13.8.2019

So waren schliesslich drei Tage ungenannt vergangen, dabei war so viel geschehen. Am Samstag hatte ich mich am frühen Abend aufgemacht, um, in meinem Sommeranzug, zu Fuss zum nahen Bahnhof am Stuttgarter Platze zu gehen, wo ich mit Friederike verabredet war. Das geriet für mich doch ziemlich überraschend zu einem Spiessrutenlaufen, da der akzeptierte Dresscode in der dorthin führenden Fussgängerzone anscheinend ein total anderer war. Das war mir vorher noch nie aufgefallen, konnte es ja auch kaum, da ich dort zwar viel und gern, dabei aber noch nie in einem hellen Anzug unterwegs gewesen war. Zwar zeigte man nicht mit Fingern auf mich, aber ich fühlte die Blicke in meinem Rücken und dann gab es da noch ein Paar, die über mich lachten (wahrscheinlich aber mit mir). Dabei waren die selbst für meinen Geschmack seltsam angezogen. Und das höchst. Sozusagen kostümiert. Kurioserweise, ich ordnete diese Eindrücke zunächst meiner durch den Spott der Passanten hervorgerufenen Verunsicherung zu, begegnete ich dann mehr und mehr dieser für meinen Geschmack kostümiert einhergehenden Menschen, die allesamt im besten Alter waren. Und so wie ich dem Bahnhofe entgegenstrebten. Dort, auf dem Bahngleis oben, wo ein schönes Lüftle Kühlung brachte, fand ich mich monothematisch von ihnen umstellt. Diese Menschen waren wie in einer Verfilmung der Loveparade durch Wenzel Storch in bunte Schlaghosen und Paisley-Wämse gezwängt. Die meisten von ihnen hielten Sonnenblumen in den Händen. Einfahrende S-Bahnen brachten, stadtauswärts führend, nur noch mehr von diesen Kostümierten heran. Ich googelte den Konzertplan der Waldbühne: dort trat an jenem Abend Dieter Thomas Kuhn auf; ein Landsmann, der, mitsamt seinem Publikum in die besten Jahre gekommen, einer anscheinend sehr grossen Anzahl von Bürgern die Chance zu einer kleinen Flucht aus dem Alltag hinein ins Glück anbietet. So vielleicht wie früher bloss Fasching und im Rest des Jahres das Programmkino, wenn The Rocky Horror Picture Show in einer Spätvorstellung lief.

Diese beiden Generalthemen, beste Jahre, also Zeit, und Kino, wurden dann auch am Rande wichtig im weiteren Verlauf unseres Abends, denn wir besuchten die Nachfeier des 60. Geburtstags von Claudius Seidl. Die fand in einem ehemaligen Frauengefängnis statt, das derzeit von den Architekten Grüntuch zu einem Hotel umgebaut wird, was ja in der architektonischen Sphäre auch eine Art Kostümierung bedeutet, denn die ausbruchssicheren Mauern des ursprünglichen Zweckbaus bleiben doch bestehen. Ob aber die Fenster dann bei Eröffnung des Hotels noch vergittert sein würden, das wird man schauen. Vor zehn Jahren habe ich in Oxford ein paar Tage in einem zum Hotel umgebauten Gefängnis geschlafen, das war vom Karmischen her völlig i.O. Ich schlief dort so, als ob ich mir keiner Schuld bewusst gewesen war. Dementsprechend, man erzählte sich, dass die Grüntuchs den Bau schon im Vorwege der Party durch einen spirituellen Heiler mit Räucherwerk hatten reinigen lassen, wurde es zu einer seidig hochschäumenden Party mit viel unverhofftem Wiedersehen—knapp vier Monate vor Weihnachten wage ich zu behaupten: Party of the Year!

Besonders schön für mich war die Rede von Christian Seidl, der daran erinnerte, dass es der ursprüngliche Berufswunsch seines Bruders gewesen war, Bischof zu sein. Das Bild sehe ich seitdem ständig vor mir; vor meinem geistlichen Auge. Dem heimlichen auch.