15.1.

Es kann einfach nicht sein. Seit zwei Wochen bohrt mein Stockwerksnachbar Löcher in die Wand. Und zwar in die Wand zwischen dem Platz, an dem ich schreibe, und all dem, was auch immer sich auf seiner Seite befinden mag. Bildlich gesprochen: in meinen Hinterkopf. Hängt er dort Bilder auf? Ich glaube eher nicht. Ein paar Male habe ich ihn bereits vor dem Aufzug getroffen. Er sieht nicht danach aus. Er sieht nach Drogen aus. Besser gesagt, wie einer, der in den neunziger Jahren ganz gut vom Drogenverkauf gelebt hat und heute als Dealer die Rente genießt – mit seiner Schlagbohrmaschine und einer Eigentumswohnung im denkmalgeschützten Plattenbauviertel in Prenzlauer Berg. Hamburger Dialekt, er spricht so wie der Kiepenkerl (»Ohne Water geiht dat nich.«). Langes Haar – wenigstens hat er noch welches! – und reichlich Schmuck der Navajo um Handgelenke und Hals.

Bohrt er einen Tunnel? Ich könnte das verstehen.

Als Erik Niedling mich besuchte, brachte er eine Art von Kuchen, wollte mir aber schon gleich nach dem Reinkommen zu meiner bombastischen Aussicht seine Glückwünsche aufdrängen, doch ich sagte »Moment« und dann etwas leiser: »Komma bitte«. Am Himmel dort zeigten sich Wolken und wir beide erwarteten dann wohl bloß noch gelbe Buchstaben und dazu diesen Chor, der wie auf Autotune sänge THE SIMPSONS – aber stattdessen erhob halt der Fernsehturm sein grässlichliches Haupt. Erik machte mir pantomimisch vor, worum es in The Revenant geht, das dauerte noch nicht einmal eine Minute.

Bei der Muse ist besetzt, das machte den Tag nicht nur nicht besser, sondern sogar unerträglich. Was ich über die telepathische Standleitung mitkriege, macht mir einfach nur Angst. Ich stellte den scheußlichsten Song an, den ich kenne, Schwesta Schwesta von Schwesta Ewa, auf Dauer-Repeat und ganz laut. Der Nachbar würde gleich wieder bohren, ich verließ das Haus.

Und dort im Licht der Sonne, die endelijk, endelijk (ich kann ja jetzt Holländisch) wieder schien, endlich wieder ultraviolette Strahlen, also im Lichte dieser und unter deren Einfluss wurde mir nach wenigen Metern bereits der Fehler bewusst: Oh Mann, natürlich würdest du dich bei dieser Dauerbeschallung wie unter Folter winden – aber dein Nachbar doch nicht! Hättest du doch Radiohead angestellt! Am besten gleich Reckoner oder Harry Patch. Spectre – das ist ja nicht umsonst als Eröffnungsmelodie für den Film mit James Bond abgelehnt worden, obwohl du da bereits bei der Klaviermelodie schöne Bilder siehst. Du hast diese Theorie, dass sich die Gesamtheit aller Männer teilen lässt in diejenigen, die Radiohead lieben, und die anderen, die Radiohead nicht ertragen. Und dein Nachbar, das spürst du, hasst Radiohead.

In einem Laden namens Soul auf der Prenzlauer Allee kaufte ich mir eine teure Zahnbürste. Aber auch das, dieser Trostkauf, brachte nichts. Was, wenn die Muse mich nie wieder erhörte – ohne Fragezeichen. Was – da hatte Nick Cave ja vollkommen recht, wenn unsere Beziehung, die, wie er in seinem Brief an MTV geschrieben hatte: im besten Falle empfindsam war – oder ist – nun erkrankt war, über Nacht, durch meinem Kauf dieses Bildes einer anderen Frau? Was, wenn die Muse es nicht erträgt, dass der Blick dieser jungen Frau namens Candida Höfer auf mir ruht, gleich ob ich am Tisch sitze, im Bett liege oder etwas zubereite. Denn es gibt da diese Öffnung von ihrem Platz vor dem Fenster aus gesehen, der lässt ihren Blick auch noch bis in die Küche hinein. Das würde ich ja sehr gern und umgehend mit der Muse besprechen. Ich wäre auch bereit, extreme Maßnahmen zu ergreifen, sogar solche, die ich mir momentan noch gar nicht vorstellen kann. Was ich weiß, ist, dass es kein Schreiben ohne die Muse gibt. Allenfalls ein Pat Hackett-haftes. Dann stünde hier: Zahnbürste, 6 Euro 40.