1.5.2019

Unverhofft schäumender Nachmittag in der Kronenhalle. Wir hatten ein paar Leute eingeladen, die sich, im Geiste Niklas Luhmanns einfach mal natürlich geben sollten. Luhmann selbst, damals im Gespräch mit Alexander Kluge: «Es gibt ja nichts Schlimmeres, was sie zu ihrer Frau sagen könnten als ˋSei doch mal natürlich.´»

Aber dann mit dem Essen und mit dem Wein. Bedingt durch den Auftrieb zum Internationalen Tag der Arbeit war es freilich nicht ganz einfach, in die Rämistrasse durchzustossen. Auf der Brücke über die Limmat hatten sich die Mitarbeiter der Kantonspolizei in Battle gear an beiden Flanken ihres Mineralwasserwerfers postiert, um die linksradikalen Demonstranten vor dem Beschreiten der Innenstadt abzuwehren. Immer wenn eine Tram nahte, musste dieser mit Gummigeschossen bewehrte Trupp die eigens aufgebauten mobilen Zäune beiseite räumen, um die pünktliche Durchfahrt garantieren zu können.

Innen, man bekommt wegen der in St. Gallen geklöppelten Vorhänge von dem Geschehen auf der Rämistrasse so gut wie überhaupt nichts mit, wurde im Voiture heute Bollito Misto serviert. Jemand machte mich aufmerksam auf die an einem langen Tisch präsidierende Susi Wyss, deren Lebenserinnerungen, streng limitiert bei Patrick Frey erschienen, ich in den Tagen zuvor inhaliert hatte. Das Buch hat 800 Seiten, aber gedruckt in einem Satzspiegel wie bei Henry Miller. Es dürfte sich also um 1200 Normseiten handeln, auf denen sie circa 350 Bettgeschichten mit weit mehr als 350 Männern erinnert. Ein hochinteressantes Dokument eines Schweizer Frauenlebens von den späten dreissiger Jahren bis ans Ende der Siebziger. Ich erwies ihr meine Hochachtung (sie ist ja mittlerweile 80 Jahre alt). Da plumpste schon die festlich geschmückte Diane Brill neben ihr auf die grünlederne Bank und kommandierte: «Susi, tits out!» Woraufhin diese nicht lange Zeit verstreichen liess und es damit tatsächlich geschah. Mitten in der Kronenhalle. Am Internationalen Tag der Arbeit. In Zürich. 

Auf Zwinglis Grossmünster waren auf beiden Türmen die Flaggen gehisst: rechts die Schweizerische, links die von Zürich. Ich kann noch immer nicht sagen, welche mir die Schönere ist.