10.10.2020

Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz fiel mir eine neuartige Plakat-Kampagne auf: Beworben wurden gewohnt einfallslos gestaltete Mietshäuser auf quadratischem Grundriss, wie sie hier überall im sogenannten Europa-Viertel von Frankfurt schon fertig gebaut herumstehen. Die Häuser auf den Plakaten standen allerdings in Wien. Und dort sollte man, von Frankfurt aus, investieren. In diese Häuser hinein. Obwohl es genau diese Häuser, in genau dieser Form hier längst gibt — und zwar, wie gesagt in jenem Viertel, wo die Werbung plakatiert wurde, in den Aufbau einer solchen Siedlung im fernen Wien zu investieren. Für mich war es damit klar und unklar zugleich, an wen sich diese Werbung richten sollte. Genau genommen fiel mir der Artikel in der F. A. Z. ein, einer von vielen, die anlässlich der Einweihung des sogenannten Grand Tower erschienen waren, einem Wohnturm, der ausschaut wie aus Downtown Manila in den neunziger Jahren. Das einzig interessante an diesem vielstöckigen Wohngebäude ist, dass dort seit der Einweihung die Fenster stets dunkel bleiben bei Nacht (ich wohne nebenan). Die Besitzer der Wohnungen wohnen nicht nur anscheinend nicht vor Ort. In der Zeitung hieß es, das sei wie es sei, aber mit solcherart Gebäuden würde halt dem weltweiten Anlagedruck Rechnung getragen. Gerade so, als ob dieser ominöse Anlagedruck diese Gebäude aus dem Boden heraus in die Höhe treiben dürfte wie Stapel von Münzen …

Am Tel-Aviv-Platz nun, wo ich ursprünglich die Literaturbeilage studieren wollte, die anlässlich der nicht stattfindenden Buchmesse erschienen war, zu deren Eröffnung es aber am Dienstagabend wenigstens eine Festveranstaltung in der Festhalle geben wird, auf die ich mich schon sehr freue, wurde ich von der Beilage abgehalten durch eine sehr lange Reportage eines mir unbekannten Autoren, der von seinen Erlebnissen bei der Räumung des linksextremen Wohnprojektes in der Berliner Liebigstraße berichtete. In Österreich nennt sich diese Form Lokalaugenschein. Der Autor Gregor Schwung ist aber kein Österreicher. Seine höchst kuriose Ausdrucksweise («Die Linksextremen in Friedrichshain greifen auch Menschen an») verleitete mich, seinen Namen zu googeln: Es erschien das Portraitbild eines sehr jungen Mannes, der weiß, was er will. Das Schreiben sollte er allerdings lassen. Den Linksextremen hingegen würde ich raten, dass sie demnächst mal keine baufällige Immobilie besetzen, die Nostalgie akkumuliert, sondern eins dieser Investorenprojekte wie beispielsweise den Grand Tower. Oder die seelenlosen Häuserlkasten in der sogenannten Gartenstadt von Wien.

Bevor ich dann die Literaturbeilage überhaupt angeblättert hatte, war ich schon beinahe geschafft. Überhaupt finde ich es zunehmend anstrengend, das alles, das mir entgegenwächst politisch aufgeladen erscheint. Wenn ich Socken kaufen will, frage ich mich, ob ich die richtigen Socken kaufe. Ob es den Tieren gut ergangen ist, bis aus den Fasern ihrer Felle die Wolle für meine Füße wurde? Ob das ganze Unternehmen nicht zu viel Wasser verbraucht hat. Zuviel Sprit. Und dass Nerze, also die Nagetiere mit dem seidig flauschigen Fell, aus denen man die schönsten Mäntel macht, sich auf Pelztierfarmen in Utah, dem Mormonenstaat in den Vereinigten Staaten, die von Menschen übertragene Krankheit Covid-19 zugezogen haben. 8000 starben, sind verendet. Tot.
Das war zuviel. Die Sonne war herausgekommen. Die Bäume hatten in meiner Abwesenheit goldgelbes Laub bekommen wie andere graue Haare. Das sah ich erst jetzt. In diesem Licht. Ihre Pracht. Die Literaturbeilage legte ich beiseite. Ich konnte kein Elend mehr ertragen. Da näherte sich mir, hüpfend, eine Krähe. Schräg über den menschenleeren Tel-Aviv-Platz hüpfte sie auf mich zu. Wir kannten uns längst. Dass ich sie wiedererkannte, schien sie genauso zu verwundern wie es mich verwunderte, dass sie mich. Das letzte Mal, vor meinen Fahrten nach München und zuvor nach Heimerdingen, hatte sie sich in einem ähnlichen Manöver ganz flach und dabei auch breit gemacht, um, flach und breit vorantrebend wie ein hüpfender Pilz mit blauschwarz schimmerndem Hut, ein Stück von meiner Brezel, ein Brezelärmle, das unter meinen Stuhl gefallen war während ich den Rest dieser Brezel aß, zu erheischen. Listig hatte sie geschaut während ihres Manövers; von daher kam mir der  Gedanke des Erheischens gerade recht.

Aber heute hatte ich nichts zu essen, bloß diese Zeitung. Und ich dachte ‹Bis zum nächsten Mal›. Sie legte den Schnabel schräg und ließ ihr Knopfauge funkeln. Mir fiel das gespräch ein mit Friederike ein vom frühen Morgen, bevor ich losgegangen war mit der Zeitung, um die Literaturbeilage zu lesen. Es ging um Insekten. Friederike mag sie nicht. Ich dachte bislang immer, alle sollten Insekten mögen. Insekten sind wie Vögel, bloß halt für sehr kleine Menschen. Sehr viel kleiner noch als Du oder ich.

Das Datum bietet sich heute als Delikatesse an für Dezimalfetischisten. Das nächste Mal wird das in allenfalls ähnlicher Form im Jahr 3030 der Fall sein, wenn nicht nur ich, eigentlich: wenn alle, die das jetzt lesen, längst nicht mehr am Leben sind.