12.1.

In ihrer Meditation der Gemeinsamkeit beschreiben Ingrid und Jörg Splett den Blick des Kindes als eine Schale: Aufgrund seiner geringeren Körpergröße schaut es auf zu seinen Eltern, deren liebende Blicke diese Schale füllen. Wer kein gemeinsames Kind hat, zudem noch getrennt vom Liebespartner leben muss, erlebt das Schalenphänomen dann doch mit einem ersehnten Telefonat, wenn die vermisste Stimme lindernd wirkt und sich für beide, nach der Beendigung des Telefongespräches, die gemeinsame Schale wieder als mit dem Guten gefüllt fühlen lässt. Die Oberfläche noch zittrig, zeigt es dennoch schon ein klares Bild: Wir beide sind eins. Oder wie Fran Lebowitz im August 1976 in I Cover The Waterfront schreibt »Food gives real meaning to dining room furniture«.

Und wie durch ein Wunder, oder als ob dies Wundersame am Schalenphänomen noch einer Bebilderung durch das Naturgeschehen bedurft hätte, fing es kurz darauf mega an zu schneien. Und wenn ich mega schreibe, dann meine ich es auch so. So viele Flocken, Minimum. Nach einer halben Stunde trieben sie in waagerechter Strömung an den großen Fenstern vorbei. Am Nachmittag hatte sich der Sturm dann gelegt und die Flocken säuselten abwärts oder wie es bei Schnee heißt: hernieder. Selbst auf den nackten Ästen des Baumes lagerte sich eine zentimeterhohe Schicht ab. Das traurige Bild eines auf die Gleise geworfenen Adventskalenders der Sexshopmarke Orion, sämtliche Türchen im Unterleib der daraufgedruckten nackten Frau klaffend, die Schokoladenstückchen fehlten, darunter der Schriftzug »Süße Weihnachten«, das ich am Morgen an der Station versehentlich angeguckt hatte, war damit hoffentlich verhüllt. Oder wie Tomas Maier mir das vor vielen, vielen Jahren als Essenz seines Relaunches von Bottega Veneta diktiert hatte: »I had to pull the black drape upon«. Bloß halt in Weiß.

Es kommt nicht oft vor, dass man das Glück hat, bei der Erfindung eines neuen Frühstücks dabei zu sein. Mir war dies bislang noch nicht gelungen, bis dann gestern um kurz nach 9 Uhr Markus aus dem sogenannten Ärmel eins schüttelte, für Tammo und mich, die wir dort in seinem Café am Tresen standen und unsere Zukunftsängste so lange voreinander laut aussprachen, bis sie uns gar nicht mehr so angstfördernd vorkamen. So ähnlich wie in dem Gedicht von Samuel Beckett in den Flötentönen, also wie es in En face/Le pire als Lebensempfehlung ausgesprochen wird. Inzwischen hatte Markus Scheiben von Weißbrot geröstet und mit Olivenöl imprägniert. Darauf Sardellen und eine große Menge Petersilienblätter und in einer symbolischen Vorwegnahme des nachmittäglichen Wetterumschwunges wie mit Schneeflocken bestreut, aber die hier waren aus Botarga. Dazu passten zwei Gläser Prosecco. Markus Schädel: mit einem Ärmel als Füllhorn. Sein großes Herz. Dass es später schneien würde, war da nicht nur noch nicht vorstellbar, wir hatten überhaupt nicht an diese Möglichkeit gedacht. Die Möglichkeit späteren Schneiens, Roman.

Wir kennen unsere Zukunft nicht. Auf Anhieb ist das ab und an ein schrecklicher Gedanke. Auf Dauer wirkt er angstlindernd. Unklar blieb, wie man das neu erfundene Frühstück betiteln sollte. Denn auch das Frühstück brauchte einen Namen. Tammo war der Ansicht, das Datum seiner Erfindung müsste genügen: Elftererster. Aber ob das ein guter Name für ein Frühstück war? Und war das überhaupt wichtig? Würde es sich weisen? Es würde sich weisen. Soviel war gewiss.

In ihren Verpackungen stoßen die Menschen aneinander wie Spielfiguren. Und in den Gassen wie in der Sophienstraße fällt es gar nicht groß auf, dass auf dem Bürgersteig dort einer das Kind auf dem Schlitten zieht. So dörflich wirken die niedrigen Häuser. Das Umherschweben der Flocken arbeitet ihrem dörflichen Erscheinungsbild entgegen. Rings um den Friedhof. Inmitten Berlins.