13.1.

Um sechs vom iPad geweckt worden. Hielt das aber für einen Fehler, es war noch krabbendunkel. Weitergeschlafen und später dann festgestellt, dass Erik gestern wohl die Fensterläden geschlossen hatte. Der Garten draußen, unabgeerntete Äpfel wie Christbaumkugeln im Gegenlicht, Schneeschaufelgeräusche von hinter der Mauer zum Nachbargrundstück. Ich greife zum Sprachrohr der Verständigung, einem alten Schlauch, der in die Wand neben meinem Kopfende führt und das untere Stockwerk mit dem Badezimmer oben verbindet, aus dem mir Eriks Geräusche übertragen werden, der dort sein kaltes Bad am Morgen nimmt.

»Mohler«, röhre ich hinein, »tun sie mir doch bitte den Gefallen, und bringen Sie mir einen Mokka. Und suchen Sie mir dazu auch die Karten raus. Von Paris und seiner näheren Umgebung«.

Als es dunkel geworden war, saßen wir längst in dem Baustellenfahrzeug. Am Steuer Heiko Holzberger, der uns nach einstündiger Fahrt quer durch die Stadt noch das angeblich älteste Gasthaus Berlins zeigen wollte. Das niedrige Fachwerkhaus steht am Rande des Tegeler Waldes. Wir aßen dort Linsen und Spätzle, während über uns andauernd Menschen in schweren Schuhen durch die Räume schlurften. Offenbar wurde das erste Geschoss dort mit Fremdenzimmern ausgebaut.

Die Fahrt ging weiter durch leere Natur. Verlässlich die einschläfernde Wirkung des Mittelstrichs in der Dunkelheit. An den Seiten des Blickfeldes wurde es heller und heller: wir fuhren in den verschneiten Wald hinein.

Erwacht dann mit der schlechten Laune des Kindes, wenn die Türen des Kokons aufgerissen werden, weil wir jetzt angeblich da waren. Die kalte Luft überall, und ich hätte am liebsten nur weitergeschlafen.

Leider auch kein intelligent house, das schon per Fernsteuerung eingeheizt wurde. Wir saßen zu dritt um den Tisch in der Stube, die nackten Füße in drei Bottichen mit aufgekochter Schneeschmelze. Der aus Weichkaramellbrocken gemauerte Ofen kam allmählich in Fahrt.
Es gibt dort in der Küche eine Klappe im Boden, darunter liegt ein tiefer Raum, dessen Wände dicht an dicht mit Weckgläsern verstellt sind, aus denen man in Berlin mittlerweile das Bircher Müsli und Salate mit Quinoa oder Couscous serviert bekommt, abends auch Drinks. Hier wurden eingeweckt Birnen in kleinen Stücken und halbierte Zwetschgen. Sieht aus wie in Frank Leders Atelier. Holzberger mischt kleine Schlucke aus einer Flasche Klarem und einem Glas Birnenkompott zu einer wohlschmeckenden Substanz. Auf dem Etikett der Flasche steht »Prima Sprit«. Verkaufspreis 17 Ostmark 60 für den halben Liter. VEB Bärensiegel, Betriebsteil Neuruppin. Das Zeug hat 95%. War also für die damaligen Verhältnisse nicht billig, aber preiswert. Es gibt unter der Küchenklappe auch noch Flaschenweise Pfirsichwein, der, wenn man die ersten zwei Schlucke überwunden hat, gar nicht so übel schmeckt. Nicht gerade nach Sommer, auch nicht nach Pfirsich, aber auch nicht nach Fisch. Das Etikett ist mir grünem Filzstift beschriftet. Abfüllung aus der Ernte 2004. die Birnenkonserve ist von 1996. Ein gutes Jahr.
Wir begutachten die Zinnsoldaten, unbemalt sehen die ja zauberhaft aus. Filigran und regelrecht kostbar. Erik hat hunderte dabei, die mit in die Bleischmelze müssen. Das Blei stammt vom örtlichen Fischer, so etwas gibt es hier noch. So etwas gibt es am Wannsee nicht mehr (Fischer).

Der Trunk wirkt stärkend. Wärmen tut er auch. Da wir uns hier zur Klausur eingefunden hatten, trage ich programmgemäß aus dem first draft meines treatments vor. Der erste Spot unserer Imagekampagne für Thüringen zeigte demnach eine Halbtotale eines türkischen Imbisslokals mit hellblauen Wänden. Die Dönerrübe ist rechts im Bild, links steht der Imbissbetreiber mit schwarzem Schnäuzer im weißen Kittel mit dem langen Dönerabschneidemesser in der Hand. Hinter ihm hängt in goldenem Rahmen ein Portrait Björn Höckes, daneben noch eines von Erdogan. In gelber Futura wird das Wort Thüringen eingeblendet. Der Imbissbetreiber spricht den Umlaut im Landesnamen genießerisch aus. Die Kamera fährt in einer waagerecht gleitenden Bewegung weiter und rahmt einen vor der hellblauen Wand sitzenden Inder ein, der einen safranfarbenen Turban trägt. Er hat graumelierte Augenbrauen und spricht ein indisches Hochenglisch, das in gelber Futura untertitelt wird: »I came to the country in 1961 to work as a mason. We were building the wall. The Chinese had a wall already but this one was same but different. Our work was difficult sometimes but somehow we finished. Then, in 1989 the wall was demolished completely. But somehow I already decided to stay. Because I like it here«.

Dann die Linienzeichnung des Landeswappens und das Wort Thüringen noch einmal in Futura und beides in gelb.
Dann noch der Spot mit dem Klossmuseum, eventuell auch noch einer zur Schokoladenmanufaktur Goldhelm.

Würde in den kommenden Tagen noch ausgearbeitet werden müssen, bis wir das vor Boris Lochthofen präsentieren konnten.

Holzberger meinte, dass nun, da es endlich bullerwarm geworden war, auf wundersame Weise klar würde, was eine Stube ursprünglich bedeutet hatte. Also im ganzen kalten Haus der einzige Ort der Zuflucht. Danach zu Bett.