14.9.

In den vergangenen Tagen waren die beiden halben Stunden jeweils vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne mein Geschenk. Beschenkt wurde ich morgens von Stille, die um sechs Uhr noch beinahe absolut ist am See, bis auf vereinzeltes Knarren aus den Schnäbeln von Wasservögeln. Ein Rauschen geht durch das Laub an den Bäumen wie der Wellenschlag. Dazu der tröstliche Anblick des letzten Bildes von Heiner Geissler auf der Zeitung. Die Totenmaske des Bergsteigers im Alpenglühen. Kohls Gesicht: ein schmelzender Haufen von Deftigkeiten. Es gibt Menschen, die behaupten, in meinem Gesicht lesen zu können wie in einem Buch.

Von all meinen guten und schlechten Ideen war es die beste, aus dem Stadtkern hierher an den belebten Rand umzuziehen. Selbst nach einem verstörenden Traum reicht es aus, eine halbe Stunde lang auf das Wasser zu schauen, und ich finde mich wieder hergestellt. Das hält bis zum Abend, wenn es am Boden längst dunkel ist und sich am Himmel zwischen den schwarzen Wipfeln noch Reste von bunt gesäumten Wolken zeigen wie in den blauen Stoff gebrannt.

Vor dem kleinen Hotel gegenüber war gestern ein Trupp aufmarschiert, insgesamt keine zwanzig Menschen, vom Schüler bis zur stämmigen Greisin mit Kurzhaarfrisur, die demonstrierten gegen die allwöchentlich Versammlung der AfD-Ortsgruppe. Von den Polizisten waren sie angehalten, in einem Abstand von zwanzig Metern vor dem Hotelrestaurant zu verbleiben. Unter der großen Kastanie vor der Bäckerei entrollten sie ein Transparent, auf dem mit roter Farbe bespritzten Buchstaben geschrieben stand: »Euer Deutschland treiben wir ab«. Dazu wurden Fahnen der Linken Piraten, der Linken und der AntiFa geschwenkt. Ein junger Mann in einem Anzug aus fleischwurstfarbenem Plüsch, dessen Kapuze mit den Augen und dem Rüssel eines Schweinekopfes bestickt war, las eine Ansprache ab, die über Lautsprecher übertragen wurde. Zwei Männer dokumentierten den Aufmarsch mit den Kameras in ihren Telefonen. Einzelne Passagen der Rede wurden wiederholt, um aus anderen Perspektiven aufgenommen zu werden, dabei gruppierten sich auch die Protestanten mit den Fahnen um, sodass es auf den diversen Einstellungen stets so aussehen würde, als ob sich eine üppige Menge von Fahnenschwenkern spontan um den Redner im Plüschanzug geschart hätte. Für die komplette Studioproduktion vor Greenscreen fehlt der Widerstandsbewegung vermutlich das Geld.