10.6.

Takis Würger hatte bereits Platz genommen. Der Tisch stand, da wir vor dem Themroc saßen, auf dem Bürgersteig der Torstraße. Der Verkehr rauschte und die Aussicht ging auf einen hinter den vier Fahrspuren gelegenen Plattenbau, von dem ich erzählen konnte, dass es dieser brutale Anblick gewesen war, der die Gründer des Themroc auf diesen Namen für ihr ursprünglich illegal eröffnetes Lokal gebracht hatte. In jener Anfangszeit, natürlich im Winter, war ich dort regelmäßig zu Gast gewesen. Damals schrieb ich noch einen Foodblog, Der Spitze Löffel, der sich unglücklicherweise nicht hatte erhalten lassen. Die Way Back Machine findet nichts mehr davon, ich hatte die Texte direkt in WordPress geschrieben und nicht auf Festplatte gesichert. So wurde dann schließlich die Seite mitsamt ihren Einträgen im Internet verweht. Das gibt es also doch auch; das Internet vergisst.

Aus diesen Treibsandzeiten kannte ich Leon Kahane, der Takis Würger gegenüber saß, und der, wie es sich im Laufe des Gespräches herausstellte, ein Nachfahr von Victor Klemperer ist. Ich hatte ihn damals als Möbelpacker kennengelernt, der mir bei einem meiner vielen Umzüge geholfen hatte. Mittlerweile hat er sich als Künstler etabliert, an das Tragen meiner Habseligkeiten erinnert er sich heute nur noch ungern, weil es vor allem Kisten mit Schallplatten und Büchern gefüllt gewesen waren. Mittlerweile halte ich es mit Astrud Gilberto*: »I’m travelling light«.

Leon war auf Empfehlung Maxim Billers hin an den Tisch des Verlegers eingeladen worden. Maxim Biller selbst war leider verhindert, krankheitshalber. Ein Schnupfen. Später stieß dann noch Malakoff Kowalski dazu, der in diesen Tagen ein neues Image launcht: Er trägt nun nicht mehr die Kapellmeistermütze, sondern einen enganliegenden Hut mit schmaler Krempe (schwarz). Kaum da, klingelte schon sein iPhone. Ich spähte aus beiden Augenwinkeln auf dessen Display und entzifferte darauf »Maxim«, sowie ein mir unbekanntes Emoji. Um das Gespräch anzunehmen aber verließ Malakoff Kowalski das Restaurant – mittlerweile hatte es ja zu regnen angefangen – und als er nach einer Weile wieder zu uns sich setzte, richtete er allseitig Maxim Billers herzliche Grüße aus. Der Schnupfen hatte sich anscheinend verschlimmert.

Mittlerweile war unser Tischgespräch bei Arno Schmidt angelangt, es gibt ja doch sehr viele Menschen, die viel über Arno Schmidt wissen, aber noch nie etwas zu lesen angefangen haben von ihm. Die Dokumentation auf Arte neulich hat das Interesse an der Person Arno Schmidts von Neuem angefacht, die Interessensfackel wurde in die nächste Generation getragen, aber ob das der Verbreitung seiner Schriften helfen wird, wenn auch nur der schönen Bildbiografie, scheint mir ungewiss. Dabei ist doch die Literatur selbst auch eine Mediathek. Wenn auch mit heftigen Downloadzeiten.

Takis Würger lobte Das Große Heft und ich empfahl ihm Der Fang von Kenzaburo Oe. Er versprach mir, sich den Titel gut zu merken (inzwischen gab es Gin Tonics), aber wie immer, wenn jemand etwas festhalten wollte, hatte niemand etwas zu Schreiben dabei. Dann verließ uns der Verleger, dann die Lektorin, dann die Literarische Welt. Übermorgen beginnt die Buchmesse in Jerusalem.

Dieser Abend, das bekam ich als Wehmut zu spüren, hätte vor ein paar Jahren noch bis um zwei Uhr oder drei Uhr, oder auch noch länger dauern mögen. Einmal, da hatte ich mit Adriano Sack im Themroc getagt, crashte ich mit meinem extrem schnellen Elektrofahrrad in eine Baugrubenumzäunung, die, unbeleuchtet und dementsprechend fahrlässig, mitten auf der Torstraße aufgebaut worden war. Meiner damaligen Ansicht nach hinterrücks. Von den bad Heinzelmännchens. Während wir nichtsahnend im Themroc gesessen hatten.

Stattdessen dann gab es in der nächtlichen S-Bahn die leider üblichen Szenen von Verzweiflung und Wahn, an die ich mich seit so vielen Jahren schon nicht gewöhnen kann.

Was soll’s: Früher begann der Tag mit einer Schusswunde.

* September 17, 1969, Verve Records