14.4.

Vier Mädchen, Schülerinnen vielleicht noch? Jugendliche, Teengirls – wie nennt man sie eigentlich, wie spricht man sie an, wenn sie dazu, also zudem sie noch mädchenhaft wirken, auch noch in Ganzkörperanzügen aus rosafarbenem Plüsch gekleidet durch die Gänge des ICE schlendern? Das eine hat mit dem anderen freilich nichts zu tun, verwirrend wirkte es trotzdem auf mich, zumal die Anzüge auch Kappen hatten, ebenfalls rosa, aus demselben Material, an deren Oberseiten jeweils zwei puschlige Ohren mittlerer Länge angesetzt waren. Jedoch trugen die Mädchen, die vielleicht ja doch keine Schülerinnen mehr waren, also eventuell sogar ohne Unterwäsche in diesen Plüschoveralls über mich drüberstiegen, der ich in dem überbuchten Zug leider keinen Sitzplatz mehr hatte ergattern können, diese Kapuzen, die ihrem Auftritt etwas nur noch hasenhaftes, etwas obszön Österliches hätten aufgesetzt wie ein Kreuz auf einen Gipfel, ganz im Stile ihres laisser faire nach hinten über die Schulterlinie geklappt. Zwischen Bordbistro und Sitzplatz, wo sie aus mitgebrachten Plastikschüsseln stark riechende Salate aßen mit Gabeln aus Privatbesitz, ging es häufig hin und her. Woran man halt bei fortgeschrittenem Alter in dahinjagendem Zuge so denkt: Bäume aus der Froschperspektive bei 250 km/h.

In Frankfurt dann nächtlicher Fliederduft. Alles scheint hier schon weiter, selbst der Rasen wirkt samtiger, geschlossener als oben bei uns in Berlin, wo ein kalter Wind von allen Seiten heranwehte und zwischendurch auch immer wieder mit seinen Regenschauern ankam, wie etwas Übriggebliebenes, das er endlich loswerden will, das niemand braucht oder will.

Vor dem Haus traf ich auf die Mume. Keuchend stand sie dort im Dunkeln. In mindestens sieben Röcken wie einst von Günter Grass beschrieben. Sie kann wirklich kein einziges Wort Deutsch, kann also nicht einmal grüßen. Fliederfarbene Kopftücher, auch mindestens drei oder vier Stück. Sie öffnete einen weitgehend zahnlosen Mund. Aus der Sprechanlage kommen Geräusche, la mystère des voix bulgares, der Türsummer geht, sie wandelt in ein dunkles Treppenhaus hinein.

In der Bar im Nachbarhaus, die Müllstall heißt, legten zwei ohne Traktor mit zwei Plattenspielern auf, aber es klang so, als hätten sie Traktor und sie bedienten die kleinen Drehknöpfe an ihrem Mischpult mit der international etablierten Fingerstellung silent duck. Es sah alles aus wie im Bilderbuch vom Auflegen, auch dass der Müllstall so klein war, die Straße draußen so friedlich. Und Berlin sehr weit weg. Die Diskokugel ist golden verspiegelt.

Am nächsten Morgen dann für deren Verhältnisse früh am Café Laumer, wo eine Kellnerin an der Frühstückskarte herumwischte, die dort vor dem Haus auf dem Trottoir aufgestellt zu stehen hat. Die drei Frühstücksvarianten sind mit den Nachnamen der Philosophen Adorno, Horkheimer und Habermas gekennzeichnet wie andernorts mit Städtenamen (Paris=Croissant). Mich hatte schon bei unserem letzten Besuch dort gewundert, dass unter den Namen von Adorno und Horkheimer in Klammern die Zusammensetzung des jeweiligen Frühstücks angeschrieben stand, unter dem Frühstück namens »Habermas« aber stand nichts. Jetzt hatte dort wohl einer mit fragwürdigem Humor in Klammern HASENSCHARTE drunterkommentiert, wo bei Adorno (Lachs, Rührei) und bei Horkheimer (Bauernfrühstück mit Gurke) seit eh und je stand.

Müsste man freilich diskutieren, schlugen wir vor. Beziehungsweise: könnte man das, ob es dem Stile Max Horkheimers tatsächlich gerecht wird, ihn mit dem Bauernfrühstück symbolisch quasi gleichzusetzen, wohingegen dann der feine, weltläufige Herr Adorno durch die erwiesenermaßen kanonisierte Exquisitkombi Ei mit Lachs ins Gedächtnis der Cafébesucher eingehen darf.

Die Kellnerin wägte ab, blieb aber dabei, dass die Hasenschartenschmiererei nicht ginge und von der Frühstückskarte getilgt werden muss. Da stimmten wir ganz selbstredend zu. Im Übrigen, dies nur als Hinweis beziehungsweise Anreiz für die Betreiber, sich das mit Horkheimers Bauernfrühstück doch noch einmal im Guten zu überlegen: der, also Max Horkheimer war ja bereits von Eckhard Henscheid mit einem Anwurf bedacht worden. Bezeichnenderweise in den »Vollidioten«, wo er (Henscheid) ihn (Horkheimer) als greisen Münzspielautomatenjunkie in der Kneipe des Herrn Mentz auftreten lässt: »Herr Mentz behauptete nachdrücklich, dass der Alte nur deshalb immer so viel gewinne, weil er – ›und jetzt habe ich es selbst gesehen‹ – immer von oben durch einen Schlitz Bier in den Automaten schütte und so den Apparat vollkommen beherrsche – ›und ich, die Wirtschaft, muss jetzt einen Automaten kaufen!‹. ›Wer ist denn dieser Alte eigentlich?‹, fauchte der junge Herr Mentz nach einer kleinen Pause, während der er hektisch mit einem Lappen den Thekentisch rieb, als wollte er das unsittliche Verhalten des Alten gleichsam aus seinem Lokal fegen, – niemand kenne diesen Mann, niemand wisse seinen Namen, mit niemanden rede er an der Theke, immer nur spiele er am Automaten…

›Aber das sei doch‹, raunte Herr Domingo nun fast beschwörend, ›das sei doch der alte Max Horkheimer‹.

›Wer? Was? Hockenheim?‹, fragte der junge Herr Mentz scharf und ungnädig zurück.«

»Tja«, sagte die Kellnerin und hielt, den Blick auf ihre gesäuberte Tafel gerichtet, die Hände in die Hüften gestützt. Übrigens, das fiel mir ein: eine Körperhaltung, für die es im Englischen den wunderschönen und zugleich mysteriösen Ausdruck arms akimbo gibt. Möglicherweise bedingten sich wundersame Schönheit und Mysterium auch gegenseitig. Ziemlich wahrscheinlich war dem sogar wirklich so.