10.1.

Langsam, wirklich Schritt für Schritt bewegte ich mich am Vormittag auf mein Ziel zu. Wie ein Pinguin. Zum Glück hatte ich nicht auch noch einen Smoking an. So ähnlich geht mein Lieblingswitz. Der einzige, den ich gut auswendig kenne. Er stammt aus der Fernsehserie Twin Peaks. Dale Cooper, ein Detektiv, erzählt ihn in einer der letzten Folgen der zweiten Staffel, die ansonsten sehr schlecht ist. Es ist der einzige Pinguinwitz, den ich kenne. In der Sonntagszeitung hatte ich gelesen, dass die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie eine an Pinguinen orientierte Fortbewegungsmethode empfiehlt für den Fall, dass Bürgersteige und Wege, wetterbedingt, eine Gefahr bedeuten. Dieser Fall war gestern Vormittag plötzlich eingetreten, als ich die Choriner Straße bergan ging. In dieser Straße wird traditionell nicht gestreut oder geschaufelt. Es handelt sich schließlich um eine Museumsstraße. Zumindest auf ihrem unteren, dem vergleichsweise steil bergan (oder bergab, je nachdem) führenden Teil. Zwar wurde just dort, an der Einmündung zur unaussprechlichen Querstraße, die vom für Radfahrer tödlichen Weinbergsweg herüberführt, das letzte noch nicht fassadensanierte Haus kurz vor Wintereinbruch noch fassadenrenoviert, auch wurde auf eben diesem unteren Abschnitt vor ein paar Jahren ein von den Alteingesessenen als hinterrücks empfundenes Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss errichtet (»hochgezogen«), aber hier und da lebt sie dort halt noch, die ehemalige DDR. Kulissenhaft. Und dies als Kulisse der ehemaligen DDR. Also im Stile des Berlins in den wenigen Jahren nach dem sogenannten Fall der Mauer, als das Alltagsleben in diesem Viertel, Prenzlauer Berg, noch so aussah. Zumindest so ähnlich. Nur mit schlechteren Kaffeemaschinen. Und mit anderen Kunden und Gästen. Die Betreiber hingegen sind noch echt. Auch von ihrer Feindseligkeit her. Wer beispielsweise in der Gaststätte Schwarze Pumpe mit EC-Karte zahlen will, sollte sich auf einiges gefasst machen. Auch das Berganschreiten mit Methode Pinguin ist dort nicht gern gesehen. Das heißt, man sieht’s halt schon ganz gern. Speit dann aber auch demonstrativ aus auf den ungeschaufelten Schnee. Gepriemt wird dort ja selbstverständlich auch. Die Ware stammt mittlerweile allerdings aus Dänemark, weil im Südharz, dem ehemaligen Zentrum der deutschen Kautabakproduktion, wurden so lange und überall immer mehr Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss hochgezogen, bis die deutsche Kautabakproduktion erstickt ward. Mir rollte ein Apfel entgegen. Der war dem Betreiber des Spätkaufs neben dem Souterrain aus einer Holzkiste geplumpst, die er, gefüllt mit noch mehr von diesen Äpfeln, auf den dick verschneiten Stufen seines Ladens, der übrigens Späti heißt, abgesetzt hatte. Ein den Spätkauf verlassender Gast ließ die Ladentüre offenstehen. Der Spätibetrieber knallte sie mit der Hacke zu und grinste den ihm entgegenwatschelnden Pinguin herausfordernd an. Ich sagte nichts.

Damit lag der steile Teil der Straße auch bereits hinter mir. Der auf einer gedachten Ebene voranführende Abschnitt bis zur Einmündung in die Schönhauser Allee ist bis auf den Spielwarenladen und die Bäckerei Zässin nur noch wenig museal anzuschauen. Hier gab es aber bis vor kurzem noch die letzte Baulücke des Viertels, das ja ansonsten aufgrund des sogenannten Milieuschutzes den Neubaulustigen keine Chancen mehr lässt. Es sei denn, man kennt sich aus, wie beispielsweise um die Ecke von der Baulücke, wo sich einst der für die in seinem Inneren herrschenden Zustände völlig zu Recht gefürchtete Supermarkt der Berliner Traditionsmarke Kaiser’s befunden hatte. Im Grunde war’s ein nur dünn maskierter Bolle, in dem bekanntlich einst in den Achtzigerjahren die traditionellen Maikrawalle erfunden worden waren. Damals noch mit Plünderungen. Also so ähnlich, teilweise aber noch härter, ging es in dem Kaiser’s gern auch schon am Vormittag zur Sache. Aber mittlerweile ist dort nur noch ein tiefes Loch, wo früher das traditionell ufohafte (aber DDR-Ufodesign) Zweckgebäude jahrzehntelang alles ausgehalten hatte. Als mir der Architekt Wolfram Popp, der sich mit solchen Dingen hervorragend auskennt, im Sommer zuvor erzählte, dass die Pachtverträge beinahe aller Kaiser’s-Filialen zum damaligen Jahresende ausliefen und ich mir doch einmal vor dem geistigen Auge, zur Not dürfte ich mein Fahrrad zur Hilfe nehmen, vergegenwärtigen sollte, auf welchen sogenannten Filetstückgrundstücken diese Supermärkte einst hochgezogen worden waren, da bedauerte ich zutiefst, nicht Architekt geworden zu sein. Oder noch besser Bauunternehmer wie Dieter Bohlen. Stattdessen halt leider Komponist. Kopfschüttelnd ging ich damals nach Hause. Ich wachte in jener Nacht sogar einmal auf, lachend: Nein, dieser Wolfram! Kurz darauf schloss erst der Kaiser’s. Und dann passierte das, wovor in diesem Stadtviertel sich alle fürchten, zu Recht, was aber keiner, auch nicht mit Nichtschaufeln, noch verhindern kann: Die Architekten der Bürogemeinschaft Graft stellten an der künftigen Baugrube, die Leiche war, wie es heißt, noch warm, ihr Schild auf. Zu deren Entwurfsstil gibt es nichts zu sagen. Interessant ist allerdings schon, dass Architektur zu einem gesellschaftsfähigen Thema geworden ist. Man unterhält sich über Gebäude. Auch mal über Grundstücke. Ein Architekt wie Thomas Kröger beispielsweise ist auf privaten Feierlichkeiten ein gern gesehener Gast. Jahrelang fiel er vor allem durch sein Tragen einer rosa Pudelmütze aus flauschiger Wolle auf. Dann mehrten sich die Erfolgsgeschichten, die unter den Freunden der Architektur in Berlin von den Häusern erzählen. Als es hieß, die letzte Baulücke auf der Choriner Straße würde von Thomas Kröger geschlossen, ging ein Raunen durch die Wohnzimmer und Galerien. Man war gespannt. Was würde er damit machen, wie es bei Edward Bulwer-Lytton hieß. Nicht weniger als die komplette Transformation, so viel sei verraten, denn zuvor befand sich auf diesem Grundstück ein Gebrauchtwagenhändler. Das Grundstück ist also groß, nicht breit wie’n Hafen, dafür aber lang. Die ursprüngliche Bebauung war kaisershaft. Der Gebrauchtwagenhändler hauste in einem blauen Container. Der Rest des verschneiten Grundes ging für die Gebrauchtwagen drauf. Der berühmte erste Spatenstich ist noch nicht erfolgt. Auch steht dort, an der gänzlich von sämtlichen Überresten des Gebrauchtwagenhandels geräumten Baulücke, noch immer kein Schild. Gestern standen davor zwei Zugezogene mit Mützen auf und unterhielten sich leis‘. Ihr Blick ging auf die weiße Weite hinaus, die sauber aufgeräumte Leere dort, den Schnee.

Irgendwo anders in der Stadt atmete Thomas Kröger tief ein.