15.12.2019

Inzwischen hatte man mich an den Niederrhein gebracht. Wie einen Brief. In der Nacht riss der Sturm von allen drei Seiten her am Haus, wo mir, zwischen den Dachschrägen, dort unter einem Fenster eine Ruhestätte bereitet ward. Beim milden Licht einer Lampe schmökerte ich noch in dem dicken Band «Lexikon des geheimen Wissens», das mir von früheren Besuchen in Allerheiligen vertraut war. Ein anderer Wälzer, mit Propagandafotos aus dem Zweiten Weltkrieg auf über 600 Seiten, der unter anderem die Kapitel «Frauen als Kriegsteilnehmer» und «Das Tier als Kriegskamerad» zu enthalten versprach (beide allerdings dünn), lag bereit. Snacken konnte ich so gut wie nichts; es wirkte doch das Antibiotikum. 

Später wurde ich vom derbe platternden Regen geweckt. Erst im Morgengrauen gab der Ruhe, woraufhin die Krähen übernahmen. Die meldeten krächzend die Positionen der Regenwurmnester im aufgeweichten Ackerboden. Ich konnte es sehen, wie sie sich mit ihren eloxierten Schnäbeln darüber hermachten. Musste wie Spaghettiessen für sie sein. 

Am Abend zeigte Friederikes Mutter uns ihre Lieblingssendung auf Youtube: Sie zeigt das Leben einer schönen Chinesin, die in einem der Welt abgewandten Tal in China lebt, umgeben von einer herrlich in blaugrün strahlenden Natur. Die Chinesin hat sehr lange, seidig glänzende blauschwarze Haare, die sie zu einem minimalistischen Zopf geflochten trägt. Ihre dunkelblauen Kleidungsstücke fügen sich in das angenehme Gesamtbild, sie scheint ein Teil der sie umgebenden Idylle. Friederikes Mutter sagt, dass sie an dieser Sendung vor allem schätzt, dass die Chinesin mit so wenig auskommt. Dass sie mit nur wenig Gerätschaften und halt sehr viel überliefertem Wissen aus den Gaben der Natur sämtliche Reichtümer zu schöpfen versteht.

Die Handlung dieser Sendungen besteht nämlich stets darin, dass die Chinesin aus ihrer ganz in Schiefertönen gehaltenen Hütte in die tropfnasse Welt aus Grüntönen aufbricht, um dort mithilfe einer bei Axel Vervoort in Belgien ersteigerten Asia-Antiquität eine in unseren Augen exotische Pflanze zu ernten, in einem ebenfalls dekorativen Flechtkorb nach Hause zu tragen, um diese Pflanze dann, nachdem sie sie an ihrem aus einem Bambusrohr bestehenden Wasserhahn von den Anhaftungen von Erde und Staub gereinigt hat, vom Strunk bis zur Blüte auf anmutigste Weise zu zerhacken. Lediglich unter Zuhilfenahme von offenem Feuer, einem handgeflochtenen Sieb und einem vermutlich ebenfalls on Vervoort gelieferten Extremwok von circa zweieinhalb Metern Durchmesser, der aber durch die intensive Nutzung während der vergangenen zwölf Dynastien mit einer ans Vantablack grenzenden Patina veredelt wurde, stellt die schöne Chinesin dann eine Mal ums Mal aufs Neue verblüffende Vielzahl von Gerichten her, die sie zum Abschluss jeder Folge gemeinsam mit ihrer vermutlich um die einhundert Jahre alten Mutter in einer Geisblattlaube bei Mondenschein mit Stäbchen mundet.

Das Ganze ist mit einer wunderbar entspannenden Musik untermalt. Dass ziellos asiatische Geklimper war jedenfalls genau das richtige für mich in meiner Rekonvaleszenz. Auch wird man durch das Betrachten der Essensvorbereitungen freilich selbst sehr hungrig gemacht. Und während in der Küche nebenan also ein Abendbrot Gestalt annehmen sollte, schaute ich noch in meine Lieblingssendung, den Weltspiegel. Dort wurde ebenfalls aus China berichtet. Angeblich wird dort nämlich die Armut jetzt offiziell abgeschafft. Gezeigt wurden Menschen, die man aus den weltabgewandten Tälern und Schründen des chinesischen Reiches heraus in komplett neue und eigens zu diesem Zwecke errichtete Städte aus Plattenbauten verfrachtete, wo sie ein neues, ein nicht länger hinterwäldlerisches und von daher auch armes, Leben zu leben hatten fortan. Nur einmal noch, die Kamera des Weltspiegel war dabei, durften sie zurück in ihr altes Dorf. Wobei: Die Hütten, in denen sie aufgewachsen waren, hatte der chinesische Staat inzwischen zerstören lassen. Sicherheitshalber. Da standen nun also die künftig offiziell nicht mehr armen Chinesen in einer an saftigen Grüntönen reichen Natur und schauten mit betretenen Gesichtern auf die Trümmer ihrer Herkunft. Später sah man sie dann wieder in der neuen Wohnung im Plattenbau. An der Wand hing ein ziemlich billig aussehendes Zertifikat in rot auf gelb. Der Sprecher erklärte, dort stünde, diese Familie sei von nun an offiziell nicht mehr arm.

Eine Politik also, die durchaus die Seinsfrage stellt.