12.8.

Auch nach so vielen Tagen habe ich noch immer kein anderes Wort für den Regen. Obwohl er heute besonders kleine und anscheinend federleichte Tropfen hat, die, wenn ich sie vor dem dunklen Hintergrund eines Baumes anschaue, während ihres Fallens sich gegenseitig in die Quere treiben, voneinander abprallen wie Funken, was bestimmt faszinierende Aufnahmen ergäbe, hätte ich eine Kamera mit Superzeitlupenfunktion zur Hand. Stattdessen trinke ich gekühlten Birkensaft zum Kaffee. Warm ist es ja schließlich und glücklicherweise. Immerhin.

Trotdem beinahe unglaublich, dass wir vor gerade mal einer Woche noch – in ein und demselben Sommer unter ein und demselben Himmel – durch Stuttgart streifen konnten, ohne Stiefel und Schirm, denn dort und damals war dieser Himmel blitzblau. Im Schlossgarten vor dem Landtagsgebäude türmten sich weggeworfene Pappbecher und Wurstschalen als Überreste des Stadtfestes, das in der Nacht zuvor dort rund um den eckigen See gefeiert worden war. Raupenfahrzeuge wurden zur Räumung eingesetzt. Und auf dem Schlossplatz stauten sich die Transporter diverser Bierverleger und Brauereien. Gleich dahinter, wo am Karlsplatz früher allein das Café Sommer eine Art Attraktion bedeutet hatte, gibt es nun seit kurzem das sogenannte Dorotheenquartier, das ein Einkaufserlebnis verspricht, wie es das früher und damals im ganz Kleinen und Feinen allenfalls in der Calwer Passage am Rothebühlplatz gegeben hatte – die aber ist inzwischen heruntergewirtschaftet und heruntergekommen, daran ist heute nichts mehr, bis auf den Marmorboden, apart. Die beiden kasernenhaft klotzigen Gebäude, aus denen dieses Dorotheenquartier dann letztendlich besteht, haben außer ihren extravagant geformten Fassaden nichts zu bieten, an dem das Auge sich festhalten will. Man wird rasch hindurchgespült und landet am Ende der Reuse dann vor einer ausladenden Filiale von Herbert Secklers Sansibar, die freilich ohne Sand und Wellen und Dünen in ihrer Deftigkeit deplaziert wirken muss in direkter Nachbarschaft zur delikaten Markthalle, aber die Stuttgarterinnen nehmen das Angebot des Exilschwaben Seckler, unter seinen Piratensäbeln aus Neon auf Gartenmöbeln zu loungen, gerne an. Zumal es dort angenehm schattig ist.

Das war es aber auch im Garten der Tauberquelle, die wir nach einem kurzen Rundgang durch das verrufene Bohnenviertel ansteuerten. Dort war allerdings, es war noch am Vormittag, nichts Verrufenes los. In den Schaukästen der Nachtbars waren teilweise noch Bilder von sogenannten Animierdamen ausgehängt, die dort schon hingen, als ich noch keine achtzehn Jahre zählte. Jugendbilder also im vielfachen Sinn. Einige dieser angepriesenen Animierdamen waren vermutlich schon pensioniert, einige gar verstorben, aber ein grünlich verblichenes Ebenbild einstiger Spannkraft wurde in Schneewittchensärgen konserviert.

Noch schiefer und von dem Stapel vergangener Tage deformiert als diese Häuslein im Bohnenviertel ist nur noch die Tauberquelle. Dagegen schaut das direkt gegenüber von einer Verkehrsinsel aufragende Hegelhaus geradezu triumphierend aus – auch wenn dort, sozusagen als Antithese zum lieblichen Anblick des Hegelhauses, die scheußliche Front eines Kaufhofes die Entstehung des idyllischen Bildes zunichte macht. Vom Hegelhaus aus auf die Tauberquelle schauen, wäre wieder etwas anderes. Auf der Straßenseite entsteht jetzt nämlich gleich neben dem majestätischen Tagblattturm ein Gebäude nach dem Vorbild des neuen Innenministeriums in Berlin en miniature, in dem man allerdings, also in dem in Stuttgart jetzt, in Bälde wohnen soll. Das Bauvorhaben läuft unter dem Projektnamen Hegel 21. Obwohl die Fertigstellung mit 2018 angegeben wird.

Dann dort sitzen, im Garten hinter der Tauberquelle, wo man all diese Scheußlichkeiten nicht mehr sehen muss, obwohl man weiterhin mittendrin sitzt quasi. Aber behütet von Rosenbüschen und altem Gemäuer, in dem die Fenster auf einer Höhe eingelassen sind, beziehungsweise in einer Tiefe, die bei uns Heutigen in etwa noch Kniescheibenniveau entspricht. Es gab einen Ochsenmaulsalat, der erfrischend angemacht war. Das Bier wird an solch heißen Tagen, es ist noch nicht lange her, im grauen Steinkrug serviert. Wie gern säße ich jetzt dort. Und bestellte mir den »Oma Anna Teller«. Er ist beladen mit geschmälzten Maultaschen, dazu ein Fleischküchle und ein Schweinsmedaillion. Letzteres wird mit einer Rahmsauce überzogen, in der Champignons in Scheiben geschnitten mitgeschwenkt wurden. Plus Petersilie. Als Beilage Spätzle. Ob die handgeschabt wurden, spielt allenfalls für die Klientel von Herbert Seckler eine Rolle. Die Spätzle in der Tauberquelle sind jedenfalls sehr gut. Und werden, comme d’habitude, mit in Butter gerösteten Semmelbröseln angerichtet.

Herrlich wäre das. Spätestens morgen. Aber ungern allein.

»Aber dann entschied sie sich, noch ein wenig zu warten, machte sich einen Tee, summte eine Melodie von Ace of Base, wurde kurz vom Tod gestreift, griff sich an den Hals und ließ ihre Hand eine Weile dort ruhen, dann zog sie sich Schuhe an und ging spazieren.«