15.1.

»Am nächsten Tag setzten wir die Graupen auf, kochten sie mit Salz und gossen sie ab. Meri verrührte in einem zweiten Topf drei Becher Matsun und drei Becher Schmand«, las ich in einem Manuskript über sein Jahr in Armenien, das Marc Degens mir mitgegeben hatte. Fügte sich wärmend in unsere Situation in dem Haus am zugefrorenen See, das, je länger wir dort blieben, desto wahrscheinlicher war zumindest mir das erschienen, um die Klappe im Küchenfußboden, beziehungsweise den darunter verborgenen Vorratskeller, herum gedacht worden war.

Zehn Stunden geschlafen, ohne sich am Morgen danach auch noch krank zu fühlen – entweder lag das in der Landluft begründet, vielleicht auch waren dem Ofen die Nacht über einschläfernde Gase entwichen. Jedenfalls fühlten wir uns stark. Ein Spaziergang über den knirschend gefrorenen Schnee führte am Ufer entlang und später dort eine Treppe empor auf den Wall, hinter dem ein Supermarkt wartete. Die freundliche Verkäuferin packte uns von ihren Kümmelknackern in eine Tüte, die mit nackten Schweinchen bedruckt war. Die veranstalteten übermütig Purzelbäume und, wie auf wundersame Weise, verletzten sie sich dabei nicht mit den Messern und Gabeln, die sie in ihren Fäusten hielten. Kein Tropfen Comic-Blut war auf die ihnen umgebundenen Servietten gespritzt. Am Tresen stand auch ein Freak an, größer noch als Erik, dazu mit Schultern in etwa doppelt so breit. Dem ringelte sich ein dünner Pferdeschwanz aus ergrautem Menschenhaar unter seiner Mütze aus vanillefarbenem Pelz in den Nacken. Seinen Körper hatte er in das Twin-Set eines weißen Daunenanzuges verpackt, das kreuz und quer mit stilisierten Birkenstämmen bedruckt war, hinter denen sich schematisch dargestellt, die Schatten von Tieren zu verbergen suchten. In den Wäldern ringsum gab es nirgendwo Birken.

Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren wir zurück in die Stadt. Erik verschwand zwischen den staksenden Menschen im Eingangsbereich des Hauptbahnhofs, mich entließ Heiko am Haus der Berliner Festspiele aus dem Baustellenfahrzeug. Es gab, das war seit Tagen so abgemacht, ein Tanztheater von Alain Platel. Es war noch über eine halbe Stunde hin bis zum Einlass und trotzdem scharten sie sich und strömten. Hier gibt es ein Publikum zu sehen, wie sonst nirgendwo in der Stadt. Auch modisch. Insbesondere modisch. Und das an beiderlei Geschlecht. Hier wird noch Issey Miyake getragen. Und Broschen. Lange Mäntel aus, wie es heißt: fließenden Materialien. Das Stück war ausverkauft.

Das Bühnenbild lässt einiges ahnen. Berlinde de Bruyckere zeigt einen zerschlissenen Fries aus Rupfen. Davor liegen zwei ausgestopfte Pferde aufeinandergestapelt. Ein Flaschenzug, der bis in den Schnürboden reicht, kündigt ein drittes an. Die Tänzer, es sind neun, fangen nach dem kurzen Solo damit an, sich gegenseitig die Nafri-Looks vom Leib zu reißen. Damit sind die acht Männer eine ganze Weile in wechselnden Konstellationen beschäftigt. Vorgeführt werden Beweglichkeit und Stück für Stück nun auch die blanken Instrumente selbst, in Gestalt der sehnigen Körper. Die einzige Tänzerin ist von ihrem Typ »herb« her leider nicht so ausgesucht, das man sich auf das Kommende freut. »Uraufführung 1. September 2016, Jahrhunderthalle, Ruhrtriennale, Dauer 1 Stunde 40 min ohne Pause«. Der Regisseur hat eine hohe Wette laufen mit seinem Publikum, das Stück heißt Nicht Schlafen. Die Musik von Gustav Mahler ist freilich schön.

Der Applaus nimmt kein Ende. Die Frau neben mir macht einen schallenden Indianderruf, den sie mit ihrer vor den Lippen vor und zurück oszillierenden flachen Hand erzeugt. Jan weist mich völlig zu recht darauf hin, dass der Berliner Applaus gemeinhin mit »herzlich, aber kurz« charakterisiert wird. Das dritte Pferd war tatsächlich aus der Versenkung gehievt worden (mit dem Flaschenzug).

Auf dem Weg zur Bahn machten wir bei Herrn Arzou Station. Er betreibt sein Restaurant schon mindestens seit den Siebzigerjahren. Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein älterer Herr. Damals noch einer zum Fürchten. Man konnte nicht einfach in sein Restaurant kommen, man musste vorher reservieren. Wer reserviert hatte, hatte unbedingt pünktlich zu kommen. Ansonsten passierte es, dass man von Herrn Arzou wieder nach Hause geschickt wurde. Oder anderswohin. Jedenfalls weg. Mittlerweile ist er milde geworden. Aber in den Details unerbittlich. Die Speisekarte wurde seit den Siebzigerjahren nicht mehr verändert. Wozu auch? Es gibt dazu tatsächlich keinen einzigen Grund. In dem Manuskript beschreibt Marc Degens einen Aufenthalt in den verschneiten Bergen Armeniens, wo ihm ein Bergbewohner seinen ausgedienten Kleiderschrank vorführt, in dem sich stapelweise die armenischen Fladenbrote mit Namen Lawasch türmen. Ein menschliches Eichhörnchen. Dieses Dauerbrot schmeckt frisch vom Grill ausgezeichnet. Vor allem, wenn man darin den Hackspieß Lule einwickelt, gemeinsam (nicht zusammen) mit Streifen roter Zwiebeln und ein paar Blättern Minzbasilikum. Dann kam das Kalbfleisch, das bei Herrn Arzou ein unvergleichliches Aroma hat – von seiner Zartheit nie zu schweigen. Ich glaube ja, dass er beides, Textur und Aroma, unerreicht dadurch erzeugt, in dem er die Kalbsfilets in Milch mariniert, tagelang. Da ist eine fadenhaft zarte Spur eines Aromas von gegrillter Milch an und hinter den Stücken. Gefragt habe ich Herrn Arzou aber noch nie.

In der Bahn sind nach ein Uhr nachts noch hundert Menschen stadtauswärts unterwegs. Telefongespräche, Paare, einzelne Männer. Ich bin einer von ihnen. In Blässhuhnhausen ist alles beim Alten. Hier muss ich nie weg, um bei der Heimkehr die Schönheit von neuem zu finden.

Wind weht, Mensch geht. Bett steht.