12.9.2019

Am frühen Abend auf der Europa-Allee stadtauswärts: Sie führt vom Skyline Plaza, wo derzeit ein Tunnel für den U-Bahn-Anschluss gegraben wird, am Messegelände entlang (wo derzeit die Internationale Automobil Ausstellung IAA stattfindet—letztmalig exklusiv in Frankfurt, wie gemunkelt wird). Die einzeln stehenden Gebäudeblöcke an der Allee verdecken zur rechten Hand die dahinterliegenden Messehallenbauten völlig, obwohl die ja nicht gerade zierlich sind. Dafür vergleichsweise charakterstark. Für die Bauformen, im Grunde ist es bloss eine einzige, der in den Vordergrund hochgezogenen Neubauten wie sie sich auch in Berlin überall breit gemacht haben und machen, gab es vor Jahrzehnten noch die akzeptable Rechtfertigung vom Wiederaufbau. Auch dazu lädt ein elfter September in jedem Jahr ein: Gedenken der Bombardierung Darmstadts. Mehr als zehntausend Menschen starben in einer knappen Stunde. Die Vermissten waren zu Asche verbrannt.

Auf der Mitte der Europa-Allee zeigt sich in den beiden Lücken, die Querstrassen lassen, das Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn vom Architekten Stephan Böhm, Sohn des Pritzker-Preisträgers Gottfried. Den oder die Architekten, womöglich handelt ein Kollektiv, der Gebäude entlang der Europa-Allee kennt man nicht. Im Kontrast zum brutalistischen Meisterwerk von Böhm, dessen betoniertes Exoskelett anmuten will, als könnte es pneumatisch in die Knie gehen, wirken die Neulinge gerade nicht brutal, sondern einfach blosslasch, oder herzlos; wie es mittlerweile heisst: uninspiriert. Wie aus schlechtem Gewissen heraus eingemeisselt in den Portikus vom Band heisst dann eins zum Beispiel «Haus Marie-Louise». Der Nachbar gar «Versailles». Die Grünanlagen auf dem breiten Mittelstreifen der Allee, unter denen dann bald die neue U-Bahn verkehren soll, wirken wie mit einer Unterfunktion des Stadtplanungsprogramms entworfen: Sie erinnern mich fatal an die Neupflanzungen auf einem Acker hinter Heimerdingen, wo halmhaftes Grün zu langgezogenen Bürsten gruppiert wächst—Heizmaterial, das jeder dort Biomasse nennen darf.

Nur wenige Leute liessen sich auf den von aquarienhaften Glasscheiben umgrenzten Balkons am Haus Versailles sehen. Ein Mann mit nacktem Oberkörper nahm von dort, von seinem Söller aus, eine Kommunikation mit einem vor dem Haus Versailles stehenden Boten wieder auf, die über die Gegensprechanlage nicht zustande gekommen war. Beide bedienten sich des Englischen als Handelssprache. Man einigte sich darauf, dass der Bote das Paket vor der Haustüre abstellen würde, von wo es der Wohnende dann abholen könnte. Eine Passantin, schwarz mit grauem Haar, rief in den Lautsprecher ihres Mobiltelefons: «Walnut! I like Walnut. And Mango on top.»

Dort, an jener Seitenstrasse zur Europa-Alle, in der sie um sich schallend verschwand, war ein Park neu angelegt worden. Dessen Zentrum, zwischen Tel-Aviv-Platz und einer einer Fussgängerbrücke gelegen, die von den auf ihren Rollern eigentümlich Thronenden befahren wird, markiert ein Spielplatz, hinter sehr hohen Gitterwänden, aber nach oben hin offen gehalten. Der Boden des Freizeitareals besteht aus jenem ansprechenden Gummigranulat, in diesem Fall wirkte es speziell einladend auf mich, da in einem freibadhaften Blau gefärbt. Sämtliche Spielgeräte, einige davon «mir neu», wirkten bombenfest im Grund unter dem heiter federnden Blau verankert. Der Farbton scheint auch dem Spektrum der Tauben zu schmeicheln, denn zwischen Kindern und Aufsichtspersonen aller couleur hockten und ruckelten und flatterten raschelnd vor allem noch sie umher. Kein Geheimnis, dass ich sie nicht leiden kann. Und so schaute ich unwillkürlich zum Himmel hinauf aus dem Gittergeviert. Doch anders als noch im Engadin oder in Heimerdingen rüttelte dort oben kein Falke. Es kreiste gutmütig brummend der Zeppelin.