16.1.

Vor 16  Jahren stand ich im Foyer des Jungen Theaters Göttingen vor der Schwarz-Weiß-Kopie einer Seite aus den Göttinger Nachrichten, abgebildet war Moritz von Uslar. Jung, cool, dünn, in einem T-Shirt mit Aufdruck: I ❤ NY. Darunter ein Zitat aus dem Interview: »Mach einen schicken Satz aus deiner Not!«.

Aber das stimmt so nicht. Jedenfalls nicht exakt, denn in Wahrheit stand ich gar nicht vor dieser Fotokopie, sondern ich flog an ihr vorbei wie ein Blitz, der wieder fort ist, sobald du sagst: »Es blitzt.« Ich flog in Moritzens Richtung, um daraufhin mit ihm zu Boden zu gehen (sic). Weil Dennis Kaun da gerade die Single – also 7 Zoll Vinyl – von Smells Like Teen Spirit abspielte und die Erschütterungen von der Tanzfläche her derart heavy waren, dass Oskar Melzer den Technics 1200 MK II frei schwebend über der Konsole halten musste. Das war ein Ritual, das in Oskars Club Pogo im Keller der Kunstwerke entstanden war, wo es ansonsten nichts gab, außer drei Kühlschränken und einem Hammersoundsystem – und Schweiß an den Wänden und Blut auf der Tanzfläche. Einmal war dort auch Thomas Meinecke zu Gast, jedoch kam es in dieser Nacht nicht zum Meinecke-Strudel.

Der Satz aber stimmt so. Und in den, seit dieser Göttinger Nacht, vergangenen Jahren habe ich noch ganz schön viele mehr solcher schicken Sätze gemacht. Wenn alles gut läuft, werden es noch viele mehr. Dies alles fiel mir blitzhaft ein, als ich vor der Tür des Schädels Stefan Rudolf traf, denn wir waren ein paar Sekunden zu früh dran und das Café war noch geschlossen. Es war Stefans Geburtstag und wir stellten gemeinsam fest, dass wir uns bereits 16 Jahre kennen. Stefan hat damals, in Göttingen, eine der Hauptrollen in Moritzens Stück verkörpert. Das hieß Freunde und dessen Text kenne ich teilweise auswendig, so oft habe ich es gesehen.

Stefan nahm wie an jedem Morgen die taz, ich die Frankfurter Allgemeine und Andreas die Süddeutsche Zeitung. Dann kam der Typ, der von Andreas und mir immer die Sportteile bekommt, weil wir für die kein Interesse hegen, obwohl Andreas ja Golf spielt.

Stefan hat, wie viele aus dem Osten, die ich kennengelernt habe, ein mehr als unverkrampftes Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Die Sozialisation in der DDR und durch Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, bringt, wie es mir scheint, eine ungewöhnliche Offenheit mit sich, und ich weiß dann immer gar nicht, ob sich Toleranz nicht auch mit mangelndem Respekt verwechseln ließe. Stefan jedenfalls erzählte mir, dass er sich hatte beurlauben lassen, als ihm damals vor 16 Jahren der Intendant erzählte, dass ich Tristesse Royale inszenieren würde. Stattdessen spielte dann Alexander Klages den Duke of Earl. Das wurde zur sprichwörtlich schweren Geburt, weil sich Klages kaum Text merken konnte. Tristesse Royale aber ist eine, wie es unter Schauspielern heißt: Textfläche. Und der Rest des Dramas steht eh bei Botho Strauß im Jungen Mann.

Werner Feig, der damals Intendant in Göttingen war, lebt heut wohl wieder in Freiburg bei seiner Mutter und handelt im Internet mit gebrauchten Armbanduhren. Nicht nur Alexander Klages, Sohn einer Dynastie von Schweinezüchtern, sondern auch ich hatten in die Produktionen des Jungen Theaters Tausende von D-Mark gesteckt, weil der Intendant nicht nur privat unheilbar pleite war, sondern aus diesem Grund auch den Etat ausgehölt hatte. Es gibt aber Polaroids, die irgendwo – vermutlich in einem Karton, der auch das Geheime Wissen der Frauen birgt – ruhen, und sie beweisen, dass ich damals so glücklich wie sonst kaum noch war. Und das in Göttingen!!!

Mit Andreas sprach ich dann noch über sein verändertes Zeitgefühl. Er findet, dass die Zeit mit seinem zunehmenden Alter immer schneller und schneller vergeht. Mir geht es da umgekehrt. Ich weiß kaum noch etwas aus diesen Jahren zwischen 25 und 30, und mittlerweile werden meine Tage nur noch länger und länger, und manchmal, manchmal auch oft, verspüre ich Ungeduld angesichts einer gewissen Spanne. Aber wenn ich es dann im Kalender nachgucke, führt dieser mir vor Augen, dass es gerade mal fünfeinhalb Monate waren, die ich eben noch als Ewigkeit empfunden hatte – und die aber trotzdem, in meiner Wahrheit, für immer und drei Tage eine Ewigkeit bleiben werden.

Und dann wiederum gibt es diesen Abstand, der wahrlich nur blitzartig ist und der diesen Schmerz, den ich fühle, leider lebendig hält. Denn wenn ich es damals nur gewusst hätte, dass ich Christian Kracht niemals würde wiedersehen, dass er noch nicht einmal meine E-Mails würde beantworten wollen; dass Jochen Distelmeyer mich nicht mehr grüßte, Maxim Biller mich hasste; dass Oskar mit meiner damaligen Ehefrau schlafen würde, und dass ich Moritz tatsächlich so tödlich beleidigen könnte, dass dies sogenannte Band unserer Freundschaft auf ewig zerschnitten sei; dass Ulf Poschardt sich zu einem Zyniker würde entwickeln, dass Rebecca Casati, dass letzten Endes auch ich – ach, egal. Aber eben doch nicht! Denn ich wäre dann damals, nicht nur zur Abwechslung, sondern einfach nicht nach Göttingen gefahren. Ich wäre schön zu Hause geblieben, so wie jetzt gern und vor allem auch: immer. Aber das Treibende an der Jugend scheint mir die Unvernunft – und dann dieses Gefühl der Unsterblichkeit.