10.5.

Riesengroße Liebe zu Radiohead flammt auf wie neu, beim Hören von Daydreaming. Radiohead: Always ultra — literarisch mein Programm. Ich will irgendwann aber auf jeden Fall noch ein textliches Karma Police schaffen. Das schöne Lied ist auch gerade volljährig geworden. Wie es wohl zustande gekommen sein mag?

Moment, nicht googeln! Wie Friederike ganz richtig feststellte, gibt es für das sich selbst etwas Erzählen nur zwei Methoden: Entweder man schaut sich dabei etwas an oder man macht die Augen dabei zu.

Ich bevorzuge Augen dabei zu. Und also:

Zu der Erzählzeit, 1996, am Ende der Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, bot die Fahrt mit der Eisenbahn von Bangkok nach Chiang Mai noch eine angenehme Reiseerfahrung. Damals wie heute wird das Erlebnis im Wesentlichen von den mitreisenden Passagieren bestimmt, da es vor den Fenstern über sieben Stunden kaum etwas zu sehen gibt. Damals standen den westlichen Industrienationen noch mehrere gravierende Wirtschaftskrisen bevor. Die Stadt, in der Peter Gente starb, ist mittlerweile ein billigeres Florida. Betreute Wohnanlagen für ausländische Senioren werden erbaut. Das medizinische Gewerbe floriert. Besonders die Apotheken, die mit einer großen Auswahl an Präparaten gegen erektile Dysfunktion aufwarten. Massage Parlors florieren auch. Am anderen Ende der Altersskala findet sich die zweite Bevölkerungsgruppe nicht thailändischen Ursprungs. Es handelt sich um eine Variante des Rucksacktouristen, der dort eben nicht mehr in Wäldern hausen, kiffen und bald schon selbst ein Bergvolk gründen will, sondern: saufen. Große Teile des alten Chiang Mais wurden so einer blinkenden Vielfalt gut sortierter Spätkaufs geopfert. Pubcrawling floriert ebenfalls. Insgesamt ist die Fahrgastmischung also keinesfalls mehr geeignet, um sich mit ihnen auf einen siebenstündigen Trip einzulassen. Temps passé.

Auf der Eisenbahnfahrt hatte The Girl With The Hitler Hairdo die Bekanntschaft eines ausgewanderten Schweizers gemacht, der eine bunte Vita vorzuweisen hatte: Nachdem er seine erfolgreiche Werbeagentur in Zürich verkauft hatte, arbeitete er nun als PR-Berater für den Dalai Lama. Da konnte er spezifisches Fachwissen einbringen, denn er war aus früheren Zeiten noch immer sehr gut befreundet mit den bekanntesten Mitgliedern der Rolling Stones. In Chiang Mai hatte er eine Prinzessin der Königsfamilie kennengelernt. Das war während er dort eine Haftstrafe absaß. In einer Phase, als die Schweizer Innenpolitik ein Outsourcing des Haftvollzuges in Billiglohnländer für testreif befunden hatte. Die Prinzessin und er würden bald heiraten. Zu ihrer Mitgift gehörte so ziemlich der ganze Norden des Landes. An den Ufern des größten Süßwassersees, in einer Gegend unberührten Palmfruchtanbaus, plante er unter ausschließlicher Verwendung umweltfreundlicher Materialien ein Resort zu errichten. Und er schrieb Gedichte. Seiner eigenen Beschreibung zufolge im Stile Heiner Müllers, den er mit jenem Erich Frieds fusioniert habe, um eine Verkäuflichkeit zu ermöglichen. Das Ganze als Haiku gefasst:

Die Strompreise steigen
In den asiatischen Städten werden bald die Lichter abgeschaltet
Kein Eis mehr im Sommer

Bedachtsam zog The Girl With the Hitler Hairdo einen Flunsch und bekräftigte seinen Vortrag nickenderweise. Sie überlegte, ob sie dem Schweizer für die zweite Zeile zu »In den Städten der asiatischen Sphäre werden bald die Lichter ausgeschaltet« raten sollte, um mit einer Dosis Gottfried Benn auch die dichterische Qualität zu ermöglichen, behielt das aber für sich.

Und Chiang Mai präsentierte sich dann als zauberhaft. Dass es sich bei asiatischen Straßenbildern um ein Gewimmel handeln sollte, bestätigte sich hier als ein rassistisches Argument. In Wahrheit bestand so ein hiesiges Straßenbild aus einer Ballung widersprüchlicher Motive, wahrgenommen in einem vor Hitze flirrenden Licht. Es war die Zeit der Erdbeerernte, und an den Kreuzungen gab es Stände, an denen die Früchte in Bambuskörbchen verkauft wurden. Der Fahrer war eigentlich Polizist, schob aber zwischen den Einsätzen kleine Touren als Taxifahrer ein. Das Polizeifunkgerät hatte er auf dem Beifahrersitz stehen. Der trug auch seine Uniform.

Im Stadtkern gab es viele Tempel. Und The Girl With the Hitler Hairdo sehnte das Ende des Sitzens herbei. Als sie in einer Nebenstraße ein Hotelgebäude entdeckte, das sie sympathisch fand, lenkte sie den Wagen dorthin. Duat Champa hieß ein schmales, mit seinen Verzierungen viktorianisch anmutendes Holzhaus, dessen Fassade und Innenhof in einem hellen Minzgrün gestrichen waren. Der Empfangstisch aus den fünfziger Jahren stand auf dem polierten Beton eines Außenbereichs, der von einem dort ebenfalls entspringenden Tamarindenbaum überschattet wurde. In einem hübschen Holzregal wurden alte Ausgaben des Time Magazine gestapelt. Auf der Ablage zwei gläserne Vasen mit Kampffischen. Zwischen die Vasen war eine Postkarte gesteckt: damit die sich zwischen den Duellen nicht sahen.

Mariam hatte ihr das Zimmer aus Bangkok telefonisch reserviert. Für wie lange?
Das wollte The Girl with the Hitler Hairdo noch nicht wissen.

Die Tage in Chiang Mai waren vorübergeweht auf eine schön unaufdringliche Weise. Nachts waren vom nördlichen Ufer des Mekongs große Ballons aus hellem Papier in den Himmel gestiegen, wo die Sichel des Shiva Moon auf dem Rücken lag. Je weiter die kleiner werdenden Ballons von den Flammen ihrer Öllämpchen emporgetrieben waren, desto gelblicher und schließlich dunkelorange glosten sie in dem tiefdunklen Blau, als seien sie Glühbirnen in den zwanziger Jahren. Dann standen hundert glühende Planeten am Himmel und das Bild war zu einem Gemälde geworden, zu einem Matte Painting aus Return of the Jedi. Und dortvorüber trieb der Duft von Holzkohlenfeuern im Wind.

Eines Morgens lag in im Aschenbecher eine kleine gelbe Feder. Da beschloß The Girl with the Hitler Hairdo: Heute führe sie nach Pai.
Den Bus besteigend, meinte sie den Sänger von Radiohead erkannt zu haben. Sie traute sich nicht, hinzusehen. Vielleicht hatte sie sich geirrt?

Schlimmer wäre ja: falls nicht!

Der Haarschnitt kam hin, aber so sahen hier einige aus. Thom Yorke hatte diese charakteristische Gesichtslähmung. Die war eher selten. Also doch hinsehen – ! Dann stieg er vom Bus ab und lief auf einen Tempel zu.

Der kannte sich hier aus, denn offenbar hatte er nur eine Abkürzung genommen. Kurz vor Verlassen der Stadt stieg er wieder zu. Dieses Mal setzte er sich direkt neben sie. Als auf offener Straße zwei junge Soldaten mit Schnellfeuergewehren an Bord gelassen wurden, entfuhr The Girl with the Hitler Hairdo ein Flüstern. Es passierte ihr manchmal, unter großer Anspannung, dass ihr eine freche Bemerkung entkam. Wie, um die Anspannung dadurch lösen zu können, sagte The Girl with the Hitler Hairdo: »Die sind von der Karmapolizei.« Und kicherte, was ihr so peinlich war, dass sie rot wurde und ihre Lippen mit einer Handfläche verschlossen hielt. Er behielt die Jungs in seinem charakteristischen Auge, mit jenem Blick also, bei dem sich seine Gegenübers nicht sicher sein konnten, ob er sie ansah oder sonst irgendwas. Antwortete: »Du meinst, sie spielen Good Karma, Bad Karma?«

Da war es um sie geschehen, und sie lachte so laut und heftig auf, dass alle Mitreisenden bald mitlachen wollten, angesichts dieses Riesenmissgeschicks.

»Wohin willst du«, fragte er sie im vom Gelächter gefüllten Businnenraum.

The Girl with the Hitler Hairdo sah ihn an. »Wo wir alle hinwollen: Pai.«

Er nickte und sah dabei auf die Spitzen seiner Espadrilles. »Schon mal dort gewesen?«

»Nein. Ist es gut?«

Er nickte, danach sah er sie an: »Gut ist kein Ausdruck für Pai. Neigst Du zur Seekrankheit?«

The Girl with the Hitler Hairdo sah ihn an mit einem Blick, so als fragte er, ob sie sich jemals die Fingernägel lackiert habe. Das war, als der Bus sich die Berge hinaufzuwinden begann. Zunächst auf relativ gerade geführten Straßen, doch da die Berge des Nordens steil aufragten wie bewaldete Zuckerhüte, nahmen die Kurven, die bald zu Serpentinen wurden, zu. Beim Blick aus dem Fenster in talartige Schluchten, aus denen grüne Ranken wie Feuerstöße züngelten, schien die Gewalt, mit der hier die Plattentektonik zugeschlagen hatte, spürbar für sie, jetzt gerade, in diesem Augenblick, wie der imaginäre Zusammenprall mit einem heranrasenden Wagen, den The Girl with the Hitler Hairdo noch an jedem Zebrastreifen als bevorstehend befürchtete, ganz kurz nur – dabei war in solchen Momenten dort nie ein Auto zu sehen.

So gut das war, unfassbar eigentlich, neben Thom Yorke im Bus zu dem Ort, an dem selbst der Staub langsamer zu Boden sank, unterwegs zu sein, so anstrengend war diese Situation auch für The Girl with the Hitler Hairdo. Kniffligerweise hätte sie noch viel lieber Musik gehört zu den grandiosen Bildern, die sich vor den Busfenstern abwechselten. Aber sie konnte ja schlecht, das ginge doch gar nicht, vor ihm den Discman auspacken und die Kopfhörer. Oder sah sie da bereits ein Zuviel an Verbindlichkeit ihm gegenüber? Zudem käme die Geste pietätlos. Würde sie es denn nicht stören, wenn er nun in What Is it Like to Be a Bat? zu lesen begänne? Komischerweise nicht. Also fragte sie ihn, ob es ihn störte. Wie ein Raucher das getan hätte. Sie glaubte, er habe dabei woanders hingesehen. Sie erwachte mit dem Gesicht zur Hälfte in seiner Armbeuge. Die Kopfhörer hatte sie immer noch auf. Da lief Cowgirl in the Sand. Sie tat so, als schliefe sie und hörte Musik. In der Dunkelheit kamen sie an.

Das dunkle Holz der Häuser war gelblich beleuchtet von Hunderten von Laternen, dazwischen auch grünliche Gasbrenner, von Insekten umschwärmt. Da sie ihre Zimmer in benachbarten Pensionen gebucht hatten, verabredeten sie sich für den späteren Abend zum Essen. Gleich hinter der nächsten Kreuzung war dort nach Einbruch der Dunkelheit ein Markt aufgebaut, auf dem ausschließlich mit Essbarem gehandelt wurde. Als Rohware, aber vor allem in zubereitetem Zustand. Eine Spezialität bestand in grotesk überdimensionierten Fröschen, nach denen eine extreme Nachfrage zu bestehen schien, da die lebenden Tiere zu Hunderten in Maurerkübeln gehalten wurden. Auf Zweigen hielt ein Jäger eine Beute aus zwei Eichhörnchen und einem Flughund feil. Thomas lebte vegan. The Girl with the Hitler Hairdo ganz plötzlich auch.

Beim Essen sagte er ihr, wie sehr er es zu schätzen wisse, dass sie ihn bislang noch nicht darauf angesprochen hatte, dass – und hier schien er zu überlegen, nicht abzuwägen, sondern wirklich nicht darauf zu kommen, wie es sich auf unaufdringliche Weise ausdrücken ließe, wer er sonst noch war.

The Girl with the Hitler Hairdo sagte dazu nichts.

»Aber du weißt, was ich meine?«

»Ich ahne es«, sagte The Girl with the Hitler Hairdo nach einer Pause. »Aber nur zu einem Teil.«

In den nächsten Tagen gab sie sich nicht direkt Mühe, aber wundern tat es sie schon, dass er so mir nichts, dir nichts verschwunden war (das mit dem »aus dem Staub gemacht« musste sie sich untersagen, obwohl sie es zum Schreien lustig fand.) Immerhin war ihr zugetragen worden, dass er das Zimmer hielt. Konkret, als sie sich danach am Tresen seiner Pension erkundigt hatte. Aber wo der hier steckte? Groß war Pai zwar nicht, dafür weitläufig. Stellenweise direkt unübersichtlich. Einige Male glaubte sie lediglich, ihn gesehen zu haben. Sie unternahm ein paar Touren, auf manchen der Wege waren nicht einmal mehr Fahrräder erlaubt. Seltsam, dass es hier in den Bergen, so nahe bei Laos, keinerlei Minengefahr geben sollte. Ein paar Kilometer weiter war das Unterholz gespickt voll. Wie konnte das abgelaufen sein? Die hatten nach Karten navigiert. Als sie an einem kleinen See Rast machte, begann es in einem Gebüsch hinter ihr zu rascheln. Als sie sich bewegte, wurde das Rascheln hektischer. An der Fläche des Geräusches, anders ließ sich das nicht beschreiben, konnte The Girl with the Hitler Hairdo erkennen, dass es sich um ein Tier handeln musste. Was mit dem Raschelgeräusch zu tun hatte, das war zu sprunghaft, hektisch ausgelöst worden, dann wieder streichend: So bewegte sich ein Tier - allerdings eines, das in etwa so groß war wie sie selbst. Dass es ein Mensch war, der sich in dem Gebüsch versteckte, konnte sie ausschließen.

Aber wie ihr das Herz klopfte: Irrsinn!

Sie tastete nach ihrem Aschenbecher, umfasste ihn als Keil. Die Geräusche waren verstummt. Da es hellichter Mittag war, traute das Tier sich vermutlich nicht, seinen Schattenplatz hinter dem Camouflage der vielen Blätter zu verlassen. The Girl with the Hitler Hairdo ging zu ihrer aufgebohrten Motocross-Maschine, ohne das Gebüsch aus dem Blick zu lassen. Dann war sie weg. Als sie nach Pai zurückkehrte, war dort blaue Stunde, noch sehr heiß, aber das Licht warf lange Schatten und die Straßen schimmerten gelb. Sie stellte das Motorrad vor ihrem Lieblingscafé ab und bestellte sich Bier. Da stand er plötzlich vor ihr und entschuldigte sich, indem er zugab, komplett abgetaucht gewesen zu sein. Ob er – ? Sie freute sich. Sehr.

Ihrer Erzählung aus den Wäldern hörte er aufmerksam zu. Ihm selbst war kaum etwas zu entlocken. »Hauptsächlich geschrieben«, war das Konkrete, das sie herauszupräparieren schaffte. Doch sie aßen und tranken, und es wurde ein großer Spaß.

Hoffentlich fragt der mich nie, was ich so mache, dachte The Girl with the Hitler Hairdo. Und das tat er auch nicht. Er ließ sich eine Gitarre geben und darauf spielte er ihr das neue Lied vor, das er in ihrer Abwesenheit komponiert hatte. Dessen erste Akkorde fielen so langsam wie draußen vor den Laternen der Staub. Und es hatte einen wundersam wunderschönen Text.

Wunderschön, flüsterte The Girl with the Hitler Hairdo. Er wollte es Karma Police nennen. Das fand The Girl with the Hitler Hairdo gut! Ob er sich eine Begleitung durch ein Melotron vorstellte – oder halt, halt, viel besser: Theremin? Und machte, als sie spüren konnte, dass seine Aufmerksamkeit nun komplett ihr gehörte, ein paar Angaben zu einem speziellen Gitarrensound, der ihr dabei vorgeschwebte. Die waren präzise. Wortlos überreichte er ihr das Instrument. The Girl with the Hitler Hairdo stimmte die Saiten um jeweils eine halbe Oktave nach unten, sodass sie auf den abgegriffenen Bundstäbchen zu schnarren begannen. Keine schönen Töne für sich genommen, jedoch in Arpeggien der Akkorde, die The Girl with the Hitler Hairdo in einem portugiesischen Stil zu zupfen begonnen hatte, klang das ergreifend. Vor allem als sie mit geschlossenen Lidern ganz leise den Text zu singen begann. Die Melodie hatte sie aus einem Summen entwickelt. Nach dem ersten Vers veränderte sie die Grifftechnik auf der Gitarre und nun wurden die perkussiven Töne noch von Klängen untermalt, die wie gezupfte Celli wirkten. Er stimmte die Überleitung an, worauf The Girl with the Hitler Hairdo sich auf die Erzeugung rhythmischer Effekte konzentrierte. Als sie geendet hatten, waren sie von applaudierenden Personen umringt.

(Abb. T Shirt mit Aufdruck: »It’s the Singha Not the Song«)

Schneller als der Staub von den Bürgersteigen Singapurs gewischt wurde, standen zwei Flaschen Bier auf dem Tisch.

Als die Sonne aufging, erwachten sie beide in The Girl with the Hitler Hairdos Bett. Sie dachte nicht etwa »Girl, you go places«! Für sie war Thomas eine ihr liebe Person, deren musische Begabung sie über alle Maßen zu genießen wusste. Den wollte sie nicht am ausgestreckten Arm verhungern lassen – im Gegenteil! Sie wollte ihm erklären, was sie fühlte. Er wollte erzählen, und so führten sie fortan ein Gespräch, das bis in die Nacht langte. Und am nächsten Morgen weiter ging. The Girl with the Hitler Hairdo war noch nie verliebt gewesen. Aber das musste es jetzt wohl sein. Sie hielten sich an den Händen, wenn sie durch die Straßen gingen. An einem Tempel kaufte er einen kleinen Vogel, der in einem Ball aus Bambusstreifen eingeflochten war. Den ließen sie frei. Das wurde merit-making genannt. Eine gute Tat also, um die nicht so guten wettzumachen. Das funktionierte! The Girl with the Hitler Hairdo fühlte nichts, aber auch gar kein Stückchen Schlechtes mehr in sich. Den Bambusball gaben sie dem Händler zurück.

Bis jetzt hatten sie sich noch nie gefragt, was sie als nächstes unternehmen sollten. Was The Girl with the Hitler Hairdo schön fand, bis dahin aber noch nicht erlebt hatte. Das Ziellose daran hatte sie gut gefunden. So, als wäre er nur dann da, wenn sie es wollte. Immer wieder wurde sie von einer Angst befallen, sich in dem Glück aufzulösen. Ihm erschien es dann meistens so, als habe sie kurzzeitig an etwas anderes gedacht. Aber in einer Nacht erwachte The Girl with the Hitler Hairdo aus einem furchtbaren Albtraum mit namenlosem Geschehen. Und da war diese Angst, sie ließ sich nicht rationalisieren. Dazu wurde sie von einem weiteren Gefühl geplagt: Seine Nähe bekomme ihr nicht. Es war zu viel. Zu viel des Glücks, das unvermittelt auf sie einströmte. The Girl with the Hitler Hairdo konnte den Gedanken nicht ertragen, dass alles vorbestimmt sein konnte. In dem Falle würde ihr sämtlicher Handlungsspielraum genommen, beziehungsweise auf Täuschungsmanöver hin reduziert. Gemeinsam Musik zu hören war eine schöne Möglichkeit, sich nahe zu sein. Fand The Girl with the Hitler Hairdo. Ging ihm auch so, bloß reichte ihm das nicht. The Girl with the Hitler Hairdo fand seinen Körper, fand den ganzen Mann schön, der zudem zärtlich war.

Beim ersten Café des nächsten Morgens überraschte er sie mit einem Ticket nach Luang Prabang. Er rate ihr, dorthin alleine zu reisen. Diese Erfahrung machte man am schönsten auf sich selbst gestellt. The Girl with the Hitler Hairdo weinte. Weil es sie berührte, dass der sie verstand. Er hatte auch ein Rückflugticket parat, gestand er ihr abends beim Wein – falls sie es haben wollte? Sie schüttelte den Kopf, auf ihre ganz eigene Weise. Dabei lag das Schütteln einzig in ihrem Blick, der davon dunkel wurde. Ins Dunkel flüsterte sie Reklame von Ingeborg Bachmann. Und übersetzte ihm die Zeilen, die er nicht verstand. Während der Nacht spielte sie ihm Sehnsucht vor von Purple Schulz, das hatte es lange vor Unfinished Sympathy gegeben, und Junimond von Ton Steine Scherben; da auch das Solo, das unverzichtbar war, sie löste es in einem Akkord aus Flageolets. Beiden war ihnen dieser irritierende Moment der Musikgeschichte eingefallen, als Elton John 1976 sein Sorry Seems to be the Hardest Word vorstellte und dabei mitsamt eines im Glencheck karierten Jackets, vor allem aber in Frisur und Wahl seiner Brille, plötzlich Niklas Luhmann glich. Und Thomas hatte hoch und heilig geloben wollen, sich fortan eingehend mit deutschem Songwriting zu beschäftigen.

Die ganze Piste des Militärflughafens war er entlang gerannt. Als sie abgehoben war, fing er zu winken an. Sie weinte die Flugzeit über. Nach einer dreiviertel Stunde landete sie in Luang Prabang. Der Zutritt zum Land wurde The Girl with the Hitler Hairdo gegen eine Spende von fünfzig Dollar gewährt. Der Stempel war riesig und fein ziseliert. Das Ticketgeschenk enthielt eine Anzahl von Nächten in einer Pension, zu der sie sich in einem Tuktuk fahren ließ. Das Gebäude war aus Holzstämmen im Stile eines spätkanadischen Blockhauses gemacht. Das Zimmer hatte einen weiten Balkon mit Ausblicken auf das Ufer des Mekong, der um diese Stunde am späten Nachmittag olivgrün wurde, sich auf den Ton ihrer Augenfarbe einließ - weil sie so viel hineinschaute, in den träge sich wälzenden Fluß?

Warum war er nicht hier?

In einem Gemischtwarenladen, der auch als Schnellimbiß mit Kaffeeterrasse fungierte, kaufte sie sich eine Kinderflöte, auf der sie, zurück auf ihrem Balkon, die Melodie spielte zu dem Lied, das vielleicht Karma Police heißen würde, vielleicht aber auch so wie sie.

Als Fackeln entzündet wurden und die Laternen zum Fauchen gebracht wurden, zog sie sich um und ging auf dem Uferweg auf und ab. Bei der Sammelstelle der Tuktuk-Fahrer lief ein Kartenspiel. Die Typen sahen verwegen aus. Dem einen, ihm fehlte das Auge entweder oder es war in seinem Gesicht ganz woanders zu finden, gefiel es, sie zu provozieren. Er zeigte ihr einen Glasballon, der bei näherem Hinsehen bis oben hin gefüllt war mit toten Schlangen, Skorpionen, Vogelspinnen und ähnlichem Viechzeugs. Die lagen im Schnaps ein. Sie wurde auf ein Glas herausgefordert. Schnaps vertrug sie doch nicht – schmeckte widerwärtig.

Erwartungsgemäß…

»Ja, aber doch nicht so!«

Die Männer freute es. Was genau, das ließ sich nicht erkennen. Alles vermutlich. Und überhaupt.

Von der magischen Wirkung, die ihr versprochen worden war, konnte The Girl with the Hitler Hairdo nichts feststellen. In einem Imbiß am Ufer bestellte sie sich frittierten Süßwassertang, der hier an den Ufern geerntet wurde. Mit getrockneten Tomaten und Chili bestreut, schmeckte das gut. Sagte Thomas. Und sie war doch jetzt ebenfalls zum Veganer geworden. Dann kam das Zeug: zur Lotusblüte auf einem Teller arrangiert. Schmeckte ging so. Danach Klebreis mit Mango – das ging sogar gut!

Wenn mich hier einer anspricht, vergesse ich absichtlich, dass er mich meint.

Altertümlich anmutige Fischerboote landeten in der Dunkelheit an. Auf den Planken der Rümpfe waren Hütten mit spitz zulaufenden Dächern errichtet. Die Kinder befüllten aus Konservenblech geformte Gießkannen und bewässerten die aus Steilhangbeeten strebenden Gemüsepflanzen. Ein elastisch verbundener Schwarm von Fledermäusen zog über The Girl with the Hitler Hairdo hinweg. Seltsam, dass man die zu Flattern hören glaubt, geben sie doch keinerlei für uns hörbares Geräusch dabei ab.

Am nächsten Tag sah sich The Girl with the Hitler Hairdo bei einem Verhandlungsgespräch mit einem Straßenverkäufer plötzlich die Seiten wechseln: Was würde sie sagen, um ihm etwas verkaufen zu können. Das war eine verwirrende Vorstellung, sie zahlte einfach den geforderten Preis. Die Halskette legte sie sich sofort um – ein dünnes korallrotes Band, das von einem schmalen Pendel aus Silber beschwert wurde, sodass es ihr zwischen den Brüsten gerade nach unten hing. Auf dem Pendel stand eingraviert LOVED. So ging sie den stufigen Pfad zu dem alten Holztempel hinauf, dessen Mönche vor Sonnenaufgang mit sieben Schlägen einer Holztrommel geweckt wurden. Somit auch The Girl with the Hitler Hairdo, das war um vier in der Früh gewesen. Im Dunkeln liegend, hatte sie sich vorgestellt, was die dann machten – singen, stundenlang. In Sanskrit. Davon hörte man aber nichts.

Auf halber Strecke kaufte sie einen Vogel im Bambuskäfig. Oben angekommen, gab sie dem Vogel aus dem Aschenbecher Evian zu trinken und heftete ihren Blick auf das Panorama des Dorfes in der Mekongschlinge, mit der eisernen Brückenkonstruktion, die aussah, als ob sie von Dreharbeiten übrig geblieben war. Und auf der kreuzten zig Mopedfahrer, die Männer mit aufgerollten Ärmeln, alle im Hemd. Dahinter: Berge, Wald. Der Vogel flog nicht, er stürzte davon. Und The Girl with the Hitler Hairdo fand es nicht die Bohne pathetisch, als sie dabei dachte: für ihn. Also Thom.