11.11.

Seit der Kirschbaum seine letzten Blätter abgeworfen hat, werde ich in der Frühe von einer Blaumeise geweckt. Sie landet auf dem Fensterbrett und pickt mit dem Schnabel gegen die beschlagene Scheibe. Ruckhaft sehe ich ihre verwaschenen Farbtöne blinken, Zitronengelb und Weiß und, schemenhaft: ihren famous blue raincoat, dazu das hackende Geräusch. Sie pocht auf ihr Recht. Leider kenne ich es nicht. Wer auch immer vor mir dort gewohnt haben wird, vielleicht hat er um diese Jahreszeit dort immer Körner auf das Fensterbrett gestreut? Angeblich werden Blaumeisen bis zu 5 Jahre alt – könnte also möglich sein. Oder es handelt sich um den Nachwuchs einer Blaumeise, die im letzten Winter oder im vorletzten dort auf diesem Fensterbrett bewirtet wurde, und dieser Vogel ist jetzt einer aus ihrem Gelege, an den das Wissen um dieses Anrecht transgenerational vererbt ward. Das gibt es wohl, zumindest bei Tieren. Man hat da diesbezüglich mal mit Hasen, Kirschblüten und Elektroschocks experimentiert. Um Rückschlüsse auf transgenerational vererbte Traumata beim Menschen ziehen zu können. Nicht etwa beim Hasen.

(Gestern aß ich mit Gunnar zu Mittag in einem Restaurant, das war so 21st century, es gab Käsekuchen mit Kirschen, den gestreuselten Boden als topping, und Kaninchen, zu dem als Beilage sinnigerweise Möhren serviert wurden. Und wir erzählten uns Unfallgeschichten. Gunnar hat Titanschrauben in seinen Schlüsselbeinen, ich hab welche in meinem Schädel – das war wie Autoquartett, bei dem mich Gunnar mit seiner Anekdote, in der eine Diamantsäge eine sozusagen tragende Rolle spielte, stach. Und auf dem Rückweg sah ich auf der Friedrichstraße den dümmsten Werbeslogan: »Wenn Sie Gold haben, haben Sie immer Geld«.)

Und vermutlich weil das eben so ist, ungefähr; weil Traumata transgenerational vielleicht nicht gerade vererbt, aber gelehrt werden, sind wir traurig, wenn jemand stirbt, den wir persönlich gar nicht kannten. Obwohl wir seine Lieder weiterhin hören, die Bücher immer lesen können. Seelen wandern nicht. Tot ist tot. Aber wie Robert Montgomery sagt:

The people you love
Become ghosts inside of you
And like this you keep them alive

Ich werde The Partisan hören. Und Suzanne. Wenn Robert Smith stirbt, wird es noch schwieriger, also die Auswahl, weil da habe ich zig Lieblingslieder. Das wird dann sogar richtig anstrengend, mal schauen. Am besten ich feiere schon mal ein bisschen vor mit seiner Interpretation von Lover Come Back to Me.