1.4.

Frühling in Frankfurt. Kaum zu glauben, dass es dann im Sommer nur noch schöner hier werden wird. Und Nina Hagen weiß, wer ich bin: »Die Menschen singen, tralala, die neuesten Liebeslieder«.

Der Nachbar nutzt die wärmenden Strahlen der Sonne im Hoch über der Stadt und verlegt sein Homeoffice auf den Balkon. Im Stehen – dabei seitlich vom Stativ der Satellitenantenne gestützt, von vorn bietet ihm die Brüstung des Balkongitters Widerstand – ruft er in sein Telefon hinein in einer Sprache, die Bulgarisch sein könnte. Die den Hinterhof umgebenden Rücken der Häuser verstärken sein Rufen, es schallt in jeden der Winkel und seine Stimme klingt nach den von weither herangewehten Parolen des Anführers einer Demonstration.

Früh hatte ich auf dem Markt an der Konstablerwache alles für diesen Sonnentag Nötige besorgen können. Es findet dort ein veritabler Markt statt, bei dem aus teilweise entlegenen Gebieten des hessischen Umlandes angereiste Bauern ihre kindsfaustgroßen Radieschen tatsächlich feilbieten. Eine Frau, in der Ästhetik des Marktgeschehens kam sie mir natürlich als ein Weiblein vor, lud mich ein, ihren Apfelwein zu probieren, den sie in der edlen Variante eines Rosé verkaufte. In ausgespülten Mineralwasserflaschen, die sie in einer zierlichen Handschrift, wie sie heute kaum noch jemand beherrscht, mit schwarzer Filzstifttinte (Edding 2000?) beschriftet hatte. Der würde, das schien mir nach dem dritten Gerippten von ihrem Stoff auf magische Weise klar, sehr gut zu den Vogelsberger Bratwürsten passen, deren grobes Brät in Rot und Weiß wie schachbrettkariert durch die opaken Därme schimmerte.

Vor dem Café Plank legte ich eine Pause ein, um die Zeitung zu lesen, in deren Lokalteil neben einem albernen Aprilscherz ein Spezialteil enthalten war, der die Vorzüge eines Lebens in Frankfurt am Main referierte. Ich saß auf dem sonnengelben Stuhl, dessen blecherne Sitzschale dekorativ durchlöchert war wie bei allen anderen dort auf dem Bürgersteig auch, aber es war halt der einzige, der sonnengelb lackiert war, und diese Farbe stand in einem appetitanregenden Kontrast zu dem schattigen Umfeld dort vor der hohen Scheibe, die den Innnenraum dieses friedvollen Ortes vom öffentlichen Geschehen draußen scheidet und schied. Gerade hatte ich das Blatt entfaltet, da sprach mich eine Frau an. Ihr Anblick war bedauerlich. Sie litt unter Entzugserscheinungen. Ich gab ihr nichts. Der Kellner, jedenfalls kannte ich ihn in dieser Funktion, hatte eine Skibrille auf und entschuldigte sich von vorneherein für seine Unzuverlässigkeit. Er gab an, die Nacht durchgemacht zu haben, und sei rein zufällig hier an seiner Arbeitsstelle anwesend. Ein Kollege, nüchtern, räumte ihn aus dem Bild und brachte mir Kaffee, sowie etwas erwärmte Milch in einem polierten Kännchen. Ich zündete mir eine Filterzigarette an.

Die Frau war mittlerweile zurückgekehrt und hatte es sich zu meinen Füßen auf der Bordsteinkante bequem gemacht. Zwei dort abgestellte Autos boten ihr Sicht-, vor allem aber auch Windschutz. Nach der üblichen Kramerei entnahm sie ihrem Fanny Pack ein stählernes Pfeifchen, zog sich die Kapuze ihres übergroßen Sweatshirts über den Kopf und nach einigem Geklicke und Geratsche am Feuerzeug stiegen, zu beiden Seiten unter dem Zwergenhut, die Wolken eines dichten Dampfes auf, dessen ungewohnter Duft nach Kokosraspeln in erwärmtem Benzin auf vermutlich Crack hindeutete, vielleicht auch Crystal Meth, vielleicht war es auch einfach Heroin. Jedenfalls schritt sie hernach gefestigten Schrittes auf der Moselstraße einher.

Dem Kellner außer Dienst hatte das Reparaturbier ähnlich gut getan. An der Seite eines neu gefundenen Gefährten betrat er die Szene, sie fühlten sich bereit für weitere Taten. Ein dritter blieb an der Einmündung zur Münchner Straße zurück. Er wirkte unentschlossen, ob er sich den wild Entschlossenen anschließen sollte. Eine Bahnsteigszene. Der Lokomotivführer stieß in die Trillerpfeife, es ging in Richtung Front.

Der mit der Skibrille rief über die Köpfe der Kaffeetrinkenden hinweg freundlich gemeinte Schimpfworte, um dem Hasenfuß Beine zu machen. Der hatte sein Telefon gezückt, um seinen Anblick der davonschwankenden Gestalten für die Nachwelt festzuhalten.

Der mit der Skibrille, ihn fixierend: »Wenn du jetzt einen Snapchat von uns machst, ficke ich dein ganzes Leben!«