Beschießen einer Katze mit der Luftpistole nicht den Tatbestand der Tierquälerei, lediglich den einer Sachbeschädigung. Urteilt Judge «Euer» Ehren, Richter am Frankfurter Landgericht. Zur Begründung: Das auf der Röntgenaufnahme sichtbar gemachte Projektil eines Steckschusses in der Lunge des Tieres hat nicht die erforderlichen Schmerzen hervorgerufen, die charakteristisch wären für eine Tierquälerei. Von daher bloß Sachbeschädigung. Leuchtet das ein? Und um mich abzulenken, schaute ich, nachdem einige Monate ins Land gegangen, mal wieder im Tagebuch des Alban Nikolai Herbst vorbei. Auch hier hatte sich ohne mein Zutun das Leben ereignet. Dem Schriftsteller war inzwischen eine Krebserkrankung diagnostiziert worden, im Sommer dann Operation (auch den Tumor selbst hat er veröffentlicht im Bilde), jetzt lebt er ohne Magen, nimmt die gleichen Enzyme zur Fettverdauung ein wie mein Vater, ist aber noch keine 60 Jahre alt. So kann es gehen, so geht es halt vor alledem auch ohne kann.

ANH, wie ihn seine Verehrerinnen nennen, pflegt nicht bloß in seinem Tagebuch ein malerisches Schriftstellerleben, wahrscheinlich ist es sogar das malerischste von allen: mit langen Italienaufenthalten, mit Gedichten und Pasta, im Hintergrund raucht der Ätna, es ist alles wie immer und da. Selbst für den Fall seines Todes während der Krebs-OP hatte er wohl vorgesorgt, um aus dem Jenseits noch einen Gruß an seine Leserinnen freischalten zu können — oder können zu lassen? Bei ihm war der Tumor natürlich auch weiblich, und er hatte sie, die Krebsin sogar mit einem Namen bedacht.

Wir sind uns nur einmal leibhaftig begegnet, beinahe 20 Jahre ist das her, in Tutzing am See. Er war im Kreise einiger Verehrerinnen erschienen. Mit Gehstock und Opal im Auge. Sommeranzug mit Erdbeerflecken. Die Temperatur meiner Erinnerung: milchhautflau.

Nick Cave hat seine Europatournee im kommenden Jahr abgesagt «Time to make a record».

9.12.2020

Der Lehrsatz gilt nicht allein für Melodien. Als die CD das Vinyl als Musikspeicher ersetzen sollte, hieß es, bis heute heißt es das: die CD klingt kalt; kälter als Vinyl zumindest — aber woran wird das gemessen, subjektiv? Am Melodiengedächtnis aus einer Ära des vom Vinyl abgespielten eventuell? Klingt das digital-gedächtnisneutral abgespeicherte deshalb vergleichsweise kälter, kühl?
Wenn ich jetzt das Lied «Snow» abspiele, von Tracey Thorn, behauptet mein Telefon mit seiner voreingestellten Software zur Melodienerkennung, es liefe gerade «A Song for Mama» von Boys II Men.
Ich wiederum muß freilich an Schnee denken, von Blumfeld. Auf eine gewisse Weise haben wir aber beide nicht Recht.

8.12.2020

Das Werdende wahrnehmen, sich dabei des Gewesenen erinnern: So, wurde gestern in der Zeitung ein antiker Denker zitiert, entsteht im Geist die Melodie. Den Namen des Denkers hatte ich übrigens noch nie gelesen, er klang, beziehungsweise wirkte sein Schriftbild auf mein Aug‘ deshalb wie ausgedacht, wie — anders als andere Namen — erfunden. Der Name des Autoren ebenso. Das fällt mir seit geraumer Zeit schon auf, dass die Namen von freien Mitarbeitern im Feuilleton der F.A.Z. ungewöhnlich auf mich wirken. Gerade so, als ob ein Kind mit einer schrägen Mischung aus Vorname und Nachname bestempelt werden muss von seinen Eltern, damit es unter diesem Einfluss sich entschließen kann, später einmal Autor zu werden. Vorausgesetzt natürlich, dass die Eltern das wollen, auch so planen wollten. Recht unwahrscheinlich also… mittlerweile. Aber die Theorie der Melodie gefällt mir (sie erscheint mir selbst so wie eine). Als ich mich neulich mit der Zusammenstellung einer weihnachtlichen Playlist beschäftigte, lud ich dort auch ein Stück von Ariana Grande ein — oder hinein? Hinauf? Oder herunter? Es war mir jedenfalls empfohlen worden, ich fand den Namen schön und kannte ihn zuvor allein vom Lesen, gehört hatte ich noch keines ihrer Lieder. Allerdings konnte sie sich mit ihrem Lied dann nicht lange in meiner Playlist halten, auch weil ich die Melodie nicht als weihnachtlich empfand; sie, um der Theorie des alten Denkers zu folgen, erinnerte mich an nichts. Und aus meinem Nirgends kommend ging es mit Ariana Grandes Christmas & Chill freilich auch nirgendwo hin. Keinerlei Gestöber. Weder Nacht noch Weiß.

7.12.2020

Gestern ein Paar zum Spazierengehen abgeholt, wir wurden hereingebeten. Wie es sich angesichts der überall im Vorraum verteilten Päckchen und Tüten aus knisternder Folie herausstellte, hatten auch sie den Christstollenvergleich in der Sonntagszeitung gelesen und — erstaunlicherweise anders als ich — die Testergebnisse einer persönlichen Nachprüfung unterziehen wollen. Es waren dort also die Spitzenstollen aus deutschen Konditoreien auf dem runden Tisch im Vorraum ausgelegt, wo im Sommer noch ein Trog gefüllt mit Blumen seinen Platz gefunden haben sollte. Immerhin kamen wir so um ein Tütchen mit Versucherle aus dem Café Schafheutle, von dessen Existenz in der Welt außerhalb von Literatur ich auch bei der Lektüre dieses Stollenvergleichs erfahren hatte. Sie mundeten so lala. Was nichts gegen den Stollentest beweisen kann, denn dort waren ja nur Stollen zum Zuge gekommen, aber halt auch nichts gegen die Qualität im Café Schafheutle, denn Weihnachtskekse sind wie Weihnachtslieder: Am besten sind sie selbstgemacht.
Anschließend der Spaziergang, der uns unter fremder Leitung auf eine vage vertraute Route führte. Die Paarungen wurden nach Geschlechtern aufgeteilt, mein Begleiter hatte sich vorgenommen, mir die unbekannte Welt des ukrainischen Autorenfilms näherzubringen. Zum Glück bloß durch seine Erzählungen; für das Zeigen von Filmausschnitten auf seinem Telefon gingen wir in seinem Tempo auch einfach zu geschwind. Im Augenwinkel bestaunte ich die erhabene Schönheit des Bundesbankgebäudes. Daraufhin ging es kurz um Mies van der Rohe oder Le Corbusier. Auch wie man am besten einen Hahn grillt, wurde zum Thema. Kaum daheim, klingelte auch noch das Telefon.
Beim Nachtessen konnte ich kaum noch die Augen offen halten. Bin es anscheinend nicht mehr gewöhnt, in Anspruch genommen zu werden. Früh zu Bett.

5.12.2020

Vinyl (von Alan Zweig) ist ein erstaunlicher Dokumentarfilm. Erstaunlich zumindest, wenn man selbst Plattensammler war. Oder ist. Es kommen zwar ausschließlich amerikanische Sammler zur Sprache aber ich hatte das Gefühl, gemeinsam dringt man zu einer Universalgeschichte des Plattenkaufens, und nach dem Platten suchen vor allem, durch. Gezeigt wird auch einer, der seine Platten wegwirft. Das tat mir noch immer beinahe weh, obwohl es bei mir jetzt schon acht Jahre her ist, seitdem ich mich von meiner Sammlung verabschiedet habe. Im Juli 2012. Es war natürlich heiß. Und der Händler hatte einen Meniskusschaden, sein Bruder war wider deren Verabredung nicht mitgekommen, also habe ich ihm auch noch geholfen, die Kisten hinunter auf die Straße zu tragen und dort in seinen Kleinbus hinein auf Nimmerwiedersehen.
Den Hinweis auf den Film habe ich von Sasha Frere Jones erhalten (in seinem Newsletter), er schreibt, in Vinyl ginge es natürlich gar nicht um’s Plattensammeln. Was ich vermisse ist das Gefühl, eine Platte unbedingt haben zu müssen. Das irre Geld, das ich oft ausgegeben habe, der Aufwand insgesamt, um eine langersehnte Platte endlich in meinen Besitz bringen zu können (und wenn ich sie erst hatte, war sie nicht mehr so wichtig; aber die Geschichte, wie ich an sie gekommen war, umso wichtiger.)
Fraglich, ob ich denselben Musikgeschmack entwickelt hätte, wenn mir damals schon alles zur Verfügung gestanden hätte wie heute. Mein Bedürfnis heute, noch Platten zu kaufen, ist jedenfalls null.

3.12.2020

Einst, einmal vor langer, langer Zeit, damals, in den Wochen des weltweiten Lockdown… Ich kann es mir gar nicht oft genug erzählen, jeden Tag noch einmal, immer wieder — derart frissoniert mich die epische Dimension. Der schöne Raum des historisch einmaligen Weltereignisses. Was sich darin alles erzählen ließe…
Damals, ich glaube, es war im April, zogen in dem gegenüber gelegenen Haus, vis-á-vis unseres Fensters zur Straße, zwei ein, eine Frau und ein Mann. Aber somit ein Paar? Das ließ sich von uns aus betrachtet nicht eindeutig sagen, da sich das eventuelle Paar in dem von unserem Fenster einsehbaren Raum einen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Dort saßen sie, wenn sie saßen, einander gegenüber an einem Tisch — ich nehme mal an, dass es sich dabei um eine Tischplatte handelte, die auf einem Gestell von Egon Eiermann auflag oder ruhte — und sie sitzen dort, wenn sie sich in dem von unserer Seite aus einsehbaren Teil ihrer Wohnung zeigen, noch immer. Aber heute früh — so fangen die besten Geschichten an — saßen sie dort einander an dem Tisch gegenüber und etwas war anders: Sie trugen jetzt beide Masken. Einwegmasken aus türkisfarbenem Material. Und hieraus resultierten freilich einige Fragen, bald wurden es so viele (Fragen), dass beinahe schon nichts mehr von der Gewissheit der vergangenen Monate seit dem weltweiten Lockdown und damit auch dem Einzug des vermeintlichen Paares Bestand haben kann. Eventuell habe ich sämtlich auf falschen Annahmen errichtet. Und nun wankt zwar nicht alles, aber es steht zumindest einiges davon zur Disposition (freilich nicht weltweit, sondern lediglich in meiner Welt).
Zudem fehlte diesem vom Fenster gerahmten Bild noch der Schriftzug des New Yorker. 

1.12.2020

Der erste Schnee. Sagt heimlich voilà! Nur eine dünne Schicht auf Dächern und dem Rasen: leuchtend in der Dunkelheit. Heute früh, als ich in die Küche kam. Aus dem Fenster schauend sah ich den Schnee, seine Kristalle, auf den Blüten der Geranien liegend. Was wäre aus dem Hochzeitskleid, was aus dem Papier geworden, wenn Schnee eine ganz andere Farbe hätte? Die Sonne geht auf, heute bleibt sie unsichtbar, es wird einfach gleichmäßig heller; eintönig auch. Der Schnee fängt an zu tropfen.
Wenn ich damit aufhöre, von mir selbst auszugehen, fällt mir zu anderen gar nichts mehr ein.

29.11.2020

Heute also endlich wieder Vince Guaraldi. Ohne A Charlie Brown Christmas könnte bei mir keine Adventsstimmung aufkommen. Verwehte Kinderstimmen, perlendes Klavier: auch der Erneuerer von Guaraldi, Chilly Gonzales hat dem nichts hinzuzufügen. Ich hätte übrigens nichts dagegen gehabt, unserem Repertoire mit A very chilly christmas noch etwas hinzuzufügen, aber an die Klasse von Vince Guaraldi kommt er mit seiner Weihnachtsplatte halt nicht heran. Möglicherweise ist Weihnachtsmusik nicht bloß die einträglichste, sondern halt auch die problematischste, weil wahrhaftige Form in der Popmusik. Selbst All I Want for Christmas Is You war ja ernst gemeint. Schön auf dem Album von Gonzales ist einzig das Stück mit Leslie Feist und Jarvis Cocker, das wiederum hat aber mit Weihnachten nichts zu tun. Perfekte Weihnachtsmusik, klassische muss halt beides in sich vereinen: Empfundenheit und Weihnachtlichkeit. Und im Rest des Jahres bleibt die Scheibe tabu.

28.11.2020

Auf Nachtigallenfüßchen nähert sich die alte Originalitätsmüdigkeit. Vom Jahresende her kommt sie auf mich zu. Wir kennen uns: die Gute! Lass‘ die Zeitung jetzt öfter mal liegen. Die neuesten Takes, mich geh’n sie nichts an. Wie es scheint. Ich will etwas anderes. Was, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich weil ich es schon hab‘.

Aber wer ist Patricia Lockwood? Sie schreibt ganz herrlich, wunderbar: A twenty‐three‐year‐old influencer sat next to her on the couch and spoke of the feeling of being a public body; his skin seemed to have no pores whatsoever. “Did you read . . . ?” they said to each other again and again. “Did you read?” They kept raising their hands excitedly to high‐five, for they had discovered something even better than being soul mates: that they were exactly, and happily, and hopelessly, the same amount of online.

Dienstags soll es hier regnen und schneien (gleichzeitig). Nicht einmal mein Barometer spricht mich noch an. Auf dem Weg heim zischte mir heute ein schwarzer Mann zu, ob ich Kokain brauchen könnte. Er hatte wohl welches zu verkaufen, aber ich fragte mich, wer wohl jetzt, in dieser Situation, ausgerechnet Kokain nehmen will? Gestern hat Friederike mir eine Seife mit Zirbenduft geschenkt und seitdem will ich mich andauernd damit einschäumen. Gerade nachts. Kaum aufgewacht, geht das von vorne los.

26.11.2020

Die Tannenschäume sind zurück. Natürlich «nur für kurze Zeit». Und wie Pilze hatte ich sie im Supermarkt entdeckt, indem ich dort absichtlich unabsichtlich nach ihnen Ausschau gehalten hatte: so waren sie aufgetaucht, in meinem Augenwinkel. Ein niedriger Stapel bloß, bescheiden. Vermutlich sogar ein Überbleibsel aus dem vergangenen Jahr. Sogenannte Ladenhüter (das haben sie mit den Pilzen gemein: das Behütete oder Hütende?)
Es sind die kleinen Dinge, angeblich, um die es in des Lebens Seele geht. Gestern zum Beispiel, wir waren gerade für zwei Stunden obdachlos geworden, hatten wir uns auf die Suche gemacht nach diesem sagenhaften Lieferanten, der uns neulich die frittierten Pizzen gebracht hatte. Von einer veritablen Pizzeria konnte nicht die Rede sein, allenfalls von einer Geisterküche. Aber unter der angegebenen Hausnummer war selbst davon nichts zu finden. Im Hinterhof dagegen fiel uns ein Wohnwagen auf, der mit der Nationalflagge Jamaikas geschmückt war. Und tatsächlich hatte dort eine jamaikanisch wirkende Frau Jerk Chicken mit Reis zubereitet. Das Geflügelgericht dort auch in ihrer Anwesenheit zu verzehren war freilich nicht gestattet, also nahmen wir ein paar Meter weiter auf einer Streusalzkiste Platz. Es war etwas kühl. Acht Grad fehlten ungefähr, aber dann kam die Sonne heraus. Und mit einem Mal war es hell.

24.11.2020

Beinahe fünf Stunden lang waren die Kunden von Vodafone gestern von der Außenwelt abgeschnitten. Auch ich gehörte zum Kreis der Betroffenen, allerdings bemerkte ich den Ausfall des Mobilfunknetzes erst spät, kurz vor dem Abendbrot. Niemand wollte  mich erreichen. Und mein Telefon benutze ich selbst überwiegend zum fotografieren und zahlen — Das fiel mir am Abend noch ein, als ich vor dem Einschlafen noch in einem Buch las und beim Umblättern auf der übernächsten Seite gelandet war. So energisch ich hin und her blätterte, die Seite mit der folgenden Zahl ließ sich nicht auffalten. Ich war an einer Stelle angelangt, wo ich unbedingt erfahren wollte, wie der Gedanke nun weitergehen würde; ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass ich es wissen müsste. Dass, wenn diese Seite — aus welchem Versehen des Buchbinders auch immer — nun fehlte, es mir ähnlich schlimm ergehen könnte, als wenn mir ein Wort auf der Zunge liegt (und dort kleben bleibt). Aber so war es nicht, endlich löste sich die verborgene Seite und mit ihr auch der gedankenauflösende Satz.

Die Zeit vergeht halb so langsam derzeit. Es ist aber nicht so, dass ich deswegen doppelt soviel davon hätte. Die paradoxe Zeit vergeht in mir. Ich merke es daran, dass ich jedes Mal erstaunt bin, dass ich etwas essen will — «schon wieder».

22.11.2020

Im großen Christstollentest der Sonntagszeitung gewinnt der aus dem Café Schafheutle in Heidelberg. Ein Café also, das ich bis heute bloß aus Büchern kannte. Hermann Lenz schreibt, dass er dort als Student der Kunstgeschichte Zeit verbracht hat. Im Buch selbst allerdings erfährt das sein Leser nicht direkt, sondern über den Umweg einer Schwester, die davon wiederum in einem unveröffentlichten Manuskript liest. Eventuell gab es dieses Manuskript sogar, dann war es wahrscheinlich das Manuskript zu jenem Buch, Andere Tage, in dem die Schwester Margret als in einem unveröffentlichten Manuskript ihres Bruders Eugen Rapp lesend beschrieben wird. Auch nicht unwahrscheinlich, dass die Figur der Schwester nicht vollständig fiktiv ist, der Blick in ihr lesendes Bewußtsein ist es allerdings. Das Café Schafheutle hingegen, das ich bis heute für einen Einfall des Autoren gehalten hatte — zumindest den Namen dieses Cafés —, gibt es also wirklich. Noch immer. Das Café hat eine Website, auf der auch besagter Christstollen abgebildet ist, der übrigens vom Patissieur des Hotel Adlon mit einer glatten Eins ausgezeichnet wurde. Ein Käpsele von einem Stollen. Davon steht auf im Webshop des Café Schafheutle natürlich nichts. Hinfahren lohnt sich für mich auch nicht, obwohl Heidelberg nah wäre. Eine Scheibe vom Stollen bestellen, im Café Schafheutle den Sonntag verträumen, das wäre jetzt ganz nach meinem Geschmack.

20.11.2020

Gestern die Rückkehr, die eine wirkliche Heimkehr war. Große, beinahe totale Erschöpfung, die sich mir lastend auf die Lider legte in dem Moment, da ich daheim durch die Türe trat. Hier wurde ich müd‘, hier darf ich’s sein. Friederike überrascht mich mit einem Kopfkissenbezug, der mit altertümlichen Käferdarstellungen bestickt ist. Sie hat ihn ersteigert; gut möglich, dass er einst Ernst Jünger gehört hatte. Jedenfalls schlief ich darauf sehr gut.
Heute mal frei. Im Bett liegen mit meinem Kissenbezug und erfreulich sandigen Fenchelkeksen. Im Stream läuft die Bundesdeligiertenkonferenz: my kind of fun.

18.11.2020

Zurück in Weilmünster. Genau ein Jahr ist seitdem vergangen. Aber wie, ist die Frage. Das iPad findet von allein ins WLAN (schreibt man jetzt so; immerhin hat sich der Code nicht geändert).
Café Möller, auf dessen Wiedersehen ich mich damals schon gefreut hatte, ist natürlich längst keine Option mehr. Immerhin anständige Sonnenuntergänge haben sie hier. Und Quitten auf den Fensterbrettern. Der Laden, in dem ich im vergangenen Jahr noch meine Postkarten gekauft habe — der mit dem Baum gegenüber — hat dichtgemacht. Bleibt das «Pizzahaus» namens Munzur. Und güldene Kondensstreifen, in Kurven und Schwüngen.
Ich bin nicht von hier.

16.11.2020

Nach drei turbulenten Tagen war heute erstmals wieder die Gelegenheit, mich in meinen Gedanken zurecht zu finden. «Man kennt sich nicht aus», heißt es im Österreichischen, wenn man etwas nicht versteht. Im eigenen Kartenmaterial von der Welt sich zuhause zu fühlen.
Später, draußen bei den Bäumen und dem Wind. Etwas ihm anheim zu flüstern «Nur Du und ich heute Nacht». Dramatisch schreien die Krähen. Darob und vergebens. Wie aufgerissen ein Nachthimmel, jetzt schon, zu dieser Tageszeit.

15.11.2020

Im Oppenheimer Park, hinter dem Denkmal des Dr. Bockenheimer jagt ein kastanienfarben dunkles Eichhörnchen hinter einem eichhörnchenfarbenen her. Beinahe kitschig, wie die beiden, über ihre unterschiedlichen Fellfarben hinweg, zusammenzuarbeiten schienen. Wobei der Kitsch hier freilich allein im Auge des Betrachters entstanden war. Im Mastjahr 2020 gibt es für Eichhörnchen außergewöhnlich viel beiseitezuschaffen und einzulagern. Ich fragte mich, ob ihnen das bewusst wird; ob ihnen diese Fülle im Vergleich mit der Menge im Vorjahr angezeigt wird.
Es war noch früh, die Sonne erst dem Main entstiegen. Die Luft war hell und still. Rotkehlchen in den arg zerfledderten Baumkronen. Zart, gläsern, unsichtbar.

12.11.2020

Der Reiseteil der F.A.Z., den ich sonst nur allzu selten mit Genugtuung lesen kann, hat einen großen Text von Bernd Eilert, der zum Besten gehört, was ich in dem Genre gelesen habe. Es geht um eine kleine Landschaft rings um einen See in Niedersachsen, an dessen Ufern links und rechts die beiden Lager protestantischem beziehungsweise katholischem Glaubens sich angesiedelt haben. Dazu kommt, dass Arno Schmidt hier einen seiner seltenen Aufenthalte zwecks Recherche (für seine Frau Alice war es ein Urlaub) verbracht hat. Die Tage in einer Pension am Ufer des Dümmer sind verwandelt in die Seelandschaft mit Pocahontas. Aber es geht auch um Brinkmann und um norddeutsche Clanstrukturen (bei Eilert).
Wohingegen sich auf einer Brache unweit vom Tel-Aviv-Platz nach nächtlichen Regenfällen eine kleinere Seenplatte ergeben hat, in deren flachem Wasser (der Dümmer ist an seiner tiefsten Stelle einen Meter tief) zwei Nilgänse standen, deren erdbraunes Gefieder die umstehenden Hügel wiederzugeben schienen und außerdem der Szenerie einen exotischen Hauch verliehen. Ringsum grasten Krähen im Schlamm, im Wasser spiegelte sich die weiße Stadt.
Und im Supermarkt waren Pois chiche im Sonderangebot. Wie sie in der Petit Bar zum Apéritiv angeboten werden. Das letzte Mal war ich mit Friederike dort. In der alten Zeit. Im Angesicht der Dose verspürte ich wehmütig die Lust, sofort nach Cagnes sur Mèr aufzubrechen. In mediterrane Gefilde. Aber abgesehen davon, dass es das Heim dort nicht mehr gibt, waren es in der vergangenen Zeit stets andere Gründe, äußere, die mich an einer Reise dorthin gehindert haben. Jetzt ist alles anders geworden. Und der Hinderungsgrund für das Reisen verläuft als Mauer durch mich.

11.11. 2020

Jetzt ist es immer schon dunkel, wenn ich mich aufmache zum Platz. Heute ist Martinstag und gestern dachte ich noch an meine Laternen, die ich im Lauf meines Lebens getragen. Am Tel-Aviv-Platz gab es ein gelbliches Licht. Das fiel sanft, wie auf der Bühne eines leergespielten Theaters, aus den elegenaten Stäben, die ich den Sommer über für Fahnenmasten gehalten hatte. Dass dort einmal die Fahnen europäischer Länder gehisst würden, hatte ich gedacht — dies aber nur nebenbei und diffus, denn im Sommer hatte ich, gedanklich, noch anderes zu tun als die Möblierung des öffentlichen Raums zu ergründen.

Weil ich ein sehr kleines Paket in die Schweiz verschicken wollte, war ich am Morgen auf der Post gewesen, in einer Filiale, die ich im Frühjahr für mich entdeckt hatte, sie befand sich in der menschenleeren Halle des Hauptbahnhofs und auch in dieser Postfiliale begegnete man damals nie einem anderen Mensch. Gestern, am Stehtisch, der dafür eigentlich zu niedrig ist und vielleicht als Knietich angeschafft wurde, kauerte ein dicker Sikh mit grauem Rauschebart, der sich von einem Kontaktmann über das Telefon eine indische Adresse diktieren ließ, die er mit anmutigen Zeichen einer Blockschrift in die Kästchen des Paketaufklebers für internationale Post einfüllte, fiel mir auf, dass auf den über dem Tresen hängenden Bildschirmen das gelbe Logo für Postbank und DHL anscheionend aus dem Internet heruntergeladen worden war. Es waren ganz deutlich die Wasserzeichen von Alamy Stockphoto zu erkennen, die in diagonal gesetzten Streifen über den postgelbgrundigen Schirm verliefen. Am unteren Rand der Bilddatei war zudem ein schwarzes Feld zu erkennen, auf dem ebenfalls der Firmenname dieser Bilddatenbank zu lesen stand. In China sollte es ja gefälschte Filialen von allen möglichen Markenherstellern geben. Warum also nicht hier, warum nie die Post?

Dabei dachte ich freilich an W.A.S.T.E. und an Jan Marsaleks Bankfiliale. Für das Porto verlangte der freundliche Darsteller 29 Euro von mir. Genau so viel wie für eine Versendung nach Indien. Ich zahlte kontaktlos, es funktionierte angeblich tadellos.

8.11.2020

Ein unerwartet wundervoller Ausflug hat uns gestern weit weg in die Weinberge geführt, wo die belaubte Natur in ihren letzten Zügen lag. Farbenprächtig wie in jedem Jahr, und wie ich es trotzdem immer wieder vergesse. Auf einer schattigen Wiese, die steil bergan führte, war das Ebenbild eines Römerpokals aufgestellt — stark vergrößert allerdings, so hoch wie ich —, um auf die Weinspezialitäten der Gegend hinzuweisen. Im Grunde befanden wir uns da schon auf Baden-Württemberger Terrain. Schon schade, dass kein Besen offen war, man nirgends den neuen Wein verkosten durfte, kein Zwiebelkuchen. Der Winzerort selbst war menschenleer, bis auf eine Katze, die himmelblaue Augen hatte und ein seidig flauschiges Fell, das warm wirkte und duftig, wie frisch geföhnt. Die bot sich unserem Streicheln dar und wälzte sich bald auf dem Trottoir herum, aber da waren wir längst aus einer Dreiergruppe von Einwohnern heraus angesprochen worden; vielsagend mit der Feststellung, dass solche Katzen leicht geraubt werden können, weil sie zu sehr zutraulich sind. Aber auch die wenigen Menschen, denen wir auf unserem Weg durch die Rebreihen begegnet waren, zeigten sich blickscheu und wichen wie ängstlich aus. Das gehört jetzt zu unserer Zeit wie in dem Buch aus dem Jahr 1947, dem Tagebuch vom Leben und Überleben, das ich heute noch einmal wieder gelesen habe, dieses Misstrauen vor den Nachbarn und vor allem vor Fremden, weil man von jedem befürchtete, dass der einem die Lebensmittel klaut, zur Nachkriegszeit gehört hat. Ich kann mir mittlerweile schon nicht mehr vorstellen, dass ich jemals wieder die Gesellschaft von anderen unserer Zweiseligkeit vorziehen werde.

Als ich heute morgen von Weihnachten gelesen habe, dachte ich an die Schatten auf der Straße, unter denen Eis gedeiht, während auf den sonnenwarmen Stellen schon alles verdunstet ist, und wie es riecht, wenn man bei solchen Temperaturen an seinem Fäustling aus Wolle riecht.

Seltsam, dass es dich zu etwas drängt, was keiner braucht, schreibt Lenz.

5.11.2020

Der New Yorker hat eine Geschichte mit Portraits hoch verschuldeter Amerikaner. Einer trägt meinen Nachnamen. Sprang mich an. Auch aufgrund seiner Hautfarbe. Brecht hat immer recht: Es ist ein Verfremdungseffekt. Bislang hielt ich meine Familie für sehr überschaubar. Wie ich daraufhin feststellte, ist mein amerikanischer Verwandter im Internet sehr aktiv. Wird mir bis heute nicht aufgefallen sein, weil ich dort noch nie nach Verwandtschaft gesucht habe.

Desweiteren: Die Kollektion, die Jil Sander für Uniqlo entworfen hat, ist leider enttäuschend.

Aber zum Abendbrot gibt es frittierte Pizza, da kann nichts schiefgehen (der Flyer war im Briefkasten, Contrabande vom Rogue Postboten. Trotz Verbot! Überlege sowieso schon seit längerem, den spießigen Werbeverbotsaufkleber abzulösen — mir entgeht sonst noch viel mehr ‹interessantes› Material).

4.11.2020

Anscheinend während einer Radiosendung eingeschlafen. Fühlte mich heute früh jedenfalls herrlich, selten gut ausgeruht. In der Sendung hatte Mac Demarco seine persönlichen Hits aus japanischen Telespielen aufgelegt. Ich war überrascht, wie gut diese Musik mittlerweile geworden ist! War nie ein Telespieler. Meine einzigen Erinnerungen an dergleichen reichen weit zurück an den Commodore, auf dem ich ein Spiel mit winterolympischem Thema spielen sollte. Der Joystick knarrte wie ein Paar alte Stiefel, wenn man ihn, wie verlangt, hypnotisch hin und herbewegte und -riss, um den virtuellen Biathleten anzutreiben. An einen anderen Soundtrack kann ich mich nicht entsinnen.

Gestern nun also die Greatest Hits aus Final Fantasy (unter anderem). Ich schaute nach und es gibt sogar Soundtrack-Alben für die Spiele. Gut, da ist mir also etwas entgangen. Heitere Arpeggien hüpften mir voran und hinüber, mich hinter den Bildschirm zu leiten.

2.11.2020

Seidiger Tag, den ich beinahe verpasst hätte. Als ich um kurz nach 16 Uhr vom Schirm aufschaute, flitterte von fern ein Baum mit gelbem Laub. Und ich ließ mich ermutigen von Friederikes Appell. Draußen gab es 20 Grad und glockenklare Luft. Drüben hatte sich eine Taube abgelöst vom Fensterbrett: klang wie zerbrechend Styropor. Ich hatte mir alles viel leerer vorgestellt. Die Leute standen jetzt halt einfach so auf dem Platz herum mit ihren vielen Kindern. Und Brezeln to go. Das Repertoire scheint begrenzt, nicht jeder will sich gleich einen vierbeinigen Lockdown-Kumpel kaufen, aber was anscheinend auch immer geht ist Kicken, Bolzen, Fußballspiel. Und Saufen (in eigens mitgebrachten Liegstühlen, dem Wasserhäuschen gegenüber in der Sonn‘). Menschen ohne Bälle, ohne Kinder, ohne Flaschen oder Hunde sah ich keine. Ich kam mir beinahe selbst schon vor wie ein Polizist.

Der Abglanz der untergehenden Sonne zauberte Umbra-Töne an Fassaden, wo ansonsten keine sind.

1.11.2020

Am Vormittag die letzten Korrekturen am Satz von Hamburg. Sex City — womit jetzt alles daraufhin deutet — oder darauf hindeutet? dass nun gedruckt wird (nicht heute natürlich, never on sunday, aber morgen? Blue Monday übrigens ein Relikt aus den Zeiten bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, als noch mit Waid, später auch mit Indigo blau gefärbt wurde. War die Brühe erst angesetzt, die Stoffe darin eingelegt, dauerte es einen Tag lang, bis durch chemische Reaktion mit dem Sauerstoff aus der Luft die Blaufärbung einsetzte. Angesetzt wurde meist am Sonntag, am Montag hatten die Färber frei und machten blau — freilich nur diejenigen, die blau gefärbt hatten).

Ist das jetzt eine unverhältnismäßig lange Dauer gewesen? Womit sind wohl all diese Monate verstrichen bis zum Druck? Zwar steckt man drin, wie es heißt, aber verstehen wird man es trotzdem nicht; nie vermutlich. Da ähnelt das Mysterium der Buchherstellung doch sehr den Gesetzen zum Gelingen von Hefeteig. Eine dichte, beinahe undurchsichtige Masse von Zeit wird auf dem gläsernen Objektträger hauchfein ausgestrichen zu einem zart getönten Film. Das dauert halt. Und dann ist es soweit.

Woraufhin ich heute ziemlich Heimweh nach Jamaika bekommen hatte von der Lektüre. Wird zudem auch am Wetter liegen. Zumindest nach Schottland würde ich doch wollen, nach Anstruther und dort die Fish & Chips.

Stattdessen Flachswickel — auch nicht verkehrt. Vor dem Sonnenuntergang erste Probe der Weihnachtsmusik, The Twelve Days of Christmas. Damals wurde die Amsel noch mit dem Recorder programmiert. Herrliche Melodie!

31.10.2020

Was alles ließe sich mit einem Aquarium anstellen? Auf diese Frage kam ich gestern, beim Blick aus dem Fenster (es waren mehrere hintereinander, sie ergaben mein Blicken). Mit den Augen hatte ich mich festgesaugt an einem Balkon gegenüber; an einem ganz bestimmten von vielen. Ich beobachte das Treiben auf diesem Balkon schon seit einiger Zeit. Gestern hatte ich sogar das Gefühl: seit ewiger.

In der Wohnung, die sich zu diesem Balkon hin öffnet, zogen kurz vor dem ersten Lockdown im März ein paar junge Spanier ein. Damals nahm ich an, sie hatten sich vor der rigiden Ausgangssperre in ihrer Heimat in Sicherheit bringen wollen. Damals wurden ja in Frankfurt noch ausufernde Freiluftparties auf dem Platz vor der Alten Oper gefeiert. Und die Spanier waren dafür im richtigen Alter. Also gerade schon volljährig, aber noch jung. Außerdem zahlreich. Und da die Wohnung vermutlich nicht mehr als zwei Zimmer hatte, spielte sich sehr viel von dem häuslichen Leben dieser jungen Leute auf diesem Balkon ab.

Damals war es schon warm gewesen. Die Spanier schliefen bei heruntergelassenen Rollläden bis in den späten Nachmittag hinein, wie es in ihrer Heimat Sitte ist — Stichwort Siesta — und bevölkerten die lauen Nächte hindurch ihren Balkon. Beinahe immer wurde mir von ihnen dort ein Augenschmaus bereitet. Eine der Spanierinnen beispielsweise war zierlich gewachsen derart, dass ihre Taille kaum mehr Umfang aufzubieten hatte als ihre inmitten empor führende Wirbelsäule. Mithilfe meines Fernrohres konnte ich das schon recht deutlich erkennen. In aller Drastik wurde es mir allerdings erst vor Augen geführt, als ich bei einem meiner Spaziergänge in der menschenleeren Stadt auf eine Abordnung meiner spanischen Telenachbarn traf. Die Zerbrechliche war mitten unter ihnen dabei, hatte sich aber den gestiegenen Temperaturen zum Trotz eine grotesk überdimensionierte Daunenjacke übergestreift, die dem englischen Begriff vom Puffer Jacket usw usf. Bezeichnenderweise hielten die männlichen Spanier dabei Wegbiere der Brauerei Corona in Händen. Alles in allem also ein herrliches Bild, das ich zudem genießen durfte, als ob ich es durch mein Fernrohr betrachten dürfte, denn zwar erkannte ich diese Gruppe als eine durch mein heimliches Auge mir vertraut gewordene; vice versa hatten die von mir Beobachteten diesen Effekt natürlich nicht.

Gestern nun, als ich mal wieder in die Ferne reiste, schweifenderweise, und spurlos vor allem, allein mit dem Blick, war dort auf dem Balkon ein Aquarium aufgebaut. Allerdings kein leerer Glaskasten, wie er hier im Viertel ab und an mal zusammen mit dem absurdesten Sammelsurium auf die Straße gekippt wird, sondern fachgerecht mit Sand, Pflanzen, Lavagestein und vor allem: mit Wasser gefüllt. Sogar beleuchtet. Fehlen einzig die Fische — beziehungsweise sind die eventuell so klein, dazu noch farblos, vielleicht sogar transparent? dass ich sie durch mein Fernrohr nicht erkennen kann. Vor dem Aquarium selbst agierte (in stehender Haltung) ein Spanier. Um den Wohnraum mit Spaniern nachzuverdichten, wurde vor kurzem die Küche auf den Balkon verlegt. Der Spanier bereitete etwas zu aus Hühnerschenkeln. Die Abschnitte warf er in einen Topf, der unweit von ihm auf dem transportablen Zwei-Platten-Herd stand. Derzeit, womöglich den mittlerweile fallenden Temperaturen geschuldet, vielleicht ist es auch bloß eine Mode, tragen die Spanier diese norwegischen Einteiler aus flauschigem Gewebe, sogenannte One Suits. Der Spanier mit den Hühnerschenkeln war dergestalt als einer von den Minions verkleidet. Sein Kollege als Black Panther, ein dritter als Hulk. Die Spanierin — nicht aber die dünne, sie war nach dem Sommer schon abgereist — war ganz gewöhnlich gekleidet. Offenbar ist diese Einteiler-Mode männlich codiert.

Ob wir gemeinsam Weihnachten feiern werden? Eventuell dient das Aquarium der temporären Aufnahme von Meeresbewohnern, die dann dem Festschmaus dargebracht werden sollen. Und ist das Aquarium auf diesem Balkon dann ein Mise en abyme?

30.10.2020

Bei der bloßen Ahnung einer Möglichkeit von Sonnenschein hatte ich gestern alles stehen und liegen lassen, um hinauszustreben. Unaufhörlich morphten die Wolken und ich war innerlich wie zusätzlich noch bewegt von der Ankündigung, dass ab Montag wieder nichts mehr so sein würde wie es heute noch war. Letzte Gelegenheiten, Prix choc. Und das Café des Bäckers am Tel-Aviv-Platz: Würde auch er seine Terrasse schließen müssen? Noch war dort alles wie immer, wie gestern und an all den anderen Vormittagen zuvor. Vormittage waren derweil zu meinen Nachmittagen geworden (ich schlief in der Nacht) und die Zeit auf den Uhren war freilich auch damals noch anders vergangen, weniger persönlich — nehme ich an, direkt unpersönlich, als diese als anders, weil innerlich wahrgenommene Zeit.

Der Marktleiter des großen Rewe — bald würde es für mich Zeit, auch dieses groß groß zu schreiben, wie im Großen Bruder — nutzte die konspirative Pause bei Plundergebäck und Zigaretten, um seine Einräumhilfen und Getränkekästenstapler (und Champignon-Abbürster und Aufschnitt-Aufschneider und vor allem auch die Kassiererinnen und Kassierer) auf die neue Zeit einzuschwören (auch dieses neu bald Neu): «Ab Montag haben alle zu, die Leute müssen wieder selber kochen, alle kaufen bei uns ein.» 

Noch war er sich nicht sicher, ob pro 10 Quadratmeter ein kaufender Mensch sich frei bewegen darf, oder ob es doch zwanzig waren (Quadratmeter. Sein Markt hat 2000).

Ein seidiger Hund hatte sich neben mir niedergelassen. Seinem Verfüger hatte ich sofort angesehen, dass der noch mit ganz anderen Sphären seinen Austausch pflegte als bloß mit der städtischen Welt. Und der Hund lag wie versprochen friedlich da. Ich besah mir sein glänzendes Fell, die Mannigfaltigkeit schwarzer Haare. Seine Schnauze wies in die selbe Richtung wie mein Blick. Beide schauten wir jetzt über den Platz in die Ferne, zu den großen Baustellen im Dunst. Unablässig die Hämmer auf Schalbetonbrettern, unaufhörlich die Wolken, und ich fragte ihn, leise bei mir: Bist Du es, das Jahr?

28.10.2020

Zuletzt ließ selbst die schwarzäugige Susanne ihre Lider fallen. Es bleibt die Erinnerung an diesen einen Tag, als wir in den Weinbergen zu Gast sein durften. Jede Rebsorte färbt ihr Laub unterschiedlich ein. So entstehen bunt gestreifte Hänge.
Heimgereist mit einem Hartschalenkoffer voller Quitten. In meiner Kinderzeit gab es eine Fernsehwerbung, da klappte einer auf verschneitem Gipfel seinen Samsonite auf und surfte, mit beiden Beinen in den Hartschalenhälften stehend, zu Tal. Ich fand, meine Zweckentfremdung passte auch nicht schlecht in unsere neue Zeit.
Gestern noch viel über Farben gelernt: Von Quittengelb und Himmelblau. Bis ins Hohe Mittelalter hatten in den Färberhütten die Bottiche für gelbe und blaue Farbstoffe voneinander getrennt aufbewahrt werden. Sogar räumlich geschieden à la Milchiges und Fleischiges. Das Mischen der reinen Farben war mit einem Sondertabu belegt. Weshalb es in der mittelalterlichen Welt kaum grüne Kleidungsstücke gab.
Heute früh war alles grau. Frühlingshafte Milde. Mittags fing es zu regnen an.

26.10.2020

Jetzt zeigen sich die Blattstiele der wilden Erdbeerpflanzen mit einem Mal tiefrot gefärbt, zur Erinnerung an die Farbe ihrer Früchte. Die Farnwedel hingegen knochenbleich. Der Haselstrauch lichtet sich und offenbart den Sommersitz der Amsel. Und in den Wäldernmeldet das Gemeindeblatt, geht ein unbekannter Mensch mit Kettensäge umher, damit sein Unwesen treibend; ein Rogue Holzfaeller demzufolge, der in einer der vorvergangenen Nächte sieben Bäume gefällt hat (zwei Buchen, zwei Eichen, zwei Kirschbäume und eine Douglasie). Einfach so.

22.10.2020

Ein wunderbarer Tag bei spätsommerlicher Temperatur. In meinem Nachmittagstermin fehlt die Hälfte, lässt (über FaceTime) schön grüßen aus der Quarantäne. Wenn man den Schutzraum verlässt: Daisy’s Café, Final Sun, die Elbestraße. Am Ende, direkt filigran, eine Erscheinung: der Eiserne Steg.
Trotzdem nicht tröstlich, dass es anderen immer noch schlechter gehen wird als einem selbst. Junkies in der Perma-Krise.
Vor dem Plank sagt auf einmal jemand zu mir meinen Namen: Hallo Oskar! Ja, vor ein paar Monaten hatten wir uns von weitem gesehen — bei Anne Imhoff war das gewesen. Es war derart voll, man drang nicht durch zueinander. Bestimmt tausend Menschen damals im MMK.

Eine Frau trägt 18 Kilogramm Duftreis und drei Kochbananen vorbei — vor ein paar Monaten habe ich einen Internet-Radiosender namens NTS abonniert und es bis dato nie bereut — im Gegenteil! Vor allem seit ich die Bibliothek der Klänge in der British Library entdeckt habe. Die Unterwassergeräusche sind First Class! Aber auch das hier: ‹From Dusk to Dawn›

https://www.nts.live/shows/british-library-sound-archive/episodes/the-british-library-9th-june-2018

21.10.2020

Annäherungen mit einer Krähe: Wir kennen uns schon seit ein paar Monaten, aber gestern war es soweit. Die Sonne schien, vielleicht lag es daran, und mit einem Mal saß der Vogel, ein Tier, direkt vor mir und hielt sich dabei auf einer mir gegenüber gelegenen Lehne. Die Füße mit den regenwurmhaften Zehen geradezu artig beieinander versammelt wie sonst bloß die Hasen. Ihr Auge: klug blitzend. Wünschte, es wäre anders gewesen als im Klischee — wünschte ich das? Legte ihr stücklesweise Brezelärmle auf den Tisch zwischen uns beiden: Wie nennst Du den, Vogel? Was bedeutet der Dir?
Am nächsten Tag, nach der Nacht, heute: bin ich wieder hin. Der Himmel war ähnlich, aber auf dem Platz: keine Krähe.
Eine Frau schoß mit ihrem Lastenfahrrad dahin. Das Kind vorne, in der Schote, von behauchter Plane umhüllt. Sie betrillerte es trotzdem, während der Fahrt: «Finde ich übrigens ganz toll, Oskar, was Du da heute gezeichnet hast.»

20.10.2020

Renata Adler, die gestern ihren 83. Geburtstag feiern durfte, hat ihre Arbeitsmethode vor einigen Jahren noch so beschrieben: I wake up at five or six, I have breakfast, I think, ‹I should be writing.› And then I think, ‹Well, maybe after a little nap.› And that way several years pass. Truly, several years pass.

Der Blog, von dem ich diese Information bezogen habe, Subtle Maneuvers, meint dazu: «Sounds about right.»

Ich hingegen finde: Sounds just wrong.

Wilhelm Genazino hingegen, in einem wunderschönen (postumen) Gesprächsbändle im Verlag von Ulrich Keicher: «Es klingt zwar merkwürdig, aber ich muss kein Buch schreiben. Ich könnte mal fünf Jahre lang aufhören. Allerdings hätte ich dabei ein bisschen Angst. Wenn ich so eine lange Zäsur mache, denke ich, dann werde ich Schwierigkeiten kriegen, wieder auf das Gleis zurückzufinden. Diese Angst hätte ich. Das ist ja schon oft passiert, dass allzu selbstzufriedene Autoren gedacht haben, jetzt weiß ich, wie es geht, das weiß ich also auch in drei Jahren noch oder in fünf. Ich vermute aber mal, dass sich das Wissen nicht hält, die Nähe zum Stoff und zum Material und zum Vorgang.»

Ganz meine Meinung, übrigens: Es hält sich nicht. Bei mir noch nichteinmal bis zum übernächsten Tag!

Und ich weiß nicht, ob Jan Peter Bremer und Genazino sich gekannt haben. Der jedenfalls schrieb neulich erst, ein Schriftsteller sei jemand, der glaube, die Welt warte auf sein nächstes Buch.

Und auf der Straße drunten sagt eine in die Jahre gekommene Mitbürgerin, die mich von ihrer Sonnenbrille her an Joan Didion erinnert, zu ihrer Begleiterin: «Eigentlich ist es beinahe grauenvoll.»

19.10.2020

Beim Tun mit Kindern erinnert mich viel an meine Schwierigkeiten im Umgang mit den Gleichalten, allerdings in einer mir angenehmen Form — bloß weil ich der Überlegene bin?

Gestern Nachmittag wurde ich anlässlich unseres Besuches bei Amelie und Thomas von deren Tochter auserwählt, mit ihr zusammen ein Geschenk für ihre erkrankte Kindergartenfreundin herzustellen. Ich saß etwas schräg an ihrem für mich sehr viel zu niedrig gebauten Schreibtisch. Sie schien das nicht zu bemerken. Wie Mirko mir neulich bei meinem Besuch im Landhaus zu den zwei Hunden erklärte, haben diese beiden Hunde, deren Größen- wie Kompetenzenunterschied beträchtlich ist — der Kleinere ist zudem noch stark körperbehindert —, keinerlei Bewußtsein ihrer Unterschiedlichkeit entwickeln können. Sie rauschen regelmäßig ineinander und gemeinsam dann als ein Knäuel gegen die Wand, als Ebenbürtige. So ähnlich einigten das Kind und ich uns auf ein Ergebnis, zu dem wir beide stehen konnten. Mit Thomas dann über Kunst, beziehungsweise: dass Künstler sein bedeutet, zu wissen, wann ein Kunstwerk fertig ist. Im Sinne eines Ordnungsrufes, im Sinne von «Halt!»

In dem Sinn (und nach dem schönen Spaziergang heim, am Main entlang, der Milch führt, dieser Tage, und in Nizza sind die Pomeranzen reif) war der Eintrag vom Samstag noch nicht fertig. Einhalt mir zu früh geboten, der Satz müsste lauten:

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit makellos assimilierten Ausländern konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Mir kommt es zudem immer so vor, als ob es dann um deutsche Förmlichkeiten geht, um Bürokratie und Kitsch. Als ob der Kern der Sache, der selbst mir unbeschreiblich scheint, in den Hintergrund gedrängt wird; durch Sprache. Oder könnte ich genauso behaupten, kein Deutscher zu sein? Zu welcher Gelegenheit? Und wer würde mir widersprechen — am Ende doch sie?

17.10.2020

Die Bäume am Europagarten — war das am vorigen Wochenende oder an einem davor, dass ihr Kleid noch golden flimmerte — inzwischen waren sie zu Transvestiten geworden. Der Blick von der Bühne, mitten im Strip, zeigte nichts als leere Stühle und Krähen; nun wussten sie nicht recht, wie weiter: Soll ich, oder lass‘ ich’s lieber sein?

Die Zeitung knatterte im Wind. Der Bundespräsident hat beschlossen, die Paulskirche renovieren zu lassen. Von der AFD, die ein Konferenzzimmer nach der Paulskirche benannt hat, will man sich die Sprache aus Zeichen und Symbolen nicht länger umdeuten lassen. Frau Grütters, die während ihres Besuches in unserer Stadt schon den teuersten Beckmann aller Zeiten (ein Gemälde, ein Selbstporträt) als Gabe für die Sammlung des Städel Museums in die Kamera gehalten hat, will gleich neben Paulskirche ein sogenanntes Haus der Demokratie bauen (lassen). Ich freute mich schon! Erinnerte mich freilich, wenn auch nur blitzhaft, an das Haus der Geschichte von Helmut Kohl (nicht in Brake, Bielefeld, aber back in Berlin). Das war kein Erinnern, es war ein Entsinnen.

Die Jugend von heute saß derweil schräg vor mir. Schräg schaut es für meine alten Augen noch immer aus, wenn jemand irgendwo draußen videotelefoniert. Welt am Draht: Das war einmal die Zukunft. Wo bleibt der Rest?

Sie unterhielten sich auf dreifache Weise verschlüsselt. Auf Französisch und Englisch und — für die Flüche, aber vielleicht waren es auch Ausrufe ihres Erstaunens: Arabisch. Die andere, das Gesicht auf dem Bildschirm wurde also mutmaßlich aus Marokko, Tunesien oder Algerien herangefunkt. Ersteres war der Fall, wie es sich im Laufe des Videogesprächs herausstellen sollte. Es ging um das Corona-Management dort. Die Hiesige erwies sich als harsche Kritikerin der politischen Führung in der Heimat ihrer Eltern. Das Lob der Führung hierzulande fasste sie zusammen in dem Dreisatz: «Niemand weiß genau Bescheid über dieses Virus. Die Politiker müssen die Regeln machen, aber natürlich kennen sie sich auch nicht besser aus. Wir müssen jetzt alle selbst denken und handeln.»

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit Assimilierten konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Eben noch hatte ich am Glas einer Bushaltestelle den Kleber der linksjugend [solid] studiert: Neben der Zeichnung einer Brünetten mit pornöser Brille stand: Kontrolletti?! keine Hektik… Es passiert allen mal. Ticket vergessen, nicht abgestempelt oder einfach keine Zeit oder Kohle gehabt, um eins zu kaufen. Wenn die Kontrollettis jetzt nur lange genug brauchen würden, dass man sich an der nächsten Station schnell verdrücken kann… Damit andere eine Chance haben: Lass dir Zeit. Hol das Ticket erst raus, wenn du persönlich gefragt wirst und auch dann weißt du sicher nicht sofort, in welcher Tasche es steckt. Zeig Solidarität mit Menschen ohne Fahrschein!

Links war ich also auch nicht mehr.

16.10.2020

Die Lektüre abgeschlossen, danach bis heute sprachlos gewesen wie schon lange nicht mehr. War das jetzt außergewöhnlich gut, oder hat es bloß mich so erwischt? Aus welchem Grund auch immer. War dann noch viel zu lang (für mein Gefühl) damit beschäftigt, eine Stelle zu suchen; sie wiederzufinden, dabei war ich mir die ganze Zeit meines Lesens doch so sicher gewesen, wo in etwa sie zu finden war. Aber noch nicht einmal ihre Position auf der Seite hatte ich mir richtig eingeprägt — von wegen links unten! In einem anderen Buch, darin ging es um Dahlienzüchter und andere Phytofreaks, nahm ich mir einst einen Ratschlag zu Herzen hinsichtlich des Jätens: «Weed as you go» hatte dort gestanden, das weiß ich noch genau. Glaube ich! Seit Jahren denke ich und nehme es mir vor, diesen Tip auch bei meinen Gängen durch die Bücher zu beherzigen. Aber gegen mich bin ich machtlos, bekanntlich. Sagt Peter Kurzweil. Wählte gestern aus Langeweile einen Livestream von der Buchmesse an, da wurde der traurige Dennis Scheck gezeigt, der in der menschenleeren Festhalle an einem Tisch mit lauter Büchern saß, die er der einäugigen Witwe anpries wie Aale-Dieter auf dem Fischmarkt (ebenso selig).
Alles selig. Keiner lacht.

13.10.2020

Die schwanzlosen Katzen, und die mit lediglich einem Stummel ausgestatteten, die ich Ende der neunziger Jahre erstmals in Bangkok gesehen hatte, es gab sie dort also auch schon Ende der siebziger Jahre; und nicht nur dort, auch anderswo in der Region, beispielsweise auf Borneo, wo ich niemals war. Sie tauchen jetzt wieder auf in einer Reiseerzählung von Horst Laube. Den Text hat mir der Verleger empfohlen, neulich im Sonnenschein. Gestern tauchte er überraschend selbst auf, in der Tagesschau. Einen Augenblick lang wurde er mir gezeigt, wie er von der Nachricht erfährt, dass seine Autorin Anne Weber den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

12.10.2020

Gang auf den Altkönig, der Hausberg hinter Königstein. Wahrscheinlich und vielleicht war dies der letzte Tag, um sich der Natur in dieser ihrer derzeitigen Gestalt noch einmal hingeben zu können. Sie, die Natur, war dafür nicht bloß Gabe, sie gab auch selbst so viel. Und unaufhörlich. So kamen wir nach der Einstimmung durch eine Passage im Tannenwald auf einen steilen Pfad, der uns durch lichter werdendes Gehölz zum Gipfel führte. Gravel-Bikende holperten uns abwärts radelnd entgegen. Zu ihrer Belustigung waren an des Weges Rändern niedrige Schanzen in den Waldboden verankert worden. Die schnittig kostümierten Familienväter mit Helmen stürzten sich in den Pedalen stehend auf diese Hindernisse, um sie zu nehmen. Dies alles wortlos bei gepresstem Atem. Wer so bergab durch den Wald radeln kann, der beherrscht auch die Kunst des geräuschlosen Abbeißens vom Apfel.

Indes waren wir auf einen Holzweg abgezweigt, der entlang einer Schonung halb um den Berg herum führte. Im Gras, das, von Tautropfen besteckt, darniederlag, wuchsen die prächtigsten Fliegenpilze. Darunter einige noch unangeknabbert vom Wild. Asiatinnen knieten zwischen Heidelbeersträuchern und machten Aufnahmen, teilweise sogar mit Ton.

Auf den letzten Metern vor dem Gipfel lag, trotzdem dort die Baumgrenze freilich noch längst nicht erreicht war, massenhaft Granit herum. Der Altkönig soll zur Zeit der Altvorderen eine Kultstätte gewesen sein für die Kelten. Darauf wies allerdings kein einziges der vielen Schilder dort oben hin, die Hinweisflächen waren vollends ausgelastet mit Ver- und Geboten (beispielsweise «Nicht lagern», das Piktogramm zeigte einen Knieenden mit einem Buch in der Hand — offenbar handelte es sich dabei um ein Symbol für ein Liederbuch, das ja beim Lagern, wie ich es kenne, unerlässlich bleibt; sollte es sich allerdings um ein Symbol für religiöse Schriftbände handeln, fände ich dieses Gebot pikant.) Das Wissen zum Keltenkult musste man sich also selbst mitbringen. Da wir diesbezüglich vorgesorgt hatten, erkannten wir in dem zentralen Baum auf dem Gipfel die Esche, den Kult-Baum der nordischen Völker (Stichwort Yggdrasil), der aber auch in einem Gedicht der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück eine wesentliche Rolle spielt (Dietmar Dath hat darauf hingewiesen). Wie bei Glück hatte diese Esche auf dem Altkönig sich schon all ihrer Blätter entledigt. Einzig die dunkelroten Beeren zierten das Reisig vor dem leergefegten Grau des Himmels (wie die Tautropfen dort unten vor der Granitgrenze das waidgrüne Gras). Ein Gipfelkreuz gab es nicht.

Beim Abstieg fanden wir wie von selbst in die passende Schrittgeschwindigkeit, um rechtzeitig mit dem Sonnenuntergang aus dem Waldsaum herauszutreten. Ein nahegelegenes Wohnviertel von Königstein nahm uns auf in die städtische Welt. Rechtschaffen müd‘ und erfüllt von den Gaben, auch ziemlich durchgefroren saßen wir in der Taunusbahn Richtung Heimat. Die Maske wie ein Schlafsäckle für das Gesicht.

10.10.2020

Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz fiel mir eine neuartige Plakat-Kampagne auf: Beworben wurden gewohnt einfallslos gestaltete Mietshäuser auf quadratischem Grundriss, wie sie hier überall im sogenannten Europa-Viertel von Frankfurt schon fertig gebaut herumstehen. Die Häuser auf den Plakaten standen allerdings in Wien. Und dort sollte man, von Frankfurt aus, investieren. In diese Häuser hinein. Obwohl es genau diese Häuser, in genau dieser Form hier längst gibt — und zwar, wie gesagt in jenem Viertel, wo die Werbung plakatiert wurde, in den Aufbau einer solchen Siedlung im fernen Wien zu investieren. Für mich war es damit klar und unklar zugleich, an wen sich diese Werbung richten sollte. Genau genommen fiel mir der Artikel in der F. A. Z. ein, einer von vielen, die anlässlich der Einweihung des sogenannten Grand Tower erschienen waren, einem Wohnturm, der ausschaut wie aus Downtown Manila in den neunziger Jahren. Das einzig interessante an diesem vielstöckigen Wohngebäude ist, dass dort seit der Einweihung die Fenster stets dunkel bleiben bei Nacht (ich wohne nebenan). Die Besitzer der Wohnungen wohnen nicht nur anscheinend nicht vor Ort. In der Zeitung hieß es, das sei wie es sei, aber mit solcherart Gebäuden würde halt dem weltweiten Anlagedruck Rechnung getragen. Gerade so, als ob dieser ominöse Anlagedruck diese Gebäude aus dem Boden heraus in die Höhe treiben dürfte wie Stapel von Münzen …

Am Tel-Aviv-Platz nun, wo ich ursprünglich die Literaturbeilage studieren wollte, die anlässlich der nicht stattfindenden Buchmesse erschienen war, zu deren Eröffnung es aber am Dienstagabend wenigstens eine Festveranstaltung in der Festhalle geben wird, auf die ich mich schon sehr freue, wurde ich von der Beilage abgehalten durch eine sehr lange Reportage eines mir unbekannten Autoren, der von seinen Erlebnissen bei der Räumung des linksextremen Wohnprojektes in der Berliner Liebigstraße berichtete. In Österreich nennt sich diese Form Lokalaugenschein. Der Autor Gregor Schwung ist aber kein Österreicher. Seine höchst kuriose Ausdrucksweise («Die Linksextremen in Friedrichshain greifen auch Menschen an») verleitete mich, seinen Namen zu googeln: Es erschien das Portraitbild eines sehr jungen Mannes, der weiß, was er will. Das Schreiben sollte er allerdings lassen. Den Linksextremen hingegen würde ich raten, dass sie demnächst mal keine baufällige Immobilie besetzen, die Nostalgie akkumuliert, sondern eins dieser Investorenprojekte wie beispielsweise den Grand Tower. Oder die seelenlosen Häuserlkasten in der sogenannten Gartenstadt von Wien.

Bevor ich dann die Literaturbeilage überhaupt angeblättert hatte, war ich schon beinahe geschafft. Überhaupt finde ich es zunehmend anstrengend, das alles, das mir entgegenwächst politisch aufgeladen erscheint. Wenn ich Socken kaufen will, frage ich mich, ob ich die richtigen Socken kaufe. Ob es den Tieren gut ergangen ist, bis aus den Fasern ihrer Felle die Wolle für meine Füße wurde? Ob das ganze Unternehmen nicht zu viel Wasser verbraucht hat. Zuviel Sprit. Und dass Nerze, also die Nagetiere mit dem seidig flauschigen Fell, aus denen man die schönsten Mäntel macht, sich auf Pelztierfarmen in Utah, dem Mormonenstaat in den Vereinigten Staaten, die von Menschen übertragene Krankheit Covid-19 zugezogen haben. 8000 starben, sind verendet. Tot.
Das war zuviel. Die Sonne war herausgekommen. Die Bäume hatten in meiner Abwesenheit goldgelbes Laub bekommen wie andere graue Haare. Das sah ich erst jetzt. In diesem Licht. Ihre Pracht. Die Literaturbeilage legte ich beiseite. Ich konnte kein Elend mehr ertragen. Da näherte sich mir, hüpfend, eine Krähe. Schräg über den menschenleeren Tel-Aviv-Platz hüpfte sie auf mich zu. Wir kannten uns längst. Dass ich sie wiedererkannte, schien sie genauso zu verwundern wie es mich verwunderte, dass sie mich. Das letzte Mal, vor meinen Fahrten nach München und zuvor nach Heimerdingen, hatte sie sich in einem ähnlichen Manöver ganz flach und dabei auch breit gemacht, um, flach und breit vorantrebend wie ein hüpfender Pilz mit blauschwarz schimmerndem Hut, ein Stück von meiner Brezel, ein Brezelärmle, das unter meinen Stuhl gefallen war während ich den Rest dieser Brezel aß, zu erheischen. Listig hatte sie geschaut während ihres Manövers; von daher kam mir der  Gedanke des Erheischens gerade recht.

Aber heute hatte ich nichts zu essen, bloß diese Zeitung. Und ich dachte ‹Bis zum nächsten Mal›. Sie legte den Schnabel schräg und ließ ihr Knopfauge funkeln. Mir fiel das gespräch ein mit Friederike ein vom frühen Morgen, bevor ich losgegangen war mit der Zeitung, um die Literaturbeilage zu lesen. Es ging um Insekten. Friederike mag sie nicht. Ich dachte bislang immer, alle sollten Insekten mögen. Insekten sind wie Vögel, bloß halt für sehr kleine Menschen. Sehr viel kleiner noch als Du oder ich.

Das Datum bietet sich heute als Delikatesse an für Dezimalfetischisten. Das nächste Mal wird das in allenfalls ähnlicher Form im Jahr 3030 der Fall sein, wenn nicht nur ich, eigentlich: wenn alle, die das jetzt lesen, längst nicht mehr am Leben sind.

9.10.2020

Gestern war der Klempner da, um die Heizungsanlage aufzuwecken und einzustimmen auf ihre Ära. Er ging im Haus von Stockwerk zu Stockwerk, von Wohnung zu Wohnung, die Türen hatten alle offen stehen zu bleiben indes wie im Inneren der Räume die Ventile — ‹interessante› Frage, nebenbei entstanden für mich: Waren Türen für Klempner bloß andersgeartete Ventile? Also folgte ich ihm. Und außerdem, wann hat man das schon mal, dass man anstandslos in die Wohnverhältnisse sämtlicher Nachbarn Einblicke erhält? Bald kam es mir aber so vor, als ob die Wohnungen der anderen allesamt großzügiger geschnitten waren als die unsere — sollten wir etwa Pech gehabt haben bei der Vergabe? Bis es mir auffiel: Die hatten alle keine Bücher.

8.10.2020

Abends im Kino: Enfant Terrible. Gegenüber eines Hotels mit Namen Corona (Garni). Hübscher Vorgarten, es hatte aber auch geregnet. Im Fenster leuchtete still eine Lampe hinter honigfarbenem Schirm. Im Kino hatten sie die Sessel aus ehemaligen First-Class-Kabinen der Lufthansa. Irrwitzig breite Sitzflächen, mit orientalisch besticktem Gewebe bezogen. In der Vorstellung zahlreiche alte Lesben. Kurios. War mir vorher nicht bewusst, dass Fassbinder für schwule Frauen interessant ist.   Wahrscheinlich gibt es ein von den Geschlechtszugehörigkeiten enthobenes Interesse für das Homosexuelle an sich. Die lachten auch immer, wenn die Männer gedemütigt wurden. Vielleicht ist Kino mit schwuler Thematik für Lesben eine Art sozialer Pornografie?

Aus dem Film, der nur in Innenräumen spielte, nachts, zurück auf die Straße, wo es auch längst dunkel war. Und die Fassaden glitzerten. Ob Roehler den stummen Tod, der eine Maske trug, natürlich, selbst gespielt hat?

Ab morgen gibt es Sperrstunde.

6.10.2020

Abschied von München, wo ich gestern erst im völlig neu gestalteten Keller meines Hotels gelandet war; neu gestaltet — freilich — von Axel Vervoordt (ich hatte ihn an den Kleiderhaken erkannt — und dann natürlich auch am Grün an den Wänden, diesem speziellen Vervoordt-Grün, von dem es einst geheißen hatte, dass er seinen Kunden sogar ein exklusives Klopapier verkauft in diesem Grün, auf dass sie sich gegenseitig daran erkennen könnten bei ihren jeweiligen Besuchen im Gegen-Chalet. Aber halt auch an seinen charakteristisch gegossenen Kleiderhaken aus Bronze hatte ich den Meister erkannt; an deren bäuerlicher Simplizität, die Bauern selbst aus dem Jahrtausend, auf das Vervoordt sich bezieht, die Ära Odd Nerdrums, als die Altvorderen Mark Rothkos noch auf solchen Schemeln …) Am nächsten Morgen nahm ich das Geschehen auf der Baustelle vor meinem Fenster rein optisch war, die Scheibe ließ nichts durch von den Geräuschen, die der Umbau der Bayerischen Staatsbank in ein Hotel unter chinesischer Leitung verursacht. Auf Nachfrage hin zeigte man mir den neu gestalteten Flügel aus Konferenz-Räumen, die ebenfalls von Vervoordt eingerichtet wurden. Am besten gefiel mir der Mozart-Raum mit seinen bodenlangen Vorhängen, blau-weiß kariert. Am zweitbesten die holzvertäfelte Bibliothek. Hinter der Plexiglasscheibe, just for show, ein Meyers aus dem 19. Jahrhundert. Mit den schönen Stichen. Hatte ich auch mal. Ror Wolf ist tot.

5.10.2020

Abschied von Heimerdingen bei teilweise bedecktem Himmel mit Tendenz zum mittäglichen Aufreißen. Gestern war der schönste Tag. Ein Ausflug führte auf die Schwäbische Alb, ins Biosphärenreservat hinter Münsingen: Idyll einer unberührten Landschaft aus sanft geschwungenen Wiesen mit Wachholder und alten Obstbäumen darüber verteilt, sodass man beim bloßen Anblick des vom Menschen unberührten, unverzierten Naturgemäldes zu glauben geneigt ist «Da stimmt etwas nicht». Ein ehemaliges Truppenübungsgebiet, that’s why.

Drastisch wirkt dahingegen die Man made desert eines dem Parkplatz vorgalagerten Neubaugebietes mit seinen Carports, Trampolinen und Gabionen. Zum Neutralisieren suchten wir das Kloster Zwiefalten auf, den Innenraum des barocken Walfischs aus einer anderen Zeit. Von den Deckenmalereien wurde mir schwindelig. Ist mir unter gleichwelchen Wolkenformationen noch nie passiert.
Abends TV «Mein Leben mit 300 Kilogramm».

4.10.2020

Auf dem Rückweg vom Kaffeetrinken in der Stadt bemerke ich im Vorüberfahren einige Personen auf unserem Stückle. Ich wende, fahre auf die kleine Obstwiese zu: dort lagern zwei Mumen, umgeben von Kinderwägen und etlichen Kindern. Die Kleinen haben sich Äste abgerissen, um nach den Walnüssen zu schlagen. Ich erkläre, dass es sich um Privateigentum handelt und bitte, die Erntearbeiten an unserem Baum jetzt zu beenden. Die Kinder streben dem Mann entgegen uns präsentieren ihre Beute. Ich zeige das weltweit akzeptierte Handzeichen des Einhalt gebietens. Die Kinder laden daraufhin die übrigen Nüsse zu den anderen in die Kinderwägen, die Mumen schieben ab.

Das Eigene behaupten: braucht man im städtischen Leben, wo alles hinter Schloß und Riegel ist, so gut wie nie. Dementsprechend lang anhaltend die Erinnerung an meine Aktion. Auch körperlich. Eine andere Form von Muskelkater.

3.10.2020

Am Vorabend gab es noch einen warmen Leberkäse, morgens kündigte sich dann der Forstwirt per Telefon an, dass er sich in einer halben Stunde auf seinen Traktor setzte. Herbeigefahren wurde die alljährliche Lieferung des Brennholzes. «Nachwachsende Rohstoffe» suggeriert eine schlaraffische Bequemlichkeit, aber das Öl muss gefördert und in Fässer gefüllt, die Bäume gefällt und deren Stämme in Scheite zersägt und gespalten werden. Und vor dem Heizen kommt das Aufschichten. The grabbing hands grab all they can. Die stumpfe, wahrscheinlich sehr gut von einem Roboter zu erledigende Arbeit lässt den Gedanken sehr viel Raum. Man unterhält sich nebenbei und so entstand dann unser Spiel, in dem der Vater zum Chinesen wurde, der, weil klein und zart von Wuchs, dort unter dem niedrigen Dach des Verschlages die Scheite aufzuschichten hatte, Stoß um Stoß und dann noch um einen mehr. Li Holzwurm war sein Name. Und das Wetter war uns wohlgesinnt. Abends nahm ich, nach getaner Arbeit wie es heißt, den Apfel, den ich vor ein paar Wochen noch als unreif befunden, hier auf dem Tisch im Garten abgelegt, zu mir — hineinbeißenderweise: Jetzt war er freilich ideal.

Heute früh dann mit dem Gefühl aufgewacht (und erst recht damit umhergegangen), ich wäre über Nacht in ein Kastanienmännchen verwandelt worden. Holzhart kugelnd der Muskelkater. Hecken aus Pfaffenhütle, Hagebutten und Schlehen.

1.10.2020

Zwei Halbwüchsige in der Berufskleidung von Trockenbauarbeitern oder Malern schleifen einen dritten in das Foyer der Sparkasse, in der ich mich befinde, zum benachbarten Geldautomaten, an denen ein vierter von ihnen — gleichaltrig, imselben Stil gekleidet — ihn vor dem Bildschirm stehend zwingt: «Schau meinen Kontostand!»

Tja. Das scheint das zeitgenössische Äquivalent zur Besenkammer bei Kempowski, «Aber dieser Hohn!», die Nilpferdpeitsche.

Das Barometer schwankt beständig um 1050 Hektopascal. Astern und Krähen.

29.9.2020

Nicht leicht für mich, derzeit, nicht paranoid zu denken. Gestern fand ich auf jener Wiese, wo ich seit Tagen schon die halbwegs reifen Quitten aufgelesen hatte, auf einmal keine einzige mehr, dafür lag ein quittengelber Golfball dort im Gras. Wirklich dafür?

Heute wirkt das Geschehen auf der Straße drunten ungewöhnlich ruhig auf mich, beruhigend auch, da schreibt mir Friederike, sie hätte im Polizeifunk gehört, es finde derzeit ein Einsatz des SEK in unserem Viertel statt. Angeblich hatte sich ein bewaffneter Mann in einem Gebäude verschanzt — ob ich durch das Fenster etwas davon sehen könne? Jetzt, da ich um die Besonderheit der Situation dort drunten wusste, kam mir das vertraute Bild der Straße unten und vor meinem Fenster natürlich seltsam vor; mit einem Mal. Bedrohlich auch, in seiner Reglosigkeit. Aber sind das nicht alle Bilder: reglos?

Und der Himmel heute wie dräuend, so grau. Und oberhalb dieser wattigen, opaken Schicht formieren sich die Vögel nach Arten streng getrennt, um in V-förmigen Formationen nach Afrika zu fliegen. Jede Art für sich. Oder hat man denn jemals von blinden Passagieren in den Schwärmen von Zugvögeln gehört?
Mein viertes Thema ist die Post.

28.9.2020

Rauschgoldenes Licht, ein veritabler Schwall davon, das morgens durch die Scheibe dringt, um sich, die tollsten Schatten werfend, quer über die gesamte Wand zu verteilen: dieser Anblick lockte mich und lockte mich hinaus in mein Foyer des arts, den Platz am Ende der Europa-Allee. Kaum dass die allerdrängendsten der dringenden Arbeiten getan, strebte ich dorthin. Meine Agora — die Typen dort und ihre Anliegen dürften im Groben noch dieselben sein beziehungsweise ewige. Heute, zum Beispiel, ließ einer sanfte Klarinettenmusik aus dem Handylautsprecher auf sich wirken. Dazu ein Gemisch aus Buckfast und Sprite. Wann wird Nestlé den Mönchen der Buckfast Abbey eine Offerte unterbreiten, wie es heißt? Und werden, nach meinen nächsten Fahrten, die das Wetter bestimmenden Wesen mir noch eine Fortsetzung meines Studiums der guten Leute vom Tel-Aviv-Platz gewähren? Wird der Europagarten selbst, derzeit noch immer hinter Zäunen wie bis vor kurzem noch mein Platz, dann in meiner Abwesenheit zur Benutzung freigegeben sein — all seine Wiesen und Fläche, ihre Wiesenheit?
Wird es Schnee geben, wie kalt müsste es werden, um eine Wespenplage wie weilands im Berlin des Jahres 1998 zu verhindern?
Goldener Herbst, Zeit der Schwärmerei — wann, wenn nicht dann! — und des Schwelgens in meinen Erinnerungen; auch denen den Zeitraum 2020, der jetzt sachte verstreicht. Wie seltsam, es sind kaum welche da, die sich melden — anscheinend. Doch, es war ein sehr gutes, aber halt auch verinnerlichtes Jahr. How soon is now?

26.9.2020

Zurück in der Heimat, eingeschlafen bei Regen, seinem sanften Geräusch. Es sind freilich sehr viele, jeder einzelne Tropfen macht ein eigenes, für ihn charakteristisches, aber zusammen wahrgenommen vernehme ich sie als eins. Trotzdem die Mahnung Leave no one behind. Von diesem Schlaf, dem traumhaftesten von allen bislang — ein jeder Schlaf ist traumhaft für mich, aber dieser war am traumhaftesten — musste ich mich noch nicht erholen; ich zehre noch immer von ihm. Die Erholung währet immerdar, wie es heißt, während von draußen natürlich: ein, nein, der Himmel: meliert, aufgebauscht zu schmalen Dünen. Wirjt schlampig auf mich, lustlos, hingepfuscht. In der Zeitung wird an das Oktoberfest-Attentat erinnert. Friederike war damals noch nicht geboren.

Ich trage die herrlichsten Alpaca-Socken und meinen Herbst—Schal (wie die anderen Künstler). Es ist wieder soweit. Please, please, please let me get what I want.

23.9.2020

Die Tage um das Äquinoktium habe ich hier, in einer kleinen Siedlung hinter dem Stadtrand von Berlin verbracht. Hinter dem Haus beginnt ein Landschaft aus Weiden von kleinen Wäldern aus niedrigen Birken bestanden. Bis vor ein paar Jahren noch war die Ortsdurchfahrt, die aus Berlin hinaus weiter in den Osten führt, gepflastert. Ein für eine stille Arbeit geradezu idealer Ort (geradezu wie die Allee).

Nachts war es sehr still, beinahe so still wie in meinem Heimatdorf, und ich schlief traumlos und tief.

Tags regierten die Hunde. Es gab zwei: einer sehr klein, eigentlich winzig, gerade so lang wie mein Schuh. Zudem noch noch stark behindert, infolge eines häuslichen Unfalls. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er voll bewegungsfähig war. Der andere Hund vergleichsweise riesig. Auch ohne Vergleich, selbst an mir gemessen, ungefähr wie ein Kalb (so groß wie ein Kalb mir vor Augen steht). Ein Mischling aus einem italienischen Hütehund, Rest unbekannt (er stammt aus dem Tierheim, sein Stammbaum wurde verbrannt).

Die Geräuschemischung in dem Raum, in dem ich geschrieben habe bestand aus dem Tippen meiner beiden Fingerspitzen auf der flexiblen Tastatur und dem weitaus, viel vielmehr reichen Arsenal an Schluck- und Schmatz und Leck- und Schaufgeräuschen dieser beiden Tiere. Aus ihren Zahnpflegegeräuschen. Aus ihrem Hecheln und Stöhnen, ihrem Japsen und Quietschen, dem Bellen natürlich, ihrem Aufspringen und dem Umherrennen, -trappsen und -schleichen. Selbst ihr Vor-einander-hin-schauen rief Geräusche hervor/ machte welche; und dann wieder ihr Schnaufen während des hündischen Schlafs.

Wenn man einen Hund bei seinem Namen ruft, spricht man ein Wort aus der menschlichen Sprache vor sich hin, laut, und hofft dabei, seine Bedeutung reicht bis in die hündische Sphäre hinüber. Kurios.

21.9.2020

Gestern vier Stunden lang in den Wäldern hinter Dreieich spazieren gewesen. Eine Gegend für die Freunde des Pferdesports: überall Koppeln, auf denen die Staksigen herumstehen und vor sich hinschauen. Ins Leere? Kühe jedenfalls schauen anders drein. Kühe schauen mich an. Zudem hatte man den meisten Pferden, auf denen man uns begegnete, Säcke über den Kopf gezogen aus einem beinahe blickdichten, dunklen Material. Vermutlich, um die schimmernde Augenoberfläche der Tiere vor den Mücken zu schützen. Dachte an Sparklehorse, der seinem Pferdekopf gleich Glühbirnen eingeschraubt hatte. Und an dieses Gerücht, es gäbe, als es den Tape Club noch gab, diesen Abend namens «Horse Meat Disco», dessen Jünger sich an einem geheimen Ort versammelt hätten, nicht um Eulen anzuzünden, aber um dort on bare back mit anderen nackten Männern zu verkehren, deren Köpfe von farbig gekennzeichneten Rupfensäcken verhüllt waren. Rupfenfarbener Sack bedeutete negativ. Die anderen hatten rote.
Pünktlich zur Mittagszeit erreichten wir die Lichtung mit einer langgezogenen Streuobstwiese. Gewürzluike, Blutstreifling und sogar Goldparmäne: Von sämtlichen alten Sorten aus meiner Kindheit war hier zumindest noch ein altes Exemplar erhalten. Wir entnahmen viele Proben. Speyerlinge ließen wir links liegen.

19.9.2020

Die Postkarte von der Raststätte Im Hegau ist tatsächlich angekommen. Ich hatte sie dort in einem Abteil des Restaurants gekauft, es gab sogar Briefmarken und als ich fragte, ob es auch einen Briefkasten gibt, sagte mir die Verkäuferin «Ja, aber einen inoffiziellen.» Das war für mich der Reiz, inoffizielle Briefkästen eines inoffiziellen Postsystems kannte ich bislang lediglich aus der Versteigerung von No. 49, ich war also dementsprechend gespannt. Der inoffizielle Briefkasten des inoffiziellen Postsystems in meiner Realität war dann aber kein Mülleimer, auf dem W.A.S.T.E. geschrieben steht, es handelte sich um einen Würfel aus Plexiglas mit einem Schlitz, wie man sie als Sammelbehälter für Fremdwährungen kennt. Ein unauffälliges Schild wies auf die Funktion des transparenten Würfels hin. Die Karte zeigt Impressionen von der Raststätte selbst, allerdings aus den Jahren vor der Errichtung der Autobahnkapelle. Die Karte soll recht selten sein, meinte jedenfalls ihre Verkäuferin. Es gab wohl bloß noch drei Stück.

Am Nachmittag rief eine Freundin an und erzählte mir, sie stehe im Verdacht sich mit Covid-19 angesteckt zu haben. Sie hatte gestern den Test gemacht, nachdem sie enormes Fieber bekommen hatte und einen Schüttelfrost, dass sie schon geglaubt hatte, dass es mir ihr zu Ende geht. Der Arzt meinte zu ihr, es könnte auch eine Grippe sein. Sie war ein paar Tage zuvor auf einer kleinen Vernissage, Freiluft, kaum mehr als 80 Leute, sagt sie. Sie trug eine Maske und hat niemanden umarmt, sagt sie. Von den Leuten, die mit ihr dort waren, sind mittlerweile alle acht positiv getestet worden, sagt sie. Nach der Vernissage waren sie noch zusammen essen, auch dort waren die Fenster auf.

Das Gespräch hat mich ziemlich mitgenommen. Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz kam ich an dem italienischen Restaurant dort vorbei. Eine Großfamilie feierte Kommunion. «Tanti Auguri» stand auf der Schiefertafel. Drinnen saßen 50 Menschen oder mehr, viele Greise, alle dicht gedrängt. Die Mädchen mit weißen Schleiern und Kerzen. Ich sage alles ab.

Am Abend schickte die Freundin mit eine SMS: «Positiv.» Anbei ein Screenshot von der Seite, über die ihr das Testergebnis mitgeteilt wurde. «Sieht aus, als hätte man etwas gewonnen», schreibt sie.

18.9.2020

Die Amseln sind zurück aus ihren Waldferien. Neulich, bei den Eltern hat mich schon eine Henne aus ihrem Versteck im Lorbeergebüsch sanft geschimpft, vermutlich weil ich mich zu lange in der Nähe ihrer Wohnung im Kornelkirschenstrauch aufhielt. Sehen ließ sie sich dabei nie über die Tage. Aber heute früh sprang hier ein Hahn auf unseren Weg. Ganz makellos geschwärzt nach der Mauser. Auf Glanz poliert. Der Schnabel makellos, blitzsauber orange, wie ich es mir als Bild in Erinnerung behalten hatte.
Wir kamen vom Frühstück. Endlich war Gelegenheit, Friederike den Tel-Aviv-Platz zu zeigen. Dass sie in schaute. In all seiner Pracht. Ich spürte eine kleine Nervenanspannung, gerade so, als müsste ich ihr etwas von höherer Bedeutung präsentieren und sie wäre darin befugt, mich durch diese Präsentation zu beurteilen. Eine Frau, von Kopf bis zu den Füßen in schwarzen Ciffon gehüllt, auch das gesamte Gesicht, schob einen Kinderwagen vorüber. Eine derart komplette Verschleierung der Person hatte ich zuvor noch nicht einmal in Zürich gesehen. Eine Frau wie ein Schatten. Wie die Seelenesser in einer Rowling-Verfilmung.
Und daraufhin, später: die Amsel. Anmutig. Alle Vögel sind kostbar, aber dieser ist mir am kostbarsten.

16.9.2020

Wieder einmal finde ich es nur anregend und auch gesund, wie unterschiedlich wir etwas wahrnehmen, das wir gemeinsam erlebt haben. Neulich abends zum Beispiel, wir waren eingeladen und saßen unter einem großen, dunklen Kastanienbaum. Friederike, erfahre ich hinterher, hatte sich an ein Stück von Yasmina Reza erinnert gefühlt, ich an eins von Milo Rau. Ein und derselbe Abend! So bin ich halt, so ist sie, und so sind wir.
Aus dem nachtschwarzen Himmel kracht eine Kastanienkugel in das zum Prost erhobene Glas: alles Splitter.
Der Osterhammel ist eingetroffen — mein lieber Schwan.

15.9.2020

Den letzten Nachmittag im Fructidor verbrachte ich abermals auf der Place Tel Aviv. Dort wehte ein sanfte Brise, ich las in einem Stück von Pierre-Sylvain Maréchal. Bald nahm neben mir jene Frau Platz, die ich noch aus der Zeit vor der Entfernung des Zaunes kannte. Sie tauchte dort, am Rande des umzäunten Platzes unregelmäßig, doch stets in wechselnder Begleitung auf. Offenbar befand sie sich auf der Suche nach einem Mann. Oftmals bekam ich etwas mit von den daraufhin stattfindenden Bewerbungsgesprächen. Der Kandidat heute sprach bezeichnenderweise mit schwäbischem Zungenschlag. Auch peinlicherweise, für mich, denn es handelte sich um einen extrem ungepflegten Mann, kaum noch Vorderzähne, Lederhut, grauer Zwergenbart. Liechtenstein nach dem Säureregen. Was sie sagte, davon verstand er bloß die Hälfte. Aber das war auch schon bei vielen anderen ihrer Kandidaten der Fall gewesen. Dafür redete er umso mehr. «Im Grunde genommen sind wir keine Rassisten».
Ein friedlicher Ort.

14.9.2020

Monatelang, beinahe ein halbes Jahr lang hatte ich mich gefragt, wie wohl die Eröffnungsfeierlichkeit für den Tel-Aviv-Platz gehalten sein würde. Heute kam ich in der (für mich) typischen Mischung aus zufälligerweise und absichtsvoll dort vorbei und bekam gerade noch mit, wie ein Duo Bauarbeiter den letzten Bestandteil der Umzäunung auf ihren Anhänger scheppern ließ, um kurz darauf abzudampfen — Bye bye …

Durch diese Umzäunung hatte ich die Fertigstellung des Platzes in den vergangenen Monaten gut beobachten können. Ich hatte bald schon ein stimmiges Bild vor Augen, wie der Platz einst werden würde. Jetzt, da er vom Zaun befreit für fertig erklärt wurde, übertrifft er meine Vorstellung trotzdem. Kurioserweise! Auch wie schnell es ging, dass das öffentliche Leben aus Fußgängern, Radlern und Elektrorollerfahrern nicht mehr auf dem gewohnten Pfad ringsum des Platzes strömt, sondern sich überallhin ergießt. Der Platz, so, glaube ich zumindest, heißt es unter Stadtplanern: wird gut angenommen.

Nicht von jedem natürlich. Eine Frau beispielsweise deutete mit einer Handbewegung, so vage wie bei Fellini, über die helle Steinfläche, die den Platz definiert und äußerte starken Unmut über die Gestaltung. Allerdings eher guttural und schlecht formuliert — obwohl sie Deutsche war. Ich stelle häufig fest, dass die Leute sich offenbar aufgefordert fühlen, auch alles außerhalb ihrer Displays konstant mit null bis fünf Sternen zu bewerten und ihre sogenannten Kommentare zu hinterlassen; aber in der Luft bleibt halt nichts hängen — anders als im Film! Wahrscheinlich, dachte ich mir, mit unverstelltem Blick auf den sanft geschwungenen, sandfarbenen Tel-Aviv-Platz, würden die Leute auch noch ihr eigenes Lebensende bewerten und kommentieren wollen. Und als ich heimkam, war genau das eine Humorgeschichte im neuen New Yorker: «One-Star Yelp Reviews of Heaven».

Duh.

13.8.2020

Die seltsame Anziehungskraft durch die Gemälde in seinem Rücken einerseits, aber manchmal auch direkt das, was er von sich gab — beispielsweise als er auf Ernährungsweisen zu sprechen kam — faszinierte mich, und ich hörte dem weisen Naturstoffkundler zu. Er selbst empfahl vor allem das sogenannte Habermus, das unter Bauern der Schwäbischen Alb vor Jahrhunderten die Hauptmahlzeit war; in jener Zeit hat man sich überhaupt noch hauptsächlich von Brei und Mus ernährt — Hirse, d’Spys, Eibisch. Ich habe gar nicht erst nachgefragt, aus was man das Habermus macht. Ob die Vorfahren des Philosophen Habermas einst als Muslieferanten bekannt  gewesen waren?

Musste mir dann draußen vor der Tür bald eine Rote einverleiben (auf der gegenüber gelegenen Hälfte der Raststelle im Hegau). Auch dass ich Tag zuvor zum Mittagessen in der Wielandshöhe eingekehrt war, fiel mir wärmend ein (abends ebenfalls schon Rote vom Grill …) Es ist egal, obwohl es natürlich ins Gewicht fällt.

Gibt es eine noch schönere Frucht als die Zwetschge, bevor man ihre Anmut durch Menschenhand zerstört? Die taubenblasse, wie mit Kalk grundierte Hülle, darauf gerade mal das ganz zarte, spärlich darauf hingezitterte Kürzel von Cy Twomblys letzter Hand. Spuren der Grashalme in Wirklichkeit, von deren Spitzen. Die Wärme meiner Handfläche legt die darunter liegende Pflaumenpolitur erst frei. Wie den Hauch von einer Scheibe.

Zum Abschied heute Spanferkel im Patio vor dem Sängerheim. Der «halbe Ort» war zusammengekommen. Wie in den ganz, ganz, ganz, ganz alten Zeiten.

11.9.2020

Frühstück auf dem Rasthof Hegau, dem letzten vor der Schweizer Grenze. Die Brezel schmeckte mir hier so gut wie nirgendwo anders zuvor — lag wahrscheinlich am Ausblick, der ging zunächst, gesäumt von vulkanischen Spitzen, auf Ballenberg, Napoleonsberg und ein sogenanntes Franzosenwäldle; dahinter lagen die Churfirsten und die Glarner Alpen. Für mich stark fühlbar in ihrer Präsenz, obzwar verborgen im Dunst.
Später in Allensbach am Bodensee: ein längerer, auch tiefgründelnder Vortrag eines Chemikers für Naturstoffe, währenddessen er sich behend mit seinen Produkten eincremte und deren Wirksamkeit an sich selbst demonstrierte, während im darübergelegenen Stockwerk seine Frau am Flügel saß und Beethoven durch die Zimmerdecke auf uns herunter brausen ließ. Meine Augen konnte ich indes kaum abwenden von der eigenwilligen Dekoration in seiner Praxis‘ Hintergrund, wo es die seltsamsten Acrylgemälde dankbarer Patientinnen gab, die Jesus zeigten (in Schwarzweiß) , aber auch Hildegard von Bingen (dito) mit eisblauem Blick und immer wieder, ebenfalls in S/W, einen Walter-Ulbricht-artigen Greis: Wie dem ein merkwürdig leer wirkender Stein überreicht wird. Außerdem gab es noch einen ausgestopften Dachs. Der Chemiker selbst war 81 Jahre alt.
Als wir uns wiedersahen, drückte mir meine Mutter zwei Kastanien in die Hand; heimlich. Weil das Glück bringen soll.

9.9.2020

Nachts zur Unzeit geweckt durch die (brand-) neue Außenbeleuchtung des Messeturms, die durch das Fenster im Schlafzimmer hereinflutet wie falsches Mondlicht; bloß dass halt der Mond naturgegeben auf der anderen, der dem Schlafzimmer abgewandten Seite der Nacht steht. Zudem sieht diese neue, eindeutig auf den Effekt hin angebrachte Beleuchtung «nicht aus», wie es in Hamburg hieße. Die an den Kanten des bleistiftförmigen Baukörpers glatt herunter montierten Strahler brennen der Silhouette die Eleganz aus. Ich vermute, so wollen die Betreiber des Messeturms via visuellem Branding die Einmaligkeit ihres Objektes zusätzlich hervorheben aus einem künftigen Ensemble von allerlei Türmen. Nebenan erwächst unaufhaltsam die Konkurrenz: Der manilahafte Grand Tower, bald schon der in sich verzwirbelte One und darauf auch bald schon der künftig Allerhöchste der Stadt. Mitsamt seiner Antenne dann sogar höher noch als der imperiale Kolbenverbund der Commerzbank.
Anyway the wind blows. Heute Abfahrt ins Reich meiner Jugend.

7.8.2020

In der Frühe auf den Lohrberg zur Apfelernte. Wir waren etwas zu früh, um etwa zwei Wochen, da lag noch kaum etwas im taufeuchten Gras. Die Stadt zeigte sich drunten als dunstige Ebene, aus der die Zentralbank, ein funkelnder Splitter hervor stand. Dicke Wolken aus Kaminen, winterliches Sonnenlicht. Den ersten Apfel der Saison direkt vom Baum: beinahe kristallin, angenehm kühlend, ätherisch. Im Arabischen heißt Melone «Trinke das Licht» — Äpfel dito. Greise ließen ihre mobile Kelter anspringen. Der frische, dunkelbraune Saft wird in Plastikschläuche abgefüllt. Erntedankstimmung. Neue Zeit.

6.9.2020

Alles in allem, im Leben und in der Erinnerung war die Lesung ein Erfolg. Linn meinte, wir sollten einen Podcast starten. Gestern ja, heute weiß ich es schon nicht mehr, Tendenz zum Nein. Aber ich beneide Sebastian um seine Ruhe. In der Ansprache der Buchhändlerin nannte sie ihn fortwährend «Stefan» — Ihm machte das nichts.

Als ich aufgewacht war, schien die Sonne. Ich habe sehr viel Zeit im Apothekergarten verbracht. Und später noch in Eimsbüttel, in Eppendorf, am Hafen, und in Sankt Georg. Meine ehemaligen Wohnorte in Hamburg sind mir näher, sie gehen mir näher, als meine ehemaligen Wohnorte in Berlin.
Alles ist hier voller Aufkleber. Hamburg ist eine politische Stadt. Das war so, als ich Anfang der neunziger Jahre hierher gezogen bin; es ist so geblieben.

In der Hafenstraße stehen heute überall Schwarze, schmatzend, sie wollen Drogen verkaufen, die meisten können überhaupt kein Deutsch. Ich nehme an, sie haben die Hausbesetzer dort in der Gegend ersetzt. Vielleicht sind die mittlerweile gestorben? Einige (Schwarze) wurde sogar etwas wütend, als ich, ohne ihnen etwas abzukaufen, durch die Mitte ging.

Nebenbei empfahl Sebastian mir ein Buch von Jürgen Osterhammel über die Verwandlung der Welt. «Eines dieser gestörten Kondensate», angeblich kann man davon kaum mehr als eine bis zwei Seiten in der Woche zu sich nehmen. Ich nahm das hin, allerdings nur so halbwegs gelaunt, dabei wohl wissend, dass dieses Buch mich die nächsten Monate (mehrere davon) kosten würde, falls.

Habe es freilich sofort, umgehend bestellt (heimlich, unter der Tischplatte eingetippt).

Im Taxi sagte ich «Ist das nicht die Simon-von-Utrecht-Straße?» (Ich sprach all diese Bindestriche mit.)

Und Linn rief empört aus: «Was!»

Der Wagen fuhr uns derweil über die Fruchtallee.

Wie konntest Du bloß! Man muss hier die Fruchtalle kennen und auch, oder ebenso: die Osterstraße. Und man muss sie wiederum beide unterscheiden können von der Weidenallee — sonst gehört man nicht hierher, nach Hamburg.

Als wir ausgestiegen waren, musste ich es sogar aussprechen: wie schön die Hamburger Straßen doch sind. Weil ich es direkt so empfand. Übrigens stimmt es!

5.9.2020

Einen wundervollen Film von Michael Dibb auf Vimeo gefunden «The Country and the City», aus den frühen siebziger Jahren. Es ist die Verfilmung eines Buches von Raymond Williams. Fürs Fernsehen wohlgemerkt! Ich frage mich, warum so etwas Schönes heute nicht mehr gemacht wird. Wie nannte sich das seinerzeit — etwa auch schon Visual essay? Formal noch nah am Buch angesiedelt, die Bilder wie Illustrationen des Textes aneinandergefügt, der von einer darüber schwebenden Stimme erzählt wird (Williams selbst spricht). Wie er, wohl Kind eines Signalmeisters bei der Bahn, der Fiktion des Landlebens als Zufluchtsort für die von der Fiktion des Urbanen enttäuschten Städter nachzeichnet … meisterlich!

Sitze im Zug nach Hamburg, Himmel dementsprechend. Die Bahnangestellten schauen auch ziemlich bedröppelt aus der Wäsche, sie müssen jetzt ja die neuen Uniformen tragen, die Guido Maria Kretschmer für die Deutsche Bahn entwickelt hat. Am auffälligsten Missraten sind die Kragen an den weißen Hemden, die eine burgunderfarbene Paspel haben, die vermutlich sportlich wirken soll. Wenn ich mich recht erinnere, waren die Uniformen vor vielen Jahrzehnten schon einmal so, zu Mitropa-Zeiten. Oder waren das die tschechoslowakischen?

Schade jedenfalls, und ich kann mich leider auch nicht daran gewöhnen, dass in Deutschland ausgerechnet das Design der Aushängeschilder immer so jämmerlich gerät.

Muss wohl aufs Land.

Kaum gedacht, reißt hinter Hannover der Himmel auf und dort leuchtet es blau.

4.9.2020

Meine Uhr war stehengeblieben. Das passiert alle fünf Jahre einmal, ich messe dem Ereignis von daher keine besondere Bedeutung mehr zu (vor fünfzehn und auch vor zehn Jahren noch war das anders). Einzig neu war gestern nun nicht, dass man vor der glasgefüllten Tür des Uhrmachers stehenbleiben und läuten musste «aus Sicherheitsgründen», das ist von jeher und beinahe bei allen Uhrmachern und Juwelieren so, aber dass ich dort vor der Tür stehend und auf Einlass wartend, eine Gesichtsmaske aufzog, während der Uhrmacher, ebenfalls maskiert, an die Türe ging. Aber dass man die Unmaskierten als maskiert empfände, so ist es längst noch nicht. Dafür ist alles noch zu neu.

2.9.2020

Niemals seit den Tagen von Kleopatra (der Alchemistin) hatte ich das Gefühl, mit dem linken Fuß aufgestanden zu sein. Ich wußte nicht einmal, wovon die Rede war. Gestern allerdings, ich kam also auf die schlechtest denkbarste Weise in den September, wurde ich kurz vor dem Sonnenaufgang geweckt von einem grässlichen Geräusch; das allein hätte mich noch nicht derart verstört, aber dies Geräusch schnitt mitten durch meinen Frühtraum (wie bei Heißenbüttel, ich hatte also davon schon gelesen), in dem ich gerade dabei gewesen war, einer mir nicht bekannten Gruppe den Inhalt eines von mir aufgefundenen Oktavbändchens eines englischsprachigen Schriftstellers zu erklären — Friederike übrigens ist der Meinung, es war dieses mich inmitten meines Erklärens unterbrechenden, das — «The birds are the smallest animals in the sky» rief ich gerade noch aus, und danach war Pause.

Das hat mich dann über die Tage beschäftigt, ich war zu kaum etwas noch fähig, ich schleppte mich selbst durch meine Tage, es war grausam, aber es war vielleicht auch gerecht. In dem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich stand jedenfalls, dass diese Redewendung mit dem linken Fuß aus einer Zeit stammte, in der das Linke noch stellvertretend gesagt wurde für das Falsche, das Nicht-Rechte.

Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass die Sehnsucht, in den Traum zurückkehren zu dürfen, ihn zu vollenden, träumenderweise, beim, Menschen derart wirkmächtig sein könnte. Heute früh habe ich mir von Friederike die Kritik am jüngsten Buch von Kapielski vorlesen lassen. Das klang derart dümmlich, dünn auch, aber auch, dass es bei Suhrkamp herausgebracht wird, hatte mir die bestmögliche Laune gemacht.

Am Nachmittag dann im Zollamt gewesen, um mir die Ausstellung mit den Pflanzen der Sklaverei anzuschauen. Der Boden dort ist mittlerweile mit Torf  bedeckt, es ist alles ein rechter Quark. Und außerdem dachte ich, da kommt wahrscheinlich gleich die Versteckte Kamera, denn der Eintrittskartenabreißer war natürlich so dunkelbraun von seiner Hautfarbe her wie der Torf.

Der Veranstalter aus Hamburg (Felix Jud) meldet für die Lesung am Samstag: 40 zahlende Zuhörer. Vierzig ist nichts im Reich des Geldes, da sind wir durch die Verkündung von Milliardensummen abgehärtet worden. Aber in Menschen — so sind die neuen Zeiten— sind 40 eine mich beeindruckende Zahl.

31.8.2020

Kaum, dass es eine halbe Nacht lang geregnet hat, bekomme ich schon Herbstgefühle. Gestern stand auf einem dieser zahllosen Schilder, mithilfe derer man als Autofahrer sich informieren lassen soll über die Sehenswürdigkeiten links und rechts der Autobahn; die man verpasst auch deswegen, weil man, während man davon liest und sich informieren lässt, auf der Autobahn fährt; in weiß auf braun etwas von einem Mineralwassermuseum. Ich habe heute früh gleich detailliert in Farbe nachgeschaut, während es draußen grau und feucht war: es hat geschlossen. Auch auf ihr Grundrecht, sich ihren sogenannten Haustrunk dort an der Mineralwasserquelle zu schöpfen, müssen die Einwohner aufgrund der dauerhaften Schließung von Mineralwasserquelle mit dem sie umgebenden Museum derzeit noch verzichten. Das Recht auf den Haustrunk besteht dort wohl seit 300 Jahren. «Jeder hat gereinigte leere Flaschen (max. 1 L) selbst mitzubringen.» Diese braunen Schilder am Rande der Autobahn müssten doch noch viel mehr solcher Information beinhalten! Wie gerne ich in der zuständigen Abteilung des Verkehrsministeriums tätig wäre (beratend).

Und natürlich ist jetzt, da es mir unmöglich gemacht wurde, das herrliche Mineralwassermuseum zu besuchen, dort meinen Haustrunk zu schöpfen, meine Lust unstillbar groß, eben auch nur eines von beidem, das Geringste von mir aus, zu tun. 

30.8.2020

Ausflug an den Norfbach, Landstrich am Niederrhein. Normalerweise findet dort am letzten Wochenende im August ein Schützenfest statt, das sogar im Fernsehen übertragen wird. Sagte man mir. Selbstverständlich war das von offizieller Seite alles abgeblasen worden. In einigen der Vorgärten war trotzdem die rot-weiß-schwarze Schützenvereinsfahne gehisst, aber nicht auf Halbmast, wie ich es mir vorgestellt hatte. Auf der Fahrt zum Mittagessen bog vor uns ein Pferdewagen ab, auf dem saßen einander mit Bieren zuprostende Männer, Schützen in Zivil. An der Flanke ihres Gefährtes hatten sie allerdings ein Banner befestigt, das ihren Verein bewarb «Alt Nüss 1933». Ich reagierte freilich stark auf diese Zahl.
Auf dem Heimweg fing es Punkt Limburg an zu regnen. Aus der zinnfarbenen Ebene ragten bunt die Spitzen des Doms. Über Frankfurt Gewitter. Sogar Blitze. Und es regnet immer noch.

28.8.2020

Herzerfrischende Szene, wie sich auf dem Taxistreifen des Hotels — es hat seit heute wieder geöffnet — zwei Fahrer begrüßen, die sich die ganze Zeit über nicht mehr begegnet waren (wie es mir scheint). Eigentlich war ich ausgeschwärmt, um von den Haselnüssen aufzulesen, die der Wind von den Bäumen gerupft hatte. Kam aber dann, wie das halt immer so ist, an einer der zahlreich gewordenen Mikrobaustellen vorbei. Hier und da wird überall etwas repariert oder ausgebessert. In dem Fall ging es um etwas Unterirdisches: ein Baggerführer behandelte auf mikroinvasive Weise mit seinem verlängerten Arm durch eine Öffnung im Trottoir. Beides einander angemessen klein — Arm und Öffnung. Das Führerhäuschen umgab den Baggerfahrer wie eine gläserne Hülle. Auch diese schien angemessen. Mich erinnerte der Anblick an den Film mit John Travolta, The Boy in the Plastic Bubble. Ob der bei den Trash-Fans dieser Tage seine Auferstehung erlebt?
Auf einer der entlang dieser Straße geparkt abgestellten Baumaschinen faszinierte mich der auflackierte Schriftzug einer Firma namens Diamant: «Beton bohren … Beton sägen …» mich faszinierte freilich die Interpunktion. Kaum ist mir etwas noch weniger die Fantasie Beflügelndes vorstellbar als das Bohren, beziehungsweise Sägen von Beton. Hier wäre doch, so denke ich, jeweils ein Ausrufezeichen angebracht (hätte angebracht werden sollen). Aber diese drei Punkte … Es ist noch nicht lange her, dass ich meinen Frieden gefunden habe mit den drei Punkten. Warum, aus welchem Grund dies stattgefunden hat, ist mir nie klar geworden. Plötzlich tippte ich sie ein, es war eine Befreiung (dass es dafür mittlerweile eine eigene Taste gibt, die eine solche Dreiergruppe aus Punkten im Text platziert, hatte ich vorher schon, quasi klammheimlich herausgefunden, die Taste aber immer nur kurz, wie zur Prüfung, vor mich hin betätigt und die drei Punkte darauf umgehend wieder getilgt.
Seitdem setze ich sie ein, wenngleich sehr, sehr sparsam. Die drei Punkte kommen im Schrifttum der Laien gerne und häufig vor, sind aber nur etwas für Fortgeschrittene. Sie sind Kiesel aus der Hosentasche von Hänsel, sie leiten den Leser aus dem Text in das Unterholz des eigenen Denkens voran, wo es sich möglichst mit dem Denken des Autoren decken soll in jenem seltsam unbeschirmten Einverständnis, das die gedankenlösende Hälfte jenes Satzes, der mit den drei Punkten bewusst unvollendet formuliert ward, provoziert.
Das ist reichlich viel verlangt, es kann, wie immer beim Baggern, beinahe alles schiefgehen.

26.8.2020

Gestern abend, auf ein Mal, waren die Elstern zurück. Kein Mensch weiß, wo dieses Paar sich in den vergangenen Wochen aufgehalten hat. Den August über war es sehr still, die Amseln fehlen noch immer. Ich hatte gelesen, dass sie die heißen Wochen nach der Brutsaison im Wald verbringen, um sich dort in der schattigen Abgeschiedenheit zu mausern. Die Elstern hatten zurückgefunden in den großen Baum, in dem sie im Frühjahr ihr Nest errichtet hatten. Noch bevor der Baum seine Laubhülle umher entfaltet hatte. Im März war das. Sehr lange her. Eine Weile saßen sie dicht beieinander auf einem Kaminstumpf beisammen und schauten zu ihrem Baum hinüber «Weißt Du noch …»

Heute hat meine Mutter Geburtstag. Gestern hatte Maxim. Sechzig Jahre alt! In der Neuen Züricher Zeitung hatten sie ein Interview mit ihm selbst. Nichts Neues, Why Does It Always Rain On Me (mit Ausrufezeichen). Er hat wohl in den vergangenen drei Jahren beide Eltern verloren. Das tat mir leid.

Schöner Wind heute den Tag über. Durch den Tag hindurch.

25.8.2020

In der Frühe hatte ich mit einem Mal den Geruch sengender Zweige in der Nase, er kam in Wellen, und dazu vernahm ich aus dem schräg gestellten Küchenfenster der Mume ein Knistern. Ich blieb wachsam, aber das Feuer blieb aus.
Später war es der Duft frisch geschnittenen Grases, dem ich nachgehen wollte bis zur Europa-Allee. Der Europagarten, beginnend dort, wo die Fahrspuren der «Allee» hinab durch Tunnel führen, wird in Bälde fertiggestellt sein. Noch ist das Areal eingezäunt. Und tatsächlich wurden die Rasenflächen heute gemäht. Wie wir neulich nach Sonnenuntergang beobachten konnten, haben sich etliche Hasen in dieser Sicherheitszone angesiedelt. Von mir aus könnte der Zaun auch gerne stehenbleiben.
Bienen werden von Imkern nach Gewicht verkauft. Ein Bien genanntes Volk von 12000 Tieren wiegt ungefähr drei Pfund inklusive seines Regerationsorgans, der Königin. Die Völker wurden üblicherweise mit der Post verschickt, schreibt Andrew Coté. In den siebziger Jahren haben die Kunden des Versandhändlers Sears, Roebuck noch drei Tonnen Bienen pro Jahr als Mailorder bestellt. Macht 24 Milliarden Einzelbienen, wenn ich mich nicht irre.
In Hasen eine unvorstellbar riesige Zahl!
Als die amerikanische Post im Jahre 1913 den Paketdienst eingeführt hatte, dauerte es nicht lange und schon im darauffolgenden Jahr konnte New York Times von der erfolgreichen Verschickung eines zweijährigen Kindes von Stratford im Bundesstaat Oklahoma nach New York City: «The Boy wore a tag about his neck showing it had cost 18 cent to send him through the mails.»

Es sind allerdings bloß 24 Millionen Bienen. Wenn man sich die allerdings hasengroß vorstellt …

24.8.2020

Unverhofft von einer Wespe gestochen worden. Das erste Mal in diesem Jahr, und das ausgerechnet vier Monate vor Heiligabend! Merkwürdig auch, wie sie den Stich ausgeführt hatte: Aus dem Luftraum zwischen Hemdenstoff und meinem Körper, durch das textile Gewebe hindurch in den Rücken meiner linken Hand. Quasi als Illustration der sprichwörtlichen Verbildlichung der Umständlichkeit. Zum Glück nicht ins Auge!

Ich hatte gerade ein spanisches Reisgericht zubereitet, Paëlla nach dem Rezept der Mutter von Jakob Strobel Y Serra. Meine Vermutung war freilich, dass die Wespe von dem dabei eingesetzten Lebensmittelfarbstoff Colorante angestachelt wurde; ich stand ja außerdem noch unter dem Eindruck meiner Lektüre, den Lebenserinnerungen des Imkermeisters Andrew Coté, einem New Yorker, der erzählt, dass Bienen sich mit dem Geruchsstoff, den rohe Bananen verströmen, aggressiv machen lassen, weil stechende und deshalb sterbende Bienen einen Geruchsstoff verströmen, der identisch ist mit dem von gehäuteten Bananen.

Colorante ist auch gelb. Aber sonst gibt es keinerlei Zusammenhang. Auch nicht zwischen Wespen und Bienen. Im Vergleich mit einem Bienenstich tut der von einer Wespe überraschend wenig weh. Die Schwellung jedoch ist allerhand. Die Anekdote, die Andrew Coté erzählt, und in deren Verlauf er mehr als zwanzig Mal von Bienen ins Gesicht gestochen wurde, spielte sich in Uganda ab. Zum Frühstück dort gibt es ein Mus aus Bananen.

«Be on my side» von Melanie Charles und Meijwahn hat ein schönes Sample von Lani Hall. Wo ich in diesem Jahr meine Mistelzweige verkaufen werde, auf welchem Weihnachtsmarkt, weiß ich noch nicht.

23.8.2020

Von meiner neuesten Phobie vor WAGNER abgesehen, war gestern ein geglückter Tag. Dadurch auch erschöpfend. Abends Film geschaut: «Sehnsucht» von Valeska Grisebach. Wunderschöne Tragödie. Ein Meisterwerk! Komme noch immer nicht über das Ende hinweg: Die Erzählung der Kinder, Epilog. Im Halbdämmer noch versucht zu erklären, warum Film hierin der Literatur sich als überlegen erweist.

Heute früh nach dem Sonnenaufgang lange Minuten ein Himmel wie über Paris. Dann tuschhafter Regen. Rauschend, zauberhaft.

22.8.2020

Ivan Safronov
Igor Vakhnenko
Boris Kolesnikov
Alexey Stroganov
Vadim Godlevsky
Maksim Borodin

20.8.2020

Eigentlich hatte ich Pheromonfallen kaufen wollen, war dabei aber, wie das hier so ist, vom reinen Schauen geleitet bis tief an den Rand der Altstadt gelockt worden. Vor dem ehemaligen Zollamt, einer Nebenstätte des Museums für Moderne Kunst, entdeckte ich auf dem Vorplatz einen größeren Stapel von Europaletten, auf denen wiederum säckeweise Blumenerde in Stapeln lag. Ein Mitarbeiter der Spedition, zart und drahtig und milchschokoladenfarbig, vielleicht ein Ghanaer, vielleicht ein Namibier, vielleicht auch ein Südmarokkaner, schien damit beautragt, diese Säcke ins Hausinnere zu schaffen. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft auf dem Platze lagen noch 23 Säcke zu je 70 Liter vor der Tür. Frage nicht, warum man Erde mit Flüssigmaßen misst!

Im Angesicht dessen fiel mir natürlich wieder ein, wie ich kurz vor dem Lockdown, Ende März, an genau dieser Stelle gestanden hatte, bloß waren damals palettenweise Blumen abgeladen und ins Zollhaus hinein getragen worden. Sehr viel später erst hatte ich anlässlich meines Besuchs der Frank-Walter-Retrospektive erfahren, dass diese Pflanzen nach der Verkündung des Lockdowns retour nach Holland geschickt worden waren, da die Ausstellung nicht wie geplant eröffnet werden konnte. Die Künstlerin, Precious Okoyomon, konnte nicht aus den Vereinigten Staaten anreisen. Die Blumen warteten vergeblich auf ihr Arrangement.

Es handelt es sich übrigens mitnichten um dekorative Blühpflanzen, wie ich in Erfahrung bringen konnte: Die Installation «Earthseed» besteht aus den Insassen zweier Lastwagen-Container, gefüllt mit Exemplaren des in Japan heimischen Bodendeckers Kudzu (Pueraria montana), einer Art Winde. Die Installation soll eine Praxis in den Südstaaten von Amerika ins Gedächtnis rufen, als durch extensive Baumwollwirtschaft in Zeiten der Sklaverei der Boden errodiert wurde. Kudzu sollte die Krume vor dem Verwehen bewahren. Den Warnungen der Japaner gemäß, die die Yankees ignoriert hatten, überwucherte Kudzu das Land und ließ sich dabei nicht im Zaum halten. Mensch denkt, Gott lenkt, ließe sich dazu denken, doch wirkt die Präsenz der alles überdeckenden, auch die Scham und die Schuld zuwuchernden Pflanze Kudzu in dem ehemaligen Zollamt irgendwie — direkter? Auf jeden Fall eindrucksvoller, bestimmt. Was wohl mit der Ladung Pflanzen aus der Lieferung vor dem Lockdown geschehen ist? Und was wird denen blühen, die jetzt im Zollamt vertrauensvoll sprießen in Richtung ihres künstlichen Sonnenlichts?

«Schrecklich, die Corona-Zeiten», rief eine Frau mit Mundschutz vor dem Café Mozart. «Es treibt die Leut‘ auseinander. Man traut sich schon gar nicht mehr, irgendwo dazuzusitzen.»

19.8.2020

Nachdem ich gestern den Tag und den, wie es mir im nachhinein klar gemacht wurde: wesentlichen Teil der davor gelegenen Nacht damit verbracht habe, zu entgiften (Ursache vermutlich ein Gericht nach Ottolenghi, als dessen Wirkung ich mich fühlen konnte wie der Ozean selbst vor Port Louis: Ich sah den fremden, dunklen Faden vor mir, der sich, zunehmend freilich, in mein Türkis kräuselte), schwante mir heute früh abermals nichts Gutes bei dem Anblick dreier Männer in gleichartigen Polo-Hemden, die sich vor der Haustür versammelt hatten. Immerhin hatten sie keine Auberginen dabei! Allerdings hatten sie wenig später aus ihren Werkzeugkoffern ein durchdringend vibrierendes Tönen entfaltet, das vermutlich einen Durchbruch erzielen sollte. Wie auch immer der geartet war. Der Geräuschpegel war jedenfalls in seinen Spitzenwerten derart feinsinnig an die Unterschwelle der Erträglichkeit eingestellt, dass ich weder schreiben konnte, noch lesen. Ging glatt als Folter durch. Ich hatte tatsächlich keine andere Vorstellung zur Verfügung: Das Haus ist ein Zahn, ich befinde mich unverrückbar im Inneren des Hauses und da mir das Bohren ins Haus auf die Nerven geht, bin ich wohl der Nerv des Hauses. In dieser Vorstellung ließ es sich seltsamerweise wieder leben.

17.8.2020

Zum Ende hin gab es in V. eine Seite mit einer Aufzählung und die einzelnen Bestandteile dieser Aufzählung waren jeweils mit einem Symbol in Form von Händen, die mit ausgestrecktem Zeigefinger aus Manschetten stießen, indiziert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Seite zuvor schon einmal erreicht zu haben. Da ich mir aber sicher bin, den Text, Roman, diese Erzählung schon einmal gelesen zu haben, frage ich mich, was ich überhaupt weiß, von all den Texten, von denen ich weiß, das ich sie gelesen habe. Wie sieht dieses Wissen von jedem dieser Texte aus; sicherlich sieht es dem Text nicht gleich — wem aber dann?
Schaute, um mich auf andere Gedanken — zumindest einen davon — zu bringen, eine Folge von Priya’s Fridge Makeover: Es geht darum, dass eine Person namens Priya bei anderen Leuten den Kühlschrank aufräumt. In dieser Folge fing sie vor allem damit an, dass deren Kühlschrank ausgeräumt wurde. Anfänglich sah der gar nicht mal ungewöhnlich geräumig aus, wurde dann aber, je mehr Priya aus dem Inneren herausholte, geradezu unheimlich anziehend für mich mit seiner Leere. Vor allem, da auf dem Küchentisch mittlerweile eine Jause für Gargantua strammstand. Unter anderem: Fünf Anderthalbliter-Flaschen Milch! Im zugehörigen Reddit-Forum wird derzeit noch diskutiert, ob die daraus vielleicht Joghurt machen? Kaum, besagen die Gegenstimmen. Bei der gezeigten Marke handelte es sich wohl um ein laktosefreies Produkt (Fairlife enthält dafür doppelt soviel Protein wie die unverbesserte Milch von der Kuh). Der schönste Moment indes, als der Kühlschrank ganz ausgeräumt und leer und sauber weiß war, wird leider nur den zahlenden Abonennten von Priya gezeigt. Als ASMR für die Augen. Man schaut dann dabei zu, wie Priya in der aseptisch strahlenden Innenwelt des mächtigen Frosties umherspaziert und winkt. Bald schon so winzig scheint, dass sie von den Kühlschranklichtern überstrahlt wird, ausbrennt und.
Kurz vor Sonnenuntergang dann eine einzige aus allem aufgetürmte Wolke im Westen. Bei jedem Flugzeug die Lust, es möge dort hineinfliegen. Sie flogen alle weit vor der Wolke vorüber. Immer nur dann schien sie plötzlich viel weiter weg, als gedacht. Gleich darauf wieder ganz nah. Beinahe bedrohlich. Und trotzdem sehr schön.

16.8.2020

In der aktuellen Ausgabe der Schwäbischen Heimat, der dritten in diesem Jahr, steht eine unglaubliche Geschichte von einer Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach einer schweren Wirtschaftskrise einige Gemeinden ihre verarmten Bürger nach Amerika abgeschoben haben. Die Fahrtkosten für das Schiff wurden übernommen. Auf längere Sicht versprach man sich eine Entlastung durch den Wegfall der Armenspeisungen und Unterhaltszuschüsse. Den abgeschobenen Deutschen ging es damals wie den Heutigen von anderswo, die nach Deutschland zu gelangen hoffen: Die in Le Havre ansässigen Schlepper knöpften ihnen zuviel von der Wegzehrungspauschale ab, man kalkulierte die Zeit der Überfahrt nach New Orleans viel zu knapp, an der Hafenmündung dort kippte man sie ausgezehrt und teilweise unbekleidet an den Strand. Es war inzwischen Februar geworden. Sie werden von den dort lebenden deutschen Auswanderern gerettet und für eine erste Zeit versorgt. Allerdings regt sich bald schon Widerstand gegen diese Praxis, man schreibt Protestbriefe nach Deutschland. Der gesamte Artikel ist hervorragend geschrieben. Herzergreifende Szenen, wenn die Schwaben das Dampfschiff besteigen müssen, dass sie der Heimat entrücken wird. Ein Trompeter stellt sich in den Bug und spielt noch einmal den Abschied vom stillen Haus, während vom Kirchturm her die schwere Glocke läutet.
Auch sonst hat diese hervorragende Zeitschrift wieder einmal viel zu bieten. Beispielsweise wußte ich nicht, dass sich die Frau des Malers Rudolf Schleicher Speedy nannte (wohl nach einem damals populären Film mit Harold Lloyd). Und es gibt die Abbildung eines kleinen Gemäldes von einem Bach, von Otto Reiniger, das ich sehr, sehr gern hätte.
Nachmittags bei Eva und Jan im Garten. Auf einem Tisch lagen haufenweise winzige Äpfel, wie bei Handke. Alle reif. Sie fallen immer dann vom Baum, wenn sie reif sind, meint Jan. In jedem genau ein Loch, vielleicht sogar auch nur ein einziger Wurm.

15.8.2020

Herabgestiegen aus dem Bratwurst-Olymp informierte mich mein Vater, dass er in Amberg stationiert gewesen war. Ohne B. Aber Bamberg findet er auch wunderschön. Ein winziger Unterschied, ein Zeichen, macht über eine Stunde zwanzig über Land. A little goes a long way.

Und in dem Buch, das ich noch immer lese, V., verabschiedeten sich just zur Stunde zwei mit dem Gruß «Sahha» («Sahha», sagte Paola. «Sahha» echote Profane steht an der Stelle im Buch). Ich schaute nach und fand damit nur syrische Restaurants. Die Szene spielt aber in La Valetta. Den Buchstaben, die dem lateinischen h ähnlich sehen, fehlte im Malti eine Kleinigkeit, damit aus «Sahha» ein Gruß wird. Sie müssten so geschrieben und gedruckt werden: ħ. Dementsprechend die Stelle «Saħħa» sagte Paola. «Saħħa» echote Profane.

14.8.2020

Abschied von Bamberg. Ein herrliches Städtchen, von dem mir seit frühesten Kindheitstagen immer nur erzählt wurde — mein Vater war hier in seiner Soldatenzeit stationiert — gestern trat ich in diese Erzählung ein. Es war dort warm, aberangenehm ventiliert von den Flussauen, dabei unüblich leer in den Gassen, die tatsächlich malerisch sind und vollgestellt dicht an dicht mit den anheimelndsten Häusern und Palästen. Es gibt meiner Ansicht nach keinen schöneren Platz in Deutschland als den Biergarten der Brauerei Spezial Keller, zum Biertrinken und auch sonst nicht, mit seinem Blick auf die Spitzen von Dom und Sankt Stephan im ziegelroten See und gleich dahinter die blauen Hügel. Gestern hatte es außerdem noch klare Luft.

Abends, wir saßen in einer sogenannten Klause und in das gotisch spitze Kummet der Türfüllung war die Jahreszahl 1307 eingeschlagen, bin ich, wie so oft in letzter Zeit, wieder nachdenklich geworden, ob ich nicht konvertieren sollte.
Heute hat Wim Wenders Geburtstag. Alles gute zum Geburtstag, Wim!

12.8.2020

Der altenburger Dialekt ist auch mit sehr viel gutem Willen kaum noch zu entziffern, ein wolliges Gurgeln, das unserem Aufenthalt hier erst die exotische Würze verleiht. So verbrachten wir den Hauptteil des Tages heute auf der Liegewiese eines Stausees, umgeben vom indigenen Volk der Altenburger aus unserer Nachbarschaft, die uns mit der für diese Gegend typischen Liebe zur Abgeschiedenheit, zur Distanziertheit und im Grunde doch zur Isolation zu meiden trachteten, wo es nur ging. Bald schwammen wir zu einer ebenfalls schwimmenden, künstlichen Insel im Wasser der Talsperre hinaus, deren Liegefläche — coronabedingt — lediglich für bis zu zwei Personen zugelassen war. Dort unter dem kleinen Schirm schippernd, lagen wir den Effluenzen vonseiten der Liegewiese zwar ausgeliefert, doch meinten wir der ehedem feindseligen Strahlung nun etwas Wohlwollendes beigemischt zu empfinden. Aus dutzenden, drüben in den Baumkronen verborgenen Lautsprechern sirmelte ein Klangteppich, der aus den mittleren Hits der Jahre 1984 und 1985 gewebt ward; beispielsweise erkannte ich eindeutig Celebrate Youth von Rick Springfield! Auch sonst war das Panorama der Uferlandschaft selbstverständlich vielfältiger, bunter und von daher auch abwechslungsreicher anzuschauen,  als die Aussicht vice versa. Selbst beim Horchen und Gucken ist der Wessi halt noch auf seinen Vorteil aus und strebt nach Profit.

Übrigens glänzende Internetverbindungsgeschwindigkeiten noch im hintersten Winkel: In der neuesten Ausgabe seiner Red Hand Files beantwortet Nick Cave die kombinierte Frage, wie er es a) mit der Gnade, und b) was er von sogenannter Cancel Culture hält.
«As far as I can see, cancel culture is mercy’s antithesis. Political correctness has grown to become the unhappiest religion in the world. Its once honourable attempt to reimagine our society in a more equitable way now embodies all the worst aspects that religion has to offer (and none of the beauty) — moral certainty and self-righteousness shorn even of the capacity for redemption. It has become quite literally, bad religion run amuck.»

Dem ist freilich nichts hinzuzufügen.

11.8.2020

Seltsam, wie mich jeder Ortswechsel, auch noch so gering, beinflusst, dahingehend, dass ich mich in einem völlig neuartigen Traumgeschehen wiederfinde. So war mein Träumen in der Nacht von Vorgestern auf Gestern von einem Gefühl unterlegt, dass ich auf eine fremdartige Weise als angenehm begriffen habe. Nach einiger Traumzeit wurde mir klar, dass es das Lebensgefühl des Wohlstandes war. Ich war wohlhabend gewesen in meinem Traum, und kaum dass ich das begriffen hatte, ging mir einiges schief. Die Erinnerung an meinen Wohlstand ist bei mir geblieben — echt wie von echtem Erleben erzeugt —, sie beschäftigt mich, latent, seit diesem Morgen.

Wir sind mittlerweile im Altenburger Land angelangt. Die Landschaft ist wunderschön, heiter geschwungen, zu allen Seiten des Dorfes bluten die Sträßchen in goldene Kornfelder aus. Gesäumt von Birnen und Zwetschgenbäumen, in denen die Wespen unermüdlich am Werk sind. Es gibt hier kaum Menschen. Wir wohnen im Mühlhaus, vor den Fenstern ist ein Teich. Selbst wenn man alles so macht wie immer, ist es auf einmal vollkommen neu. Auf dem Friedhof steht Ruhe sanft auf einem weißen Findling. Mit Ausrufezeichen.

9.8.2020

Als die Reifen unseres Gefährtes, irgendein Ford, die ersten Meter Autobahn befahren hatten, kamen wir beide zugleich in den Genuss eines längst vermissten Wohlgefühls: der Freude am Fahren. Zum Teil gewiss davon erzeugt, dass damit die Erinnerung an Ferienfahrten mit der Familie wachgerufen wurden; doch war da sicherlich auch ein Gefühl von weiter her, eine kollektiv erzeugtes Wohlgefühl vom Fahren auf der Autobahn.
Auch erlebt man dabei stets sehenden Auges viel und anderes und bleibt doch die ganze Zeit über bei sich. Urplötzlich platterte beispielsweise einmal der Regen auf unsere Windschutzscheibe. Aus heiterem Himmel. Wenige Augenblicke danach, war alles wie von der magischen Tafel fort gewischt.
Als wir die unsichtbare Grenze zur Zone überquert hatten, tauchte bald ein Tunnel auf, der «Tunnel der Wiedervereinigung». Er war ziemlich lang, wir fuhren darin etwa zwei Minuten lang, auf der anderen Seite war das Tageslicht merklich verändert — grau, dabei hell, irgendwie eintönig. Die Landschaft wirkte viel weniger sommerlich in diesem Licht. Wir beschlossen, im nächsten Dorf kehrt zu machen. Das war am Fuß eines Hügels, auf dem eine riesige Skulptur aus Naturstein mit dem Titel «Tor zur Freiheit» in den farblosen Himmel ragte. Noch einmal fuhren wir durch den Tunnel der Wiedervereinigung, aber dieses Mal wieder zurück in den Westen. Nach weiteren zwei Minuten fuhren wir dort ein ins strahlende, sommerlich blühende Licht über den Kasseler Auen. Aber es nutzte ja nichts, wir wurden auf der anderen Seite erwartet.

8.8.2020

Heute Tag der Katze (Luftdruck 1018 Hektopascal)

Lese V von Thomas Pynchon, der schönen Afrika-Szenen wegen. Besitze es jetzt wieder (oder erneut?) in dieser schönen Taschenbuchausgabe von Rowohlt mit dem schrillen Trauerrand, in der ich es vor ungefähr 30 Jahren schon einmal gelesen hatte. So gut wie alles vergessen, bis auf den Judasbaum. Verstehe jetzt allerdings besser, warum ich es damals als so schwer lesbar empfunden hatte: Die Übersetzung ist nicht gut, keinesfalls angemessen. Gerade bei der literarischen Übersetzung besteht das Komitee oftmals bloß aus einem einzigen Stimmberechtigten. Und trotzdem kommt dann nicht wie gewünscht ein Pferd, sondern ein Kamel dabei heraus.

6.8.2020

Noch immer kommen die besten Nachrichten mit der Post. Heute mittag zum Beispiel ein Päckchen aus Bad Canstatt, Absender ist die Metzgerei Luz in der Seelbergstraße. Inhalt war die aktuelle Lieferung meines Wurst-Abonnements, das mir Friederike zum Geburtstag geschenkt hat. Die Zusammenstellung variiert jeden Monat, heute waren sogar Saitenwürscht dabei — himmlisch! Dazu eine weiche Rotwurst und ein Sortiment Salamis, für die die Metzgerei gerühmt wird; unter anderem müsste es richtig heißen. Unter sehr vielem anderem, denn bislang war alles von erster Qualität! Das Familienunternehmen Luz  besteht in der fünften Generation seit 1911, gut möglich also, dass schon Hermann Lenz dort seine Saiten holte. Wahrscheinlich sogar, ich meine mich erinnern zu können, dass er des öfteren Ausflüge nach Canstatt unternommen hat.

Desweiteren in der Post: «Die Chefin» unseres Getränkelieferanten schickt mir eine CD mit ihrer Warteschleifenmusik, dem Schluckspecht-Lied (ich hatte dort darum gebeten, weil ich den Text so herrlich fand). Stellt sich heraus, so schreibt sie mir in ihrem Brief, dass Sie selbst «die Chefin» diese Firmenhymne eingesungen hat. Es sind auch noch Weihnachtslieder drauf. Bald, schreibt die Chefin, ist es ja wieder soweit.

Morgen wieder 34°C, am Samstag 37 Grad. Sonntags fahren wir fort.

4.8.2020

Mittlerweile bin ich in jenem Zustand angekommen, den Adorno als dicht und konzentrisch beschrieben hat, als Spinnennetz, das alles in sich hineinzieht, was da kreucht und fleucht. Heute früh kam mir auf dem Weg zum Postamt ein Mann entgegen, auf seinem T-Shirt stand in Großbuchstaben «Latin Lover», aber er schaute drein, als ob ihm das gleichgültig sein dürfte, was dort geschrieben stand.

Das war in jener Intensität meiner Empfindung gleichermaßen irritierend wie tröstlich zu erleben, wobei es dann noch immer genausogut sein kann, dass meine Arbeit als misslungen befunden wird. Nichts von dem herüberkommt, was ich mir vorgestellt habe.

Marko aus Zagreb schreibt an Nick Cave, was zu tun sei «when the lyrics just aren’t coming?», Nick Cave schreibt zurück an Marko, aber gleichsam auch an alle: «Meiner Erfahrung nach kommen die Texte so gut wie nie einfach so.» 

Was wird Marko damit machen?

3.8.2020

Gestern, als wir draußen saßen und Gazpacho aus den tiefen Tellern löffelten, landete eine der Wespen in Friederikes Suppe und begann sogleich, auf wirrer Fahrt herumzuschwimmen. Kurz diskutierten wir, ob die versuchte, die Insel Guarnición zu erreichen, beschlossen aber dann, dass ich sie herausholte. Abgesetzt auf dem Festland in einem Blumentopf, kletterte sie dort herum, noch beinahe vollständig vom Gazpacho überzogen, um dann mit einem Mal zur Seite umzufallen und liegenzubleiben wie sterbend. Dem war der Fall. Schon als Friederike um den Tisch herum gekommen war, um durch die Makrolinse nachzuschauen, war die Wespe tot. Wir fragten uns, welcher Bestandteil in der Suppe für Wespen giftig sein mochte. Vielleicht hatte sie auch eine Allergie? Im Stillen befürchtete ich selbst, die Suppe könnte vergiftet sein. Dies allerdings bloß kurz. Ich fragte mich aber schon: Woher nehmen wir unsere Zuversicht?

2.8.2020

Palmolive und Gerolsteiner haben das Erscheinungsbild ihrer Flaschen verändert. Bei Gerolsteiner betrifft das Redesign sogar die Flaschenform! Ich finde die neue sehr schön, werde aber die alte vermissen. Bei Palmolive kann ich es kaum in Worte fassen vor Zorn, wie unnötig ich das Gepfriemel an einem derart makellosen Etikett empfinde! Wahrscheinlich war diese Person zuvor beim sogenannten Bauer-Verlag für Titelblätter zuständig, die bersten auch schier vor lauter Features. Kurz vor dem Ausrasten wuchs mir aber die Rettung noch zu in Gestalt einer Idee: Umfüllen! Frisches Palmolive in die gewohnte Flasche, neue Flasche in den Müll. Dein Grün aber sollst Du behalten.
Die Aufheiterung brachte ein Newsletter, natürlich einer, dem ich schon seit neun Jahren oder noch länger die Treue halte. Maya Decipherment erscheint in loser Folge, insofern findet man mich immerzu überrascht. Gestern ging es um Miniaturen. Beziehungsweise stellten sich die beteiligten Ethnologen angesichts einiger Fundstücke die Frage, warum die einst in ihrer sehr kleinen Form hergestellt worden waren und nicht etwa größer. Als Hintergrund wurde der Diskurs um die Größe von solchen Kunstwerken zusammengefasst, dabei ein Argument von Claude Lévi-Strauss, der geschrieben hat, dass uns das Kleine, das wir in der Hand halten können, Vergnügen bereitet, während man vor dem Großen andere Gefühle bekommt. Illustriert war das mit einem winzigen Gemälde von Sarah Goodridge aus dem frühen 19. Jahrhundert, ihrem Geliebten zugeeignet  — I could relate to that. Weil Friederike seit neuestem diese wunderbaren Zeichnungen macht, die etwas kleiner als eine Postkarte sind, aber — wie Betlehem: so groß. Ich kann mich gar nicht erinnern, ob ich jemals zuvor dabei war, als sich ein künstlerisches Talent entfaltet hat before my very eyes?
Im Abendlicht dann wieder Teilentkräftung von Levi-Strauss, aber lustvoll, denn die Wirkung der Wolken hatte ich ja ganz vergessen (tags waren sie von der Hitze aufgelöst): Ein langgezogenes, dabei flaches, auch flunderförmiges Modul mit leuchtenden Kanten stand da ruhig atmend, ohne zu zittern am Firmament. Wenig später war davon bloß ein Zerrbild einstiger Größe geblieben, sein Schatten wohl, ziemlich ewig dort noch tintig liegend in Milch und Curaçao.
Wahrscheinlich bringt es Wenders mehr, wenn ich viel über Ausreden nachdenke, seine Filme nicht anzuschauen, als sie tatsächlich anzuschauen.

1.8.2020

Gestern kam — heiß ersehnt natürlich: die Markise. Zwei Männer, wie Kurt Kusenberg sie sich in seinen Möbelpackerszenen auch nicht besser ausdenken konnte, schraubten das Ungetüm mir nichts, dir nichts an die Wand, als hätten sie ein Leben lang nichts anderes gemacht. Hatten sie wahrscheinlich auch nicht. Die Handwerker sprechen hier oft noch ein sehr schönes Hessisch, wie man es sonst nirgendwo mehr hört in der Stadt. Die Markise hat grüne Streifen und seitdem ist unser Licht wie verzaubert. Sogar die Wespen sind ganz sanft, wenn sie in den Schutzraum einfliegen. Lange Zeit hatten wir annehmen müssen, wir wären mit diesem Montageauftrag einem Rodomonteur aufgesessen, doch am Ende hat es sich gefügt. An «Paris Texas» war da freilich nicht mehr zu denken — zu sandig! Den kannte ich zwar schon, wollte ihn aber unbedingt noch einmal schauen, wegen der Szene im Flauschpullover — once more with feeling, wie es heißt. Heute wird es ja auch wieder Abend werden.

Als Belohnung ihrer Sanftheit haben wir den Wespen ein Bad eingerichtet in einer chinesischen Schüssel, in der Mitte liegt ein Stein als Badeinsel. Wird angenommen! Ob freudig, bleibt fraglich, die tragen ja von Haus aus eine Art Sonnenbrillen.

31.7.2020

Gestern «Der Stand der Dinge» aus dem Jahr 1982. Den Amerikanischen Freund konnte ich überspringen,den hatte ich in meiner Cineasten-Phase — die übrigens nur wenige Jahre später stattfinden sollte, aber freilich nicht das Schauen von Wenders-Filmen enthielt — schon gesehen. Wie Sebastian anmerkte (zu DAF) wirke der mittlerweile «wie ein alter Tatort». Der Stand der Dinge wie eine Dubversion von «Stardust Memories» ohne Humor. Eventuell hat der frühe Wim Wenders auch den Begriff vom Humorbefreiten erfunden wie Karl Heinz Bohrer den vom Gutmenschen und Thomas Pynchon den Shitstorm? Brach die Übertragung nach einer knappen Stunde ab, weil mich das Schauen nervös gemacht hatte. Dazu: Wackelpudding (Waldmeister) und Fröschle aus dem Kühlschrank (Haribo). Käsebrote.

Heute gibt es angeblich 36°

30.7.2020

Bei Wenders war gestern «Im Lauf der Zeit» an der Reihe, weil ich die beiden in der Chronologie nach Der Angst des Tormanns schon geschaut hatte (Falsche Bewegung und Alice in den Städten), oder aber ich den Film nicht enthalten fand im Angebot der Mediathek (Der Scharlachrote Buchstabe). Da es jetzt ein Film nicht nach dem Drehbuch von Peter Handke war wie Tormann und Falsche Bewegung fragte ich mich natürlich: Was hat Peter Handke in dieser Zeit gemacht. War er eingeschnappt wegen des Fremdgehens von Wenders für Alice? Ich griff ins Regal, aus der Vermutung heraus, dass in Handkes Tagebuch Das Gewicht der Welt jener fragliche Zeitraum abgedeckt sein müsste. Und: erstens richtig gedacht, zweitens blieb ich sogleich hängen an einem Satz aus dem Januar 1976: «Das Gefühl der Henkersmahlzeit beim Anblick von Gummipflanzen». Das ist ein Satz — und im Gewicht der Welt gibt es noch einige von dieser Güte — den ich für unverfilmbar halte, nicht in dem Sinn, dass es undenkbar bleibt, dass er in einem Dialog vorkommt. In den frühen Filmen von Wim Wenders sagen die Figuren andauernd so ähnliche Sätze, nicht bloß in denen, für die Peter Handke die Dialoge geschrieben hat, und mein Eindruck bis dato ist, dass sie diese Sätze um des Vorhandenseins dieser Sätze in der vom Film behaupteten Welt vorbringen und nicht, weil diese Sätze den Figuren entsprechen.
Unverfilmbar halte ich den Vorgang, den der Satz mit der Henkersmahlzeit und den künstlichen Pflanzen zum Ausdruck bringt — Vergleichbar mit der Szene, in der Charlie Kaufman sieht, dass der angebliche Wunderheiler, der seine letzte Hoffnung darstellt in zweierlei Hinsicht, den vorgeblichen Tumor, ein Stückchen Hühnerfleisch, in seiner hohlen Hand verborgen hält zu Beginn seines Heilungsrituals. Gut, der Satz von Handke ist damit also vielleicht doch verfilmt worden, aber halt nicht von Wenders, sondern von Miloš Forman und damit nicht in seiner Zeit.
Im Lauf der Zeit treffen sich durch Zufall zwei Männer, der eine ist blond, der andere hat dunkles Haar. Der Film ist zudem, darauf wird im Vorspann als erstes hingewiesen: in Schwarzweiß gedreht. Sie fahren in einem Möbelwagen durch Deutschland, der Blonde ist bekannt aus Falsche Bewegung und Alice, der Dunkle ist Hans Zischler, den ich schon in Summer in the City nicht mochte, weil er sich als den neuen Horst Buchholz empfindet, vor allem aber weil nach oder durch ihn tatsächlich Hannes Jänicke kommen wird. Die Frauen kommen dieses Mal nur ganz am Rande vor. Auch kommt es nicht zum Vollzug mit der schönen Kassiererin des Dorfkinos. Dafür zeigt Wenders von jedem männlichen Darsteller irgendwann in den drei Stunden eine Aufnahme, in der sein (nicht Wenders‘) Geschlechtsteil entblößt wird. Irgendwann ist nicht böse gemeint, ich hatte bloß recht langsam den Eindruck bekommen, dass Wenders eher Kameramann oder Bildereinrichter ist, als Regisseur. Seine Darsteller machen immer irgendwas. Das wirkt oft sehr künstlich, wo es wahrscheinlich sehr natürlich herüberkommen sollte. Der Blonde beispielsweise lacht dann halt ungezwungen. Hans Zischler äußert «Lust zu schwimmen». Wobei ja Luhmann festgestellt hat, dass es nichts grausameres gibt, was man zu seiner Frau sagen könnte, als «Sei doch mal natürlich!»

29.7.2020

Als Diether Diehm vom weichen Wasser sang, gab es noch keine Online–Community. Der fibröse Haufen wurde damals vor allem von Niklas Luhmann vorausgesehen; und eher als Albtraum einer Gesellschaft, die nur in Kommunikation besteht. Jetzt hat Nick Cave vorgestern in seinem wöchentlichen Newsletter die Frage eines Fans nach dem Hersteller eines bestimmten Konzertflügels beantwortet, den er für die Aufzeichnung seines Online-Konzertes «Idiot Prayer» von einem Verleiher bekommen hatte. Die Reaktion auf diesen Newsletter hat heute die Versendung eines zweiten Teiles notwendig gemacht; nummeriert wurde dieses Postscriptum mit #107 pt. 2 — einmalig in der besagte 107 Briefe umfassenden Geschichte der Red Hand Files. In seinem Brief #107 hatte Nick Cave von diesem Flügel des bis dahin ihm noch nicht bekannten Herstellers geschwärmt, dieses Schwärmen auch ironisch übertrieben und eine kleine Geschichte hinzugedichtet, die sich — für den erfahrenen Leser erkennbar — auf ebenso ironische Weise mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass es zwar Musiker gibt, denen Zimbeln für ihre Schlagzeugbatterien oder die Saiten für ihre elektrische Gitarren gesponsert werden, aber für Konzertflügel gibt es diese Freigiebigkeit wohl nicht. Das war lustig zu lesen und auch für nicht Klavierspielende unterhaltsam (ich denke da konkret an mich). Trotzdem wurde der Text zwar nicht millionenfach, aber doch so sehr und wie für unsere Zeit typisch: heftig mißverstanden, dass besagter Hersteller mit EMail bombardiert wurde, mit der  ihm ein Angebot gemacht werden sollte, dass er nicht mehr lange ablehnen können würde. In seinem Postscriptum #107 pt. 2 bittet Nick Cave deshalb seine Leute, die er kaum kennen wird, darum, ihr Candy Storming einzustellen. Er tut das mit den wohlüberlegten Worten «The tsunami of mail has left our friends at Fazioli a little shaken, so while I love you all — no more mails to Fazioli please! They are wonderful people.»
Der letzte Satz scheint mir wesentlich. Ich kann mir vorstellen, was los wäre, wenn dort auch nur durch leiseste Gesellschaftskritik noch Raum zum anonymen Moralisieren gegeben würde.
Luhmann, 1989: «Wir müssen viele Entscheidungen aus dem Themenbereich der Moral herausziehen. Das hängt mit der Struktur der modernen Gesellschaft zusammen. Mit ihrer Komplexität, mit der Vielseitigkeit von Leidunterscheidungen — in der Wirtschaft, im Recht, in der Politik, in der Religion, im Sport, im Krankenwesen und so weiter. Immer können diese Grundunterscheidungen — gesund / krank, Regierung / Regierte oder Regierung und Opposition — nicht in ein Moralschema gepresst werden. Sodass Moralisieren eigentlich nur eine Hilfstechnik ist, gleichsam eine fieberhafte Immunreaktion der Gesellschaft auf Probleme hin, die sie anders nicht lösen kann. Und wie die Mediziner dann wissen: Fieber ist nicht ungefährlich.»
Was mir beinahe überall fehlt, ausgenommen daheim, ist Humor. Oder wie Luhmann auf die Frage nach den Kritikern, die er am meisten fürchtet, geantwortet hat: «Die dummen».

Abends Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Der erste Farbfilm von Wim Wenders. Nach der Vorlage des einzigen Buches von Peter Handke, das ich nie gelesen habe. Auch im Jahr meiner Geburt wurden die Frühstückseier noch mit dem Messer aufgeschnitten. In einer Supermarktszene erkenne ich die Waschmittel-«Trommeln» wieder: Dash, Ariel — wie tote Verwandte auf einem Familienbild. Und dass es damals diese sehr dünnen, sehr biegsamen Strohhalme aus Plastik gab, die hellblau waren und in der Limonade obenauf trieben. Der Film spielt in Österreich, aber Waschmittel und Halme gab es so auch bei uns. Die Dialoge sind so, dass klar wird: Die Menschen reden aneinander vorbei, sie reden bloß aus Aggressivität miteinander. Die Gesellschaft existiert nicht, weil es keine Kommunikation gibt. Luhmann und Handke haben sich nicht gekannt.

28.7.2020

Gestern abend also Summer In The City aus dem Jahr, bevor ich geboren wurde: Dass Hans Zischler einen darstellt, der aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich erst sehr spät begriffen (der Film geht über zwei Stunden), als er einer seiner Gastgeberinnen vom Leben aus dem Knast erzählt. Das hat mich irritiert, später habe ich es dann nachgelesen (Summer In The City hat, wie jeder Spielfilm von Wim Wenders, einen eigenen Wikipedia-Eintrag). Die Handlung des Filmes spielt in Westberlin, davor in München. Wenders selbst kommnt auch darin vor, er spielt Billard mit seinem Hauptdarsteller (im Schellingsalon). Davor geht er ans Telefon (Wenders), und lässt sich dorthin einladen. Zischlers Satz aus dem Drehbuch für die Einladung lautet: «Ich habe Lust Billiard zu spielen. Vielleicht im Schellingsalon.» Er ruft von einer Telefonzelle aus an. Wenders hebt den Hörer in einem Raum einer Privatwohnung ab. Sein Telefonapparat steht auf einem Tisch. Möglicherweise ein Schreibtisch. Zischler muss Münzen in den öffentlichen Fernsprecher einwerfen, um telefonieren zu können, Wenders hingegen muss das nicht, um das Gespräch anzunehmen. Und so weiter. So entwickelt sich der Film, der im Grunde keine Handlung hat, wenn man anfänglich verpasst, dass der Mann aus dem Gefängnis frei gekommen war.
Zwischendrin, bevor er nach Berlin abreist, musste ich den Stream anhalten und ich ging duschen. Es war ja noch immer sehr heiß um diese Stunde nach dem Sonnenuntergang. Summer In The City spielt übrigens im Winter. Dazu ist er auf Schwarzweiß gedreht, aber er kühlt nicht. Diesbezüglich habe ich in einer ebenfalls sehr heißen Sommernacht in Berlin einmal sehr gute Erfahrungen mit La dolce vita gemacht (von Fellini). Die Graustufen in diesem Film konnte ich als eiskühlend empfangen. Bei Summer In The City ist das Granulat wie verwaschen, mich erinnerte er nie an Eis, immer an Schneematsch. Das liegt aber nicht an Wenders oder am Material, sondern am deutschen Licht. Aber erstaunlich, dass der Kurfürstendamm, von dem eine längere Kamerafahrt handelt, 1970 schon genau so aussah von den Ladenfenstern her und ihren Neonschriftzügen, wie ich es am Ende der neunziger Jahre dort noch vorgefunden hatte.
Die Frauen in diesem Film, die den Protagonisten auf seiner Reisen in den Nordosten der Republik und dann weiter nach Holland beherbergen müssen, sie sehen sich allesamt ähnlich, haben langes, dunkles Haar und schauen verdrieslich. In Hamburg hieße man dieses Verhalten «mucksch». Er aber gibt ihnen gegenüber den Macho und behandelt sie sehr herablassend und schlecht. Ich dachte kurz, er behandelt sie wie Mütter, aber das wollte ich zurückziehen — doch die alte Skatregel tönt unerbittlich watt lumens, lumens! — seine Mutter wird er wohl besser behandelt haben. Zumindest im Leben. Falls nicht, dann hat er es falsch schon vom Vater gelernt.
Frühstückseier wurden in den siebziger Jahren noch mit dem Messer aufgeschnitten.

27.7.2020

Gestern abend dachte ich, dass meine Herangehensweise an die Wenders-Retrospektive grundfalsch sein dürfte — vom Prinzip her; ich hatte keines. Mir war der Abend am Lagerfeuer eingefallen — zwei Jahre war das nun schon her, vielleicht drei? — da hatte mir Claudius erklärt, dass ich mir einen Überblick der Filmgeschichte nicht über das Werk von Regisseuren anzueignen versuchen sollte; ich sollte nach den Studios vorgehen. Studio für Studio. Daraus ließen sich dann wiederum interessante Rückschlüsse auf die einzelnen Arbeiten von Regisseuren ziehen, die für unterschiedliche Studios gearbeitet hatten. Von daher lag ich dann, nachdem ich Falsche Bewegung angeschaut hatte, noch eine Weile wach im Dunkeln. Das Fenster stand weit geöffnet und von der Straße her war nahtlos, mit dem Verlöschen meines Bildschirmes, ein Gespräch zweier Männer laut geworden. Aber nicht zu laut. Mir war es gerade recht. Ich fand mich nach dem Einsaugen der Filmgespräche und der Aufnahme des Straßendialoges allmählich mit Vorfreude angefüllt auf das Geschehen in meinem Traum. So schlief ich ein.

26.7.2020

Von Jan einen ganzen Tag lang durch Berlin chauffiert worden. Der Charme der Stadt erschließt sich mir auschließlich noch vom Auto aus. Und dann aussteigen und sich umsehen in einer wieder ganz anderen Welt. Jan sagt, er kann im Grunde auch nur noch im Auto sitzend telefonieren. So entstand die Idee zu einem Modul mit dem Arbeitstitel Knospe, einem fensterlosen Raum, in dem man bequem ruhen kann und in dessen schalltoten Wänden eine Lautsprecheranlage verborgen ist. Nach dem Schließen der Schleusentür zur Außenwelt verbindet man sein Telefon mit der Knospe und dann spricht man in den Raum und die Stimme des Gesprächspartners umgibt einen wie ein Klangbad. Slogan: «Führen Sie ihre Gespräche nicht, werden Sie ihr Gespräch». Nicht die erste Idee, mit der ich steinreich würde.
So fuhren wir von einem Haus zum anderen. Am Ende des Tages waren es 15 Adressen, in denen ich während meiner Zeit in Berlin von 1997 bis Ende 2019 gewohnt habe. Sämtliche Häuser gab es noch. Das war die geringste Überraschung. Berlin ist ja nicht Frankfurt, wo andauernd abgerissen wird. Manche hatten allerdings ihre Fassadenfarbe geändert. Auch hier gab es zumindest einen Trend zu beobachten: Was Anfang des Jahrtausends ein dunkel abgetönter Rotton war, ist mittlerweile ein feuchtes Grau. Auf sämtlichen Klingelschildern war mein Name überklebt oder überdeckt worden, manchmal richtiggehend ausgetauscht. Vor einer Hausnummer in Moabit, chronologisch befanden wir uns da im Jahr 2009, wurde Jan von einer mir wildfremden Frau angesprochen. Sie sprang beinahe vom fahrenden Fahrrad herunter auf ihn drauf (wie eine Tigerin bei Gerhard Nebel, bloß halt umgekehrt). Es war die einzige Mitbewohnerin, die er jemals gehabt hatte; in der einzigen Wohnung mit Mitbewohnerin in Berlin. 29 Jahre war das her.
Dementsprechend erledigt auf der Heimreise durch Deutschland. Aber auf heitere Weise.
Draußen donnert es unerlöst. Als ob wir alle verschluckt wurden über Nacht.

23.7.2020

Der nächste Halt wird Berlin Hauptbahnhof sein, in Spandau ist schon ein Bettler zugestiegen. Genau genommen: ein Blinder Passagier, der sehenden Auges durch den Waggon der Ersten Klasse geht, sein Zeitüngchen feil bietend, schwankend, das letzte Exemplar. Der Zug schwankt, der Bettler geht. Draußen vor dem Fenster fährt gleichauf eine S-Bahn ein in den Bahnhof. Die Passagiere tragen Masken.
Am Savignyplatz wirkt alles leer, wie verlassen. Die Autorenbuchhandlung verweist schriftlich auf ihren Online-Shop. Schulferien, dazu noch Corona. Der Zwiebelfisch ist ausgebrannt. In der Glastür hängt ein Zettel vor einem Hintergrund eiskalt gekachelter Leere: «Wir sind zum Betteln nicht geboren. Aber Corona und Brandstiftung ist zuviel.»
Ansonsten ist alles wie immer, überall dort, wo der Boden nicht aufgerissen war, ist er jetzt aufgerissen. Wo er einst aufgerissen war, ist er jetzt wieder zu.
In der Suarezstraße, sollte man annehmen dürfen, sitzen ja eigentlich diejenigen, die mehr gesehen haben als alle anderen. Nichts von den Zeiten, Epochen, an Stilen und Wirrungen, Verirrungen ist diesen Trödlern des Westens noch fremd. «Aber sowas: haben selbst wir noch nicht gesehen.»
Steifensandstraße, Ecke Witzleben, Roman.

22.7.2020

Beckett ist schlecht gealtert, ich konnte noch nie verstehen, was er damit gemeint hatte, dass die Sonne keine Wahl hat. An den Satz aber dachte ich heute auf dem Weg zum Friseur, da sah ich unter den Arkaden am Platz der Republik einen jungen Mann, der saß auf dem Boden zwischen zwei Säulen in einem Fleck Sonnenschein. Wie auf einer Lichtung. Wie zu einem Picknick auf dieser Lichtung mitten in der Stadt hatte er seine Habseligkeiten rings um sich ausgebreitet: Die rote Blechdose, einst für Pullmoll, mit den frischen Zigarettenfiltern, die Flasche mit destilliertem Wasser — Apothekenware —, sie war halbvoll. Die Spitze natürlich, die gibt es von der Suchthilfe. Sein Heroin kochte er in einem Portionslöffel für Pulverkaffee — vermutlich bei Tchibo mitgehen lassen, über der Flamme aus einem Lichtbogenfeuerzeug (Tesla T13). Ich finde auch, dass man in sein Werkzeug investieren sollte. Wie das wohl zusammenpasst: Heroin, intravenös und eine Außentemperatur von 30°?

Beim Friseur jedenfalls — die vergeben die Plätze nach dem Prinzip von Chatroulette — bekam ich dann ausgerechnet diesen vorn allen anderen zugeteilt, den ich bei mir im Stillen als den Kirgisen bezeichne. Weil er mit Vorliebe ausgefeilt wirkende Muster, die an sogenannte Tribal Tattoos erinnern, in die Bärte seiner Kunden ziseliert. Bei mir war nicht viel zu machen und trotzdem widmete er sich mit Inbrunst meinem verbliebenen Haar. Inbrünstiges Knurren drang durch den schwarzen Vorhang seiner Gesichtsmaske. Gerade so, als ob er ein Kater war, oder ein Luchs, und ich kraulte ihm zwischen den Pinseln. Dabei war es ja umgekehrt. Doch hielt ich still. Die Orientalen bevorzugen ja, nicht bloß wenn es heiß ist, zitrische Düfte. Ganz billiges, sprittiges Kölnisch. Derartige Noten verströmend, ich hatte keine Wahl, schlich ich auf schattigen Wegen heim.

Insgesamt wieder einer von diesen Tagen, während derer ich hinter der Glasscheibe stehe und auf der anderen Seite der Kinderchor. Und ich kann hören, was die aus meinem Lied machen, das sie singen sollen. Aber meine Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen von meinem Platz hinter der Scheibe, sind begrenzt. Extrem begrenzt.

21.7.2020

An jedem Samstag gehe ich früh am Morgen zum Erzeugermarkt. Um diese Uhrzeit begegne ich auf dem Weg durch das Westend über die Zeil bis zur Konstabler Wache so gut wie keinem Menschen. An einem dieser Samstagmorgen lag der gesamte Opernplatz voller zerschlagener Flaschen und Scherben von Trinkgläsern samt Trinkhalmen und zerknautschten Zigarettenschachteln. Auch das Wasser im Brunnen, dessen Becken als weite Schale geformt ist, war voller Abfall. Es hieß dann, hier feiert seit neuestem in jeder Freitagnacht eine wachsende Anzahl junger Menschen aus dem Umland bis zum Tagesanbruch. Das wurde dann auch so, die Anzahl wuchs. Am vorvergangenen Samstag fiel mir aber auf, dass der Opernplatz bei meinem Dazukommen schon wieder aufgeräumt und sauber abgespült war. Lediglich die Luft roch zart nach Ethanol, bildete ich mir ein. Aber das Wasser in der Brunnenschale war astrein und klar. Anscheinend hatte die Strategie der Stadtverwaltung darin bestanden, ihre Reinigungstrupps unverzüglich bei Abzug der Feiernden anrücken zu lassen. Am Samstag fand ich diese Strategie dahingehend noch verfeinert vor, dass jetzt etwa zweihundert Mülltonnen auf dem Platz verteilt standen. Ein preemptive strike. Die Tonnen waren Veteranen aus Rave- und anderen Festival-Zeiten in Frankfurt, wie an ihren Aufklebern abzulesen war, die Smileys hinter Sonnenbrillen zeigten. Auf nicht wenigen klebte sogar noch die Werbung des Suhrkamp Verlags. Und auf dem Portikus des Opernhauses steht ja bekanntlich «Dem Wahren Schönen Guten». Aber gleichwie, findet Joseph Beuys, es waren halt im Zweifel noch immer viel zu wenige Mülltonnen auf dem Platz vor jenem Opernhaus. Nicht vierhundert, sagte Beuys, sondern viertausend; noch besser vierzigtausend Tonnen hätten sie aufstellen lassen sollen. Damit die Feierwütigen den Platz vor lauter Tonnen nicht mehr betreten könnten.
An jedem Sonntag hingegen verschickt der Archivar des New Yorker eine EMail mit seiner Zusammenstellung älterer Artikel, die er zur Sonntagslektüre empfiehlt. Die sind immer alle gut, ich schaffe aber allerhöchstens zwei pro Sonntag, da muss ich gut abwägen. Gestern hatte ich mich glücklicherweise für eine Reportage aus dem Jahr 1992 entschieden, Ausgabe vom 15. Juni, genauer gesagt, eine Susan Orlean — wahrscheinlich schon tot — schreibt über den Kosmos eines einzigen Kleinsupermarkts in Queens. Die Geschichte wird über 30, 40 Buchseiten hinweg erzählt und ist derart gut, dass es mir wieder beinahe schmerzhaft bewusst gemacht worden ist, wie grässlich der New Yorker mittlerweile geworden ist. Im Lockdown habe ich mehrfach erwägt, mein Abonnement zu kündigen. Derart angeödet hat mich die allwöchentliche Lieferung. Man denkt ja, New York ist doch eine derartig abwechslungsreiche Stadt, da schickt man als Redaktion mit Budget einfach ein paar Leute und die schreiben dann über den Supermarkt in ihrer Nachbarschaft, und es ist immer noch interessant. Aber es passierte dann das genaue Gegenteil, es ging Woche für Woche um Hintergrundgeschichten zu Lockdown und Mundschutz, zu Black Lives und zu Donald Trump. Aus der Säuglingsperspektive hat die Mama schlimm Brustkrebs. Aber wenn ich mein Abonnement tatsächlich kündigen würde, verlöre ich damit auch meinen Archivzugang, und das kann ich mir nicht leisten. Heute erst, nur beispielsweise, fand ich dort im Faksimile einer Ausgabe im Mai 1972 neben der Rezension von Gravity’s Rainbow eine halbseitige Anzeige, auf der eine Frau im Rollkragenpullover große Augen macht: «A new book by the woman who has made thousands of Americans take to the needle»
Kurios! Auch heiter, und — Spoiler: It’s not about heroin.

20.7.2020

Der letzte Satz, der mir, gestern, als ich schon im Bett lag, durch den Sinn ging, war «Das war jetzt ein geglückter Tag, den solltest Du nicht noch durch Arbeit trüben.» Danach freilich noch Ideen. Aber schon im Ansatz auch ein Fehler, wie mir heute morgen gleich als erstes wieder auffallen sollte, als ich zu Bewusstsein kam. Wie war ich denn darauf gekommen, meine Arbeit derart abfällig zu bewerten? Und dazu sah ich die Erinnerung an eine Szene, da wares draußen schon dunkel gewesen und ich hatte draußen gesessen bei dem winzigen Windlicht, umrahmt von Mandelbaum und Minzeblüten und aus dem nächsten Zimmer, das im Dunkeln lag, war Friederikes Stimme zu hören, mit der sie ihrer Freundin die Funktionsweise des Equalizers erklärte. Nämlich dass der mit seinen Einstellmöglichkeiten nicht die Lautstärke verstärkt oder mindert, sondern die Farbe in den Klang bringen kann wie die Bildregler in einem Fernsehapparat. Der Duft der Minzeblüten nimmt bei Tag noch zu.

18.7.2020

Sebastian schickt ein Foto, er ist auf einem (parkenden) Rennrad zu sehen, daneben ragt ein Straßenschild ins Bild «Platz der Arbeiterinnen». Eine Momentaufnahme von einem Platz in der sogenannten Neuen Mitte Altona (NMA). Das hätten wir, beide Anfang der siebziger Jahre geboren, nicht gedacht: Dass Deutschland noch einmal zu einem derart heiteren Ort werden dürfte. Unsere neunziger Jahre in Hamburg waren also lediglich ein Vorgeschmack — Heute, im Reich von Maß und Mitte, ist Links für Alle wahrgeworden. Damals war Lachen freilich noch verboten, sonst gab es Haue von den K-Gruppen aus der Roten Flora (die wollten die Frauen diskriminierende Hygieneindustrie mit Naturschwämmchen bomben).

Aber es gibt noch viel zu tun! Auf dem Weg zum Wochenmarkt las ich fassungslos, dass Haftbefehl sich selbst ins Bein geschossen haben soll (allerdings aus Versehen wohl, es ist ihm, der zazaisch-kurdische Wurzeln hat, wohl am Donnerstag auf der B-Ebene passiert). Da fiel mein suchender Blick auf die Speisekarte eines Frittenstandes auf der Zeil, der noch geschlossen hatte — egal, ich hatte schon angefangen, zu lesen: stand da etwa «Zigeunersauce»? Selbiges Thema hatten wir neulich schon einmal beim Grillen mit meinen Eltern, auch dort stand Zigeunersace (allerdings physisch, in einem Fläschle auf dem Tisch). Dort jetzt auf der Speisekarte war die sogenannte nur eine von insgesamt drei Variationen des Themas Sauce, mit der man sich die Fritten noch angenehmer machen lassen konnte. Was mich verblüffte, war die der Z-Sauce zugeordnete Flagge, es war die der kommunistischen Republik Kuba. Ein Fehldruck — in dem Zusammenhang wohl eher eine Fehlfarb‘ — war ganz auszuschliessen, denn neben der Bolognese-Sauce prangte die italienische Trikolore (die ja ursprünglich die mexikanische, aber lassen wir das…). Da fiel mir auf, dass es sich bei diesem Frittenstand um ein sogenanntes Franchise eines US-amerikanischen Lizenzgebers handelte. Und dort, in den Vereinigten Staaten, wird eine stückig geschmorte, würzig abgeschmeckte Sauce aus Zwiebeln und Paprika als «Cuban» bezeichnet. Das sagt freilich dem deutschen Gaumen wenig bis nichts. Ob dann aber nicht einfach die Flagge der Roma, die es ja durchaus gibt, der als Zigeunersauce eingedeutschten Kubanischen zuzuordnen wäre? Ist freilich auch nur unzureichend bekannt, das Flaggenmotiv der Roma. Es gibt es noch nicht einmal in der Flaggensammlung der Emoji — Wahrscheinlich kommt das aber noch. Wobei, das hatte ich vor zwei Jahren auch schon einmal behauptet.

17.7.2020

In einem Kästchen mit der Aufschrift «Zu Verschenken», in denen man, so war ich es in Berlin gewohnt, den Plunder auf die Straße stellt, fand ich heute ein kleines, von Hand mit feinem Pinsel bemaltes Pferd aus Holz, das ich einschob und auf den Namen Paula taufte. Aß danach zum zweiten Frühstück bis zu den letzten Zipfeln alle Wurst aus dem Paket von einer Stuttgarter Metzgerei, das die erste Lieferung war eines Wurstabonnements, mit dem Friederike mir zum Geburtstag eine Freude gemacht hat —unbotmäßig! Was Wurst angeht, so kann mir ihr Genuß gar nicht zart und geniessend genug vonstatten gehen; da bin ich gegensätzlich veranlagt zu Franz Kafka, der Ende Oktober 1911 in seinem Tagebuch vermerkte «Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiss hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtslos, wie eine Maschine.»
Bei mir hingegen ist jeder Wurstgenuss, selbst der imaginäre, von zärtlichen Gefühlen getragen; wenn nicht: geprägt.

16.7.2020

Wenn Japaner essen, dann sieht das zumeist ganz anders aus, als wenn wir essen. Japaner attackieren die Speise, sie gehen den Essvorgang an; sie nehmen nicht einfach bloß etwas zu sich, sie nehmen es in sich auf, lassen es in sich ein. Ich habe heute einen Japaner gesehen, wie er eine Currywurst aß: Pieks pieks, happs happs — im Grunde wie ich, und dann doch wieder nicht. Seine Unerschrockenheit.

Es gibt ja diesen Film von Wim Wenders — die ARD hat derzeit eine Werkschau in ihrer Mediathek, weil Wenders bald 75 wird —, er hat ihn im Tokio der frühen achtziger Jahre gedreht, da zeigt er eine Werkstatt, wo sie diese Modelle von Speisen herstellen, die in japanischen Restaurants das Angebot illustrieren. Es sind tatsächlich echte Omeletts und echte Fische et cetera, die in eine Gummisuppe eingegossen werden, dann mit Gips ausgefüllt und daraus entstehen dann die Hohlformen für die Modelle aus Wachs. Die Kamera in dem Film verweilt wohltuend lange bei den einzelnen Arbeitsschritten. Ganz appetitlich wirkte auf mich das Zusammensetzen eines mehrstöckigen Sandwiches mit Schinken, bei dem die Kanten sehr scharf abgeschnitten werden, bis es perfekt geometrisch geraten ist und man sämtliche Schichten seines Innenlebens sehr gut erkennen kann. Das herrliche Rosa des Schinkens! Ich dachte daran, dass eines dieser Schinkensandwich-Modelle bei einem Restaurant angeliefert worden sein könnte, und daraufhin fühlten die sich dort herausgefordert, ihre Schinkensandwiches so schön hinzubekommen wie dieses Modell. Vielleicht war Japan ja so. Vielleicht ist es so immer noch. Ich weiß es nicht, ich war noch nie dort.

Die Farben in diesem Film gibt es jedenfalls alle nicht mehr, sie sind verschwunden.

15.7.2020

Aufgewacht bei leichtem Regen, die Luft lässt sich dementsprechend leicht und frisch empfinden; wobei ich in den vergangenen Tagen manchmal das Gefühl hatte, wenn es diesen ständigen Wind nicht gäbe, es mir unerträglich heiß geworden wäre. Aber mit dem Wind war es vor allem im Palmengarten herrlich — kaum Menschen, bis auf vier Greise im gelblich grünen Baumschatten eines Ahorns mit flirrender Krone. Alle Parks sollten Eintritt kosten, ich bin dafür.

Friederikes Geburtstagsfeierlichkeiten teils schäumend mit der Tischbombe aus der Schweiz, die freilich nur so tönte, als ob damit unser Geschirr zerschlagen würde. Mit Katharina und Rebekka aßen wir gestern noch in der panasiatischen Rotisserie am Boulevard de l‘ Europe. Dort gibt es das Fleisch der Zukunft, es nennt sich (natürlich im übertragenen Sinn!) Beyond Meat und schmeckt fabelhaft. Mir schmeckte es so gut, dass ich fortan nur noch Würste aus Beyond Meat essen wollte, aber leider stellte sich heraus, dass die Herstellerfirma eine erratische Vetriebsstrategie verfolgt, ich müsste gleich einhundert Würste auf einmal bestellen, aber wohin dann mit denen? Immer Ärger mit der Fleischindustrie, sogar mit der zukünftigen!

Ansonsten ging es unter anderem um die Kinderfrage, d.h. ob sie (K & R) Kinder haben sollten oder nicht. Homosexualität ist ja eine Lebensweise, die auf einer Selbstermächtigung beruht, man wächst nicht einfach hinein, sondern muss zuvor ein Bekenntnis zumindest vor sich selbst ablegen. Vergleichbar mit dem Künstlertum. Ich dachte an den Nachmittag bei Peter und Tobias, als er uns die Fotos vom Haus zeigte und auf einem war er selbst zu sehen, da stand er in dem Treppenhaus, das auch damals so ausschaute wie noch immer, aber neben ihm war jetzt ein großes Loch im Fotopapier. Und er sagte «Damals war ich noch mit einer Frau zusammen.»

11.7.2020

Auf dem Heimweg sah ich am Kornmarkt einen Mann mit einem blütenweißen Akita, es war noch früh. Es näherte sich ein Rettungswagen mit Martinshorn, der Hund blieb stehen und forderte die Aufmerksamkeit seines Herren ein. Der Hund setzte sich hin und, als der Rettungswagen näher gekommen war, stimmte er ein Heulen an. Als ob er ein Instrument ab und ansetzen könnte, um diesen Ton zu produzieren, geradezu festlich.  Der Rettungswagen: sein Rudel. Das Rudel fuhr vorbei.

Ich habe hier schon viele Akita-Hunde gesehen, aber noch nie einen weißen. Bis heute dachte ich, die sind lautlos, stumm.

10.7.2020

Seit langer, langer, langer Zeit wieder ein Lexikon bestellt. Ich hatte die herrlichsten Lexika und Enzyklopädien, einst, allesamt weggeramscht, Wikipedia rules, aber halt doch nicht bis in die schattigen Nischen, in denen ich mich derzeit aufhalten will (erzählerisch). Geliefert wurde ein, wenn nicht das Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, erste Stichprobe führte ohne Umschweife nicht etwa zur Schweife, sondern zum «Stielauge»:  …Die junge, durch student. Kreise verbreitete Rda. ist nicht von den an einem Stiel sitzenden Gläsern der Lorgnette hergeleitet, sondern vom Bild der bei Überanstrengung stark hervortretenden Augen, die gleichsam an einem Stiel zu sitzen scheinen. 1190 Seiten, üppig illustriert. Was war Lutz Röhrich für ein Mensch? Ein Schwabe, selbstverständlich, ein Erzählforscher natürlich. Vom Typ her also nicht so unangenehm verbissen wie Arno Schmidt, vom Humor-Level aber dürften sich die beiden ebenbürtig gewesen sein. Erster Band von Aal bis Glied, ein Schelm!
Wobei die steigende Hitze im Süden des Landes derzeit die schönsten Blüten treibt, wie heute früh schon (technisch also gestern Nacht) im Newsletter des Splendido-Magazins, wo Juri Gottschall schreibt «Nun muss man dazu sagen, dass es ohnehin ein kulinarischer Genuss ist, im Sommer die Po-Ebene zu durchstreifen.»
Im Feuilleton unterhält sich der Opernkritiker Jan Brachmann mit Dirk Mürbe, einem Phoniater an der Charité. Es scheint mehrere davon zu geben, aber halt bloß einen, der Dirk Mürbe heißt. Wobei ja leider zu befürchten steht, dass unsere Spülmaschine demnächst ihren Geist aufgibt. Sogar die Putzfrau hat sich schon beschwert über den ungewohnten Lärm. Schriftlich (die Beschwerdeform). Ein bronchiales Rasseln und Würgen. Ein kraftloses Wühlen im Saft chemischer Reinigung (frei nach Th. Mann).

9.7.2020

Friederike ist zur Zeit auf einer Dienstreise durch die Pfalz, das habe ich gestern zum Anlass genommen, meiner Passion als Vorkoster nachzugehen. Es hat in den vergangenen Wochen etliche Neueröffnungen gegeben — vor allem indische — das Interessanteste schien mir aber eine chinesische zu sein, spezialisiert auf Nudeln. Von außen konnte ich bislang nicht recht erspähen, wie der Gastraum aufgeteilt wurde, ich war dann sehr angenehm überrascht. Man sitzt dort an einem von seinem Prinzip her endlosen Tresen, der im Viereck um ein ein leeres Zentrum herum geführt wird. Das kenne ich vor allem von Sushi-Bars, aber ein modelleisenhaftes Vorüberziehen der Speisen scheint den Chinesen fremd (habe ich zumindest auch in China selbst nirgendwo entdecken können). Man sitzt also selbst als einzelner Gast ideal, weil es im Zweifel gegenüber andere zu beobachten gibt. Außerdem hängen mehrere große Fernseher von der Decke, die Bilder wachsen einem direkt in die Augen, wo sie mühelos aufgesaugt werden können. Gezeigt wird ein Film ohne Ton, der mehr eine Szenenfolge sein will ohne Höhepunkt, in dem eine alterslose und beinahe auch geschlechtslos wirkende Gestalt diverse appetitlich wirkende Speisen herstellt — kühle und warme —, diese auf hübschen Tellern dekoriert und dann selbst aufisst. Dabei wird sie aufmerksam beobachtet von ihrer Katze, die ein vollkommen weißes Fell hat. Und blaue Augen. Allein das papierweiße — oder reisweiße? — Fell dieser Katze nährte in mir den Verdacht, es müsste sich um eine animierte Katze handeln. Und: War denn ihre ephebenhafte Herrin aus ebensolchem Material (jenem Stuff, von dem schon Shakespeare Punktpunktpunkt)?
Die Nudeln übrigens auch ganz ausgezeichnet, aber sind sie das nicht beinahe überall? Friederike wird es dort jedenfalls gefallen.

8.7.2020

Alleine im Museum, jetzt ist es möglich. Gestern war ich in der Ausstellung des Lebenswerks von Frank Walter. Ich war der einzige Besucher des Museums für Moderne Kunst an diesem Nachmittag, vielleicht sogar der erste an diesem Tag. Auf jeden Fall überraschte ich einen der Wächter, der auf seinem Stühlchen ein Schläfchen gehalten hatte. Im Halbschlaf zig er sich rasch die Maske hoch bis über die Nasenspitze, dann erst stand er auf, um mich wortlos zu grüßen. Durch die Maskenatmung fühlte ich mich bei der Begehung an die berühmte Szene aus der Odysee im Weltraum erinnert, als der Astronaut auf Gott trifft. In der Straßenbahn hege ich diese erhebenden Gefühle nicht. Es muß also an den schönen, großen, lichten Räumlichkeiten im Museum liegen. An der Gegenwart der Kunst. Wobei ich mich derzeit deutlich mehr für die Rahmungen interessiere als für das Gerahmte. Die Malereien von Frank Walter sind durchweg sehr hübsch gerahmt.

Eigentlich hatte ich mich nur nach dem Wohlergehen der Pflanzen erkundigen wollen. Kurz vor dem Lockdown war ich ja zufällig in die Szene geraten, als vor dem Zollamt, einer Nebenspielstätte des MMK, eine Lastwagenladung schnell wachsender Pflanzen abgeladen wurde, offenbar als Material für eine Installation. Man hat sie dann während des Lockdowns wieder nach Holland zurücktransportieren lassen, weil die Künstlerin aus den Vereinigten Staaten stammt und von daher gar nicht erst anreisen konnte. Noch immer nicht kann. Falls, so erzählte mir das die Empfangsdame des MMK, die dort auch für den Katalogverkauf zuständig ist und für die Postkarten, die Künstlerin aber eines Tages wieder aus den USA ausreisen dürfte, würden man in diesem Zuge auch die Pflanzen wieder ankarren lassen. Das wären dann freilich nicht mehr dieselben Pflanzen. Also nicht identisch mit denen, die vor dem Lockdown geliefert worden waren. Aber gleich aussehende. Zum Verwechseln ähnlich.

Am Römer lag ein Haufen Bücher «zu verschenken». Nahm einen Merkur mit vom Juli 1986. Ich weiß noch genau, was ich in jenem Sommer (weil ich gerade erst davon erzählt). Katharina Rutschky, Hubert Fichte. Zwischen den Seiten: Zwei Aufkleber «Atomkraft Nein Danke!» Dead stock from the eighties. Zustand: Mint / VG+

7.7.2020

Im Feuilleton der F.A.Z. stellt Thomas Thiel vor dem Hintergrund der Überlegungen in der britischen Gesetzgebung, die Geschlechtsidentitätswechsel per Sprechakt zuzulassen, die mit Sicherheit zulässige Frage, ob dann künftig auch ein Wechsel der Hautfarbe durch einen Sprechakt beantragt werden kann.

6.7.2020

Sonntagnachmittag aus dem Bilderbuch bei Peter und Tobias in Wilhelmsbad. Ein gewaltiger Grünspecht flatterte kreischend umher und ich begriff durch reine Anschauung, wozu er diese Färbung hat: Vor den bemoosten Stämmen, im sommerlich lichtdurchfluteten Laub geht er beinahe unter. Wohin mit ihm dann, wenn der Winter kommt? Der Garten ging in seinem hinteren Teil über in ein Gräsermeer, ist dessen Bucht und Gestade. Dort auch unter anderem auch die Ruine des persischen Teppichhändlers und der Schneckenberg, auf den man einen spiralig geführten Weg begeht. Oben wächst wilder Oregano in Massen und schaut jetzt wie ein Vogel auf die kleine Insel mit der Pyramide aus Tuffstein. Darin begraben liegt das Herz in einer mundgeblas’nen Vase, mit Blei verplombt. Drüben das erste Karussel in Europa. Betagt zwar, aber es dreht sich noch.

Im Garten saßen wir im Annex unserer Tage zu dieser arkadischen Landschaft. Manche Fantasien haben Bestand. Kurz vor Sonnenuntergang war den eisernen Wölkchen eine fragonardhafte Spitze aus Rosenquarz gewachsen. Und ein Regenbogen ohne Regen. Peter erzählte vom alten Apfelweinbaron, wie der nach dem Krieg den Engländern die U-Boote abgekauft hatte, um in den abgerüsteten Stahltanks fortan seinen Most zu brauen. Oder war das Tobias?

5.7.2020

Die Allgegenwart des Geldes hat in Frankfurt natürlich zu deutlicheren Formen gefunden als irgendwo anders in Deutschland. Die Turmbauten der Banken im Zentrum der Stadt werden als zeichenhaft angeschaut und fotografiert, aber der Reichtum ist hier auch unterhalb des sichtbaren Bereichs überallhin gedrungen wie eine farblose Flüssigkeit. Nie weiß man mit Sicherheit zu sagen, wen man in Wahrheit vor sich hat — in der Wahrheit des Geldes. Zumindest jenseits der Goethestraße, wo die weltweit üblichen Statussymbole gezeigt werden, kann jedermann, dem man in Frankfurt begegnet, ebenso reich sein. Unheimlich. Als Chremismatiker bin ich deshalb vor allem auf der Suche nach den Orten in der Stadt, an denen sich dieser überraschende Reichtum äußern muss.
In dieser Hinsicht geradezu als Zentrum ist die Filiale der Post an der Mainzer Landstraße zu sehen. Ungefähr in dem Maße, wie die Mainzer keine Landstraße ist, handelt es sich dabei nur noch dem Namen nach um eine Post-Stelle, um eine Filiale der Post.  Ein ehemaliges Amt jedenfalls, «Aufgrund der Situation» dürfen dort derzeit wie an vielen anderen Stellen auch nur noch fünf Kunden gleichzeitig in den Schalterraum eintreten, um dort auf ihre Bedienung am Tresen zu warten. Im Vorraum stehen übrigens zwei breit gebaute Geldautomaten der Postbank, die sich bei den Gewerbetreibenden m umliegenden Viertel nicht nur großer Beliebtheit erfreuen, man darf sagen, dass diese Gewerbe ohne diese Geldautomaten überhaupt gar nicht funktionieren könnten. Jedenfalls nicht in ihrer aktuellen Form. Man kann in diese Geldautomaten nämlich Münzen einfüllen. Eimerweise. Es gibt eine trichterförmige Vorrichtung zu diesem Zweck und der Automat zählt in seinem Inneren gleichfalls das hereinrasselnde Münzgeld und schreibt es intern einem Konto bei der Postbank gut. Das auf diesen Konton lagernde Geld kann man wenige Stunden später dann am Schalter wieder abheben gegen Vorlage seiner Bankkarte. Freilich könnte man es auch am Bankautomaten selbst sich herausgeben lassen, aber dieser Service wird lediglich für Beträge bis 1000 Euro angeboten. Gestern, ich wollte Briefmarken kaufen, stand ich dort in der Post am Ende der Warteschlange. Ich war also schon vorgedrungen in den Schalterraum, mit mir die anderen vier. Da kam ein Blinder herein. Man erkannte es daran, dass dort, wo gesunde Menschen schwarze Punkte haben in ihrer Iris, bei ihm eine silbrige Farbe zu erkennen war. Wie bei den Augen von gegartem Fisch. Er schwankte unschlüssig im Raum herum, hatte sich auch schief zugeknöpft und ließ sich von den Umstehenden durch Audiobefehle steuern: «Links, jetzt geradeaus, nein! Mehr rechts —» usw. Man steuerte ihn in meine Richtung, ich gab ihm gerne den Vortritt. Eventuell war er märchenhaft reich. Die Frau am Schalter verdrehte ihre Augen hinter dem Plexiglasschutzschild — gut sichtbar für uns, ihm blieb das freilich verborgen. Wie alles vermutlich. Dabei hatte er weder Blindenabzeichen, noch Hund oder Stab. Er ließ sich, ich stand im empfohlenen Sicherheitheitsabstand direkt hinter ihm und der Kassiererin, seinen Kontostand vorlesen. Knapp über eintausend Euro. Immerhin! Währenddessen blätterte der Kassierer am benachbarten Tresenplatz unermüdlich die Scheine aus den von einer Banderole umgebenen Papierziegeln. Ich stand etwas out of earshot, von daher bekam ich die Endsumme nicht deutlich genug mit, aber es waren zwei Ziegel aus Zweihundertern und einer mit den Grünen und einer mit Braunen. Der Kunde, ein junger Mann, wie es ihn im Gallus tausendfach gibt, als würden die auf einer Plantage gezogen, steckte den Zaster in eine Laptophülle aus schwarzem Kunstleder, zog den Reißverschluss zu, verabschiedete sich und hakte sich im Hinausgehen mit seinen enorm aufgepumpten Boxerarmen bei dem Blinden unter, der sich da gerade in Richtung der Glastür zum Vorraum navigieren ließ.
«Komm schon — Komm her! Ich zeige Ihnen den Weg.»

3.7.2020

In der dritten Folge der Frankfurter Premieren unterhalten sich Christian Metz und Leif Randt. LR ist ein extrem guter Erzähler, ich wurde neidisch. Wie er das vor der Kamera entwickeln konnte, wie Allegro Pastell entstanden ist (in ihm). Ich konnte das alles so gut nachvollziehen — gespenstisch! Aber mein Problem bleibt halt, dass ich Audio-Content nicht so gut aufsaugen kann. Ich warte sehnsüchtig auf eine Transkriptionsfunktion für Youtube, dass ich solche Filme endlich lesen kann.
Ebenfalls gestern konnte ich endlich mein Ultraschallreinigungsgerät abholen. Ich hatte das meiner Mutter ausprobiert und der Effekt war derart beeindruckend, dass ich mir ein Leben ohne nicht mehr vorstellen wollte. Nach sieben Minuten bloß sieht alles aus wie neu, wenn man es aus dem Bad in den Ultraschallwellen nimmt. Das kleine Becken wird während der Wirkzeit blau beleuchtet. Die Farbe der Transformation. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber meine Brille sitzt danach wieder wie neu eingestellt — ob die Ultraschallfrequenz die Moleküle des Brillengestells neu anordnet? Friederike berichtete unbeeinflusst befragt den selben Effekt bei ihre Brille. Also bilde ich es mir vielleicht doch nicht ein. Habe dann noch den Füller, etliche Muscheln und Schneckenhäuser und noch einmal meine Brille gereinigt. Ich will andauernd reinigen. Alles! Sogar den Klang des Ultraschalls finde ich gut.

2.7.2020

Gestern Nachmittag, ich saß in dem verblüffend nostalgisch ausstaffierten Gastgarten des russischen Teepavillons an der Europa-Allee und las im Warhol, da ließen sich die vom Nebentisch herangewehten Stimmen nicht länger überhören (gerade so, als produzierte ich beim Lesen passenden Negativschall). Dort saß in Paar aus meiner Altersgruppe. Im Gegensatz zu mir waren sie beide auffallend modisch gekleidet. Ich dachte an den Dogen von Moabit. Sie las von ihrem Display ab wie von einem Teleprompterchen. Darauf lief der Shoppingkanal:

«Ah, schau, die gibt es jetzt auch von Off White

«Ja ja, ich habe von denen schon die anderen. Und ein Paar reicht mir von denen, muss ich sagen. Mit den super langen Schnürsenkeln sind mir die zu anstrengend zu binden. Wer ganz schöne macht, aktuell, ist Saint Laurent

«Und die hier — von Lanvin

«Ach ja. Lanvin … Kannst Du bitte mal schauen: Farfetch Deutschland Saint Laurent High Top —»

«High Top?»

«Ja. Aha. Plus Umsatzsteuer, plus Handling ihrerseits macht das …»

«Sind die silber, oder sind die weiß?»

Am Vomittage war ich schon von einem mir zwar nicht wildfremden, aber persönlich nicht bekannten DHL-Boten angesprochen worden. Das trug sich zu vor einer Packstation, wo er mich bei der Entnahme eines großen Paketes aus der Automatenklappe beobachtet hatte. In dem Paket befanden sich einige Samples eben jenes Kartonagenherstellers, der auch schon Andy Warhol beliefert hatte mit seinen Kartons, die dann zu den berühmten Time capsules ernannt wurden. Aber das konnte der Bote nicht wissen. Er sagte «Ah, bravo! Den habe ich gerade erst für Sie eingestellt und jetzt nehmen Sie ihn bereits an sich. Das lobe ich mir — bravo! Danke, das nenne ich gelebte Solidarität!»

Ich wartete auf sein Bravissimo. Anscheinend lobte er mich dafür, dass ich meine Pakete zügig abräumte aus der Apparatur seines Arbeitgebers. Ein Verhalten, mit dem ich wiederum ihm behilflich war. Ich war ein Rädchen in seinem System. Machte mich das nicht ebenso zu einem Künstler der Maintenance Art? Schließlich wurde ich doch auch schon gelobt dafür, meine EMails innert weniger Tage zu beantworten.

Bei Gopnik kommt nach dem Tode Andy Warhols keine zweite Auferstehung mehr, sondern ein langes Register der Namen. Das ist das Ewige Leben, sein Afterlife. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich weiß noch, dass ich Tage gebraucht habe, bis ich das Register von Tristesse Royale zusammengetragen hatte. Es gab noch keine nennenswerte Suchfunktion in Word und ich musste alle Namen von Marken und Personen erst im Manuskript unterstreichen und dann alphabetisch erfassen und — ich glaube, dass ich eine Tabelle angelegt hatte in FilemakerPro, die sich dann aber nicht importieren ließ … Am Ende werde ich alles, vom Ausdruck der Tabelle abgelesen, in die Fassung eingetippt haben.

1.7.2020

Im Juli 1977, ich war sechs Jahre alt, begab sich Andy Warhol zu, ersten Mal nach langer Zeit downtown in Greenwich Village. Er war angenehm überrascht, wieviele Männer sich mittlerweile dort schwul zeigten «Alle halt, die sich Fire Island nicht leisten können.» Er kaufte sich ein T-Shirt, ein Tuntenshirt, wie er es nannte. Die Vorderseite war bedruckt mit den Namen der historischen Gestalten, alles Männer übrigens, die als Homosexuelle bekannt geworden waren: Oscar Wilde, Thoreau, Walt Whitman, Alexander der Große, Halston und Andy Warhol. Das sogenannte Tuntenshirt landet in einer Time capsule des Jahres 1977.

That summer of 77, Warhol and Victor Hugo both tried ejaculating onto stretched canvases, for an effect that was even less impressive than when they’d pissed on them.
948 von 1156
Noch 4 Seiten im Kapitel

30.6.2020

Mierle Laderman Ukeles ist freilich Künstlerin der Stunde, andererseits halt auch schon 81 Jahre alt — wer weiß, ob sie ihre Preisverleihung noch erlebte? Bin auf sie natürlich durch die Arbeit am Warhol gestoßen. Wobei ich in den vergangenen Tagen zu wenig weit vorangekommen bin, weil es im Garten meiner Eltern kein WLan gibt. Das ist für das Lesen im Buch selbst unwichtig, nicht aber für die Konkordanz, der Kontext ist so entlegen wie gigantisch von seinen Ausmaßen her, sodass ich von jeder Seite aus zweimal mindestens, viermal höchstens aussschweifen will, um beispielsweise herauszufinden, welche Art Kunst hinter jenem just erwähnten Namen sich verborgen haben könnte. Also «Sanitation Art». Ich hatte mich, dies an anderer Stelle, vor langer Zeit, schon einmal darüber gewundert, warum ausgerechnet die Stadtwerke von New York das Stipendium eines Artist in residence ausloben. Als Stadtschreiber auf der Mülldeponie — es könnte schlimmer kommen.
Ansonstern wurde das Buch zum hinteren Drittel hin, in dem ich mich jetzt befinde, immer nur noch besser. Klar, ich näherte mich unaufhörlich dem Jahr 1968, dem Jahr des Attentats, das nicht nur in Warhols Leben selbst, sondern auch in der Konstruktion des rekonstruierten Lebens in der Biografie von größter Bedeutung bleibt. Ein Nadelöhr, durch das Blake Gopnik den roten Faden zieht. Im Sommer darauf dann Stonewall Riots. Erst jetzt und das durch diese Biografie ist mir klar geworden, dass Andy Warhol vor allem als schwuler Künstler zu verstehen ist. Und nur wenig nachgeordnet als Filmemacher — noch in der Todesanzeige für seine Mutter bezeichnet er sich als Pornofilmproduzent. Umso empörender, dass in meinem Leistungskurs «Bildende Kunst» ein halbes Jahr lang zu Andy Warhol unterrichtet wurde und es ging vor allem um Siebdrucktechnik und Roy Lichtenstein. Interessant in dem Zusammenhang freilich, dass es in der Ära vor Stonewall noch keinen Zusammenschluss von Feminismus und Schwulenbewegung gegeben hat. Eigentlich hatte Warhol ja vorgehabt, eine 24-stündige Dokumentation mit Marcel Duchamp zu drehen. Stattdessen wurde er von Valerie Dingsbums niedergeschossen. Als er aus der Reha kam, war Duchamp tot.
2020 übrigens, ganz nebenbei, ein Jahr der Kirschen. Wir haben Tonnen von den Bäumen gelesen. Nicht bloß auf den Wiesen und auf den Weinbergen, sogar im Wald.

26.6.2020

Weil das Naturbad Eberdingen, in dem ich noch in der Jugend oft die herrlichste Zeit, im Schatten dort, bei Senfbroten, verbracht, geschlossen bleiben sollte, und in den wenigen Freibädern von Stuttgart man ausschliesslich zu im Vorhinein reservierten Zeiten «nur in eine Richtung» schwimmen durfte, führte ich Friederike über den Heusteig durch den Wald hinunter in das stille Tal, wo sich das Strudelbächle windet, an dessen schattenreichster Stelle mir einst, vor vielleicht vierzig Jahren, ein winzig kleiner Stichling in meinen kaum viel größeren Kescher schwamm. Hier netzte sie sich ihre Füße. Und gleich neben ihr hatte sich eine Prachtlibelle niedergelassen, bald noch eine. Die Tiere, das fanden wir vor Ort heraus, waren extrem selten geworden. Angeblich bloß noch dort zu finden, wo Gewässer von naturreiner Klarheit fließen. Das Tal sonst freilich auch überhaupt kein bisschenmehr still; nicht einmal mehr phasenweise, weil hier die arbeitende Bevölkerung dicht an dicht die Motoren ihrer Sportwagen hochjazzt (zu meines Vaters Zeiten arbeiteten 800 im nahen Entwicklungszentrum von Porsche, heute sind es mehr als 7000). Als in meinen Jugendjahren das von seinem Konzept her neuartige Lokal Palast der Republik eröffnet wurde, schrieb die Stuttgarter Zeitung von «Bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Lautenschlagerstraße». Dazu hatten sie ein Foto von den Gästen, die, weil es nicht ausreichend Stühle gab, den Caipirinha auf dem Trottoir sitzend schlürften.
Abends erzählte meine Mutter, was mir neu war, vielleicht hatte ich es bloß vergessen, wie ihr Englischlehrer sie einst ausgefragt hatte, weil er in ihren englischen Sätzen einen Hauch vom sogenannten Slang vernommen hatte. Er wollte herausfinden, ob sie sich mit einem Besatzungssoldaten angefreundet hatte. Seinem Empfinden nach musste es sogar ein Schwarzer sein? So fein war sein Gehör für fremde Klänge ausgebildet. Es war aber bloß Radio gewesen, das die Aussprache meiner Mutter getuned hatte: Armed Forces Network. Mutter des Pop.
Warhol hat auch einen Film über seine Mutter gemacht, in dem seine tatsächliche Mutter Julia eine fiktive Mutterfigur verkörpert, weil ihm das Bild seiner Mutter, das durch einen Dokumentarfilm über Julia Warhola verbreitet werden sollte, nicht gefiel.

24.6.2020

Jetzt hat das Jahr diese Temperaturen erreicht, bei denen ich mich am wohlsten fühle: Tag und Nacht auch außerhalb des Bettes so, als läge ich noch unter meiner bestickten Decke. Wir reisen zu den Brezeln mit den dicken Ärmle. In Bayern mag man die Brezel-Ärmle dünn und knusprig, in Baden-Württemberg, ihrem Herkunftsland, dagegen dick und mit Butter bestreichbar. Frankfurt liegt zwischen diesen beiden Anschauungswelten zum Brezelärmlesgeschmack. So holte ich dort heute früh beim Bäcker welche mit schwäbisch dick gebackenen. Aber ansonsten ist in Frankfurt weitaus mehr vom bayerischen Einfluss zu spüren als von einem schwäbischen.

Bei Warhol ging es um die Aufnahmen zum ersten Album von Velvet Underground. David Bowie nach erstmaligem Durchhören «I was so excited I couldn’t move.» Warhol selbst hingegen wird vom Ehemann Elaine Sturtevants, der in einer Werbeagentur arbeitet, für einen Spot angeheuert, der ein Abführmittel anpreisen soll (in Schwarzweiß mit Strobo). Der Spot verfehlt seine Wirkung. Es waren halt andere Zeiten. Heute gibt sich sogar die Reizdarm-Branche progressiv.

Mit Blick aufs Datum: In einem halben Jahr schon ist es wieder soweit.

23.6.2020

Abends bei den Mosebachs. Sie haben endlich eine Wohnung finden können und leben jetzt mit Blick weit über Wipfel auf die Bürotürme wie am Central Park. Die Verluste an Kunst und Mobiliar, durch ihren Brandschaden erlitten, hatte ich mir drastisch vorgestellt — es war davon rein gar nichts zu bemerken! Man kann es dem Haus nun wirklich nicht von der Straße her ansehen, in welcher Schlosshaftigkeit sie sich auf ihrer Etage eingerichtet haben.
Es war, von einem Picknick vor drei Wochen, mein erster Abend in Gesellschaft seit Ende März. Ebenfalls gekommen waren der Novize Manuel, den wir schon von dem Weihnachtsfest bei den Jägers kannten, sowie ein junger Philosoph aus Albanien, ein Liebhaber des Spätwerkes von Paul Thomas Anderson, der zur Klausur in die Alpen Albaniens aufbrechen wollte, und der Verleger Eberhardt vom Rußwurmschen Herrenhaus, der auf der Durchreise nach Capri war. So muss es also zugegangen sein, wenn Pilger beinahe unverhofft aufeinander trafen. Es gab famose Butterbrote, anhand derer ich mit Frau Mosebach ins Plaudern über ihre Heimat Schweden kam. Die Schweden sind ja, hier den Dänen ähnlich, berühmt für ihre Butterbrotkultur.
Es war schon weit nach Mitternacht, da brachte Mosebach selbst eine Flasche Wein an, die er seit sechzig Jahren schon besaß und die, wie durch ein Wunder, die Brandkatastrophe überlebt hatte. Das Etikett war angesengt und fehlte zur Hälfte sogar ganz. Der alte Wein war wunderbar.
Zwei volle Tage nun habe ich mein Pensum in Sachen Warhol geschwänzt. Mit frischem Mut (Mishima) gehe ich heute ans Werk. Morgen brechen wir in die alte Heimat auf.

22.6.2020

Morgens früh nach Seckenheim (rauf, runter oder rüber?), Luft war noch angenehm, beinahe kühl im Schatten der Bäume. Uns war ein alter Kirschbaum zugeteilt worden, dessen Zweige schwer beladen herunterhingen. Wir konnten ohne Leiter pflücken. Ein Korb fasst zehn Kilo, in einer Stunde machten wir zwei und einen halben voll. Zwanzig liessen wir als Spende für die Besitzer der Plantage. Die wollten später noch Kirschwein ansetzen, dafür brauchten sie 500 Kilo (ein Fass fasst 50, unsere Spende darin kaum mehr als ein Bodensatz). Kaum dass wir angefangen hatten, gesellte sich auch bald eine Frau zu uns und den anderen Helfern im Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ); eine von dem Schlag, der bei körperlicher Arbeit andauernd tratschen muss. Brachte mich immer wieder draus aus dem schönen Rhythmus von Kirschen ertasten und zupfen und Korb. Ich bin auch beim Kirschenpflücken vom Schlage Virginia Woolfs und will einen Baum für mich allein.
Weiß jetzt allerdings, warum bei den Amerikanern, bei denen vom Schlage Ralph Laurens speziell, ein bestimmter Farbton zwischen Purpur und Magenta als Cherry bezeichnet wird. Das hat nichts mit der Farbe der Früchte im Korb zu tun, sondern mit den Handflächen nach dem Pflücken.

20.6.2020

«The Commercials don’t really break up the continuity»: Warhol über Immersion Anfang der sechziger Jahre. Mittlerweile unterbricht vor allem die Werbung das Gefühl des Eintauchens. Alles andere unter der Bildschirmoberfläche erscheint auf mein Verlangen, alles kommt mir entgegen. Die Werbung, ob als Vor- oder Zwischenfilm, als Schrifteinblendung kommt uns dazwischen. Die Werbung stammt aus einer dritten Welt, einer mit der man nichts zu tun haben will. Anders als noch vor zwanzig jahren kenne ich heute niemanden mehr, der in der Werbung arbeitet.
Obwohl mich die Filme von Andy Warhol auch weiterhin nicht interessieren, habe ich heute zum ersten Mal «Space» gesehen. Er hat eine der ersten Videokameras angeschafft und filmt mit seiner 16mm-Film-Kamera einen Bildschirm ab, auf dem eine Aufnahme seiner Darstellerin läuft, die er mir der Videokamera aufnimmt und diesen Film auf dem Monitor zeigt, den er mit seiner Filmkamera filmt.
Heute hat der Sommer angefangen. Morgen gehen wir in die Kirschen.

19.6.2020

Bei Warhol lief im Hintergrund immerzu der Fernsehapparat, wie Zeitzeugen berichten. Ich erinnere mich, dass das noch weit über die Mitte der neunziger Jahre so geblieben war als Einrichtungstrend: Das bewegte Bild im Hintergrund. In den Achtzigern noch Tele5 und bald darauf MTV entweder mit abgedrehtem Ton oder ganz leise, dann in den Neunzigern gern etwas mit Dauernachrichtenlaufstreifen am unteren Bildrand. Als Erbe der Golfskriegsjahre mit Christiane Amanpour, CNN. Im neuen Jahrtausend hörte das aber auf, zumindest bei mir. Schade eigentlich, hatte aber wohl mit dem Programm zu tun (oder mit einem veränderten Einrichtungsgeschmack). Ich habe dann heute auf experimenteller Grundlage ausprobiert, mit einem minimierten Bild im Bildschirm die Übertragung aus Klagenfurt laufen zu lassen, während ich im E-Book las. Die Immersion gelang mir nicht. Lag vielleicht auch am spezifischen Problemgespräch unter den Juroren, die sich fortwährend auf einer Metaebene zum Text wiederfinden wie dorthin gebeamt, um von dort aus dann nicht mehr herunterzufinden zur Textarbeit. Hat eventuell damit zu tun, dass sie nicht mehr zusammen mit den Probanden in einem Ort zusammen sich befinden. Live!
Der Moderator gehört auch endlich noch abgeschafft.

18.6.2020

Der Dichterwettbewerb von Klagenfurt gewinnt eindeutig durch die neuartige Darstellungsform. Und halt auch mit Philipp Tingler. Beim altgedienten Juror Kastberger aus Österreich ist der gerahmte Einblick in die private Umgebung freilich unschön. Überhaupt scheint jetzt alles aus dem Reich der Ahnung nach vorne ins Bild geräumt. Gut, aber wie schrieb schon Patrick Bahners in den neunziger Jahren anlässlich von Kempowskis «Bloomsday»: Wer hat schon tagsüber Zeit zum Fernsehen?

Warhol hat jetzt eine Kreditkarte (Diners Club).

17.6.2020

«Who goes into fine art as business move?» schreibt Blake Gopnik, und meint es, auf den Beginn der Ära Warhols bezogen, ironisch. Aber wenn er (Gopnik) gut wird, dann richtig gut. Offenbar hat er gute 300 Seiten lang bloß diesen Anlauf genommen, um dann auf drei Seiten erzählen zu können, wie Warhol seine Entscheidung fällen muss, den pseudogestischen Stil abzulegen, um die vollkommene Künstlichkeit im Ausdruck erlangen zu dürfen. Was natürlich das Schwierigste ist überhaupt. Hätte es das Buch schon zu meiner Schulzeit gegeben, hätte ich einsehen können, dass mir Derartiges niemals gelingen dürfte.
In der Zeitung freut man sich schon auf Kim Yo-jong, den ersten Diktator in Frauengestalt.

16.6.2020

Der Inhaber eines galvanischen Betriebes hier um die Ecke ist ein Natural, wie man im frühen Hollywood gesagt hätte, ein Sprechliterat. Neulich noch erzählte er mir im Zuge der Warenannahme, dass er mithilfe seiner Kenntnisse in Elektrochemie die Grüne Sauce neu erfunden hat (es gibt Beweise, er hat auf einem Wettbewerb tatsächlich die Jury für seine Zubereitung einnehmen können). Gestern hat er mir am Rande meiner Abholung erzählt, dass er sich schon im Januar mit Covid-19 infiziert hatte (beim Erzählen, natürlich; ein Kunde war gerade aus Wuhan, natürlich, zurückgekehrt und hielt sich eine Stunde lang in seinem Büro auf), und dass er schon einen Roman geschrieben hat, dessen Handlung, die sich auf Gran Canaria abspielen sollte, ihm im Schlaf eingegeben wurde. Seit George-Spencer Brown nicht mehr unter uns weilt, dürfte der Galvaniker also der letzte sein, den ich kannte, dem die Inspiration zuteil wurde.

In der Warhol-Biografie erwähnt Gopnik am Rande ein Gerät, das mir unbekannt war. Offenbar eine französische Erfindung einer Musikbox, die zu den Singles passende Filme zeigen konnte (mithilfe von Rückprojektion). Die sogenannte Scopitone kam von Paris über England auch ins New York der fünfziger Jahre. Mich wundert, dass Roland Barthes sie nicht erwähnenswert fand.
A propos: Elizabeth Peyton dürfte meines Wissens nach die erste Künstlerin sein, die eine funktionierende Form für eine Ausstellung online gefunden hat. Was Museen und Galerien bislang zeigen belässt es bei der Imitation eines Besuches im Raum. Bei Peyton gibt es auch keine Erklärtexte, ich muß mir auch keine überflüssigen Gedanken über die Einrichtung der Ausstellungsräume oder der Position der Kamera darin machen. Man wird lediglich aufgefordert, das Gerät in den sogenannten Landscape-Modus zu drehen, schon geht die Kunst los. Vor Jahrzehnten, auch vor dem Internet hat mir eine Rubrik in der Inselzeitung von Sri Lanka, dem «Islander» immer so gut gefallen: Über den Seiten mit Annoncen des Kleingewerbes stand dort «Let your fingers do the walking». Genau so funktioniert es jetzt bei Peyton. Die Seite versteckt sich unter der Adresse Petitcrieu.com 

15.6.2020

Gestern zufällig wieder diese schöne Radiosendung gehört «Golden Ratio Frequencies», die mich vor ein paar Wochen für sphärische Musik begeistert hat. Beinahe zwei ganze Stunden verbrachte ich so, lauschend. Die Zeit verging nicht wie auf einem Flug, wo vor dem Fenster mehr oder weniger ein Standbild zu sehen bleibt, sondern wie auf einer Wanderung durch die landschaftlichen Harmonien. Dabei fiel mir Chuck D ein, von dem ich noch kein Statement zur Rassenproblematik gelesen hatte. Aber er lebt noch. Stellte sich heraus, dass Public Enemy gerade das Stück «Food As A Machine Gun» bewarben («Chips, dip, soda, soda, yo, give me some / Pow, pow, food is a machine gun»).
Jean Raspail ist gestorben (94). Nachruf von Simon Strauß. Bisschen unklar, seine Haltung. Es steht doch eben dort, im «Heerlager» ziemlich eindeutig drin, wie Raspail die rechte Haltung definiert hat: Als heitere Gesinnung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und für die rechte Sache dafür bis zum letzten Tropfen, alle anderen Weicheier et cetera.
Bei Gopnik ging es um Warhols erste Ausstellung (in einem Hinterzimmer mit blausamten bespannten Wänden) bei einem flamboyanten Griechen. Und dass er kochen konnte (AW): Fasanenbrust unter der Glasglocke. Das Gericht selbst war mir noch unbekannt.

14.6.2020

Andy, der sich noch André nennt, André Warhola zieht zuhause aus, nach New York, an die Lower East Side. Ich habe das Gefühl, dass sein Leben, dass auch Gopniks Buch jetzt richtig los geht. Man braucht ein bisschen Vorlauf im Text, um sich warmzuschreiben. Selbiges gilt für das restliche Leben. Auch Vertrauen zu sich selbst, dass man das kann: Woanders leben als daheim. Wenn man in der Praxis dann die ersten paar Male mit der Nase ganz nah dem Fussboden der neuen Behausung liegt und einschlafen soll … Und natürlich alles voller Kakerlaken, sogar aus den Bewerbungsmappen kriechen sie zwischen den Zeichnungen heraus. Aber Hamburg war nie New York.
Abends aßen wir Rote vom Grill. Bisschen frech vielleicht, despektierlich gegenüber der Braut vom Nachmittage, die in einem roten Kleid hereingewirbelt wurde auf den festlich dekorierten Garagenhof. Man sieht es der Roten Wurst nicht an, mit der Braut verglichen tendiert sie innen zum Rosafarbenen, von außen her ins Braun. Alfred Andersch hat seinen Roman nicht nach meiner Roten benannt. Haftbefehl, Aykut Anhan hat sich mittlerweile in Stuttgart niedergelassen, erfahre ich (von seiner Frau). Der Liebe zuliebe (mit Mädchennamen heisst sie Epple).

13.6.2020

Im Garagenhof des Nachbarhauses, der von unserem Hofgarten von einer niedrigen Mauer abgeteilt wird, bereiten die Bulgaren eine Hochzeitsfeier vor. Die gesamte Nachbarschaft der Bulgaren ist eingeladen. Eine große Sache, schon heute früh wurden mit dem Pressluftaggregat etliche Luftballons befüllt. Auf einem weiß eingedeckten Tisch liegen einige Schokoladen – Merci, aber auch einheimische Produkte — drapiert. Die Zwischenräume zwischen den Packungen wurden mit den Blütenblättern einiger Hortensiendolden bestreut. Die Mume brachte diese in einer Plastiktüte mit. Ich glaube, ich kenne sogar den Vorgarten, in dem sie gedeihen. Auch für uns, die wir vom Balkon aus als Zaungäste (!) geduldet sind, ist diese Feier eine große Sache — war es doch eine Bulgarensause in dieser Art, die uns damals, vor ein paar Jahren, erst auf die Idee hatte bringen können, nach Bulgarien selbst zu reisen. Friederike kann heute aber selbst leider nicht dabei sein, die Zeitung muß fertig werden. Ich entsann mich meiner eigenen Zeit in der Redaktion und seitdem «tickere ich», wie es dort immer hieß, die allmählichen Zurüstungen zum großen Knallbonbon zu ihren Händen. Gerade eben wurde ein immenser Benz auf den Hof gerollt, aus dessen Lautsprechern jetzt der Hof aller Höfe beschallt wird. Mein Telefon identifiziert den Opener «Mega Bomba» von Sinan.

Bei Gopin ging es gestern vergleichsweise zivil zur Sache: Wie Andy Warhol zu seinem berühmten Zeichenstil fand. Nichts, aber auch gar nichts in diesem Leben war Zufall. Was eventuell an der Perspektive des Erzählers liegt.

12.6.2020

Den Sommer erkenne ich an seinem Licht, das, durch das Blätterdach von den Platanen in einen Regen aus goldenen Münzen verwandelt, auf die Windschutzscheiben hernieder fällt. Während seiner Zeit an der Kunstschule in den vierziger Jahren hat Andy Warhol sich einen rosa Anzug gekauft, um aufzufallen. Andauernd gehe ich aus dem Text hinaus, um eines dieser Details nachzuschauen, oder eine Idee zu verfolgen, auf die ich durch Gopniks Methode gekommen bin. Durch ein Versehen landete ich in einem Blog, das nur aus Bildern bestand. Bilder aus dem Leben eines Paares, wie sie leben. Ihre Pflanzen. An einer Mauer, wie die gemauert war, erkannte ich, dass ihre Geschichte in Barmbek spielt. Wie ähnlich uns Fremde vorkommen können. Lange Zeit mit dem Betrachten dieser Bilder verbracht. Wie in einer fremden Wohnung.

11.6.2020

Im nächsten Kapitel behandelt Gopnik die frühe Kindheit Warhols, auch dessen Geburt. Er verfügt über einen gigantischen Zettelkasten und kann beiläufig das Große im Kleinen angelegt zeigen. Wenn Husserl tatsächlich Recht behalten sollte, kommen mir 1000 Seiten für die Rekonstruktion Andy Warhols nicht übertrieben vor. Meine Detailverliebtheit kennt, davon angesteckt, auch im Jenseits der Biografie keine Grenzen mehr. Aus dem Eintrag zu Blake Gopnik in der Wikipedia erfahre ich, dass er tatsächlich aufgewachsen durfte im Meisterwerk brutalistischer Baukunst «Area 67», das mich jetzt freilich an eine Trutzburg aus lauter Zettelkästen erinnert. Wie bei den Royal Tennenbaums sind sämtliche seiner Geschwister sind auch Wissenschaftler geworden. Das wird alles einen wesentlichen Einfluss gehabt haben auf sein Denken, wie die Gallenblasenentfernung von Warhols Vater auf dessen Sohn, der am Ende an einem Problem mit der Gallenblase starb, seine heute selten gewordene Krankheit im Kindbett, der Veitstanz, der den jungen Andy aussonderte aus der Gemeinschaft der Knaben, oder die Suppe aus Wasser und Ketchup (mit Pfeffer und Salz), die es in Warhols Kindheit in Pittsburg gab — und eben keine Tomatensuppe aus der Dose wie sonst überall. Im dritten Kapitel, die er wie Jean Paul mit einer Kette von Teasern überschreibt, soll es um den Weg des jungen Warhols in die Seltsamkeit gehen; der Themenkreis Homosexualität wurde schon hinreichend gesät. Jetzt kann es zur Sache gehen.

Ansonsten läuft hier das herrliche Lied von Hanna Herbst. Warum eigentlich «rauf und runter»? Das habe ich schon zu Schallplattenzeiten nicht verstanden. Gestern Nacht hat draußen vor dem Fenster jemand Akkordeon gespielt.

10.6.2020

Ausführlich ist gar kein Ausdruck, wie es in meiner Heimatsprache heißen täte. Der Biograf lässt das Leben Warhols aus der Mitte beginnen, als Wiederauferstehung, nachdem er von Valerie Solanas niedergeschossen ward. Die Einlieferung des klinisch Toten (ein Rettungswagen traf viel zu spät erst am Union Square ein, schon damals Krise im Gesundheitssystem, Manhattan die Gehäutete) wird zur Rekonstruktion einer Obduktion an deren Ende der Patient wieder lebt, weil der zufällig in der Klinik Dienst habende Operateur zuvor in einer Klinik in Harlem hospitiert hatte und sich von daher auskennt mit Schussverletzungen «Residents sliced into the veins in Warhol’s elbows, pushing in tubes for fluids and blood; they left scars that could have passed for stigmata in the arms of this lifelong churchgoer. Without wasting time on the usual five-minute hand wash, …» Insbesondere letzteres kitzelt mich als Zeitgenossen des Biografen noch mehr vermutlich als einen zu Zeiten des Lebens und Sterbens von Andy Warhol. Mein innerer Lou Reed singt «Is Warhol really dead?» Die Frage blinkt tatsächlich «berechtigt», derart detailgenau wird im Folgenden die lebensrettende Operation beschrieben, wohl seitenlang*. Auch Schussverletzungen an sich, man sieht ja in Filmen und auf Fotos immer nur rote Punkte, das lernt man bei Gopnik: richten im Körperinneren auf unsichtbaren Wegen Verheerendes an. Mit einem Loch, einem türspionhaften Kanal zum Durchschauen bescheidet sich die sogenannte Kugel nicht. Der invasive Ansatz für eine Biografie wäre wahrscheinlich noch vor 30 Jahren als Geschmacklosigkeit empfunden worden. Im Grunde sehr wahrscheinlich auch noch vor 14. And now let`s party untill the break of dawn.

* Keine Ahnung wieviele in der konventionellen Auffassung von einer Seite — Ich lese das E-Book; knappe 1000 Seiten lassen sich im Bett nicht mehr angenehm handhaben. Keine der zur Textdarstellung zur Verfügung gestellten Schriften gefällt mir wirklich, ich habe einen Font namens Athelas ausgewählt als Ersatz für die fehlende Sabon, der Name stammt von einem fiktiven Kraut bei Tolkien «Angewandt wird Athelas immer als Aufguss mit dampfend heißem Wasser, in das die Blätter hineingeworfen werden. Ein bis zwei Blätter reichen meist aus. Wenn mit dem Aufguss eine Wunde ausgewaschen wird, wirkt er schmerzlindernd. Vom Kontakt mit einem Nazgûl taub und leblos gewordene Körperteile werden durch eine Waschung mit dem Sud wiederbelebt.» Hierbei scheint mir vor allem der Begriff vom Aufguss wesentlich.

9.6.2020

Noch schwanke ich, ob ich mir die Warhol-Biografie von Blake Gopnik kaufen soll. Beinahe fühle ich mich dabei schon wie Warhol selbst und werde neidisch auf all die anderen, die sie schon haben und davon erzählen können, wie gut sie ist. Dann wieder fürchte ich, dass in den Rezensionen schon alles drin steht, was auf den immerhin 912 Seiten zu finden war. Bei Joan Acocella zum Beispiel: «Warhol lied constantly, almost recreationally.» Allein das herauszufinden, Enttäuschung im Kalkül, reizt mich sehr. Es soll darin mit einer peniblen Detailgenauigkeit zur Sache gehen. Also einerseits ekelig, dadurch halt auch wieder interessant. Didier Eribon und James Miller mit vereinten Schreibkräften, so stelle ich es mir, aufgrund der Vorberichterstattung, vor. Beinahe fühle ich mich wie Lou Reed «Andy, it’s me, haven’t seen you in a while». Wie lange er schon tot ist, und erst jetzt kommt die große Biografie. Acocella erklärt das mit der Fülle des Materials, vor allem der zu analysierenden Inhalte der Time Capsules. So gesehen führt kein Weg an dieser Anschaffung vorbei … Ansonsten gestern nicht viel mehr zustande bringen können. Ein Mann mit Pressluftramme war auf dem Trottoir zu Gange. Acht-Stunden-Schicht, normalerweise. Das Haus in seinen Grundfesten erschütternd. Kleine Mittagspause von halb zwölf bis halb zwei. Bei Rewe gibt es Edelweiß für 2,89.

8.6.2020

Bad Nauheim natürlich auch Gedenkstätte für den Rock’n Roll. Am Rande des Kurparks, rechts neben dem würfelförmigen Haus im Jugendstil wurde ein Platz nach dem «King of Rock’n Roll» benannt, weil er dort in diesem Haus einen Teil von seinen Jahren in Bad Nauheim auf der Etage gewohnt hat. Es waren insgesamt nicht ganz zwei (Jahre). In dem Haus ist heute ein Hotel namens Grunewald. Davor wurde eine Stele aufgepflanzt mit einer weißen Brosche aus Stein, die den King im Profil zeigt. Meine Urgroßmutter Rosa, die beinahe als Hundertjährige starb, nannte ihn Elvis Prestling. Im Hohenlohischen werden die Erdbeeren Prestilinge genannt. Im Wald hinter dem Denkmal «Dem Deutschen Soldaten» standen wir bald vor einem entwidmeten Kirchturm, auf dessen Plattform ein Planetarium errichtet wurde. Aber nicht kuppelförmig, wie wir es erwartet hatten, sondern mit einem Spitzdach, also beinahe schon wieder wie eine Kirchturmspitze geformt (von der Bauweise her aber auch wie eine Dombaumeisterhütte). Die Grundmauern des ehemaligen Schiffs der Kirche waren erhalten geblieben. Noch früher, also vor zweitausend Jahren bald, hatte der Turm einem ganz anderen Zweck noch gedient, da war er Teil einer römischen Signalanlage: Von der Spitze des Turmes (hier wohl noch gänzlich ohne Aufbau, der Begriff von einer Turmspitze rein begrifflich zu verstehen) aus wurde zu einem anderen Turm im sieben Kilometer entfernten Friedberg über die Luftlinie gemeldet. Dort, im heutigen Friedberg war ein Herr von «1000 syrischen Bogenschützen» in Alarmbereitschaft stationiert. Wie gemeldet wurde — mit Feuer, mit Rauch, mit Rufen oder anderen Blasinstrumenten — stand auf der Tafel nicht verzeichnet. Mein Interesse am Wetter ist leicht zurückgegangen, seitdem ich die täglichen Wetterberichte von David Lynch aus Los Angeles entdeckt habe (auf Youtube). My kind of people, my kind of fun.

7.6.2020

Ausflug nach Bad Nauheim. Die Landschaft auf dem Weg dorthin erinnert an meine Heimat im Strohgäu: Streuobstwiesen, sanft geschwungen. Auch das Wetter spielte dabei mit. Der Kurort selbst dann so wie alle, die ich bislang kennenlernen durfte — sogar Velingrad «The spa capital of the balkans» war so: Die Heile Welt trägt halt wesentlich bei zur Heilung. Sprudelbrunnen, Lavendel, Planetenpark, Pizzeria Al Arcadia. Massenhaft Cafés, beinahe noch mehr Eisdielen. Vor dem Café Marwald einen genialen Amarena-Becher gelöffelt, bisschen People watching dazu. Circa 60 Prozent der Passanten in Bad Nauheim über 35 Jahre tragen Kleidung im Stil vergessener Jugendkulturen: rockige Lederjacken, gothic Tops, Baseballmützen falschherum aufgesetzt, Sweatshirts von Fantasieuniversitäten, zerlöcherte Jeans. Wünschte wir hätten solche Amarena-Kirschen auch daheim im Kühlschrank.

6.6.2020

Durch ein häusliches Missgeschick hatte sich ein Scharnier an meiner Brille verbogen, die Fahrt zum Optiker war unausweichlich. Schon in der Bahn fielen mir die jungen Menschen auf, die mit Pappschildern in die Abteile strömten. Die Aufschrift konnte ich ohne meine Sehhilfe nicht lesen. Alle sahen super aus. An der Hauptwache, einer unterirdischen Station mit (see-) sternförmiger Unterführung / Passage hatten sich schon hunderte junger Leute mit Schildern versammelt. Es kamen andauernd noch weitere dazu. Einige, an denen ich vorüberging, diskutierten das Wording eines Schildes. Auch das ist eine Erzählung: Warum man sich dann doch für den Slogan entschieden hatte, welcher Favorit verworfen ward. Die Atmosphäre war insgesamt positiv, mein Eindruck ging in Richtung Kreativ-Workshop. Malcolm Mc Laren hatte vor gut fünfzehn Jahren festgestellt «Gallery openings are the night clubs of the 21st century.» Das mag für meine Generation noch wahr geworden sein, für die nachfolgenden sind es jetzt Demonstrationen. Heute ging es um Solidarität mit Black Live Matters. Als ich vom Optiker zurückkam, fing es zu schütten an, also ging ich durch die Fressgass. Da standen circa fünfzig meiner Leute unter Regenschirmen vor dem Apple Store an.

5.6.2020

Eine neue Ausgabe des «Wetters» ist eingetroffen, die Zeitschrift, die ich zu lesen lernen will, weil ich darin kaum etwas verstehe. Das ist vorbei, ich verstehe alles, weil es eine Sonderausgabe ist zum Thema Theater. Schauspieler schauen (dich an). Passt mir natürlich auch wieder nicht. Mir kann man es nicht recht machen. Die Redakteurin fällt mir ein, die meinen Text, wie sie sagte «grumpy» fand. Ohne old man, das hatte sie sich verkniffen. Obwohl so ein Sexismus und Ageismus vonseiten Frauen nicht belangt würde. Noch nicht, vielleicht. «In zwei-, dreihundert Jahren wird das Leben auf der Erde unvorstellbar schön sein … wundervoll.» Friederike trinkt jetzt am Vormittag immer Goldenen Tee mit Kurkuma. Den schlürft sie in winzigen Schlucken und wird dabei wirklich immer jünger. Wie mir scheint.

4.6.2020

Ein nachmittäglicher Regenguss öffnet das Tor zur vergangenen Zeit. Mein Wunderland: Ich gehe spazieren durch Straßen, die noch einmal so spärlich bevölkert sind «wie früher». Bald darauf beginnt das Tor sich zu schließen. Schon wieder — wie Rückstau kommen die Menschen zurück. Ihr Terrain. Kurzer Austausch mit Ingo neulich über die Auswirkungen der Neutronenbombe, die mich als Kind fasziniert hatte, weil die Welt von ihr angeblich verschont bleibt, bloß alle Menschen sind fort. Ingo: «Die Menschen sind ja dann nicht verschwunden, es liegen überall Leichen herum.»

3.6.2020

Das Vorbild für diese lepröse Skulptur, das fiel mir erst beim Eintippen ein, aber da war es zu spät, hat einst in Paris gestanden, in den neunziger Jahren. In einem Geschäft, das es nicht mehr gibt, es nannte sich En Attendant Les Barbares. Clark hatte mir damals ein Bild der Skulptur gezeigt, auch er fiel mir ein, auch das, es war ein Kerzenleuchter, mit lauter winzigen Muscheln und Schneckenhäuschen besetzt wie von ihnen überkrustet. Clark wohnte damals in dem einzigen Hochhaus am unteren Ende der Reeperbahn, seine Mutter in einer anderen Wohnung auf der selben Etage. Drumherum, drüber und daruntergelegen: alles Modellapartements, sogenannte. Das Nuttenhochhaus wurde der Bau im Volksmund genannt. Auch das kommt jetzt zu spät, im Nachhinein ist es toll, wie wenig ich aus dieser Zeit von neun Jahren in dem Büchle landen konnte. Von dem, was mir vorgeschwebt war. Auch Feliciano, dessen Vater seine Kinder nach blinden Musikern benannt hatte — eine Schwester hieß Ray — kommt nicht drin vor. Das Verhältnis von Flow-Zeit zu Erzählzeit in der Umgebung der übrigen Zeit wäre ein Forschungsprojekt. Bloß nicht für mich. Für heute habe ich genug gedacht. Morgen kann ich wieder machen, was ich will. Bin schon gespannt, was das sein wird.

2.6.2020

Frühstück im Schatten unter der Markise: Im Mozart sitzt es sich wie zuvor. Mein Ei war allerdings kalt. Beschweren wollte ich mich nicht. Wollte ich aber vorher auch so gut wie nie. Scheint meine Natur. Dass wir dort ohne Tischnachbarn beieinander sitzen konnten, die Situiertheit begünstig die Atmosphäre eines Tête á tête. Wenn man sich nichts zu sagen hat, fällt das bestimmt auch stärker auf. An unserem nächstgelegenen Nebentisch war mal wieder etwas weggebrochen. Dieses Mal «das ganze Sommergeschäft». Man könnte ich fragen, wo denn das alles hin verschwindet, sobald es einmal weggebrochen ist. Bei genauerer Überlegung sind verschiedene Vorstellungswelten denkbar und ich würde sie mir gerne alle vorstellen lassen (beispielsweise durch eine Umfrage). Mir fiele als entlegenste Welt eine Skulptur ein, vielleicht aus Wachs gemacht und wie im Rokoko verspult und verschwurbelt; derart delikat verästelt auf jeden Fall, dass andauernd etwas davon abbricht. Es fiele ins Bodenlose einer die lepröse Skulptur umgebenden Leere. Im Spiegel der achtziger Jahre hatten sie einen Illustrator für Titelbilder, in meiner Erinnerung hat der Krisenerzählungen häufig auf solche Weise illustriert. Da brach andauernd etwas weg von einer Scholle. Auf dem Heimweg konnte ich beobachten wie zwei Telefonsäulen der Telekom demontiert wurden. Geräusche wie beim Zahnarzt.

1.6.2020

Samstags erscheint als letzte Seite das Feuilleton «Literarisches Leben». Immer schaue ich es mir an, oft stelle ich auch fest, dass ich mich samstags schon früh auf diese Sonderseite freue. Ich mag Sonderseiten und -teile in der Zeitung generell. Sie strukturieren mein Wochengefühl (Generation Sams). Die Freude am Literarischen Leben ist freilich von ambivalenter Qualität. «Warum freilich?» Unter dieser Rubrik erscheint sehr selten ein Text, den ich auch lese — zum letzten Mal etwa vor einem Jahr, als es um eine Muse Oskar Kokoschkas ging, die kokainsüchtig war und sämtliche Künstler im Wiener Nachtleben verrückt machen wollte (nach sich; kirre vor sexuellen Gelüsten nach ihr). Sie hatte einen Roman darüber geschrieben, der aber bloß in Paris veröffentlicht werden konnte, auf französisch, und obskur geblieben ist. Seitdem suche ich nach diesem Roman, teils auch mit vereinten Kräften, aber er scheint unauffindbar bleiben zu wollen. Hoffentlich existiert er gar nicht. Dass dieser Text im Literarischen Leben erscheinen konnte, halte ich ohnehin für ein Versehen. Er könnte dem für das Literarische Leben zuständigen Redakteur unterlaufen sein, denn ich bin mir sicher, dass es sich um einen Einzelnen handelt. Tatsächlich sendet dieses Unternehmen einen morsehaften Unterton, den eines Verstoßenen aus der aufgegebenen Strafkolonie. Als Chiffre verfolgt er sein völkerkundliches Programm, das sich deutlich von den interessanten Formaten der Berichterstattung vom Leben mit Texten, wie beispielsweise denen in der London Review of Books, absetzten soll. Aber der Ordnungsruf ob seiner leblosen Seite erfolgt einfach nicht. Nicht einmal der. Er erfolgt nie (Kafka). In der Dystopie vom literarischen Leben geht es um tote Bulgaren, um einen verschwundenen Brief (verschwunden allerdings vor 1050 Jahren — Man ist sich dort sicher, dass es in jenem Jahr geschehen war), oder um eine junge Dichterin aus Odessa, die nach Berlin gezogen ist, und die sich darüber beschwert, dass am Kottbusser Tor niemand ihr Russisch versteht. Afrika, Asien, nicht einmal Indien kommen jemals vor. Immerhin. Aber auch das juckt keinen. Am Samstag wurde ich so gesehen überrascht vom populistischen Move einer monothematischen Zusammenstellung aus dem Tagebuch von Volker «Holzgewehr» Hage. Abgedruckt waren seine Einträge nach den Begegnungen mit Marcel «Mein Leben» Reich Ranicki. Dessen 100. Geburtstag an einem dem Gedenkdatum voraus gelagerten Samstag gedacht wurde — warum aber nicht eine Woche darauf, fragte ich mich. Für den großen Dienstag selbst (GDS) war dann noch eine Sonderbeilage angekündigt, die er selbst wohl sehr gern gelesen hätte — schade (Hesse); in der Sonntagszeitung dazwischen ein monothematisches Feuilleton mit seinen witzigsten Briefen, die man noch nicht kennt. Ich fing an zu lesen, aber bei wirkte sein literarisches Leben nicht so, dass ich ihn vermisste. Im Gegenteil. Analog zum Déjà Vu wurde mir gleich wieder fühlbar gemacht, wie ekelhaft ich ihn schon zu seinen Lebzeiten empfunden habe. Und da kannte ich die neuesten Details von seinem Umgang mit den sehr verehrten Schriftstellern noch gar nicht. Wie sie gelitten haben. Alle bis auf Goethe und Thommie Mann, die waren schon tot. Wat hebt wi lacht.

31.5.2020

Auf dem Heimweg vom Copyshop im Westend einen Holunderbusch entdeckt (der Nase nach), der dunkle, beinahe violette Blätter hatte; die Dolden rosa, die Äste und Stiele der Blüten dagegen schwarz. Wie eine Infrarotaufnahme des Strauches vom Bahndamm. Duften beide gleich.

30.5.2020

Gestern abend um 19 Uhr 48, rechtzeitig zum Bericht von der Börse den Punkt gesetzt. Nicht den letzten, den Schluss hatte ich, wie manchmal schon, zuvor geschrieben. Dort wollte ich landen. Aufgeschaut vom Bildschirm und den Tasten, Programm gewechselt «War was?» Darum ging es auch neulich, mittags im Grüneburgpark, auf einer Bank mit Christian Metz: Dass das Bücherschreiben nie aussterben kann, weil der sogenannte Flow süchtig macht. Jetzt schon wieder.

31.3.2020

Eine Geschichte über den Regisseur Eric Rohmer, die sein Produzent erzählt hat: Für ein Filmprojekt (Le Genou de Claire) ist vorgesehen, dass in der Szene eine blühende Rose im Garten zu sehen ist. Rohmer liess die dann an der von ihm dafür vorgesehenen Stelle des von ihm dafür ausgesuchten Gartens pflanzen — im Jahr bevor die Dreharbeiten beginnen sollten. Als es soweit war, blühte diese Rose wie gewünscht.

Daran denke ich derzeit.

30.3.2020

Abends zum ersten Mal ins sogenannte Webinar, gefiel mir gar nicht so schlecht wie befürchtet. Wie im Theater kann man sich auf der übrigen Fläche des Mosaiks umschauen, wenn einen die aktive Rede nicht ergreift. Trotzdem Unbehagen vor dem Beobachtetwerden beim Wegschauen oder Gähnen (Erinnerungen aus der Erfahrung mit Video-Calls). Der Rechtswissenschaftler führte gerade seine Überlegungen aus hinsichtlich einem Recht des Staates, die körperliche Verfassung seiner Bürger zu überwachen (er hat dazu kein Recht), da öffnete sich im Hintergrund eine Tür inmitten seiner Bücherwand und ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt oder vier betrat die Szenerie. Es war als Krankenschwester verkleidet. Mit weisser Haube, darauf das Rote Kreuz. Zunächst von seinem Vater, dem Rechtswissenschaftler unbemerkt, verharrte es im Hintergrund, von dort aus in die selbe Kamera schauend, wie auch sein Vater; freilich anderen Inhalt teilend. Der Vater wird aus den anderen Kästchen des Mosaiks auf das Geschehene in seinem Hintergrund aufmerksam gemacht, schaut sich um und gerät, seiner verkleideten Tochter ansichtig werdend, ganz kurz aus dem Konzept. Vom unteren Bildschirmrand her steigen daraufhin traubenweise bunte Herzen auf und werden über das Mosaik geweht. Eine Sternstunde der Semiotik.

Gestern nachmittag Spaziergang mit Friederike durch die unattraktiven Teile der Stadt, um so wenig Menschen wie möglich zu begegnen. Auf dem Mittelstreifen der Frankenallee stand ein junger Mann, beide Hände in schwarzen Latexhandschuhen. Sonnenblumenkerne aus der Tüte knuspernd. Die Schalen spuckte er vor sich hin.

28.3.2020

Das neue Album von Brian Eno gefällt mir ausgezeichnet, ich finde es nicht ganz so gut wie Northwest Passage von Merrin Karras, aber ein Stück, Celeste, ist wunderschön. Eno hat dazu ein Video gedreht, während einer Bahnfahrt. Er hat dabei die Kamera seines Telefons auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet. Das Ganze im Zeitlupenmodus und draußen auf den Feldern ist kein Mensch zu sehen.

Ich höre sehr viel solcher Musik seit dem vergangenen Sonntag, als ich zufällig diese Radiosendung erwischt hatte. Für mich passt Ambient, passen die elektronisch erzeugten Symphonien zu der Stimmung vor meinem Fenster.

Draußen ist es sehr viel stiller geworden. Es fliegt so gut wie überhaupt kein Flugzeug mehr. Morgens manchmal ein großer Hubschrauber. Selbst auf der Mainzer «Landstraße» mit ihren vier Spuren fährt kaum noch ein Auto vorbei. Das Martinshorn eines Rettungswagens tönt jetzt wie doppelt so laut oder halb so nah, auf jeden Fall klingt es dramatisch. Gestern drang mit einem Mal ein ungewohntes Sirenengeräusch durch die Spalte zwischen den Häusern und diffundierte dort schwach in den Hinterhof. In regelmäßigen Abständen wurde der Sirenenton von einer männlichen Stimme unterbrochen, die tatsächlich «Achtung, Achtung!» rief. Danach kamen Anweisungen, darauf wieder die Sirene. Es brannte wohl ein Haus. Weil es ansonsten so still war, bekam diese eine Komponente der städtischen Geräuschkulisse eine unangemessen große Bedeutung — größer noch als ein Martinshorn, weil eine Stimme zuhören war. Und weil es keinen konkurierenden Schall gab, war auch der Nachhall der Stimme zu hören. So als wäre die Welt draußen nicht bloß still, sondern leer. Und ich, wie bei Human League im Circus of Death oder bei Herbert Rosendorfer im Großen Solo für Anton der «last man on earth».

Aber der ungewohnte Sirenenklang mit der Männerstimme trieb bald auch die Mume auf den Balkon. In ihren Ohren muß es noch unheimlicher geklungen haben, denn sie versteht ja kein Wort Deutsch. Nach und nach strebte auch der Rest ihrer Familie aus der Zweizimmerwohnung, in der sie zu fünft leben, ins Freie zu ihr. Wir lauschten, konnten uns aber nicht über unser gemeinsames Hörerlebnis verständigen. Sie leben auch in angstfreien Zeiten ihre Isolation.

27.3.2020

Gestern vor dem Einschlafen über unser herrliches erstes Jahr gesprochen, das Jahr 2015, in dem wir uns noch nicht gesehen hatten, ich noch nicht einmal wusste, wie Friederike ausschaut (Jan hielt es bei ihrer anhaltenden Weigerung ein Foto zu offenbaren zwischendurch für möglich, dass sie im Rollstuhl sitzt, ich irgendwie nicht), wir aber ohne trotzdem sondern halt vor allem sehr viele Stunden pro Nacht telefonierten. Pro so ziemlich jeder, an die ich mich erinnern kann in diesem Jahr und auch in dem darauffolgenden (zu einem ersten Treffen war es dann tatsächlich erst im Oktober 2016 gekommen). Eine diese von uns damals eingehaltene Spielart des social distancing überbrückende Erfindung von Friederike war die Übertragung sogenannter Wohngeräusche: Das fand vor allem am Wochenende statt, wenn sie — aus heutiger Sicht: in häuslicher Quarantäne lebte. Dann stellte man den heimischen Computer an und übertrug die Hintergrundgeräusche des gesamten Alltags via Skype von Frankfurt nach Berlin und umgekehrt. Die Kamera blieb freilich ausgeschaltet.  Man konnte auch einfach mal während dieser laufenden Übertragung in seinen Computer hineinsprechen und wenn man Glück hatte, befand sich der andere gerade in der Nähe und sagte auch etwas. Oder es rauschte atmosphärisch und der andere schlief, oder hatte sogar die Wohnung verlassen. Einmal, die Übertragung lief, aber ich war ausgegangen und saß vor einem Café, um ein paar Menschen an ihrem Sonntag zu beobachten, bekam ich eine SMS von Friederike «Ich komme jetzt nach Hause». Da habe ich auch rasch gezahlt und bin heim gestrebt, um diesen Moment ihres Türenaufschließens und hereinkommens live mit zu erleben. Lauschenderweise.

Las heute früh ein wenig in den Tagebuchaufzeichnungen aus diesem Jahr. Sandte einen Text auch an Friederike, per Air drop, die im Nebenraum an unserem Erstschreibtisch in der Heimredaktion sitzt (mit Blick auf das Verlagsgebäude; das hat nicht jeder zur Zeit).

25.3.2020

Könnte ich so das Schreiben für mich wieder möglich machen: aus der Erinnerung; an Bäume in Zürich, an alles; weil dieser Raum nur mir gehört? Und somit die Geschichte.

Könnte ich so — das war für mich die Frage letztlich, dauernd — «die dem Herrn entwundene Peitsche» wieder an mich bringen, die mir abhanden gekommen war in jüngster, noch längst nicht vergangener Zeit?

Beim Blick durchs Fernrohr in die Wohnung schräg gegenüber im Hof steht dort einer, der mich beobachtet. Ich setzte mein Glas sofort ab und überlegte, mich möglichst unauffällig, also natürlich zu verhalten. Ohne zu posieren, wie ein gewöhnlicher Mensch. Allerdings schämte ich mich dafür noch zu sehr wegen meines Eindringens in fremde Privatsphären. Rasch verließ ich den Raum. Der Aufenthalt außerhalb des Zimmers gelang mir deswegen schlecht, weil ich mich vor allem fragte, ab wann, nach welchem Maß einer verstrichenen Zeit es natürlich wirken dürfte, oder normal, dass ich das Zimmer mit dem Fenster zum Hof wieder beträte im Rahmen eines normalen Tagesablaufes. Konnte mich deshalb auf nichts anderes konzentrieren als abzuwarten. Bis ich mich fragte, worauf ich wartete. Das nahm ich dann als Signal, dass mir verziehen ward, meine Tat in Vergessenheit geraten. Und fühlte mich wieder frei.

Bleibt das Unbehagen mit «der leeren Zukunft», von der Simon Strauss geschrieben hatte — ist das eine Woche her? Wie hieß das große rostige Schiff das an den Landungsbrücken vor Anker lag? Im Sonnenschein.

24.3.2020

Der Keim des Judasbaums treibt aus. Gestern abends war es noch ein Knie, das aus der Erde ragte, heute früh waren dort im ersten Licht schon die beiden Keimblätter entfaltet. Auf denen sind, obwohl erst halbierte Konfetti, schon die Zeichnung der Blattadern deutlich. Der Judasbaum blüht im April, das werden wir dann erst im nächsten Jahr erleben. Die Blüten im Spektrum von Purpur bis Violett entspringen ihm dann büschelweise und überall, wo ihm an den Zweigen die Rinde aufliegt, bis er jeden seiner Äste wie mit Flausch beflockt ins Blaue reckt.

Mir ist der Schönling im vergangenen Jahr in Zürich zum ersten Mal aufgefallen. Dort vor allem in dem kleinen Park vor dem Hauptgebäude der Universität, wo die Polybahn an ihrer Bergstation hält, aber auch in Privatgärten. Am Tag nach Ostern haben wir dann vor einem Blumenladen am See ein Exemplar entdeckt; als Kübelpflanze geschnitten und trotzdem in voller Blütenpracht — wie eine gefärbte Forsythie. Wollte ich unbedingt haben.  Die Samen hatte ichvor ein paar Tagen erst im Laden des Palmengartens gekauft, als der noch offen hatte (Friederike hat neulich auf einem Abendessen die Leiterin des Palmengartens kennengelernt. Es gibt auch dort ein Szenario für die Belegschaft, weil in den Gewächshäusern viele Pflanzen täglich versorgt werden müssen).

Der Keimling macht den Anschein, als wüchse er rapide und könnte bald raus zu unserem Mandelbäumle. Das ist jetzt ein schöner Ausgleich für meinen Aufenthalt in Zürich in diesem Jahr, der leider nicht stattfinden kann.

22.3.2020

Die Luft war kalt, es roch nach Ananas.

Ungewohnte Unlust an der Zeitungslektüre — früher gerne mehr Gedanken, weniger Nachrichtliches verlangt es mich jetzt genau umgekehrt. Kann freilich an den Gedanken liegen. Lieber nicht lesen (aus Solidarität mit denen, die schreiben müssen). Friederike hat eine Art Passierschein ausgehändigt bekommen (Wurfsendung). Die Rede ist von «kritischer Infrastruktur» und «unentbehrlicher Schlüsselperson«. Sagt man sich viel zu selten.

Über Mittag lief auf dem Radiosender NTS eine Sendung von Golden Ratio Frequencies, der ich zunehmend inniger lauschte. Befremdlicherweise. Verstehe trotzdem nicht, warum man diese Musikrichtung als »Ambient« bezeichnet wie eine Sitzlandschaft und nicht mit Trance. Stundenlang schwillt und pluckert es dahin. Doch was erhebt sich dann wie ein bemooster Rücken aus der stillen See — sind das noch immer elektronische Klänge? Nein, sagt die Playlist: Das ist das Hamburger Philharmonische Orchester, dirigiert von Wilhelm Furtwängler; sie spielen Richard Strauss, «Tod und Verklärung (live)».

20.3.2020

Die Ranunkeln im vor ein paar Tagen frisch gekauften Strauß entblättern sich. Schon. Früher sammelte ich die Blütenblätter gern in einer kleinen Schale, die ich neben der Vase aufstellte — um ein Gleichgewicht herzustellen.

Heute, es war schon dunkel, streute ich sie vom Balkon in den Hof.

19.3.2020

Every day is like sunday

Von allein wäre ich wohl nicht draufgekommen: Eine Redakteurin fragt mich am Telefon, warum ich nichts mehr geschrieben habe. Mir fällt ein «Wenn man jeden Tag versucht, etwas zu erzählen und dann gibt es plötzlich diese riesige Erzählung, der alle lauschen und die ein Straßenfeger ist…» Ja, sagte sie. Und ich wußte es auch.

Das Genre Seuchentagebuch ist schon passé. Sieht doch jeder, was draußen los ist. Und was Leïla Slimani in Le Monde schreibt «J’ai dit à mes enfants que c’était un peu comme dans la belle au bois dormant» — Bobo-Porn.

17.3.2020

Zurück in Frankfurt. Um die Zeit im Garten noch zu verlängern, ihr nachzuhängen, wie es heisst, habe ich den Platz, an dem ich schreibe auf den Balkon verlegt — umweht von Wäschedüften und im Schatten eines Mandelbaums; der derzeit freilich erst ein Bäumle ist und mir mit seiner Krone, wenn ich sitze, gerade bis zur Schulter reicht. Die Sonne selbst scheint auch noch nicht.

Bei der Gartenarbeit war ich selig. Vor dem Einschlafen fragte ich mich gestern noch, warum. Wohl weil mir die Arbeit nützlich vorkam auf eine Weise, zumindest halt nutzbringender als die ich sonst tue. Mit beiden Händen in die trockenen Spiraën greifen und mit der Rosenschere Büschel schneiden, dass man später nach Feierabend den Handmuskelabend spürt. Kitsch der Rechtschaffenheit, ein Komplex?

So fiel mir dann auf, als wir sonntags nach Hohenhaslach fuhren, dass mithilfe der massenhaft verbreiteten elektrischen Heckenscheren das Erscheinungsbild von Natur an den Strassenrändern verändert wurde, dergestalt, dass hier bald alles Hecke ist. Auch ausserhalb der Ortschaften sind die Büsche und Sträucher zu Senkrechten getrimmt. Auf einem Vorplatz hatte jemand drei Forsythiensträucher zu gelben Würfeln beschnitten. Wenn man das alles mit der Hand schneiden wollte, brauchte es Hundertschaften, wochenlang.

In den Weinbergen allerdings immer wieder breite Streifen ungezähmter Natur, beinahe freilebend. Mit alten Obstbäumen, an einem hingen die schwarzen Quitten vom vergangenen Jahr. Es war schon warm, auf einem Haufen Feldsteine lungerte eine junge Eidechse herum. Früher hätte ich mich angeschlichen, mittlerweile macht unser Bruder Otho bloß noch eine Aufnahme mit dem Telefon. Er braucht auch nichts mehr abzupflücken. Und trägt doch reiche Beute mit nach Haus.

Vom Teufelsberg aus lösten sich im Schwarm die Paraglider. Trugen den Virus weit ins Land.

13.3.2020

Abends stiegen wir ins Auto, mein Vater fuhr uns nach Tiefenbronn. Ich schaute aus meinem Fenster. Die Sonne war eben erst untergegangen, ich schaute den schönsten Abendhimmel. Gerahmt vom dunklen Saum der Wälder, dahinter hoch und weit ein leuchtend warmes Grau, in dem sich Tusche kräuselte. Das Radio blieb ausgeschaltet, der Wagen flog dahin. In der Schwärze war die Autobahn zu sehen, ein weit gespannter Draht, besteckt mit lauter Leuchtdioden. Das ist der Fortschritt, seitdem ich hier aufgewachsen bin: Es ist alles viel besser beleuchtet.

Wir aßen in der Sonne. Die Wirtschaft hatte ich einst in Vanity Fair empfohlen — insbesonders wegen des herausragenden Schweinskoteletts. Eine Farbkopie meines Artikels hing viele Jahre im Eingangsbereich. Neulich wurde renoviert, jetzt hängen an dieser Stelle hübsche Motivkacheln, die zu dem schönen Scraffito auf der Husse des Kaminofens passen, das eine Tanne zeigt, ein Reh und eben den goldgelben Stern.

Später dann, bei der Fahrt heim durch die Wälder, funkelten aus dem Dickicht am Strassenrand die Reflektorwesten und Stirnlampen der Umweltaktivisten, die zur Zeit eimerweise Kröten einsammeln und über die Straßen tragen (damit die nicht überfahren werden. Meine Mutter erzählte von Schottland, wie dort an jedem Morgen die Straße gepflastert war von überfahrenen Hasen; und dass die Schotten dazu «Road Pizza» sagen.)

Mein Vater ist noch immer der Fahrer, dem ich blind vertraue.

12.3.2020

Im Zug nach Stuttgart. Mein Vater hat heute Geburtstag: 77 Jahre (und das im Jahr mit der symmetrischen Zahl!) Der Zug ist beinahe leer, Salonwagen-Gefühle (die sich natürlich «breit machen»). Mir gefällt das, aber gleichzeitig meldet sich ein schlechtes Gewissen: Ich sollte doch eher an die Bedrohung denken. Dabei fällt mir dann «Las Battuecas» ein von Stéphanie de Genlis, wo die perversen Karmeliterinnen sich singend in die Kolonie der Unberührbaren schleichen, um dort dann in der Grotte die Siechenden mit unkeuschen Küssen zu bedenken. Hatte sich eine endlich angesteckt, wurde sie von ihren Schwestern für ihre Schwären beneidet, die sie Rosen nannten.

Vor zwei Jahren erst sah es düster aus für meinen Vater. Heute ist bloß noch der Himmel grau.

11.3.2020

Die ersten Seuchentagebücher sind online. Wu Ming (jetzt bringt das chinesische Pseudonym natürlich die Würze) schreiben aus Bologna (2020L.net) und lassen es freilich offen, in welchem Maß ihr Text von Fiktionen kontaminiert wurde — genau das aber, in dem Ton will ich aber jetzt lesen. Ich finde ja auch Diary of the Dead noch gelungener als Dawn of the Dead. Gestern abend die Drohnenflüge durch das menschenleere Rom bei Tageslicht: Genau jetzt muss man dorthin und Fotos machen, Filme drehen. So billig kriegt man die Kulisse nie mehr vor die Linsen.

Wu Ming kommen bald, noch mit den Einträgen aus dem Februar auf «Überwachen und Strafen» zu sprechen. Ich hatte zuletzt häufig an die Passage gedacht, in der er erzählt, wie dieser stoische Grüßzwang der Franzosen geprägt wurde, der ja ursprünglich ein Nachfragen aus Pestzeiten war, wie es einem geht (Comment-ça va), mittlerweile eine Phrase wie How are you doing oder unser spechthaftes Na? 

Schade oder egal, dass Foucault den Virus seiner Ära nicht überlebt hat? Dass die Leute sich bald schon selbst diagnostizieren würden mit Gleichmut (ob ihre Karte heute akzeptiert wird oder abgelehnt, ob ihr Fingerabdruck ihr Telefon noch entsperrt, oder eine erneute biometrische Authentifizierung erforderlich ist für diesen Identitätsnachweis), dem eigenen Wohle zuliebe gegenseitig überwachen, hat er vorausberechnet.

In den Abendnachrichten auf Arte war gestern von Gefangenenaufständen in drei italienischen Strafanstalten die Rede, weil der Staat ein landesweites Besuchsverbot verhängt hat. In der Tagesschau wurde darüber nichts berichtet. Wu Ming beschreiben den nächtlichen Ausflug an die Gefängnismauern bei Mondenschein. Angeblich konnten sie unentdeckt bleiben, «the guards had other things to do».

7.3.2020

Die Zahnärztin verteilte wenige Milliliter einer Betäubungsflüssigkeit auf dem Zahnfleisch meines Oberkiefers und injizierte zweimal sehr kurz eine vermutlich sehr kleine Dosis davon in meinen Gaumen. Der Geschmack der Flüssigkeit war sauer und faulig zugleich. «Das war jetzt schon das Unangenehmste», sagte sie. Und behielt recht. Eine angenehm burschikose Persönlichkeit. Anlässlich des Weltfrauentag morgen gibt es im Google Playstore eine spezielle Abteilung «Apps für starke Frauen». Angeblich zum Thema «Empowerment» der Userinnen zusammengestellt, handelt es sich konkret um Mindshine («Kurze, tägliche Lektionen mit Audio-Coaching und Übungen helfen dabei, positive Gewohnheiten anzunehmen»), Meetup («Finde Menschen, die deine Interessen teilen»), Bumble («Die App bietet sogar die Möglichkeit, nur mit anderen Frauen in Kontakt zu treten»), mit Wayguard «kannst du dich virtuell von Familie und Freunden begleiten lassen, indem du deine GPS Position per App an ausgewählte Kontakte übermittelst», sowie der Beckenbodenkurs Pelvina und der Menstruations-Kalender Clue.

That’s it, folks. Das ist Empowerment für Frauen. Auch von Frauen, vermutlich. Die Zahnärztin jedenfalls würde herzhaft gelacht haben. Mir fiel dann erst hinterher ein, weshalb ich mich vor ihr gefürchtet hatte: Wegen Kurzeck. So geht es doch los in Übers Eis, dass er sich bei einer Zahnärztin zwei Zähne ziehen lassen will und die schafft es nicht, sodass er stundenlang, unter Betäubungsmittel gesetzt und «den ganzen Mund voller Blut» in ihrem Stuhl liegenbleiben muss, bis die völlig entkräftete Frau schließlich ihren Mann zu Hilfe ruft «der ist auch Zahnarzt».

Andererseits, das fiel mir heute erst ein, wo ich schon wieder feste Kost aufnehmen kann (und das in Massen ohne ß!): Wie segensreich in einem Jahrhundert der Narkosemittel leben zu dürfen. Auch Kurzeck kam ja noch in den Genuß. Wohingegen der zur Minne geborene Ulrich von Liechtenstein, Autor des Frouwen dienest sich seinen «verunstalteten Mund» noch gänzlich ohne irgendein Mittel hat zurechtschneiden lassen müssen.

Wenn ich den Schmerz nicht empfinden kann, entsteht er dann wohl trotzdem und kommt bloß aufgrund der blockierten Rezeptoren nicht an? Ich hatte eine verzögerte Wirkung befürchtet, wie aufgestaut, aber die war ausgeblieben. Anscheinend kann Schmerz sich totlaufen vor den blockierten Rezeptoren, oder sich verflüchtigen. Wie eine Schauspielerin, die wegen verschlossenem Bühneneingang ihren Auftritt versäumt.

6.3.2020

In Zürich führt die Beethovenstraße zum Wasser hin. Im Hintergrund die Berge, schneebedeckt. Es regnete den ganzen Tag über. Schweizer Männer tragen lieber Mütze als Schirm. Ansonsten hat sich kaum etwas verändert. Bei Trois Pommes Hommes hängt jetzt halt Amiri statt Balenciaga. Für Deutsche unerschwinglich, aber natürlich to die for (Pop Smoke just did). Ich hatte eine andere Stimmung erwartet. Stattdessen waren die Schweizer heiter gelaunt. Obwohl im Tages Anzeiger eine Grafik abgebildet war: Die Schweiz in den Top Ten der Länder, die am härtesten vom Virus getroffen sind; auf Platz sieben, gleich nach Hong Kong (Deutschland unter ferner liefen).

Oder kam die heitere Stimmung trotz des Regens eben daher, weil die Lage bedrohlich war, aber man hatte sie im Griff. Es gibt ja auch in der Schweiz Stimmen, die ich über den sogenannten Nanny-Staat beklagen. Aber es hat dann auch wieder Vorteile, wenn man als Bürger weitgehend sorglos lebt und sich Sorgen nur über Privatangelegenheiten machen muss.

In der NZZ war eine kleine Verlautbarung des Leiters für übertragbare Krankheiten im Bundesamt für Gesundheit, Daniel Koch: «Schulschliessungen sind in der Schweiz derzeit nicht geplant. Man will verhindern, dass es auf breiter Linie zu Kontakten zwischen Kindern und hütenden Grosseltern kommt.»

Hütende Großeltern. So leben die anderen.

5.3.2020

Im ICE 5 nach Basel: Bald schon ist Freiburg erreicht. Die Landschaft hat schon diese Hügel mit den breiten Rücken — auf jedem ein Landsitz, so müsste es sein.

Ging gestern, aus einer Laune heraus, ins Museum. Seitdem ich den Jahrespass für alle Häuser besitze, gehe ich auch mal im Vorübergehen hinein. Es dauerte dann eine Weile, bis mir aufgegangen war, was genau dort nicht stimmte; irgendetwas, sagte mir mein Gefühl. Tatsächlich war ich ausschließlich von Frauen umgeben. In der Ausstellung werden unter dem Titel «Fantastic Women» ausschliesslich Kunstwerke weiblicher Künstler gezeigt. Offenbar fühlte sich von diesem Konzept zu dieser Stunde ein ausschliesslich weibliches Publikum angezogen. Die Frauen waren auch alle ungefähr im gleichen Alter. Und stammten, obwohl sie sich in verschiedenen Sprachen unterhielten, aus der gleichen Schicht. Deutsche Töne waren keine zu hören, es muß sich also auf diese Weise zugetragen haben, dass diese Bildungstouristinnen in Bussen aus ihren Heimatorten nach Frankfurt gebracht worden waren, um dort diese für sie interessante Ausstellung zu besuchen.

Auf den Eintrittskarten steht in Großbuchstaben Fan Ticket. Weibliche Kunst als ein Phänomen extremer Zuneigung — zur Kunst, zu den Frauen? Zu beidem, zur Verbindung aus beidem. Zum Phänomen. Die Ausstellung selbst, wie schon bei der über Naturkunst, als eine auf extreme Weise voraussetzungsfrei zugänglich gemachte Wunderkammer angelegt. Mit Betonung auf Kammer. Die Korridore derart schluchtenhaft und eng, dass es oft unmöglich ist, Abstand einzunehmen zu den Bildern. Was beispielsweise bei den Zeichnungen von Unica Zürn schade ist, denn man kann halt einfach nichts erkennen. Bei Louise Bourgeois hingegen, der ein bisschen mehr Raum gegönnt wurde, wohl weil sie nicht bloß sogenannte Flachware abgeliefert hat, stolperten die Foulard-Frauen um mich herum: Monitor vor den Augen, Audioguide im Ohr. Auf Spanisch hört sich selbst die Bitte um Pardon an wie der Name einer Wurst.

Entwich dann wegen eines akuten Schubs meiner Klaustrophobie in den benachbarten Saal, wo die heiteren Skulpturen von Richard Jackson arrangiert waren. Penisnasen, spritzende Enten, im Kreissaal, das heimliche Au Pair: Ob das jemals wiederkommen kann? Wahrscheinlich gibt es eine Bildhauerei, die komplett von Jeff Koons absorbiert, geläutert und erledigt wurde. Zwei Frankfurterinnen machten Portraits voneinander vor den mit Lack verklebten Laken.

Auf dem Heimweg kam ich am Zollamt vorbei, einer Aussenstelle des Museum für Moderne Kunst, wo derzeit eine neue Ausstellung namens «Earthseed» aufgebaut wird. Ein holländischer Fuhrunternehmer ludt palettenweise junge Pflanzen ab. Fallopia aubertii ist ein schnell rankender Knöterich — in seinem Fall darf vom Wuchern gesprochen werden. Nom de guerre «Architektentrost». Im Vorraum der Ausstellungsfläche waren die Rohlinge der Skulpturen aufgestellt, die von der Pflanze überwuchert werden. Ausstellungseröffnung ist in drei Wochen. Für den Architektentrost kein Problem. Blühen (weiß) kann er auch.

3.3.2020

Am Ende ist der Text für den Schreiber zu einem Bild geworden. Nicht geronnen, auch sonstwie nichts auf natürliche Art, sondern künstlich, auf absolut unnatürliche Weise: Das war Arbeit. Alles gemacht. Vollendet, fertig, fixiert. Autoren, die gerne aus ihren Texten vorlesen, sind mir suspekt. Goetz: «Ich hatte gedacht, man schlägt 1989 auf und sieht sofort, dass das ein Text zum Anschauen ist, nicht zum Lesen, kriegt allein davon schon auf der Stelle gute Laune.»

Gespräch heute, am Morgen über den Zustand der Gnade; beziehungsweise natürlich über den Zustand jenseits dieses Zustands, der ja leider, obschon weitaus häufiger, nicht als Normalzustand gelesen werden will. So wie Friederike darüber geschrieben hatte, kenne ich es, aber nicht nur ich. Neulich erst ging es mit Oskar darum: Das Schreiben verstockt zusehends, wenn man es einmal bloß aussetzen lässt (wozu es einen zu verleiten scheint). Was Handke mit seiner Schwelle meint, Nick Cave mit der Muse: Es wird heikel bleiben, unvorhersehbar, aber allzeit willkommen wie Sonnenschein — gerne auch nachts.

Roman Flügel spricht mir aus dem Herzen: «Es gibt Tage und Wochen und vielleicht sogar noch mehr, wo man nicht in Form ist. Das Problem würde anfangen, wenn man einfach aufgibt und aufhört. Für mich war dann immer das wichtigste, so eine Grenze zu überschreiten; eine Unzufriedenheit auch auszuhalten. Aber eben nicht aufzuhören. Letztendlich ist es ja das Schönste was es gibt für mich. Es wäre Wahnsinn, wenn ich das aufs Spiel setzen würde.»

Die Abendwolken geballt wie Kontinente. Meine Körpertemperatur, Messung vor der Blutspende im Saal Matterhorn: 36,6 Grad.

2.3.2020

Kolonialisierung durch Bilder: Samin Nosrat berichtet auf Newyorker.com von ihrem Ausflug nach Oaxaca. Sie hatte sich, aufgrund von Erzählungen, das mexikanische Städtchen ganz anders vorgestellt. Allerdings scheint es sich innerhalb weniger Jahre verändert zu haben. Es dominiert dort wohl ein Typ von Bodega und Café, für dessen Einrichtungsstil der Begriff vom Airspace geprägt wurde. Alles sieht gleich aus, also gleich gut. Ideal nicht nur als Kulisse für Fotos, sondern auch jenseits des Suchers als Riesenkulisse für die Einwohner des Airspace, die es gewohnt sind, das alles in ihrem Leben instagramable sein soll. Früher sagte man pittoresk.

Reich der Bilder: Frau Nosrat hat in den Webereien vor allem noch Teppiche in Farbstellungen gefunden, wie sie sie schon aus Wohnungen auf Instagram kannte. «My best friend was with me—he’s an art historian, and a lot of his work has to do with colonialism and Mexico. He said that, when he’d been to Oaxaca last, five years earlier, this neutral palette hadn’t existed at all.» Vor acht Jahren war ich zuletzt in Oaxaca. Schon da fand ich alles geradezu quälend fotogen. Insbesondere den Sonnenaufgang und die Wandfarben. Das Marktgeschehen und die Murales, neue, cartoonhafte und die ganz alten, abblätternd zum Teil. Die Bevölkerung des Städtchen selbst aber nicht aufgeschlossen, sondern schön hinterwäldlerisch, wie ich es gerne habe. Der Kaktuswald am Berghang, an dem wir im Bus vorbeirasten waren, so schnell, dass ich von weitem erst dachte, das wäre ein Wald aus ultraschlanken Bäumen — aber dann: Na klar, Kakteen. Mexiko. Damals selbst noch auf Instagram gewesen. Kann mich nicht erinnern, was ich aus Oaxaca gepostet habe.

Auch ein QR-Code wird von der Kamera als Bildmaterial erfasst. Auf den Bananen ein Aufkleber mit Code und der Zeile Verfolge die Banane. Das Foto führt auf die Seite «Ein Herz für den Regenwald». Hier kommt dein Produkt her. Der Bananenbauer heisst Daniela Antonella. Seine Bananenplantage bewirtschaftet er in Equador. Auf der Plantage arbeiten 70 Menschen, davon sind 20 weiblichen Geschlechts.

Und immer so weiter. Bishin zum Größenvergleich des Bananenackers mit Fußballfeldern. Will ich einerseits dann schon, andererseits natürlich überhaupt gar nicht wissen. Aber wenn es mir schon hingehalten wird, sauge ich das Zahlenwerk freilich ein.

Der Luftdruck auf einem historischen Tiefpunkt (995 Hektopascal). Die Sonne scheint.

1.3.2020

Abends im Mousonturm, Theater, «Familie» von Milo Rau. Rekonstruiert wurde der letzte Abend einer belgischen Familie mit zwei Töchtern, die sich entschlossen haben, gemeinsam mit ihren Eltern in den Tod zu gehen. Vielleicht war es auch umgekehrt. Man erfährt davon nichts durch das Stück. Wie ich es mir allerdings vorgestellt hatte. Das es darin um die Psychologie geht; zumindest aber um das Gespräch, in dem die vier Mitglieder einer Familie, zwei sogenannte Erziehungsberechtigte darunter, zu diesem Schluss kommen, dass man sich en famille daheim aufhängen sollte. So blieb es für mich Theater für Leute, die nicht gern ins Theater gehen. Niemand schreit, nichts wird improvisiert und der Tomatensaucentopf wird keinem aufgesetzt, sondern bleibt da wo er hingehört, auf dem rekonstruierten Küchentisch in einem Bert-Neumann-Bungalow. Ringsum Vogelstimmen aus der Konserve, aber zwei lebende Hunde spielen mit (sich selbst) und wedeln mit den Schwänzchen, wenn die Tomatensauce in den rekonstruierten Mülleimer gescharrt wird beim grossen Aufräumen vor dem kollektiven Suizid.

In der für mich besten Szene ging es um die Formulierung eines Satzes für den Abschiedsbrief, wieder um Coda. Die Mutter erzählt ihren Töchtern dabei eine Anekdote von Flaubert.

Erzählen ist rekonstruieren. Schreiben setzt eine Mobilisierung voraus. Aus dem Stillstand ins Schwingen kommen. Am äussersten Ende der Schwingung ensteht die Schreibbewegung — bildlich an den Fingerpitzen, selbst wenn man tippt. Der Platz an dem man schreibt, trägt meines Wissens nach wesentlich dazu bei, dass diese Schwingung möglich wird. Der Platz an dem ich momanten schreibe, produktiv bin — zumindest war das gestern noch so, ist ein Tisch vor dem Supermarkt am Tel-Aviv-Platz, mit dem Rücken zum Schaufenster des Bäckereicafés und meinem Ausblick in die Europa-Allee hinein, an deren Ende wie ein Puffer quer das Plaza liegt mt seiner sich sanft windenden Fassade, auf deren bunten Lamellen in weissen, mannshohen Buchstaben einer serifenlosen Schrift das Wort Skyline geschrieben steht. Dahinter Maintower, Commerzbank, DG et cetera. Erinnerung an meinen Platz im Hotel Castell mit Blick auf die Steilwand, ans Engadin.

Das Europaviertel im übrigen kein Ort, an dem die Geschichte von «Allegro Pastell» spielen könnte, aber geschrieben worden sein, eventuell. Randt erzählt seinen Schäferroman in den Provinzen von Neukölln und Maintal. Aber ich konnte ihn vor mir sehen, wie er seinen Text in einem der mittelhohen Häuser entlang der Allee mit Conciergeservice und Fernblick schreibt.

Lieblingsstraße: Beethovenstraße, da besonders das Haus Nummer 47 mit der gläsernen Vitrine aus dem Eingangsbereich herausgebaut, in der ein mit Kieseln bedecktes Beet einen Bogenhanf beherbergt. Einen Bogenhanf! Und was noch?

Lieblingsplatz: Beethovenplatz natürlich. Mit seiner Kirche. Klein und niedrig, beinahe geduckt, die aber leider nicht Beethovenkirche heisst. Und in der Schumannstraße knospt eine Magnolie.

Der Letzte Satz bei Milo Rau übrigens «Wir haben es vermasselt, Sorry.» (Die Übersetzung war leider nie wirklich gut). Im Rest des Abschiedsbriefes ging es angeblich um Versorgung und Pflege der Hunde.

29.2.2020

Die Form zu finden für das allmähliche Ausschwingen bis zum Stillstand, dabei die eigenen Motive weiterhin anklingen lassen, eventuell noch das eine oder andere, zuvor fallengelassen, wieder aufnehmen, alles aufheben: das ist Coda. Den Hinweis verdanke ich Jan.

Musikalisch kann es diese Playlist aber nicht sein, der wir heute erst lauschten, weil wir wissen wollten, von was bei dem euphorischen Artikel über die Produzenten Miksu & Macloud die Rede ist. Mir kam es so vor, als wäre das deutscher Schlager mit Akzent gesungen («Mein Herz zerbricht in tausend Teile»), aber als ich es aussprach, sagte Friederike «Jetzt reden wir schon wie unsere Eltern». Stimmt freilich, so in der Art. Mir soll’s recht sein — inzwischen. Die Instrumentals sind es ja gar nicht, mich nerven die dümmlichen Texte.

Ralph Towner andererseits, der heute Geburtstag hat, sogenannter Jazz kann es aber auch nicht werden für mich. Im Feuilleton schreibt der andere Jan (Wiele) über Towners Melodie Icarus, welcher angeblich schon Astronauten auf ihrem Flug zum Mond gelauscht. Entfaltet wahrscheinlich erst mit Ausblick ins Weltall ihre tiefere Wirkung. Vom Empfinden her dann zwischen Arien auf dem Amazonas und Dub auf Jamaika, vermutlich.

Irgendwo dazwischen: auch ich.

«Ist Atmen GIF oder eher Boomerang Filter?» fragt auf Twitter GaBbErMaUsii98 aus Wien. Tja, wenn ich das so genau wüsste. Altern als Problemchen für Künstler.

28.2.2020

Seitdem die Wettervorhersage auf meinem Telefon verlässlich geworden ist, verspüre ich meinen Frischluftdrang ungestümer denn je. Davor blinzelte ich vielleicht in die Sonne, abwägend, hadernd; mittlerweile weiss ich, dass mein Gerät mir eine Wettervorschau zu bieten hat und gehe einfach los.

Ich bin dem Gerät gegenüber insgesamt vertrauensseliger geworden. Als alles dies noch neu war, es ist gerade mal zwölf Jahre her, habe ich beispielsweise noch darauf geachtet, den Ortungsdienst nur für bestimmte Aufgabenstellungen einzuschalten, was sicher auch damit zu tun hatte, dass die Batterien damals noch schlechter waren, aber nicht nur. Heute lasse ich alles andauernd an und lade trotzdem seltener denn je. Neulich hat mir Fritz, da war er gerade aus Los Angeles zurückgekommen, ein Feature von Maps gezeigt, das man hierzulande noch nicht kennt (weil unsere Polizei es noch nicht füttert), da zeigte die Karte in einer Gegend von Los Angeles dieses mir unbekannte rote Symbol. Es bedeutet «Schiesserei».

Und als ich heute vom Spaziergang heim kam, machte Google mir das Angebot, die Verfügung für den Fall meines Ablebens auszufüllen. Nennt sich Plan für Ihr Konto: In der Regel gehen wir davon aus, dass sie tot sind, wenn ihr Konto drei Monate lang inaktiv bleibt. Ich konnte das natürlich noch konfigurieren, beließ es dann aber trotzdem bei den voreingestellten drei Monaten, weil mir das vernünftig erschien als Zeitraum und überhaupt, beziehungsweise, weil ich mir auch keine noch so extreme Spezialsituation vorstellen konnte, aufgrund derer ich drei Monate lang stillhalten könnte, außer halt Tod. 

Währenddessen dachte ich parallel darüber nach, ob Google wohl auf die Idee zu diesem Vorschlag ausgerechnet jetzt gekommen war, weil ich an einer Google wohlbekannten Straßenecke vor dem kleinen Tempel für den dort im vergangenen Sommer verunglückten Radfahrers innegehalten hatte, um die prachtvoll aufgetürmten Gaben und das laminierte Portraitbild des Toten dort auf dem Asphalt des Radweges zu fotografieren. Eine Art Mitgefühl, Roman.

Ich vergess Dich nicht hat eine Frauenhand mit schwarzem Filzstift auf den Asphalt geschrieben. Ich sehe dieses Detail erst jetzt, da ich das Foto auf einem grösseren Bildschirm betrachte. Die Aufnahme ist enorm scharf geworden, auch wegen des Sonnenscheins, so dass ich endlos in die Schrift auf dem Radweg hineinzoomen kann, bis ich schon beinahe das Körperzittern darin erkennen will. Moritz hat mir das neulich erzählt: Der Mensch hat ein Eigenzittern in seinem Skelett und der Muskulatur, das die Fotos im Mikrobereich unscharf werden lässt. Aber die neue Kamera von Sony, ein Consumer Model mit extrem hochauflösendem Sensor, hat jetzt eine Software, die exakt dieses menschliche Eigenzittern aus den Aufnahmen herausrechnet.

Für den Fall, dass ich gestorben bin, löscht Google jetzt nach drei Monaten mein Konto, verschickt aber noch beliebig lange eine von mir zu konfigurierende Nachricht an jeden, der eine EMail an mich schreibt. Ich schaute nach bei Martin Walser: «Gegen Schluss müssen die Sätze, obwohl ja alle Sätze gleich lautlos auf dem Papier stehen, leiser wirken. Und richtungsloser. Wenn noch eine Tendenz, dann die zum Stillstand. Die schönste aller Tendenzen.»

Also habe ich verfügt, dass Google nach der Löschung meines Kontos die folgende Nachricht verschickt: «Dieses Konto verwende ich nicht mehr.»

27.2.2020

Sebastian schickt Übers Eis von Peter Kurzeck. Die Sendung hatte er längst angekündigt, die Rede war von einem Kleinod. Obwohl es mittlerweile schneit und trotz des Eises im Titel (und auf dem Titelbild) fühle ich mich mit dem Buch an den Spätsommer 2013 erinnert, als mich die Doktoren Süselmann & Döring in ihre Gemeinschaftspraxis zu Marburg und Siegen eingeladen hatten. Spazierten wir da über einen Rasen längs des Trümmerfeldes dieser Universität in Richtung Mensa, als sie beide, unisono mir empfehlen wollten, doch endlich auch Peter Kurzeck zu lesen (damals lebte der auch noch). Habe ich dann aber nicht. Anderes kam dazwischen, dafür hätte vor allem Kurzeck selbst wohl Verständnis gehabt, und vor allem fürchtete ich mich bis vorgestern auch davor, dann gleich alles von ihm lesen zu wollen. Also dass der mich dann gleich für ein ganzes Jahr mindestens blockiert (oder ein paar Monate bloß, dafür die dann auschließlich — was sich womöglich noch fataler auswirken könnte.)

«Gegen mich bin ich machtlos» heisst es in der Erzählung. Es geht um die Ereignisse im Jahr 1983 oder 84, erzählt wird aus Frankfurt. Er lebt in einer Abstellkammer, schreibt dort an seinem Manuskript weiter, weil er zuvor seine Beziehung und seine Wohnung verloren hat. Ich las das Buch gestern nachmittag zuende, an meinem neuen Lieblingsplatz im Café Laumer: Ganz hinten um die Ecke, vor den großen Fenstern zum Garten, wo ein Bogenhanf ins Bild züngelt, gibt es eine Art Abstellfläche, an die man sich aber auch setzen kann. Dorthin flüchte ich derzeit für zwei Stunden, wenn die Putzfrau kommt. Ich finde das Wort Raumpflegerin zwar schöner, es erinnmert mich kurioserweise an Astronauten (wegen Raumfahrer vermutlich), aber tatsächlich so empfinden, also tatsächlich Raumpflegerin sagen, wenn ich Putzfrau meine, könnte ich nicht.

Und eigentlich liest man dieses Buch auch nicht zuende, man wacht daraus auf. Es ist wie ein Traum, kein besonders schöner. Irgendwann wurde mir klar, dass er in Schleifen im Kreis herum erzählt — wie man eine Blume zeichnet. Der Text erzählt nur einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt des Bildes; er kreist es ein. Kurz vor dem Aufwachen schaute ich auf ein Bild dieses Jahres, das wie eine Langzeitbelichtung war, derentwegen ein Blitz die nächtliche Landschaft ausleuchten kann.

Es gibt kaum Bilder von aussen, obwohl er viel zu Fuß unterwegs ist, wobei er zugleich seine Schuhe schonen will, denn es ist da letzte ihm noch verbliebene Paar. Einmal erinnert er sich an einen Besuch bei Bekannten zu Silvester, da zieht er mit Frau und Kinderwagen durch eine eiskalte Gegend, um die Fahrtkosten zu sparen, zu allem Überfluss befindet sich im Gepäckfach des Kinderwagens auch noch ein eiserner Bräter mit einem kostbaren Schmorgericht, dem Gastgeschenk. Der Weg gestaltet sich mühseliger als gedacht, irgendwann explodieren Knaller und Heuler ziehen ihre Leuchtspuren, das Kind schläft wie erfroren im Wagen über dem Gulasch. Die Erwachsenen reden kein Wort mehr miteinander vor Anstrengung, es scheint alles sinnlos geworden, ganz allmählich hat sich die Szenerie des Erinnerungsbildes aus den achtziger Jahren in eine von Flucht und Vertreibung verwandelt.

Am Ende war ich wieder dort, wo ich angefangen hatte zu lesen, aber ich erkannte kaum etwas wieder. Wirklich wie beim Aufwachen nach einem Traum.

26.2.2020

Die versprochene Teelieferung aus London ist noch immer nicht eingetroffen. Heute früh sah es schon nach trüber Tasse aus, weil ich mich in den vergangenen Tagen partout nicht überwinden konnte, einen Überbrückungstee zu kaufen, wo doch die Lieferung jederzeit eintreffen soll. Da zauberte Friederike eine Blechdose hervor, in der sie einen Tee aufbewahrt, den einst ihr Vater aus Thailand mitgebracht. Behauptete auch, sie hätte ihn mir schon einmal serviert. Konnte mich nicht erinnern. Die Dose bedruckt mit der winterlichen Ansicht eines frühgotischen Stadtzentrums; nach Sonnenuntergang, alles hellbläulich verschneit, der Himmel beinahe schwarz, die Zimmer leuchten quittengelb aus den Fenstern. Dose vertraut, nie geöffnet. Tee sehr angenehm mundend. Man überbrüht eine winzige Menge mit viel Wasser, das sich tannengrün färbt. Muss mit warmer Milch verlängert werden. Schaut dann aus wie in den neunziger Jahren eine Prada-Boutique von innen. Zumal ich mir den Tee in dem pradagrün emaillierten Milchtöpfchen angerührt hatte; in dessen weissem Innenleben, die pradagrüne Flüssigkeit: von oben betrachtet!

So ergeben sich untertags die reizendsten Stillleben. Wenn die Eier still und auf das Kochen ihres Wassers wartend liegen, schon gepikst, und dann fällt der Sonnenschein durchs Fenster ein, so, dass die Eierschalen durchleuchtet werden und, wie ausgeblasen, porös erscheinen, wie sie es in Wirklichkeit auch sind. Oder die Blüten des Mandelbäumles draussen vor dem Fenster, wenn das Sonnenlicht sie anweht. Die Lichtreflexe an dem Haus im Hinterhof gegenüber. Immer das Sonnenlicht. 

Am Montag las ich «und so»  und beobachtete Friederike heimlich wie das Exemplar einer seltenen Art, bis mir einfiel, warum mir das besondere Freude bereitete. Weil es im Tageslicht war, dass ich sie vor mir hatte. Und wir uns so selten in meiner Tagwelt begegnen. 

25.2.2020

Am Glas des Drehtürgehäuses zum Restaurant Palms Garden klebt jetzt die Mitteilung an die «sehr geehrten Gäste»: Als Vorsichtsmaßnahme haben wir deshalb bis einschließlich 30. April 2020 geschlossen. Hier hatten wir, hier hatte auch Mosebach, erst neulich noch, heiter gespeist. In der Zeitung war das Gedicht der Krankenschwester Long Qiaoling abgedruckt, die sich freiwillig für den Dienst in der Seuchenkolonie gemeldet hatte:

Die Parolen sind eure / die Lobeshymnen sind eure / die Propaganda, die vorbildlichen Arbeiter, alles euers / Ich bin nur hier, um meine Arbeit zu machen / Ich folge meinem Gewissen als Mitglied der heilenden Zunft / Bitte dekoriert mich nicht mit Girlanden / Ich bin nicht nach Wuhan gekommen, um die Kirschblüte zu bewundern //

Ihr Gedicht trägt den Titel «Bitte stört mich nicht». Anscheinend eine Selbstverständlichkeit in der chinesischen Kultur, dass eine Krankenschwester sich in Form eines Gedichtes einlässt in den politischen Diskurs. Wirkt auf mich vermutlich auch gerade deshalb so beeindruckend, weil derzeit hierzulande Fastnachtsreden vorgetragen werden. In China, einer jahrtausendealten Hochkultur, sitzt das Dichten freilich tiefer — gibt es dort nicht sogar Firmenhymnen, von versammelter Belegschaft vor der Arbeit zu singen?

Beim Bäcker, wo ich lange warten musste, weil alle sich ein individuelles Sortiment aus den vielen verschieden gefüllten Kreppelchen zusammenstellen lassen, ein kurioses Namensschild für einen der Laibe: Barockbrot. Tatsächlich wirkt die braune Form wie aus einer langen Teigwurst aufgerollt zu einem exzentrisch eiernden Schneckenhaus. Ich bestellte mir eins, als ich an der Reihe war: «Ein Barockbrot, bitte!»

Menschen!

24.2.2020

Nachmittäglicher Ausflug nach Kassel — wie lange schon war ich dort nicht mehr gewesen? Fünf Jahre Minimum (das Tagebuch schweigt davon). Im Fridericianum gab es eine Ausstellung von Forrest Bess, einem toten Maler, der mir unbekannt war. Grösstenteils charmante Gemälde, kleinformatig und selbst gerahmt mit groben Leisten (aus Treibholz? Der Verstorbene lebte in einer Bucht am Golf von Texas). Eins davon, mit dem Titel «The Door», in Weiss gerahmt mit Passepartout aus Holz, das mit derselben Ölfarbe angestrichen ward, hätte ich gerne mit nach Hause genommen.

Die sogenannte Aufbereitung der Gemälde durch das Museum fand ich allerdings ärgerlich, denn man hatte es für nötig befunden die Beschaffenheit der Künstlerseele gleichsam herauszupräparieren und sie in den Formen von Briefen und anderen Dokumenten, sowie einem Film von Ari Macopoulos auszubreiten (das Papier tatsächlich in Vitrinen, die inmitten der Ausstellungsräume aufgereiht standen). In diesem Begleitmaterial ging es hauptsächlich darum, warum der Künstler Bess gemalt haben wird, was er gemalt hat. Man kennt das: Van Gogh vermutlich schizophren, Moore musste seiner Mutter den Rücken massieren et cetera. Forrest Bess wiederum war wohl kryptosexuell, wurde als Pupertierender mit einem Bleirohr gezüchtigt, hat sich selbst versucht zum Hermaphroditen umzuoperieren, dies alles dazu noch im Texas der fünfziger Jahre. Mir hat die Vermittlung des interpretatorischen Zusatzwissens in Form eines begehbaren Katalogs seine Kunst nicht näher bringen können. Verleiden auch nicht, aber mir hätten die Bilder an sich genügt. Wahrscheinlicherweise gibt es aber diese nach dem Profanen bohrende Wissbegierigkeit von Museumsbesuchern. Man wird doch wohl wissen dürfen, warum ein Künstler Künstler ist.

In Kassel regnete es ansonsten ausdauernd und viel. So hatte ich diese Gegend auch in Erinnerung behalten. Wir waren dann in dem Café in der ersten Fußgängerzone Deutschlands, die, das wusste die Speisekarte, Ende der fünfziger Jahre Schauplatz war für den Spielfilm «Der letzte Fußgänger» (mit Heinz Ehrhardt). Ausser diesem Café aber, und einem Skate-Shop, stehen dort mittlerweile sämtliche Ladengeschäfte leer.

22.2.2020

Aufgewacht war ich am Donnerstag um fünf Uhr in der Früh, noch vor Sonnenaufgang, als ob irgendwas wäre. War aber nichts. Bis auf die Vögel halt, deren Improvisation aus dem Dunkel durch die Fensterscheibe hindurch zu mir getragen ward. Glasklar: Rotkehlchen an der Piccolissimoflöte und «Blackbird» Turdus merula — ineinander gezwirbelt, einander umtändelnd, als spielten sie mit-, und nicht gegeneinander, wie es in Wirklichkeit war.

Zum ersten Mal seit vielen Wochen war ich alleine in der Wohnung aufgewacht, Friederike verreist, da dachte ich mir, um die Exotik der Situation noch zu steigern, eine Schüssel Jjapaguri aufzubrühen — jene Mischung zweier unterschiedlich konzipierter Minutennudeltopfgerichte aus Korea, die derzeit durch den Film Parasite der Welt bekannt gemacht wird, in dem sie eine Rolle spielt; diese Nudelneuigkeit, die zu Gattung Frankensnacks gehört, ist aber auch das einzig bemerkenswerte an diesem Film.  

Im Liebighaus schaute ich mir die farbrestaurierten Statuen aus der Antike an. Vor dem Besuch dieser Ausstellung war ich neulich am Rande der Lesung im Wasserschlösschen gewarnt worden von einer Dame, die meinte, dass mir das «für immer» die Freude an der Antike verleiden würde, weil die Bilder der weissen Statuen «so tief in uns drin» wären, dass wir den Schock der schlagartig Bunten nicht verkraften könnten. Dazu sagte ich freilich, was ich in solchen Situationen immer sage. Bald ist ja auch Ostern (Das sagte ich natürlich nicht!) 

Die Statuen gefielen mir sehr. Besonders die eine, von einem männlichen Gott, dessen Brustbild auch auf den Plakaten abgebildet ist: Er trägt einen ultramarinblauen Dornenkreis auf der Brust. An der Statue ist zudem das auf den Plakaten ungezeigte Schambein mit einer scharfkantigen Grafik verziert — ebenfalls Ultramarin auf Lyoner Rosé. Wie von einem zeitgenössischen Artist tättowiert. In meinem Museum hätte ich diese herrlichen Statuen in verkleinerter Form im Museumsshop kaufen können. In Wirklichkeit gab es die dort leider nicht. Noch nicht einmal die antike Intimfrisur als Fragment. 

Kurios, dass ich ziemlich genau einen Zeitpunkt im siebzehnten Jahrhundert benennen kann, ab dem westliche Bildhauerei für mich uninteressant geworden ist; ab dem dann Malerei ihre Aufgabe übernimmt. Bis auf weiteres (Brancusi und Judd). Auf meinem Weg ins Café Mozart überquerte ich den Römer, wo vor dem Rathaus ein paar frierende Närrinnen mit Narrenkappen auf sich gegenseitig Sekt einschenkten. Und im Mozart selbst waren die Wände zum ersten Mal, seitdem ich das Café kenne, mit hochglänzend bunten Clownsmasken aus Kunststoff dekoriert. An den verspiegelten Säulen waren verschiedenfarbige Luftballons mit Tesafilmstreifen befestigt worden. Und dazwischen saßen die gleichen Leute wie immer und unterhielten sich in der für das Mozart typischen Lautstärke also dergestalt, dass die perkussiven Impulse von Tassen und Kuchengabeln auf Tellern noch gut zur Geltung kamen. 

Auf dem Heimweg, da war es längst wieder dunkel geworden, kam ich vor der Paulskirche an der tausendköpfigen Mahnwache vorbei, es sprach der Bürgermeister ins Mikrophon «Wir sind die Stadt der 120 Nationen.»

An der Bockenheimer Warte, beim Palmengarten, das sah ich erst heute: wächst ein Kirschbaum direkt neben dem Warmluftschacht der darunterliegenden U-Bahn-Station. Und an den Zweigen, die über das Gitter ragen, blüht es dicht an dicht.

19.2.2020

Die Quelle meines Farnwunsches ist das Erinnerungsbild eines Farnes, den es bei uns zuhause gab. Ich glaube, er wuchs aus einem weissen Übertopf mit Riefen, sicher bin ich mir aber nicht. Wie alle meine Erinnerungsbilder ist es vage. Vom Gefühl her, das es auslöst, freilich nicht — das ist heimelig, zusprechend, konstruktiv. Aber wo genau hatte dieser Farn seinen Platz? Gab es ihn schon in der ersten Wohnung unserer Familie, in der ich meine ersten anderthalb Jahre verbracht habe? Wurde er dann von Bietigheim mit nach Heimerdingen umgezogen und dort, Jahre später, noch einmal innerhalb der Ortschaft selbst? Nicht einmal, ob es ihn heute noch gibt, könnte ich, ohne daheim anzurufen, sagen. Eiben können wohl bis zu 5000 Jahre alt werden. Und Farne?

Bei unserer Fahrt von Port Antonio nach Kingston machte unser Fahrer Omar auf mein Bitten hin Halt auf halber Strecke in Berge. Die Abhänge waren an dieser Stelle schon schluchthaft steil und von wildem Grün überwuchert, es gab nirgendwo das Gestein freiliegend zu sehen. Die Gipfel der Blauen Berge sind spitz zulaufend, wie von Kinderhand umrissen, sodass ich mit die Entstehung Jamaikas als silvestrische Szene vulkanischer Ausbrüche ausmalte, während ich hinter der Hütte eines Rasta-Bergbauern mein Wasser abschlug. Diese Rastafaris der Berge sind übrigens mit dem Anbau und der Weiterverarbeitung ihrer Kaffeepflanzen beschäftigt, die sogenannten Ganja-Pflanzen, Cannabis sativa, werden im Garten hinter dem Haus angebaut, vergleichbar den Kaiserkronen und Christrosen in den Hausgärten unserer Bauernhöfe.

Gleich neben dem geparkten Auto ragte eine urtümliche Palme auf. Die hatte ich beim Verlassen des Gefährts übersehen; nun, da ich mich dem herrlichen Ausblick in die jamaikanische Bergwelt mit deutlich mehr Muße widmen wollte, fielen mir vor allem ihre eigenartigen Wedel auf: Die waren nämlich wie die Arme eines Farns. Wie auch der Stamm dieses Palmstrauchs mit jenem pankoflockenhaften Gewebestrumpf bezogen schien, wie er sich dicht am Waldboden um den Ursprung der Farne zeigt. Es gab natürlich jede Menge Zweifel, doch konnte es sich bei diesem palmenartigen Farn tatsächlich um eine Art lebendes Fossil aus dem Erdenalter der gewaltigen Gewächse handeln. Ich machte eine Filmaufnahme der Farnpalme im Zeitlupenmodus, um das beschwichtigende Volantisieren ihrer Wedel hervorzuheben. Ich mache selten Filmaufnahmen.

Über die Jahre lernt man, besser hinzuschauen, «vielleicht auch genauer fühlen» schreibt Friederike heute. Einerseits bin ich kein Freund biologistischer Thesen, beispielsweise, dass mit zunehmender Lebenszeit das Langzeitgedächtnis an Bedeutung gewinnt, andererseits weiss ich nicht, ob Friederikes Vermutung auch auf mich zutreffen könnte. Mir kommt es nicht so vor, als ob ich in dieser Hinsicht etwas hinzugelernt habe. Und wenn, dann vor allem, wofür ich mich wirklich interessiere. Beziehungsweise, das klingt nicht so triumphal: wofür alles nicht.

18.2.2020

Unversehens — wie auch sonst? — war ich mitten in ein Abenteuer geraten. Dabei hatte ich doch bloß eine Kundenkarte für den Künstlerbedarfshandel beantragen wollen. Mir war nämlich aufgefallen, dass man in Frankfurt beim Zahlen nicht die Kreditkarte funkeln lässt wie anderswo, sondern eben diese Kundenkarte der Firma Boesner. Vermutlich weil ein Dasein als Künstler sich hier, in der Stadt des Geldes, im angenehmen Kontrast zum Bürgertum darstellen lässt.

Und es läuft noch immer wie bei Kafka — wobei die Nachtglocke mittlerweile «Google Maps» heisst. Derzufolge ich mit der S-Bahn wo ganz anders hinfahren sollte, als ich das in Erinnerung behalten hatte von meinem bislang ersten Besuch im Künstlerbedarf. Damals, vor zwei Jahren, als wir dort das Zubehör für unsere Linolschnittproduktion einkauften. Aber wo ich der Angabe auf meinem Bildschirmchen zufolge vom Zug abstieg, reichten dunstige Weideflächen und gulaschbraune Äcker ans Ende der Welt, am anderen Ufer der Gleise wiederum türmten sich schon wieder oder noch immer städtische Strukturen auf. Dadurch hatte ich neues Vertrauen in meine Navigation gefasst und ging den Weg in Richtung Dorf. Die Kehre rahmte eine Kolonie von Schrebergartenhäuschen ein, von denen einige zusammengedroschen waren, bei anderen fehlte mindestens das Dach. In Berlin hatte mir Jan einst im Sommer das verborgene Reich gezeigt, eine glücklich versteckte Kolonie mitten in der Stadt, die teilweise an Indien erinnern konnte. Hier, bei den Ruinen am Fuße von Frankfurter Berg dachte ich natürlich an ein Erdbebengebiet; aber an eines, das auch bloß so modellhaft und sozusagen knuffend sich ausgewirkt hatte im Verhältnis zu den dünnen Sperrholzwänden der von ihm erschütterten Bauten.

Dann die ersten Hochhäuser, wahrscheinlich noch aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und seitdem kein einziges Mal fassadensaniert: Und wie im Kontrast dazu die allerhochtrabendsten Straßennamen! Vor einer katholischen Kirche, nicht von Gottfried Böhm erdacht, ragte — meiner Ansicht nach: zweckfrei und auch sinnlos — ein etwa acht Meter langer Riegel aus Beton in den Himmel. Senkrecht. Warum? Das konnte ich nicht ergründen. Es war auch niemand dort, den ich hätte fragen können. In Stirnhöhe war auf dem Beton ein Straßenschild aus dem Fanshop der Lindenstraße befestigt, darauf in weiß auf blau: «Platz des Guten Hirten». Und an dem Nachbarhaus, das viele vergitterte Fenster mit grünen Fensterläden hatte, stand «ADAC Hier können Sie Mitglied werden» auf einem Schild. Dann die mehrere hundert Meter breite Kaserne der Bundespolizei. Und die klare Stimme eines Rotkehlchens, das, ich musste nicht lange suchen, im tiefen Schatten einer Eibe saß und vor sich hin zwitscherte, frühlingshaft gestimmt. Bald da ich stehen geblieben war, schaute es zu mir herab und wippte — ohne Furcht. Gerade so, als ob es mich sähe. Als ob es mich kennt.

Es war am Rande dieser mäßig befahrenen Ortsdurchfahrt, am Zaun der Bundespolizeikaserne, wo in der Eibe ein Rotkehlchen für mich sang, dass ich beschloss, bald einen Farn zu kaufen. Für mich der Inbegriff der Häuslichkeit, des sesshaft werdens und somit ein Projekt, dass ich seit gut und gerne fünfzehn Jahren aufgeschoben hatte; doch immer wieder habe ich daran gedacht, mitunter war ich auch mal kurz davor. Jetzt aber, nun, so war mir klar mit einem Mal, währenddessen ich dem Rotkehlchen lauschte, ist es soweit.

Das Rotkehlchen indes schaute von seinem Zweige aus mit seinem Rotkehlchenauge. Unentwegt, auf seine Art.

16.2.2020

Frühlingshafte Luft, das Mandelbäumle treibt an den Spitzen seiner Äste erste Blattbündelchen aus, man konnte ohne Jacke gehen. Zum ersten Mal im Museum für Architektur, wo sie zu Ehren von Gottfried Böhm, dem Hundertjährigen, eine kleine Schau eingerichtet haben zur Entstehungsgeschichte seiner Wallfahrtskirche in Neviges. Die habe ich ja leider viel zu spät entdeckt, schon damals wurde sie restauriert und die Arbeiten sind wohl auch noch immer nicht abgeschlossen. Der Auftrag wurde noch vom sagenhaft berühmten Kardinal Frings selbst erteilt, der damals schon so gut wie blind gewesen sein soll. Die Sage geht, so las ich heute auf dem Wandschild, dass er die aus Karton geklebten Modelle der in Frage kommenden Architekten mit den Fingerspitzen befühlt haben soll, um dann für den Böhmschen Entwurf zu entscheiden. Die Konkurrenz hatte etwas Kistenförmiges und einen Trichter zur Wahl hingestellt. Auf einem historischen Luftbild sah ich heute zum ersten Mal, wie nahe der schöne Baukörper an die übrigen Gebäude und in das Städtchen mittenrein plaziert wurde. Die Aufnahmen und Zeichnungen, die ich kannte, hatten die umgebende Wirklichkeit in die Ferne gerückt. Jetzt kam es mir so vor, als ob da ein monumentaler Backenzahn aus einem ohnehin schon überfüllten Kindermunde stach. Vor einer Wandtafel stehend, auf der die Probleme bei der Sanierung von Betonbauten erklärt wurden, schnaubte ein Besucher mit Kinnbart zu seiner Frau «Ich rate zur Sprengung!» Dazu sagte sie nichts. Er wiederholte es. Sie wandte sich um und ging zu einer großformatigen Fotografie eines von Böhm gestalteten Kirchenfensters, das eine abstrakte Darstellung einer grünen Schlange zeigt, weil es den Sieg über das Böse zum Thema hat. Ihr Mann folgte ihr, aber bloß um ihr zu sagen, dass er zur Sprengung rate. Sie würdigte ihn keinen Blickes, studierte stattdessen die Fotografie. Ich beeilte mich, den Raum zu verlassen.

Draussen vor der Tür standen die Menschen hunderte Meter lang um das Städel Museum herum an, um dort die Ausstellung «Vincent Gogh und die Deutschen» sehen zu dürfen. In den Vogelbeerbüschen sprang wippend ein Amselhahn umher; auf den Vogelbeerbüscheln wippend; sich mit seinem safrangelben Schnabel die saftigen Vogelbeeren pflückend.

15.2.2020

Der Postbote bringt die bestellten Bände des Heimatdichters Stoltze: So, da hat es also zwei mit diesem Namen einst gegeben. Adolf war der Sohn des Friedrich. Und hat den Kranz nicht gefangen, wie es heißt. An den anheimelnden Zauber jenes von seinem Vater beschriebenen Ufers, das «vom Teiche bespült», kommt er nirgendwo auch nur heran. Ich kann aber nicht einmal ein Drama spüren, wie zwischen Filius Goethe und seinem Senior. Adolfs «Gedichte in Frankfurter Mundart» gehören stilistisch nach Köln.

Schmiss beide Bände, noch im Stehen durchgeblättert, in den Müll. Bleiben schlechte Bücher ungeschont? Beziehungsweise ist denn die Existenz jeden Buches zunächst bedroht?

Gestern abend mit Hartmut bei Adolf Wagner. Als es sehr voll wurde und wir am Tresen stehen mussten, wurde ich von einigen der Hereindrängenden für den «Chef» gehalten. Muss dem wohl ähnlich sehen, dabei hatte ich gar kein weisses Jackett an. Direkt vor uns ließ eine Runde von Männern aus Japan ein Glas mit Apfelwein zirkulieren. Vorsichtiges Schlürfen mit geschürzter Oberlippe. Daraufhin wurde reihum dieser knurrende Ton ausgestossen — man kennt ihn aus Filmen — der im Japanischen wohl Anerkennung vor dem Unbezwingbaren zum Ausdruck bringt.

14.2.2020

Valentinstag—das Barometer zeigt «auf zwölf Uhr», genau zwischen Tief und Hoch. Seltene Lage.

Der Friseur versprach, mich um zehn Jahre jünger zu machen. Was er meinte, war natürlich mein Aussehen. Glaubte ihm trotzdem, in dem Fall halt nur aufs Wort. Er heißt ja Fati. Und wird von allen im Salon zur Goldenen Schere so gerufen. Und das andauernd: «Fati, hast Du», «Fati, kannst Du?» Auch schwingt da stets ein Zwinkern mit — für mein Empfinden. Auch weil er der einzige ist, der von den Kollegen auf Deutsch angesprochen wird. Wohl um ihn zu ärgern.

Im Wasserschlösschen abends bemerkte freilich niemand etwas von meiner Wandlung, die ja vielleicht doch vielmehr eine innerliche war. Marie Luise Scherer las aus ihrem unvollendeten Manuskript vor, einem Roman, an dessen Zukunft sie selbst, die ihn doch schreibt, angeblich jeglichen Glauben verloren hat. Erzählte dann wiederum von einer Reise mit dem Flugzeug, bei der auch ein Delfin an Bord geladen ward. Er lag in einer Reisewanne. Ganz kurz findet sie Gelegenheit, den Fisch am Rücken zu berühren. Seine Haut, so empfand sie es, fühlte sich an «wie das Wachs einer gerade erloschenen Kerze».

11.2.2020

Nachmittags trafen wir uns im Jade Wok. Sehr schön nach jahrelanger Fernbeziehung, sich in der gemeinsamen Stadt, der einzigen nun, aus zwei verschiedenen Richtungen heranstrebend, zum Essen verabreden zu können. Im Wok selbst war es total leer. In der Zeitung hatte ich zwar gelesen, dass die Restaurants und Geschäfte der Asiaten aus der diffusen Furcht vor einer Ansteckung mit dem Virus gemieden würden derzeit, aber gleich so? Und wie hieß dieser Laden eigentlich wirklich, fragte ich mich, während ich Friederikens Ankunft erwartete (am Fenster sitzend, die Straße im Blick). Dort hing ein Leuchtschild mir ins Bild, auf dem der Jade Wok noch mit dem Untertitel «Magic Wok» firmierte. Auf den Tellern wiederum, das wusste ich von vormaligen Besuchen, waren nebst den zarten Blütenmalereien noch die Worte «Jade Garden» aufgedruckt. Eventuell war dieses Restaurant  einst mit dem Namen Jade Garden eröffnet worden, dies eventuell sogar noch in einer anderen Stadt als Frankfurt, ja gleich gut möglich sogar in einem ganz anderen Land als in unserem, war dann aber umbenannt worden in Jade Wok, um die Spezialität des Hauses, das aromenschonende Pfannenrühren, klarer noch herauszustreichen, bloß um schließlich mit dem Zusatz «Magic Wok» diesem allzu nüchtern geratenen Narrativ seiner Erfolgsgeschichte noch eine disruptive Zeile hinzuzufügen (vgl. Sauerbraten mit Ingwer). Dieser Drang zur Konkretisierung, der auch auf eine speziell un-chinesische Art und Weise einem zur Individualisierung entspricht, entsteht wohl vor allem dort in unseren Städten, wo, nach orientalischer Manier, sich in den einzelnen Straßen lauter Unternehmer beieinander finden, die mit sehr vergleichbaren Sortimenten ähnlicher Waren einander die Kundschaft abspenstig machen wollen. Auch die Häuser der Banken konzentrieren sich in Frankfurts Zentrum zwar hochaufragend, doch auf engstmöglichem Raume … Ungefähr an dieser Stelle meines Gedankenspielchens traf jetzt Friederike bei mir ein. 

Mir kam es dann so vor, als ob die ansonsten schon vorzügliche Küche des Hauses von der Flaute nur profitierte. Mein Lieblingsgericht, die knusprig frittierten Tintenfische mit Salz und Pfeffer, kamen noch etwas knuspriger als gewohnt auf den Tisch. Der von Friederike bestellte Meeresfrüchteeintopf wurde gar von einem Vlies bedeckt aufgetragen, unterdessen es darunter britzelte, zischte und brauste: derart heiss wurde heute serviert. 

Wir spielten derweil heiteres Beruferaten, denn am Nebentisch hatten zwei Männer Platz genommen, deren Branche gar nicht so leicht zu entziffern war. Von der Kleidung her waren sie angehende Künstler. Tatsächlich war der Jade Wok wie viele Lokale im Bahnhofsviertel bei den Städelschülern beliebt. Auch das vernehmlich geführte Gespräch der beiden ließ auf ein Betätigungsfeld im Bereich von Kunst, im Ausstellungsaufbau zumindest, schließen. Da ging es um Beamer, um Nebelmaschinen und um die Klimaanlage eines Museums, beziehungsweise um ein potentiell unseliges Zusammenspiel aus besagter Nebelmaschine, der Klimaanlage und den Rauchmeldern eines Museums.

Der Tintenfisch mundete göttlich. Auf magische Weise war Ata im ansonsten leergefegten Gastraum des Jade Wok erschienen. Der legendäre DJ und Gastronom war von Kopf bis Fuß in jenem seltsamen Stile gekleidet, von dem ich Friederike schon häufig berichtet hatte, doch fand sie meine Beschreibungen stets wenig glaubhaft. Nun hatte sie das Naturbild vor sich. «Er sieht wie ein japanischer Flaschensammler aus», wisperte sie, ungläubig schauend. In einer einzigen Übersprungshandlung wandten wir uns wieder den Muscheln und Tentakeln zu.

Kaum saß der Meister — es waren nämlich alle drei DJ — ging es nicht länger um Technik, sondern um die Prozedur bei der Vergabe von Michelinsternen, außerdem um die gestrichenen Flüge. Sein entzückendes Hündle, weiß und grazil, hatte Ata leider nicht mit dabei. Die Kellnerin brachte uns den obligatorischen Nachtisch, eine halbflüssige Sülze aus süsslichen Bohnen, die genau so wie immer schmeckte (mir in dem Fall überhaupt nicht).

Nirgends Baumschäden, nur ein Kranausleger fiel ins Dach des Doms.

10.2.2020

Entweder sein Gröbstes verschlafen, oder der nächtliche Sturm war doch kein Grobian. Heute früh jedenfalls eine Wetterlage wie an der Küste: Sonnig und blitzblau mit schnell fliegenden Wolken, dann bleigrau mit Regen vor dem rückwärtigen Fenster und vorne ein ähnliches Bild bei anderem Licht. Das Mandelbäumle, das ich gestern bei Sonnenuntergang noch hereingeräumt hatte, es bleibt heute den Tag über drin. Schön steht es da, als Artefakt unter lauter Möbeln, mit seinen rosa Blüten und vielen Knospen. Wie sehr man sich an den zarten Blüten freut (bei den größeren geht es scheinbar darum, dass sie als haltbar sich beweisen — man befrage hierzu den Besitzer eines Magnolienbaumes) — je hauchfeiner desto kostbarer; wie gestern nachmittag, als wir am Mainufer unter den Platanen die wie in Lachen über den Schlamm ausgegossenen Krokusse fanden, lieblich in violett und darunter, unter hunderten, genau ein einziger in Dottergelb. Anderorts blühte der Winterling. Und zwischen den Ästen des Schneeballs stand flirrend eine Art Motte mit beigem Fell am plumpen Leib, die mit einer langen Schlürfröhre aus den magentafarbenen Winzlingen soff, die auch für unsere Nasen schon herrlich seifig dufteten. Da hatte ich, als Heimkehrer von der Insel des Docor Bird, die Entstehung der Arten direkt vor meinen Augen geschaut: Aus solchem Insekt war also der kolibrihafte Mikrovogel mutiert (liest sich unschön). Noch unschöner finde ich freilich das Rezept für das chinesische S(ch)uppentier Pangolin, von dem nun, nein: das jetzt in aller Munde ist: Man würzt die angeblich lebensverlängernde Suppe mit den Schuppen des Tiers einer aussterbenden Art und schmeisst den Rest in den Müll.

Kann jetzt Lorenz Jäger wieder etwas besser verstehen, der neulich, das war noch im alten Jahr und vor der Entdeckung des Corona-Virus am Rande eines Vortrages des ehemaligen Botschafters in Peking und Tokio zu mir sagte «Mein Grund, warum ich mich vor Chinesen fürchte: Keinerlei Nahrungstabus.»

8.2.2020

Abends in der «Volksbühne» — das Frankfurter Theaterhaus erwies sich von seinem Charakter her als gar nicht so sehr verschieden von seinem Namensvetter in Ostberlin. Die Alterstruktur des Publikums allerdings deutlich in die Siebziger verrutscht. Auf der Bühne wurde ein Gedicht von Adolf Stoltze rezitiert, in dem ein innerstädtisches Ufer als «vom Teiche bespült» beschrieben wurde. Ich bestellte mir die zweibändige Ausgabe seiner Gedichte in Frankfurter Mundart noch im Theatersessel sitzend (hatte einwandfreien Empfang). Als oben vorne der Stadtkämmerer Uwe Becker zitiert wurde, dachte ich freilich an «Allegro Pastell». Der Text hat mich anscheinend doch tiefer beeindruckt, als ich mir das nach den ersten Seiten noch vorstellen mochte. Vorhin, als ich auf dem breiten Weg durch das Europaviertel ging — derzeit meine zweitliebste Spazierwegskulisse nach dem Westend, weil ich dort schöne Godard-Gedanken bekomme — kamen einzelne Männer in warnfarbener Sportkleidung schon im Joggingschritt trabend aus ihren Hauseingangsbereichen. Waren mir bislang nie aufgefallen. Jetzt schon.

In der Zeitung wird ein grosser Sturm für morgen angekündigt, der angeblich sogar noch am Montag stürmen wird. Man soll auf Bahnfahrten verzichten. Jetzt, wo ich es weiss, fällt mir natürlich das eigenartige, milchig-gelbe Tageslicht auf. Dazu die Ruhe. Der kleine braune Hase, der in dem Gebüsch an der Warschauer Straße lebt, rannte ganz entgegen seiner Gewohnheiten wie ich sie kenne, quer über den Rasen und direkt auf mich zu.

Die Tiere sind unruhig.

6.2.2020

Mit den kahlen Eichenwäldern auf dem Kamm und den öligen Wiesen habe ich mein Weilmünster nicht wiedererkannt. Auf dem Hügel neben dem alten Parkplatz saß eine schwarze Katze, und wie ich die fotografieren wollte, zwängte sich aus der Hecke eine weisse dazu, ins Bild gewissermaßen, wobei den Tieren der von mir gedachte Motivrahmen nicht bewusst gewesen sein dürfte. Auch nicht, was eine Begegnung von weisser Katze und schwarzer Katze zu bedeuten hat. Um mir selbst die Bedeutungslosigkeit dieser Zufälligkeit einreden zu können, müsste ich einiges aufwenden. Viel leichter fällt mir, die Zeichenhaftigkeit anzunehmen.

«Ja, genau!», wie Jan Assmann das gestern im Gespräch mit Jürgen Kaube immer wieder gesagt hatte, als Antwort; auch einmal «Sehr schön!»; heiter gestimmt nach seinem kurzen Vortrag über die sechs Wurzeln Europas im Orient (in der sogenannten Romanfabrik). Das Signierenlassen von Büchern ist doch im Grunde sehr merkwürdig. Auch vom Wesen des Grundes her, oder stelle ich mich komisch an?

Auf dem Hohen Feldberg lag Schnee. Heimkehr im genau richtigen (goldenen?) Augenblick, als die Sonne als kupferrote Scheibe auf dem Erdboden stand. Die Dampfsäule aus einem Industrieschornstein: zuckrig eingefärbt, als schlürfe sie dünnes Rosa aus dem Schlot. Und inmitten der Stadt, wie es schien: Hohe Häuser, um die sich alles andere dreht.

5.2.2020

Mittlerweile funktioniert die Sprachsteuerung meines Telefons (Pixel) einwandfrei. Heute früh, ich kochte mir zwei Eier und befahl dem Telefon, einen Timer «für fünfeinhalb Minuten» zu stellen, dachte ich, dass es doch nicht die möglicherweise dem Märchen von den Heinzelmännchen abgelauschte Klammheimlichkeit des Systems ist, mit dem es sich beständig noch verbessert, ohne seine Kunden auf die Verbesserungen groß noch hinzuweisen, die mich stört; mich stört, dass ich mich nach einer auf meinen gesprochenen Befehl hin ausgeführten Aufgabe nicht bei Google bedanken kann. Das scheint nicht vorgesehen. Führte ja auch zu nichts. Doch meine Dankbarkeit sucht ihren Adressaten. 

Am Nachmittag, auf dem Weg ins Café Laumer, es war 16 Uhr 38, blieb ich auf der Ulmenstraße stehen und zückte mein Feldbuch. Dort oben sang unverkennbar der erste Amselhahn in diesem Jahr. Noch tastend zwischen den Triolen. Kurze Schwanzfedern: Brut aus dem vergangenen Jahr. Ausgerechnet auf der Turmspitze des Frankfurter Presseclubs.

Nach Sonnenuntergang dann dieses herrlich samtige Nachtblau, das sich nicht fotografieren lässt. Morgen geht es wieder zu den guten Leuten von Weilmünster. Ich freue mich schon.

4.2.2020

Übrig blieb am Ende ein Exemplar von Die Ordnung der Dinge, dem einzigen Buch, das, unseren Planungen trotzend, doppelt vorhanden geblieben war. Ausgerechnet, oder wie es bei Kempowski heisst: «Argh, dieser Hohn!»

Gestern dann Termin auf dem Allgemeinen Bürgeramt zur Anmeldung. Im Warteraum, der, einem Gate am Flughafen vergleichbar, in luftigen Reihen bestuhlt war, schauten alle auf einen Flachbildschirm an der fensterlosen Wand, der ein Willkommensvideo zeigte. Wie bei der Ankunft in einem fremden Land. Winzige Menschen bewegten sich in Zeitlupe am Mainufer entlang, dabei ein Licht, als ob ewiger Frühling angebrochen war. Wie man das heute in Filmen mit Großstadtsujet so darstellt, wuchsen auch ihnen hin und wieder feine weisse Linien aus den Händen und Köpfen, an deren Enden die Portraits ihrer Gesprächs-, oder Chatpartner in Vignetten emporgestiegen waren wie mit Helium gefüllte Ballons. Keiner ist jetzt mehr für sich und allein, alle stehen und gehen allzeit, wie unaufhörlich Verliebte, im stillen Zwiegesprächen mit ihren anderen umher.

Der junge Beamte trug Ehering und stammte ursprünglich ebenfalls aus Baden-Württemberg. Während er meine Fingerabdrücke ins System einspeicherte, unterhielten wir uns über meinen Geburtsort Bietigheim, der inzwischen durch den Musiker Rin zu einem popkulturell relevanten Ort der deutschen Ideengeschichte geworden ist. Allerdings, so der Beamte, war das Bietigheim am Neckar meiner Geburt schon 1975 durch die Eingemeindung der benachbarten Kleinstadt Bissingen zu Bietigheim-Bissingen umbenannt worden. Eine Bietigheimification, deren Process er mit einer dreizeiligen Formulierung auf meinem neuen Personalausweis abzubilden gedachte: «Geburtsort: Bietigheim-Bissingen, vormals Bietigheim».

Right on. Die Willkommensfibel mit dem Grußwort des Oberbürgermeisters Peter Feldmann heisst Ei Gude!

2.2.2020

Ich hatte vergessen, wieviel Spass es mir macht, ein Auto zu fahren. Morgens einsteigen, Radfahrer kamen aus allen Richtungen, die Frankfurter Adresse in das Navigationssystem eingeben und dann 500 Kilometer geradeaus. Nachmittags war ich dort. Kurioserweise weniger geschafft als nach einer der Bahnfahrten, von denen in den vergangenen drei oder vier Jahren ausreichend viele stattgefunden hatten.

Abends dann Friederike aufs Land chauffiert, in ein kleines Dorf mit Fachwerkhäusern im Ortskern und darin lauter Bankfilialen und Supermärkte in den Erdgeschossen, sogar Thai-Massagestudios und alles — Oberursel, ganz malerisch. Angeblich eine der wohlhabendsten Gemeinden im Umland, der Reichtum war aber unaufdringlich, im Ortskern zumindest war davon ausser einer Rolls-Royce-Niederlassung nichts zu sehen. Abendbrot dort in der Gaststätte einer Brauerei, wo sie knusprige Haxen hatten und «Kloß mit Soß».

Wenn man aus der schwarzen Nacht im Westen kommend, in die Frankfurter Innenstadt einfährt — ohne Musik — gibt es keine schönere, keine prächtiger beleuchtete, funkelnde und spiegelnde Stadt im Land.

28.1.2020

«Die Abende sind lang in Berlin», schreibt Chateaubriand, aus Paris kommend, in sein Tagebuch. «Mit dem Eintritt der Nacht verlassen mich meine Sekretäre. Allein, neben einem Ofen von düsterem Aussehen eingeschlossen, vernehme ich nichts, als den Ruf der Schildwache am Brandenburger Thor und die Tritte des Mannes, der die Stunden ankündet, auf dem pfeifenden Schnee. Womit soll ich mir die Zeit vertreiben? Mit Büchern? Ich habe keine. Wie wäre es, wenn ich meine Memoiren fortsetzte?»

Fahre jetzt selbst wieder hin, auf die Insel, «da, wo die Leute aus Heimweh hinzieh’n», um die Bücher heim zu holen. Die Unternehmung kommt mir plötzlich sinnlos vor. Verschwenderisch. Kaum dass der Zug eingelaufen ist, will ich alles bloss noch wegschmeissen. Aus der Ferne, versteht sich. Bis auf die wenigen Bände natürlich, die mir noch während ich den wütenden Impuls verspüre, deutlich vor Augen erscheinen wie frierende Tiere. Und dann noch die eine oder andere Kleinigkeit, aber hauptsächlich, so kommt es mir jetzt vor: besitze ich Müll.

Das Aas der Dinge, Roman. In Frankfurt blüht der Winterjasmin.

27.1.2020

Vorbei das geruhsame Inseldasein, die Zeitungen sind voll mit Holocaust und Corona-Virus. Gestern abend antwortete uns der Verkäufer im asiatischen Supermarkt, dass nun bald das Jahr der Maus beginnt. Dazu fiel mir natürlich gleich wieder die schreckliche Klebefalle ein, für die in jamaikanischen Supermärkten viel Werbung gemacht wird: Ein kleines Kunststoffbettchen, mit einer blauen, für Mäusenüstern wohlriechenden Substanz bestrichen, die sich für Mäusepfötchen (aber auch für deren zittrig witternde Nasenspitzchen, die Schnurrhaare — ich darf es mir nicht en détail ausmalen!) als von einer fatal klebrigen Natur erweisen soll. Scheint trotz oder gerade aufgrund ihrer grausamen Natur extrem wirksam, denn ich war dort keiner einzigen Maus begegnet.

Auch zum sogenannten Ankommen in einer Gesellschaft oder Kultur ist ein Studium des Angebots im Super- oder noch besser: Baumarkt geeignet. Von da her war ich heute dort und kaufte eine Packung mit Klebeschrauben, einem neuen Produkt aus dem Hause Tesa, das eine Befestigung ohne Bohren möglich machen soll. Etwas für Feiglinge, wenn ich an den Slogan eines Zahnarztes bei uns um die Ecke in Kingston denke, auf dessen gelber Markise in schwarzen Buchstaben aufgedruckt zu lesen stand «We cater to the cowards». Zudem sprach mich die holländische Produktbezeichnung auf der in drei Sprachen beschrifteten Schachtel an: Klevende Schroev — klingt mir angenehm im inneren Ohr; ich weiss auch nicht, was das ist mit mir und dem Holländischen.

Klebt übrigens ausgezeichnet. Auf der holländischen Website von Tesa sind, das fand ich freilich erst daheim, nach meinem Ausflug in den Baumarkt, heraus, noch viele weitere, teils wuchtige Klebeschrauben gezeigt. Eventuell handelt es sich also bei den Holländern um Feinde des Bohrens, beziehungsweise um Freunde des Klebens. Die Zukunft aber wird natürlich das Vakum sein. Auch Befestigungslösungen durch Vakuum-Pads waren im Baumarkt schon verfügbar, aber ich konnte mich noch nicht zum Kauf entschliessen. I believe in evolution more than in radical change. Vom Bohren übergangslos zum Anheften durch Vakuum, dazu fehlte mir offenbar das Vertrauen in die Ingenieure bei Tesa, beziehungsweise der Wagemut.

Luftdruck bei 1050 Hektopascal, Tendenz steigend

26.1.2020

Wenn man sehr dunkle Haut hat, kann man alle Farben tragen. Selbst die schwierigen, Braun, Gold, Neongrün (Die jamaikanischen Fluglotsen tragen neongrüne Schallschutzhörer und sehen umwerfend damit aus); auch weisse Ohrhörer, weinrote Brillengestelle … grasgrüne Schuhe: An unserem letzten Abend in Kingston sah ich einen alten Rastafari in grasgrünen Schuhen, beziehungsweise hatte er sich einen passgenauen Überzug aus grasgrüner Wolle für seine Schuhe gestrickt. Ich bin mir recht sicher, dass er sich die Gamaschen selbst gestrickt haben wird, weil ich erst am Morgen einen noch älteren Rastafari auf dem Wochenmarkt beobachtet hatte, der im Schatten sass und an einer ähnlichen Mütze strickte, unter der er auch seine eigenen Dreadlocks barg. Das Stricken gehört vermutlich zu dieser Kultur wie die Mütze und das Haar. Dachte ich (und fühlte mich dementsprechend bestätigt in meiner Annahme, als ich dann am Abend im Garten des Devon House mit meinem Eis in der Hand auf den Greis mit den grasgrün überstrickten Schuhen traf.) Er sass vor einer spanischen Wand, hinter der auf kleinstem Raum ein Soundsystem aufgebaut ward. Ausser dem besagten Styler waren noch einige andere Männer mit langen Dreadlocks gekommen. Einige trugen sie wie Luftwurzeln herabhängend oder gebündelt, andere unter den beschriebenen Strickbeutelmützen, einer hatte sein verfilztes Haar in Eryka-Badu-hafte Turbanseide gewickelt. Die Männer lauschten der Musik, die aus der Nische hinter der spanischen Wand zu ihnen drang und wiegten sich im Takt. Sie verströmten Rauch in dichten Schwaden. Einer, der aussah wie der Grossvater von Snoop Dog, hatte zusätzlich zum Ganja-Spliff eine Taschenflasche Rum dabei. Der Abend lief unter dem Motto «Conscious Reggae Party». Der Ras-Tafarianismus hat ja das gleiche Problem wie alle Jugendbewegungen: Ihm geht der Nachwuchs aus.

Aber dann, wir hatten unsere enormen Eise in den Geschmacksrichtungen Rumrosinen, Mandelbutter und Kokosnuss schon beinahe gemundet, erschien ganz wie eine wirkliche Erscheinung der japanische Rasta auf der Bildfläche. Auch er war freilich schon uralt, hatte aber seine Jahresringe in gänzlich unterschiedlicher Weise ausgebildet dergestalt, dass jedes einzelne Detail seines Rastafari-Seins nicht wie gewachsen, dafür wie aufwändig eigens für ihn hergestellt wirkte. So trug, dies nur beispielsweise, auch er sein Haar zu dicken Strängen gefilzt, hatte diese aber mit extrem beiläufig wirkender Sorgfalt zu einem Tropenhelm gelegt oder sich legen lassen, dessen Krempe sein wie aus poliertem Holz geschnitztes Gesicht auch jetzt noch, da die Sonne längst untergegangen war, zu beschatten schien. Von seinem Kinn her abwärts kräuselte sich der Sfumato eines asiatisch angehauchten Bartes und wie um dem noch zu entsprechen, entnahm der als heiterer Wandersmann aus den Blauen Bergen Auftretende seinem Ränzel eine vertiefte Hackplatte aus Wurzelholz, ein wunderschönes Messer und eine komplex aufgebaute Rauchapparatur, zu der unter anderem ein bauchiger Kleinstkürbis, sowie einige Schläuche und Schlote gehörten. Der Grossvater von Snoop Dog und der mit dem Turban scharten sich um den Japaner, während der mit seinem Messer eine üppige Portion seines Ganja-Proviants auf dem Hackbrett fein wiegte, um die Kräuter dann in seinem Kürbis-Bong anzurauchen. Der machte dann noch einige Male die Runde unter den Rastas, zu denen sich mittlerweile auch noch ein holländisches Paar gesellt hatte, die sich seit nunmehr Jahrzehnten schon in Kingston als Reggae-Promotor niedergelassen hatten. Der Mann zeigte aber trotzdem noch Sonnenbrand. Und generell dürfte der jamaikanische Albino Yellowman der einzige sein, der als hellhäutiger Mensch seine Dreadlocks mit Würde trägt.

Ein japanisches Gesicht aber kann jeden Stil noch adeln.

Auf dem Weg zum Flughafen sah ich ein Schild, auf dem stand in weissen Buchstaben einer serifenloser Schrift INTEGRITY IS DOING THE RIGHT THING EVEN WHEN NOONE IS LOOKING.

23.1.2020

Heute gegen 17 Uhr Ortszeit, kurz vor Sonnenuntergang habe ich endlich den Doctor Bird gesehen. Da waren wir schon längst in Kingston angekommen, hatten unser Zimmer bei der Witwe des jamaikanischen Botschafters in Westafrika bezogen, Patties mit Shrimps gegessen und solche mit Chicken und ich hatte meine Hoffnung auf eine Begegnung mit dem Nationaltier schon für begraben beschliessen wollen, da, wir spazierten gerade durch den Emancipation Park in der Oberstadt, als ich aus dem Augenwinkel ein irritierendes Schwirren in einer der von flamingofarbenden Blüten wie mit feucht gewordenen Kosmetiktüchern angewehten Baumkronen registrierte, das sich beim Näherkommen als das Schwirren des, in meiner Privatmythologie zumindest: sagenumwobenen Kolibris zeigte. Sein gegabelter Schwanz war lang und wippte seidig.

In Wirklichkeit ist er aber etwas grösser, als ich ihn mir vorgestellt hatte, sieht aber farblich und auch von seinen Formen her genau wie auf den Fotos aus, die ich mir wieder und wieder angeschaut hatte. Er fliegt extrem schnell, die Flugbahn verläuft in flachen Bögen zwischen zwei Bäumen, deren Blüten er mit seinem roten Pipettenschnabel anzapft. Der Parkwächter behauptete, wenn ich morgen mit einem Eis mit Rumrosinen von I Scream wiederkäme, würde der Doctor Bird sich niederlassen auf meinem Eis — oder zumindest einer dieser daumengrossen Flugkäfer, die ebenfalls die Blüten dieses Baumes bewirtschafteten, der im jamaikanischen Volksmund Poor Man’s Orchid Tree heisst. Der Käfer hingegen hat überhaupt keinen eigenen Namen. Der Parkwächter nennt ihn «Tic-Tic», sein Kollege sagt «Black Bug».

22.1.2020

Steigt man den Abhang im Wald hinunter, steht man bald am Ufer jener Lagune, die Ende der siebziger Jahre Drehort war für den gleichnamigen Film mit Brooke Shields. Die wellenlosen Wasser sind tatsächlich blau, je nach Lichtstimmung spielt der Farbton von einem erfrischenden Türkis in ein wummerndes Petrol, das mich an den Bergsee von Sils Maria erinnerte. Von daher wusste ich, dass solcher Farbeindruck vom Kalkgehalt des Wasser mitbestimmt wird. Kalk hier natürlich von den Muscheln herrührend, dem und den Korallen, mit deren Besiedelung eines vorgelagerten Riffes die Entstehung der Lagune erklärt wird. Bei dem Gestein, aus dem der bewaldete Hügel, vielleicht aber sogar die gesamte Insel Jamaika besteht, handelt es sich mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit (bin kein Geolog) um erkaltete Lava; jedenfalls besteht die Oberfläche der Steine aus ungefähr ebensovielen blasenförmigen Lufteinschlüssen wie aus glatter Substanz, die sich mal gröber durchlöchert, mal feinporig zeigt. 

Dass es auf Jamaika, hier im Gegensatz zur Schweiz an Kalk im Wasser zu fehlen scheint, lässt sich an der teils dramatischen Zahnsituation der Landbevölkerung ablesen. Oftmals ragen nur wenige weisse Tasten aus der Dunkelheit einer weitgehend auf weiche Kost angewiesenen Mundhöhle. Die asoziierte Melodie erklingt da freilich in Moll. Verleiht somit den allgegenwärtigen Rhythmen des Reggae eine wehmütige Note, die doch viele Europäer an der als zu unbeschwert empfundenen Popmusik Jamaikas vermissen. Hier, am Ursprungsort der dem Gleichmass der Wellen abgelauschten Hypno-Rhythmen, verkehrt sich diese trügerische Hörerfahrung und offenbart eine schattige Botschaft, von der schon der von der Existenz Jamaikas und der Karibik nichtsahnende Goethe ahnungsvoll schrieb, dass «niemand ungestraft unter Palmen wandelt».  

Am anderen Ende entlässt einen der Wald auf eine schmale Strasse, die als «the lonely road» bezeichnet wird. Sie führt auf eine Landstrasse, die, vermeintlich einspurig angelegt, zu beiden Seiten mit recht hoher Geschwindigkeit befahren wird. Von dort aus in östlicher Richtung bergan gehend, erreicht man nach zwanzig Minuten eine meerwärts zeigende Abzweigung, deren bald zunehmend schmaler ausgeführter Asphaltbelag durch ein verschlafenes Viertel von Landhäusern älterer Bauweise führt. Die Sackgasse schliesst zu einem weiteren Waldrande hin, von wo aus vermeintlich aus Wurzelholz gezimmerte Treppenstufen bergabwärts in die grüne Tiefe führen — doch sind diese Stufen gewachsen, handelt es sich dabei um die Wurzelstränge der zu beiden Seiten des «Treppenhauses» aufragenden Baumriesen, die, von kundigen Händen kaskadenhaft vom darüber gelegenen Erdreich befreit, nun sich «wie geschaffen» dazu eignen et cetera. Jedenfalls sitzt dort am Fusse eine Frau an einem Schülerpult aus unpoliertem Holz und döst im Schatten eines Strauches. Aus bunt lackierten Hütten weht Musik heran. Ein Obulos ist zu entrichten in die kleine Kasse auf dem Pult, dann darf der Sandstrand benutzt werden. Das Meer ist von einem milchigen Türkis, es gibt eine Brandung, der Sand besteht bei näherem Hinsehen aus den groben Fragmenten von Muschelschalen, einer Art Muschelflocken, oder -Konfetti. Wer dem omipräsenten Angebot widersteht, von den getrockneten Blütenständen der autochthonen Cannabis sativa zu kosten, kann am entlegeneren Zipfel der schönen Bucht auch noch zum Teil oder sogar gänzlich erhaltene Exemplare dieser schönen Muscheln finden, die, wahrscheinlich des unaufhörlichen Haftens müd‘ geworden, mit der erstaunlich heftigen Brandung von ihren angestammten Plätzen an den Felsen gerupft und darauf an den Strand gespült werden. So kommt dort eins zum anderen, das Ganze zum Fragment seiner selbst, das wiederum erneut zu einer Gänze findet, diese allerdings von einer begrifflich anderen Gestalt, deren Summe in diesem Fall, jenem Strand aus Muschelgrus, kaum mehr sein wollen dürfte als die Summe seiner einzelnen Teile.

Zu dem Kult der Ras-Tafaris werde ich bald noch Genaueres schreiben.               

     

21.1.2020

Nach langer Fahrt quer über die Insel wurden wir, es war inzwischen Nacht geworden, im nordöstlichen Portland vor unserem Baumhaus abgesetzt. Die Weite des uns umgebenden Wald konnten wir trotzdem es stockdunkel war ermessen mit dem Ohr, denn ein unfasslicher Lärm aus zirpenden und schabenden Geräuschen, aus den Gesängen und Leiern der Schaben und Grillen schoss aus sämtlichen Richtungen der Nachtkrabbenschwärze von nah und weniger nah und, wie anscheinend oder tatsächlich mit einem Echo versehen, aus dem ebenfalls von Schall erfüllten Dahinter ringsum. Mishima berichtet in einer seiner ländlichen Erzählungen von der japanischen Vorstellung vom Jenseits als «reiner Welt», rein hier im Sinne von gereinigt, in der sämtliche Vogelstimmen allzeit dem Buddha ein Loblied darbringen und er merkt an, dass er sich den dabei entstehenden Lärm mit Verlaub als unerträglich vorstellen muss.  

Dann fing es zu regnen an. Und es regnete die Nacht hindurch. Nur phasenweise wurde das scharfe Zirpen von draussen durch ein Crescendo der Regentropfen auf dem Blechdach unserer Behausung überdröhnt, sodass ich befürchten musste, es könnte sich um einen selbst für hiesige Verhältnisse ausserordentlichen Regen handeln, der dort auf dem Dach über uns trommelte, um unser Häusle aus seiner Verankerung an dem Baum, den ich noch nicht einmal gesehen hatte, zu reissen. Daraufhin schwoll das Regnen wieder ab, liess nach und wurde Rauschen; um sich zu sammeln, wie es schien. Und so vergingen die Nachtstunden.

Nach Sonnenaufgang erkundeten wir den Wald, der natürlich noch sehr viel weiter war, bei Tageslicht besehen, als wir ihn uns von der Geräuschentwicklung seiner nächtlichen Belegschaft her hatten vorstellen können. Hohe Bäume, vielleicht zwölf Meter hoch, mit sehr dicken, rissigen und krumm gewachsenen Stämmen und sehr dünne, stangenhafte Palmen und Bambusgräser bilden einen vertikalen Fries. Bis auf Augenhöhe wachsen grüne Blattpflanzen dicht an dicht. Auf den vom Regen glänzend abgewaschenen Blättern spiegelt sich das Licht, indes der Himmel von den ineinander gewucherten Baumkronen grösstenteils ausgeblendet bleibt. Einige der Pflanzen sind mir aus dem Alltag als Topfpflanzen vertraut: Monstera, Gummibaum und Ikeapalme, aber auch Hirschzungenfarn, Strelizie und Ingwerblüte wirken auf mich deshalb wie plaziert, sind doch Wildwuchs. Die Schnecken in diesem gartenhaften Wald haben ein Haus, das rund ist wie gewohnt, aber schmal wie eine Baskenmütze. Sie tragen es keck, zu einer Seite hin aufragend. Gesprenkelt wie Achat. Den winzigen Doctor Bird, einen Kolibri mit gegabelten Schwanzfedern, habe ich bislang noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Eine Begegnung mit dem kaum bienengrossen Vögelchen ist mir für den Donnerstag versprochen, wo uns ein Fahrer namens Omar in die Kaffeeplantagen an den Hängen des Blauen Berges fahren will. Während er das Steuer hält, trägt er seinen Vorrat an Scheinen nach Landessitte als Fingerring dergestalt, dass er die Dollarscheine längsseitig zu einem schmalen Fächer falzt, um seinen Ringfinger gebogen einklemmt zwischen Mittelfinger und dem kleinen, woraufhin sich die Scheinblüte zur Oberseite der Hand hin auffächert und die diversen Farbkombinationen des Jamaikanischen Geldes, das aufgrund der heftigen Inflation so gut wie nichts wert ist, zur Geltung bringt. Schmückenderweise.

Unser Frühstückskellner sieht genau aus wie Grace Jones.

18.1.2020

«Real milk comes from cows». Direkt wohltuend, bei vielem, dem ich ansichtig werde, mich ahnungsvoll zu finden, aber nicht mehr genau zu wissend, worum es sich handelt. Telefon und Uhr liegen hier beisammen in einer Schublade. Ich will wieder lernen, durch Anschauung zu verstehen.

«Unser Auftrag: Abbruch des Philosophierens» steht in den Beton gegossen über dem Portal in der Amphitheatre Parkway, Mountain View. Zitat freilich von Heidegger, Martin.

Ich weiss noch immer nicht, wie dieser grosse Vogel heisst, von dessen Art tagsüber immer wieder einer über mir segelt, schwebend steht: Schnabel orangerot, Kopf und Rumpf sind schwarz, ein schmaler, auch kürzerer Teil seiner Flügel auch, vergleichbar mit dem inneren, dem Docht der Kerze nächsten Teil der Flamme, wobei es sich mit der Farbgebung an den Flügelunterseiten dieses Vogels umgekehrt verhält, denn ausserhalb der schwarzen Bezirke ist diese eintönig hell, sodass es, von mir hier unten aus betrachtet, den Eindruck macht, als ob dort ein kleiner schwarzer Vogel einen weissen Wingsuit trägt.

Und ist der gelbe Schmetterling ein grösserer Verwandter unseres Zitronenfalters? Und der weisse, original gross ausgegebene, ein Kohlweissling?

Callaloo heisst eine Pflanze mit grünen Blättern, die, in Streifen dünn geschnitten und gedünstet aufgetragen, durchwachsen schmecken wie Spargel, wie Brokkoli und wie Spinat. Nicht gleichzeitig, aber je nachdem; je nachdem, woran ich mich durch meinen Geschmackssinn erinnert fühle beim Abgleich dieser neuen Information.

Real milk comes from cows: Der Satz steht in weissen Buchstaben einer serifenlosen Schrift auf einer schwarzen Werbetafel am Strassenrand. Nichts weiter. Keine zusätzliche Information, kein Logo. Die Werbetafel ist so lang wie der Satz. 

17.1.2020

Wahrscheinlich kann ich nie wieder eine Palme im Wind, überhaupt nie wieder die im Wind wedelnden Wipfel oder Zweige irgendeines Baumes auf der Welt anschauen, ohne mich an den verwehten Refrain von Blackman’s Word erinnert zu fühlen. Seitdem ich zum ersten Mal Nightlife gesehen habe von Cyprien Galliard. Scheint unvergesslich. Hat meine Wahrnehmung verändert, wie es scheint. Ich glaube nicht, dass das an dem besonderen Umstand der 3D-Projektion liegt, oder weil man das Video nur zu weihevollen Gelegenheiten zu sehen bekommt, aushäusig, weil es Kunst ist; vor allem ist dieser Teil von Nightlife, in dem noch andere, weit aufwendiger produzierte Bilder zur Musik von Alton Ellis geschnitten wurden, ein ideales Musikvideo in dem die Musik die Bilder illustriert und die Bilder wiederum die Musik. Das Amalgam ist von seiner Gestalt wie eine Erinnerung für mich: vage und präzis zugleich — ohne einschränkendes «dabei», der kognitive Vorgang geschieht auf der selben Bahn. Streng genommen handelt es sich um eine false memory, die Cyprien Galliard in meinem Fall programmiert hat. Wenn ich es nicht, wie es heisst: besser wüsste, könnte ich sie von meinen wahren Empfindungen nicht unterscheiden.

16.1.2020

Zwei einander zugeneigte Schirme, als müssten sie einander stützen, der Meeresfarbton dahinter streng abgesetzt zu dem  des Himmels und genau eine einzige, von unten her noch pflaumenweich vom Sonnenaufgang angeleuchtete Wolke in des Panoramas Breite war das erste, was ich heute früh, nach schwarzem Schlaf und dem elf Stunden langen Flug davor, zu sehen bekam. Man hatte mich inzwischen nach Jamaika gebracht. 

Hier leben wir abgeschieden in einem grossen Garten, der von Hibiskushecken umgeben wird, die in voller Blüte stehen (rot). Viele kleine Katzen. 

Augenblicke vor Sonnenaufgang war ich erwacht von einer jäh wie in die Nachtstille eingeblendeten Wall of Sound der Vogelstimmen. Alle gänzlich unbekannt, bis auf den Mocking Bird (den kennst du aus Los Angeles), der auch hierzueilande die Alarmanlagentöne diverser Fahrzeughersteller imitiert. Die Düfte erinnern mich zugleich an Cagnes sur Mer und an Sri Lanka. Synästhesie, die durch das Rauschen der Wogen instrumentiert wird. Es ist die Stunde zwischen Bird Songs und Reggae.

Der Platz, an dem ich schreibe, ist den zwei Schirmen gegenüber. Ich kann Ian Fleming sehr gut verstehen.

14.1.2020

Gestern beim Zahnarzt: Ich hatte schon wieder vergessen, in welchem Ton die praktischen Mediziner mit ihren Kunden sprechen. Dem für Sprache Sensibilisierten kommt er unweigerlich sadistisch vor, dabei jedoch lustlos, beziehungsweise ultra aufgeklärt, unverblendet, rationalistisch, mega nüchtern: all soetwas kann freilich in kleiner Dosis erheiternd wirken — bis es einem dann tatsächlich schlecht geht und dann jemand in diesem Ton über einen selbst als Fall zu einem spricht. Kenne ich sonst nur von Anwälten. Wahrscheinlich kommt das von dem tiefen Einblick in den Zusammenhalt — Physis, Rechtsstaat. Machen wir uns keine Illusionen. In Wahrheit ist es doch so.

Denn es kann allzeit vorüber sein, und am Ende ist nichts: Roger Scrutons Tagebuch ist im Spectator veröffentlicht worden, das von Alan Bennett in der London Review of Books. Bennett lebt noch. Aber beide haben in ihren Tagebüchern des vergangenen Jahres 2019 ihre Bodychecks mit dem Tod festgehalten. Beides Mal kommt er plötzlich. Wie aus dem Nichts. Gerade hat Alan Bennett am 30. März noch über die Zeitschrift, die sein Mann herausgibt, nachgedacht, datiert der folgende Satz aus dem Juli. «A big hole in this year’s diary when in April I was found to need an open heart operation: leaking aorta, aneurysm and blocked artery. With no symptoms to speak of, it came as a complete surprise…» Bennett überlebt das Jahr («Blame the anaesthetic»). Die Zeitschrift heisst World of Interiors.

Roger Scruton, der vorgestern verstorben ist, will sich im September von seinem Rheumaspezialisten untersuchen lassen, sie plaudern über eine Rezension des Parsifals. Der Arzt rät zu einer Computertomografie, es übernimmt der Onkologe. Scruton schreibt ins Tagebuch «That week has been extended, but for how long? This question naturally dominates my life and the life of my family.»

In welchem Ton die Mediziner sich wohl ihre eigenen Diagnosen stellen? Mir fiel gestern der Anfang von The Emperor of all Maladies ein. Da wacht die Tumorspezialistin morgens auf mit einem neuen Gefühl im Kopf «and I knew something was terribly wrong.»

12.1.2020

Im Prospekt des ältesten Gasthauses Deutschlands sind die Fotos von den Zimmern der diversen Kategorien wie zusätzlich illustriert mit darin sitzend abgebildeten Männern und Frauen, die, auf jedem dieser Bilder ist das so: wie überrascht von ihrer Lektüre aufblickend, ihren Betrachter anlächeln. Da frage ich mich: Wird das Lesen bald eine dekorative Geste sein, vergleichbar etwa mit den blinden Büchern in den Regalen der Möbelhäuser? 

Auch Prokrastinieren macht gemeinsam noch mehr Spass. Vermutlich aber bloss dann, wenn beide vom Fach sind. Nachdem wir gestern abends festgestellt hatten, den heutigen Tag arbeitsam (gibt man dies wohlklingende, aber wohl ausrangierte Wort ein, um noch mehr von seiner ursprünglichen Bedeutung in Erfahrung zu bringen, schlägt Google anstelle dessen vor «Meintest Du: arbeitsamt») verbringen zu wollen, jeder für sich, überraschte mich Friederike beim Betreten meines Stübles, wo ich derzeit die Zeitungslektüre hinter mich zu bringen versuchte, um gleich darauf die Arbeit anzugehen, mit ihrem mein Herz erfrischenden «Na, diese Zeitung hat dir wohl heute viel zu bieten!» Was ich nicht anders konnte als zu bejahen, denn es lag ja tatsächlich eine mich auf fatale Weise mit interessierenden Texten von der Arbeit fern haltende Ausgabe vor. Nicht gerade eine Seltenheit, das muss ich zugeben, aber am heutigen Tage der Arbeitsamkeit eine das Pensum gefährdende Koinzidenz. Cord Riechelmann über den Stichling — so ein Fischle habe ich mir als Kind auch gehalten …

«Hast Du denn auch schon die Doppelseite zu den lateinischen Graffiti im Wissenschaftsteil gelesen», fuhr Friederike fragend fort, «Das ist doch etwas für dich!»

War es tatsächlich. Ulf von Rauchhaupt ist halt ein wahrer Gott. Selten hatte ich mich beim Lesen so gut unterhalten gefühlt. Bald schon war die Zeit für die Teestunde gekommen. Ich teilte mein letztes Schaumküssle mit Friederike, die arbeitsam auf dem Sofa lag, sinnierend. Widerstand aber meinem Drang, sehr oft hintereinander «Mr. Walker» von Lord Creator hören zu wollen — Reisevorbereitungen hin und her. Der Luftdruck, über Nacht leicht gefallen um drei Striche, mittlerweile bei 1028 Hektopascal.

11.1.2020

Sonnenschein am frühen Morgen gab mir ein, die Goldberg Variationen beim Toasten zu hören. Das ist Musik, dachte ich, die ganz in der Tastatur entstanden ist, auf der sie gespielt werden sollte. Ich kann da keine anderen Einflüsse hören, nichts von ausserhalb der Tastatur. Zumindest so, wie Glenn Gould sie spielt: Als Gesang der Tasten.

Liess mich dann freilich vom Wetter verlocken, doch einen Ausflug auf den Markt zu machen — entgegen der Vernunft. Der Ausflug war herrlich, auf dem Markt war es allerdings nicht so gut. Man hatte mein Ziel an ganze Hundertschaften verraten. Selbst vor den Salatmönchen, die wie an jedem Samstag aus ihrer umländlichen Klause angerückt waren, hatte sich pantomimisch eine Schlange aus Wartenden formiert. Dito vor dem Grill des Wiesener Rindswurstgurus … Ich nahm es als Strafe (und als solche auch an). Im Café Mozart ein wenig die Leute studieren kam mir beinahe ebenso recht.

Dort (ich sass innen) schäumte es schon recht ordentlich. Ein Greis im Stile Scholl-Latours verstand sich darauf, eine um ihn gescharte Damenrunde in Atem zu halten mit seiner Erzählung einer Landpartie mit Hindernissen: «Mit diesen ganzen Eingemeindungen kommt das Navigationssystem natürlich überhaupt nicht zurecht.»

«In München gibt es auch das Café Mozart», stellte eine Frau neben mir fest. «Bisschen wilder», sie sprach es englisch aus, um die noch andere Wildheit der Atmosphäre im Café Mozart Münchens im Vergleich zu dem in Frankfurt, in dem sie, in dem wir alle nun sassen, herauszustellen. Danach, nach diesem vielversprechenden Eröffnungssatz kam aber sehr lange nichts mehr von ihr.

Ein älteres Paar fotografierte sich gegenseitig für Whatsapp. Er zeigte ihr, wie sie es machen soll. Dabei sah ich ihn in Grossaufnahme auf ihrem Bildschirm, wie in seinem eigenen Erklärvideo auftretend. Währenddessen draussen vor den Fenstern die Jünglinge auf Elektroscootern durch die Töngesgasse rauschten. Und Jan schickte ein Foto des abschliessenden Peanuts-Panels aus der New York Times, mit dem der nun schon seit zwei Wochen währende Streit zwischen dem Vögelchen Woodstock und Snoopy versöhnt wurde: Die beiden schütten auf dem Dach von Snoopys Häuschen sitzend ein paar Dosen Root Beer in sich hinein. To quaff heisst also in sich hineinschütten.

Das von ihr aufgenommene Portrait von ihm im Café Mozart ist indes noch immer nicht so, wie er es sich vorstellt. Sie kann es ihm nicht rechtmachen. Darüber geraten sie in Streit. Und an ihrem Nebentisch essen drei starke Männer mit kugelrunden Köpfen (Bulgaren) den gedeckten Apfelkuchen, der auch mir am besten im Mozart mundet. Dabei zeigt der eine ein Foto von einem Mann in die Runde, nachts aufgenommen. Und gleich darauf zahlen sie eilig und brechen auf. Der Mann auf dem Foto ist mittlerweile vermutlich schon tot.

In dem grossartigen Dokumentarfilm von Georg-Stefan Troller über Handke in Paris gibt es diese Szene, in der fährt Handke Bus und versucht zu erklären, wie seine Wahrnehmung funktioniert. Beispielsweise nämlich genau nicht, wenn er mit einem Stift aus dem Haus geht, um etwas wahrzunehmen (wie ich im Café Mozart). Dann, so erklärt es Handke im Bus: kommt er sich wie ein Polizist vor, der andere aufschreiben will. Und dann, für ihn ist das klare Sache: nimmt er natürlich überhaupt gar nichts mehr wahr.

Das ist bei mir kaum anders. Aber es kommt halt auf die feinen Unterschiede an. Jedenfalls kam dann draussen endlich das kleine Mädchen vorbei, das ich noch aus dem Berliner Sommer kenne, als ich noch ein Gefangener des Dogen von Moabit gewesen war. Jenes Mädchen also, das als Nachfahrin dieser Tochter von George Bernanos auftritt in meinem Leben, um mich an mein Pensum zu erinnern. Und ihr hatte ich mich zu zu fügen.

10.1.2020

Eine Freundin fragte mich gestern am Telefon, ob ich «das fantastische Datum 1.1.2020» auch genutzt hätte, um mich zu verloben. Wieso «auch»? Sie wechselte das Thema, beziehungsweise wurde sie aufgerufen beim Arzt, aus dessen Wartezimmer sie mich angerufen hatte, wie es mir nun klar wurde. Aus Langeweile?

Dass sich eventuell etwas Neues ankündigt, das Gefühl hatte ich zum letzten Mal vor circa zehn Jahren, als auf Instagram ein mir flüchtig bekannter Kurator, der mittlerweile längst Museumsdirektor ist, eine Nahaufnahme seines offenen Mundes im Licht eines ärztlichen Behandlungsraumes veröffentlichte mit der Unterzeile «Full day at the dentist». Wieviele Likes und Comments, habe ich mir nicht gemerkt, es waren damals noch nicht solche Massen wie heute, aber dieser Satz im Zusammenhang mit dem Selfie des Mundinnenraumes hat sich mir eingeprägt als Moment (wie in fashion moment). Es war ja nicht so, das der Kurator mitteilen wollte, dass er den ganzen Tag in der Obhut seines Zahnarztes verbringen musste, weil er schlechte Zähne hatte. Sondern weil er noch bessere wollte. Hellere, mit glänzenderen Oberflächen und optimierten Zahnzwischenräumen.

Dabei stammen wir noch beide aus einer Schule von Deutschen, für die gutes Aussehen und Intellektualität sich gegenseitig in Zweifel zu ziehen hatten. Intelligenz kannte eine andere Eitelkeit. Fiel mir heute wieder ein bei einem Aufsatz von Donald Keene, der im vergangenen Frühjahr gestorben ist. Er erinnert sich, wie Mishima «eine Ausstellung besuchte, in der man Fotos von Mumien aus dem 12. Jahrhundert zeigte. Zufällig wurde Mishima auf das Gesicht eines neben ihm stehenden Mannes aufmerksam. ‚Plötzlich‘, so berichtete er später, ‚packte mich eine wilde Wut, weil er so hässlich war. Ich dachte: Wie abstossend ist doch ein intellektuelles Gesicht! Was für einen widerwärtigen Anblick bietet ein intellektueller Mensch!‘ Wenn Mishima, der Prototyp eines Intellektuellen, so urteilte, dann musste sich seine Bewertung vor allem auf sich selbst beziehen. Er beschloss, vermittels drastischer Massnahmen seine äussere Erscheinung zu verbessern. Bald darauf begann er sich im Gewichtheben zu üben, und zwar mit solchem Eifer, solcher Ausdauer, dass er aus dem recht unzulänglichen Material seines Körpers den muskulösen Torso einer griechischen Statue schuf.»

Den Konflikt, der Mishima fünfzehn Jahre nach dem Besuch der Ausstellung dazu treiben sollte, seinen statuenhaften Torso mit dem Schwert zu zerstören, vermutet Keene zwischen «seiner wahren Natur» und dem oktroyierten Selbst (man würde heute Image sagen).

Später sah ich dann in der Tagesschau Frau Kramp-Karrenbauer in einer schockierend unvorteilhaft geschnittenen Kostümjacke vor die Kameras treten. Der Stoff hatte einen unseriösen Farbton. Wie eine Ladung Weisswäsche, in die sich eine lila Socke verirrt hatte. Sie schien sich keiner Schuld bewusst, beziehungsweise war sie eins mit sich und der Welt.

8.1.2019

In meiner Fichte-Ausgabe aus dem Jahr 1970 machte der Verlag Werbung für seine Taschenbücher, die aktuelle Auflagenhöhe wird bei «Katz und Maus» von Grass angegeben mit «515. Tausend», bei «Über das Volksvermögen» von Rühmkorf 50. Tausend. Friederike, der ich die Seite zeige, meint «Wenn man im leitenden Medium einer Ära veröffentlicht, wird man halt reich». Danach überlegen wir ein wenig, aber uns fällt das Leitmedium unserer Ära nicht ein — Youtube? Wir sind uns nicht sicher. Kennen aber auch niemanden, der auf Youtube veröffentlicht.

Draussen ist es trüb und feucht, wie sich das gehört für diese Jahreszeit. Der Luftdruck bleibt stabil bei 1030 Hektopascal. Wenn man bei solchem Wetter in die Innenstadt geht, wirkt Frankfurt wie jede andere deutsche Stadt. Weil die Türme bald über der Dachlandschaft gewöhnlicher Häuser im Nebel verschwinden.

6.1.2019

Gestern abend ging es ins «Wild Palms» — endlich, wie ich sagen muss. Den Wunsch, dieses, von aussen betrachtet, obskure Restaurant auszuprobieren, haben wir seit dem vergangenen Sommer gehegt, seitdem Martin Mosebach uns damals von seinem Besuch dort in der für ihn typischen Farbigkeit erzählt hatte. Zwar konnten wir seinem Bericht auch entnehmen, dass er nicht unbedingt häufig sich in asiatischen Restaurants hatte bekochen lassen, doch gab es in seinem Redefluss des generellen Staunens schon einige wie bizarr daraus hervorragende Details, die er, Mosebach, noch während er selbst zu uns sprach, an uns, an unseren innerlichen Augen wie es heisst, vorüberschippern liess.

Und gestern dann, wie gesagt: Nichts wie hin. Das «Wild Palms» befindet sich im Souterrain eines Bürogebäudes gegenüber des Hauptbahnhofes. Von dem für diese Gegend typischen Lärm und Gewese kriegt man aber dort unten in dem fensterlosen Kellergeschoss nichts mit. Darüberhinaus ist die weiträumige Fläche geschickt beleuchtet und mit unauffälligem Mobiliar in eine einzige Sitzlandschaft strukturiert, wo Gruppen von zwei, bis gut und gerne zehn Personen eine für sie jeweils wie massgeschneidert wirkende Insel der Abgeschiedenheit finden sollen. In die Tischplatten ist dann jeweils ein unauffälliges Ceranfeld eingelassen, dessen Heizkraft man allerdings nicht unterschätzen sollte. Kaum nämlich dass einer der leis in Tennisschuhen auftretenden Kellner einen Topf mit zwei Brühen diesem Felde aufgestellt und im Kontrolldisplay mit der Fingerspitze die Leuchtziffer 5 aktiviert hat, fangen diese in des Topfes Rund gehegten Brühen auch schon lebhaft an zu sprudeln (Der Topf ist auf seiner Mitte durch eine eiserne Wand in zwei Hälften unterteilt wie diese sprichwörtlich gewordenen Öltanks, oder, platt gesprochen: die deutsche Hauptstadt einst in West- und Ostberlin).

Man geht dann besser rasch hinüber zu dem silbrigen Regal, in dessen kühlen Fächern die von Meister Mosebach bestaunten Meeresbewohner ausgebreitet lagern. Auf gonghaft flachen Blechtellern, die selbst bloss sparsam dekoriert sind, eher schlichten, trägt man dann, wozu man Lust hat es zu munden, zurück zum Topfe, der mittlerweile, auch weil er, gleich wie gross die Gruppe sein mag, gleich wie gross der Tisch, doch stets auf diesem dort im Zentrum steht, zu einer Art Lagerfeuer, zu dessen Abglanz immerhin geworden war in unseren Augen (den äusseren wie innerlichen). Hier liess es sich vortrefflich plaudern. Unablässig steckte man mit den Stäbchen eine Garnele, eine (Wähl-) Scheibe von der Lotusblüte, auch mal ein paar Froschbeine, die speziell auf Fotos danach ausschauten, als läge dort der gehäutete Hinterteil eines muskulösen Menschen, in die würzig brodelnde Suppe. Es schmeckte alles vortrefflich und je mehr und je vielfältigeres Zeugs man in den Brühen garte, desto köstlicher mundete die Brühe, die man freilich am Schluss erst ausschlürfen darf.

Ob Mosebach wohl tatsächlich schon einmal dort gegessen hat? Dafür könnte sprechen, dass das «Wild Palms» zwölf Stunden aufhat, bis tief in die Nacht, und man für einen verblüffend geringen, auch nur einmalig zu entrichtenden Betrag während diesen Stunden nonstop essen und trinken, aber halt auch lediglich in dem Souterrain verweilen darf, ohne dass einem die Kellner dieses Nachtasyls karierte Fragen stellen. Und Mosebach war doch den grössten Teil des vergangenen Jahres als Australier des Herzens so gut wie obdachlos.

So recht konnte ich ihn mir im «Wild Palms» aber doch nicht vorstellen. Vielleicht hatte er ja auch ein ganz anderes Restaurant gemeint.

4.1.2019

Erquickt durch eine abendliche Blutspende — ein halber Liter bloss, aber irgendwie macht sich das doch bemerkbar. Meine Nachbarin auf dem Schragen nutzte die Minuten an der Zapfstelle, um Sprachnachrichten einzusprechen. Später trafen wir uns wieder an der Tafel mit den Erfrischungen, da wurde ihr von einer Laborantin, zum Dank für ihre zehnte Spende, eine Anstecknadel in Form des Roten Kreuzes in Gold, besteckt mit einem tropfenkleinen Rubin, überreicht. Genau diese Auszeichnung hatte mein Vater einst in Silberfarben nach Hause gebracht. Und ich hatte, erpicht auf diesen Friedensorden — friedlich wie sonst bloss noch das zierliche Christuskreuz, das Professor Splett an seinem Revers zu zeigen pflegt — von dem Abend an die Jahre gezählt, bis ich selbst einst würde spenden dürfen.

Gelobt worden war ich gestern dafür, wie rasch mein Blut den Beutel füllt: 500 Milliliter in 5 Minuten und 15. Kurios, das ich darüber dann einen Stolz verspürte. Wir optimieren uns zu Tode heisst ein Aufsatz im neuen New Yorker, hatte ich zuvor noch beim Durchwühlen meines Spam gesehen.

Schön dann heute die frische Energie, wahrscheinlich bilde ich sie mir ein, mit der ich durch das neu gebildete Zwölftel meines Blutes ans Werk gegangen bin. Analogien von Akku aufladen, neuer Prozessor und so. Noch weit vor seiner Stunde aber, die üblicherweise um 16 Uhr beginnt, traf ich den braunen Hasen an, der am Rand meines Weges zum Skyline Plaza in einem Garten unter Wäscheleinen lebt. Heute wagte er sich also schon am Vormittag hervor. Mir zur Freude. Das trug freilich noch bei zu meinem Weltgefühl eines besonderen Tages. Und dann machte er auch noch Männchen, um vom Cotoneaster zu knabbern. Ich drehte ein Video. Im Hintergrund ist das Rotkehlchen zu hören.

3.1.2020

Dass auch musikalisch abgeschmückt werden soll, stimmt mich melancholisch. Die Tage und Abende mit dem Vince Guaraldi Trio sind die schönsten für mich im Jahresverlauf. Glitzerndes Perlen des Kinderchors — sollte man besser nicht abrupt absetzen, sondern ausschleichen, wie es in der Fachsprache für Seelisches heisst. Abnadeln lassen. Bis man sich am Dreikönigstag mitsamt dem Baum am Strassenrand findet. Wohin soll es nun gehen, weihnachtlichs Selbst? Wo drückst du dich, unbehaust geworden, von Tür zu Tür herum, die nächsten 350 Tage?

Jürgen Dollase hat neulich im Interview erklärt: Bei ihm bleibt der Baum noch stehen bis Lichtmess. Auch bis in den März soll in manchem Jahr schon vorgekommen sein. Ein Messie der Festlichkeit. Meine Grossmutter hat die Ostereier teilweise derart gut versteckt, dass sie nur zu einem kleinen Teil wieder aufgespürt werden konnten. Sympathisch. Wahrscheinlich bewohnt Dollase ein Gehöft, ehemaliges Schulhaus und dergleichen, da kommt es auf einen Baum mehr oder weniger nicht an.

In seiner Zeit für Briefe beantwortet Nick Cave in dieser Woche eine Frage nach der Entstehungsgeschichte von Hollywood — offenbar nicht nur für mich das Lied des vergangenen Jahrzehnts, das ich mir wieder und wieder zu Gemüte führen will wie sonst bloss eines meiner seltenen Bücher. Er schreibt, dass ihm die Bilder für die Feuerbrunst in Malibu, den rastlosen Puma, die Tiere am Strand, bei einer Fahrt durch das nächtliche Oslo eingefallen sind. Aufgenommen wurde das Lied mit diesem Text dann im Jahr 2018 in Malibu, in einem Studio, das von einem Garten umgeben war, den man wohl durch grosse Fensterscheiben während des Singens und Spielens sehen konnte. Kurz darauf kam es dort tatsächlich zu einem Flächenbrand und der Garten und die übrigen Gebäude auf diesem Grundstück, sowie alle umliegenden Häuser sind verbrannt. Einzig das Haus, dass dies Aufnahmestudio enthält, blieb stehen wie von den Flammen verschont. Cave stammt ja aus Australien. Er hat ein Foto aus dem Jahr 2018 an seinen Antwortbrief gehängt, auf dem ist ein Alpaka zu sehen, das am Strand von Malibu an eine Hütte angeleint im Sand steht. Im Hintergrund ein angeleintes Pony. Die Luft ist tief orange getönt. Ohne Gelatinefilter.

2.1.2020

«Eine solche Schrägheit bekommt der gediegene literarische Handwerker nicht hin. Zwar wurde diese Schrägheit nicht bewusst eingesetzt, aber muss etwas bewusst sein, um bedeutsam zu werden? Kann schlechtes literarisch relevant sein, auch wenn es nicht bewusst als Zitat von Schlechtem eingesetzt wurde?»

Was Fichte zum Gedicht schreibt, auf die Gemälde des Kubaners wenden: Was will der mit seiner Malerei? Beziehungsweise: Was soll ich mit ihr? Die Bilder kosten, angefangen bei 450, bis zu 1000 Euro. Die sogenannte Preisgestaltung bewirkt, dass mich seine Werke nur noch mehr stören, wenn ich dort im Café Laumer sitzend auf sie schauen muss. Schlecht und teuer = unverschämt. In einer Kunsthandlung würde mich dieser Zusammenhang, den ich konstruiere, um mir die verstörende Wirkung dieser Leinwände zu erklären, wahrscheinlich kaum angehen. In der Galerie als Bestandteil einer Sphäre des Kunsthandels gelten spezielle Gesetze, die ich nicht kennen muss. Sie können mir egal sein, meine Lebensführung bleibt davon unberührt. Da ich kein Kunstsammler bin, suche ich ein Café in grundsätzlich anderer Absicht auf, als eine Galerie. In eine Galerie gerate ich grösstenteils eher zufällig, dabei stets absichtslos. Das müsste ich zwar auch von meinen Besuchen im Café behaupten, dafür ist meine Absichtslosigkeit beim Cafébesuch von einer anderen Qualität als die meiner absichtslosen Galeriebesuche. Das Café besuche ich vorgeblich absichtslos, also mit Hintergedanken. Zu diesen aber konnte ich im Laumer nicht durchdringen. Da hingen diese Gemälde des Kubaners davor (auf einem breiten Querformat durchbohrte eine in die kubanische Nationalflagge gehüllte Kurzstreckenrakete einen Fries von Baumwipfeln im Morgendunst — ungefähr so ging mein Leid).

Der Kubaner weiss von alledem vermutlich nichts. Sein Gemälde mit dem Titel Die Schuhe von Adam und Eva zeigt natürlich eine Sandalette mit hohem, bleistiftdünnem Absatz, die mit der Spitze einen Halbstiefel mit Schnallenverschluss berührt. Der modernisierte Schnabelschuh steht ebenfalls mit seiner Spitze der ihm gegenüber angeordneten Sandalette zugewandt. Wie auf sämtlichen Gemälden des Kubaners, die im Café Laumer ausgestellt werden, sind diese beiden Schuhe auf weissen Grund gesetzt und bestehen wieder aus den kamelhaarfeinen, dicht an dicht gemalten Baumwipfeln in leuchtenden Grüntönen. An einem ebenso aus Baumwipfeln zusammengesetzten Riemchen der Sandalette hängt übrigens ein roter Apfel, naturalistisch gemalt.

Spannt die Topflappen auf, ich quack den Panzen an die Wand! (Fichte)

1.1.2020

Neujahrsbrunch im Café Laumer. Das Licht draussen war besonders schön, der Himmel von einer schönen Bläue, die uns seidig vorkam. Friederike meinte, das käme vom Feinstaub. Es wird wohl ein erstaunlich grosser Teil der alljährlichen Menge von den Knallern und Raketen in der Silvesternacht verursacht. In Australien ist eine Feuersäule entstanden, angeblich viele Kilometer hoch. So hoch jedenfalls, dass sie ihr eigenes Wetter erzeugt. Vögel fallen tot vom Himmel.

Ich stelle mir vor, bloss eines der Hochhäuser draussen wäre aus solchem Feuer. Und das dann noch um ein vielfaches höher — nein, ich kann es mir nicht vorstellen. Bis zu dem kleinen Flugzeug und seinem Kondensstreifen hinauf. Bleibt man dann stehen «wie gelähmt»? Wie der Hase im Auge der Schlange. Im Angesicht der Feuersäule. Fällt man tot um, bevor man an der Säule verbrennt?

Wie irritierend ein Kunstwerk wirken kann: Im Laumers pflegen sie die Unsitte, ausgewählten Künstlern das Ausstellen ihrer Gemälde in den Gasträumen zu gewähren. Da hing, seitdem ich dort hingehe, noch nie auch nur ein einziges auch nur erträgliches Bild. Die aktuelle Hängung ist aber pervers. Gezeigt werden die Leinwände eines Kubaners. Er arbeitet auf weissem Grund, und setzt darauf dann realistische Formen aus detailliert mit dem Kamelhaarpinsel gemalten, winzigen Baumkronen in leuchtenden Grüntönen zusammen — also beispielsweise die Konturen des Gesichtes von Marylin Monroe. Oder die Silhouette der Frankfurter Skyline, die, auf einem Silbertablett stehend, von einem schnaubenden Bullen durch die Wolken getragen wird. Ein Bild hat den Titel Die Schuhe von Adam und Eva.

Lässt sich nicht ignorieren. Einfach zu schlecht.