1.4.

»Lunch is for losers«, schreibt Hans Bude in seinem Gefühl der Welt, das ich lesen will, weil wir uns am Montagnachmittag zu einem Gespräch für die Jubiläumsausgabe von 032c treffen werden. Und weiter:

»Als der Prozess der wundersamen Geldvermehrung nicht mehr weiterging, weil plötzlich das Gerücht aufkam, dass vielleicht eine Million Haushalte in den USA, die sich ein Haus in einer Gegend leisten wollten, in der sie ohne Bedenken ihre Kinder auf die Schule schicken konnten, ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, mussten die ganz normalen Vermögensindividualisten mit ihren Sparguthaben und Altersrücklagen herhalten, damit die großen, als ›systemrelevant‹ erachteten Banken ihre ›faulen Papiere‹ wieder loswerden konnten. In der Krise von 2008 und den mit ihr verbundenen Staatsschuldenkrisen seit 2011 mussten die Bürgerinnen und Bürger als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler am Ende für Krisen haften, die anderen über den Kopf gewachsen waren.«

»Kinder, die mit ganz verschiedenen Worten zu erzählen beginnen«, schreibt Peter Handke am 15. Juni 1975 im Gewicht der Welt:

»durcheinanderredend, was sie gemeinsam erlebt haben – und als sie an den Schluß der Erzählung kommen, diese gleichzeitig und mit den gleichen Worten beenden.«

Das Gewicht meiner Welt fand sich in drei DIN-A4-großen Schachteln von Tiffany & Co, na ja, so ist das halt, ich hab da in jedem neuen Jahr den Kalender rausgenommen und mit den gesammelten Aufnahmen der Trusty SX-70 gefüllt. Bis eben, ja, leider: es dann plötzlich keine Filme mehr gab für diese so formschöne wie zuverlässig schön fotografierende Polaroidkamera. Gestern habe ich einen Batzen anderer Fotos an Friederike versandt, dabei aber ging ich dann noch einmal durch diese Boxen und es war schon hardcore, wie ich mir dabei meines ganzen Lebens vergegenwärtigt wurde. In der Reihenfolge, es gibt keine Reihenfolge, denn diese Polaroids liegen »einfach bloß so« drin:

– Sonnenaufgang über der Speicherstadt in Hamburg, ziemlich unscharf, die vorherrschende Farbe ist, unten zumindest: blau,

CD-Hülle von Carl Craig, beleuchtet von Kerzenlicht: More Songs about Food and Revolution,

– Natalie zündet sich eine Zigarette an,

– Judith schaut in die Kamera, viele Schatten,

– das Hotel Negresco in Nizza bei Nacht, tanzende Lichter, alles doppelt, der Himmel scheint schwarz,

– ich selbst mit Schnurrbart, blaue Krawatte von Gucci (zweite Tom-Ford-Kollektion),

– unbekannte Frau mit blondem Haar, der Hintergrund ist Dunkelrot,

– Olrik, er schaut kritisch, orientiert sich dabei innerlich an Tom Ford,

– zwei Stengel von Pfingstrosen, die sich kreuzen,

– zwei kleine Katzen in einer Tomatenkiste, die sich balgen,

– irgendwas nachts, die Aufnahme erscheint verkratzt,

– die Tomatenkiste, davor, unscharf, zwei übereinandergeschlagene Beine,

– Maren schaut melancholisch auf ein arabisch beschriftetes Dosengetränk (das war in Paris),

– Natalie in dem roten Angorapullover, den ich mir auf Markus Peichls Geburtstagsparty ausgeliehen hatte, weil mir so kalt war, und außerdem war es auch meine Geburtstagsparty, denn wir haben am selben Tag Geburtstag,

– die Müllfahrerhose mit den Reflektorstreifen hängt an der Wand in der Wuppertaler Wohnung (Barmen),

Contrazoom in die Gasse eines französischen Supermarktes,

– ich in einem hellblauen Polohemd aus Frottee, Hamburg, Marlboro-Sessions, Löffel hatte aufgelegt,

– ich in einem weißen T- Shirt in einem Garten, kurzes Haar,

– ich, verschwommen, süß, wie gemalt,

– ich auf dem Rücken, der Heizkörper im Hintergrund, ich trage den gestohlenen Pullover und eine durchsichtige Brille von Cutler & Gross, die ich zuvor in einer Margiela-Geschichte im i-D gesehen hatte – ich weiß noch, dass ich damals andauernd unendlich müde war,

– ich, lachend, irgendwo,

– Natalie, eine Zigarette in der Hand, Haarband, dahinter blauer Himmel ohne Wolken,

– ich unscharf, es ist nur mein Gesicht zu sehen, Schnurrbart, wahrscheinlich extrem zugekifft,

– ich am Strand vor dem Negresco auf den Kieseln in einem Dufflecoat von H&M mit rosafarbenem Futter – ich tue so, als ob ich schliefe,

– Suse Eichrodt und ich nebeneinander in roten Hemden, meine Haare sind wasserstoffperoxid, Suse hält ein selbst gemaltes Schild hoch, darauf steht: UFO,

– ich mit Schnurrbart und dieser Krawatte von Tom Ford, ich lächle verzeihend,

– Natalie, mit Essen in beiden Händen, schaut sich nach hinten um,

– Natalie mit Gucci und Prada, den Katzenkindern,

– die Lampe auf dem Boden im Flur ganz hinten, ich habe vergessen, wer die gemacht hatte,

– junges Fotomodell, männlich, schaut hoffnungsvoll drein,

– Reflektionen,

– Natalie mit einem gestreiften Tuch auf, soll tuaregmäßig aussehen,

– Judika Portner und Natalie schreien sich an (irgendwo draußen),

– Autofahren,

– blaue Glühbirne bei Nacht,

– rote Schatten,

– Verneinung,

– unscharfes Lächeln,

– Natalie am Strand von Kalifornien, mit der orangefarbenen Wodkabrille auf,

– Selbstportrait durch den Deckenspiegel der Riesenradkabine auf dem Hafenspektakel zu Hamburg,

– Heiko Jahnke im Profil,

Nike Air Max, weiß und burgunder, im Profil am Strand,

– ich im Profil, die Wodkabrille auf, Ginster im Hintergrund,

– Unscharfes in braun und rot,

– unscharfe Szenen vom Rummelplatz,

– Clark schenkt Wein auf marrokanische Weise ein (close-up),

– Katze, sehr groß, dahinter Natalie im Wintermantel, Himmel dementsprechend,

– Zwei Mitbewohner meiner Zivildienst-WG, Gernot und Tobias, seilen eine Kinositzbank aus dem dritten Stock ab in den ersten,

– mein Bauch,

– Bäume, Himmel, roter Sonnenschirm (nicht aufgefaltet),

– Baumgerippe aus dem D-Zug heraus fotografiert,

– ein Fenster, die Treppe und ihr Handlauf beim Verlassen der Party,

– Natalie und ich beide extrem unscharf,

– Maren,

– Natalie am Strand,

– mein Bauch, eine Muschel bedeckt meinen Nabel,

– ich im Wasser der Ostsee, am linken Rand der Aufnahme steigen vier weiße Punkte senkrecht,

– Judith,

– Judith in einem Smoking, left arm akimbo,

– Natalie mit einer Zigarette, sie stützt das Gesicht in ihre Handfläche (der rechten),

– Natalie und ich auf dem Parkettfußboden, ich habe eine Hose an, im Hintergrund die Plantage,

– dito, andere Posen,

– unbekannte Person, nachts,

– Maren auf dem türkisfarbenen Futon, sehr müde,

Burger King,

Air Max, Strand,

– Schaufenster eines Fachgeschäftes für Verspiegelungen in Paris bei Nacht,

– Adriano mit Hornbrille,

– Marcus Staiger tanzt nackt mir grellgrüner Badekappe auf, handschriftlicher Vermerk: Instant Karma,

– Olrik, ganz früh am Morgen auf meinem Sofa,

– Judith und Olrik ganz früh am Morgen auf unserem Sofa,

– gelbe Lilien,

– ein graphisches Muster aus roten und blauen Flächen, darauf fällt Sonnenlicht,

– Markus und Adriano,

– Natalie vor dem Spiegel,

– Mohnblüten,

– unscharfer Mensch,

– Natalie mit Gucci, vielleicht ist es auch Prada,

– Natalie mit Essen in beiden Händen,

– dito,

– Maren auf dem Futon, schlafend,

– Mohnblüten,

– Judika,

– die Alutreppe, die auf die Dune du Pyla führt,

– schwarzes,

– Natalie, dreifachbelichtet,

– Christian,

– Natalie, nachdem ich sie gezwungen hatte, Rhabarber mal so zu probieren,

– Einkaufswägen vor dem Casino in Saint Paul de Vence im Licht der untergehenden Sonne,

– Pflanzen und junge Katzen,

– Stalingrad, die Metrostation,

– weiße Hasenmodelle vor einem weißen Fensterrahmen und dahinter ein weißer Himmel (Hamburg),

– mein Gesicht vor dem Straßenschild von Kernen im Remstal,

– Janine,

– Adriano und Markus,

– ich mit extrem kurzen Haaren in unserem Büro bei Gruner + Jahr, im Hintergrund der Hafen,

– römische Blüten in rosa,

– ich in dem hellblauen Frottepolo mit einer Sonnenbrille von Jean Paul Gaultier,

– Judith im Profil,

– Natalie schmachtet eine aufblasbare Tulpe an,

– unscharfes Portrait von irgendwem,

– Pflanzliches,

– die aufblasbare Tulpe bei Nacht ganz allein,

– Busen,

– Strand,

– Wasser,

– ich mit krimineller Kurzhaarfrisur,

– Flur,

– der Heinrich-Hertz-Turm, Wolken,

– Dune du Pyla, ein Baum, Schatten,

– Ausblick vom Gipfel der Dune du Pyla auf den Atlantik,

– Adriano,

– ich, mit selbstgefärbten schwarzen Haaren und einem mit Simplicol selbst gefärbten Hemd in schwarz, ganz bis oben hin zugeknöpft,

– Maren vor diesem obskuren Antiquariat in Paris,

– Hans Israel, der Assistent von Edgar Herbst bei dieser ultra shady Foto-Lovestory, die ich mit Adriano für Gruner + Jahr gemacht habe,

– Mark Schüttler mal an den Drums,

– Marcus, nackt, als er Geld als Nacktmodell verdienen wollte an der Kunstakademie Stuttgart,

girl, infatuated,

– Scherben,

– Maren und ich auf Trümmern in Paris,

– der Boulevard von Cagnes-sur-Mer,

– Adriano extrem müde in unserem Hotel in Manchester,

– Häuser, Gebäude,

– Nelken (knallrot),

– Natalie in einem Anzug,

– Heiko, in einem lupenreinen Strahl ins Gebüsch pissend (Planten un Blomen),

– Gewitterwolken, davor Kräne,

– das Abseilen der Kinobank aus einer anderen Perspektive,

– zwei südfranzösische Jogger bei Nacht,

– vier Silos aus Edelstahl (Froschperspektive),

– Heiko und Sven,

– Heiko und Sven und die aufblasbare Tulpe (nach Paul Simon und Art Garfunkel von Richard Avedon),

– völlig unscharf,

– dito,

– wahrscheinlich ein Berg,

– Harre, irgendwas essend, im Hintergrund Schilf,

– etwas mit Gold,

– Tänzer auf der Loveparade im Gegenlicht,

– Natalie und ich, sehe aus wie – ich weiß auch nicht wie, aber jedenfalls nicht so wie ich,

– Natalie im Wind von links,

– Toni beim Versuch, etwas zu essen (Lätzchen korrekt),

– Katrin auf dem türkisen Futon, weißes Herrenhemd, sie schläft,

– Hortensien, violett,

– Kiefern,

– Sand,

– Streifen,

– Sven,

– Kronleuchter,

– Häuser,

– zweifelndes Gesicht,

– trauriges Gesicht,

– Körper im Gegenlicht, nackt, dahinter die Plantage,

– Cannabisblätter, zart und lindgrün entfaltet im Gegenlicht der nachmittäglichen Sonne über Hamburg und dazu die Erinnerung, wie Natalie mir mit der flachen Hand ins Gesicht schlägt und mich anschreit: »Du Scheiß-Yuppie, ich zieh aus. Du kotzt mich an! Du hast nichts anderes im Kopf als Geld, Geld, Geld.«

Hatte ich lange verdrängt, beinahe vergessen; es ist noch eine Box übrig.

Ein ander‘ Mal.