12.11.

Kein einziger Laternenumzug gestern. Was natürlich daran gelegen haben mag, dass es hier so gut wie keine Kinder gibt. Generell habe ich den Eindruck, dass in Berlin die christlichen Feiertage nicht mehr ganz so wichtig genommen werden. Obwohl es hier um die Ecke eine hübsche Kirche gibt (wobei das um die Ecke nur auf dem Wasserwege gilt; jetzt off season liegt die ganz hübsch weit weg): von einem Paradiesgärtlein umgeben (da kann man lernen, was Apfelbaum auf Lateinisch heißt). Neulich war ich wieder einmal dort, da harkten gerade zwei Frauen das Laub und machten Stauden winterfest. Die luden mich gleich in resolutem Ton ein, mit anzupacken, da sie mich jetzt schon des Öfteren dort gesehen und scheinbar tagsüber auch viel Zeit und so. Die eine Frau war Koreanerin, das sind ja ganz fleißige Christen; in Schöneberg gibt’s die erste Bibimbap-Stube der Stadt, die heißt nicht nur Christenfisch, die ist Innen auch vom Fußboden bis zur Decke hinauf mit handgemalten Bibelzitaten verziert.

Ich kündigte fürs nächste Frühjahr mein Ehrenamt an, und meine das auch ernst.

Ich kenne das noch aus meiner Kindheit und Jugend. In Heimerdingen wurde ja sogar der Wald nach jedem Winter in ehrenamtlicher Zusammenarbeit aller Bürger vom Müll befreit. Aber gut, Heimerdingen, die pietistische Sphäre allgemein, das waren nicht nur andere Zeiten, dort sind sie es noch immer! Und wenn es Abend eines 11. Novembers geworden war, und sie also in Köln Föttchesföhler machten und sich schon mal warm tranken für ihren Ekelexzess, dann holte Herr Ehret seinen Schimmel aus dem Stall, legte sich seinen dunkelroten Samtmantel um, setzte den goldenen Helm mit dem roten Irokesenkamm auf und ritt ein auf den Schulhof, wo wir Kinder ihn mit unseren Laternen aus Pappdeckeln und Pergamentpapier mit Kerzen drin erwarten mussten. Es war damals schon so kalt wie heute. Dann folgten wir ihm, das Martinslied singend, mit den Laternen an das Vorderkind stoßend, ermahnt werdend und vor uns hin stolpernd durch das dunkle Dorf bergan bis zu jenem Feldweg, der die Ortsgrenze markierte und von dem aus wir auf die beeindruckende Schwärze starrten, die das Ende unserer dörflichen Welt nicht nur bedeutete, sondern die das tatsächlich war. Nach Heimerdingen kam ja lange nichts. Tief unten in der Schwärze war das sogenannte Wünschloch, eine Senke, auf deren anderer Seite das Freizeitheim des CVJM stand. Das aber nur am Sonntagnachmittag geöffnet hatte. Für Kaffee, Kuchen und Schneckennudeln. Im Angesicht des Wünschlochs und der schwarzen Nacht las Herr Ehret die Martinsgeschichte vor. Er machte die Geste mit seinem Schwert und dem Mantel. Den Bettler gab es nicht, den mussten wir Kinder uns vorstellen – that’s Pietismus! Einige der Laternen waren schon arg verbeult. Andere nicht mehr zu retten. Sie gingen in Flammen auf. Wer mit seinem Gummistiefel in den löshaltigen Ackerboden geriet, verlor den Stiefel unweigerlich. Die Klebkraft des Ackerbodens war stärker als jedes Kinderbein und machte ein schmatzendes Geräusch. Alle hatten Hunger, aber es gab nur Mandarinen. Dann ging es mit »Ich geh‘ mit meiner Laterne« nach Haus.