16.11.

Nochmals mit dem Feinstaubticket nach Stuttgart. Meine Eltern luden mich ein, mit ihnen die Ausstellung Mythos Schwaben anzuschauen, die im Landesmuseum gezeigt wird. Doch vorher machten wir einen Baustellenrundgang, damit ich mir vom ganzen Ausmaß der Bahnhofsgrube ein Bild machen konnte. Das war von einem überdachten Steg aus bequem möglich. Die Baustelle war zwar groß, aber nicht so groß, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber ich musste mir jeglichen Kommentar verkneifen, weil ich ahnte, dass es ansonsten zu einer wütenden Reaktion ob meines mangelnden Mitgefühls gekommen wäre. Recht winzig kam mir auf einmal das Planetarium vor, das von der dann doch nicht ganz so kleinen Baugrube an den Rand des Geschehens gedrängt worden war. Dort hatte ich in meiner Jugend so manchen völlig unverdaulichen Avantgardefilm geschaut. Das Werk von Herschell Gordon Lewis zum Beispiel. Oder Pink Flamingo. Und Chelsea Girls von Andy Warhol. Aber damit durfte ich meinen Eltern nicht kommen. Das Planetarium war eine Steilvorlage für einen schlimmen Ausbruch von Stuttgart-21-Wut, die beide nur dem Anschein nach unter dem Deckel zu halten fertig brachten. Dafür wies ich, kanalisierenderweise ehrlich erschrocken, darauf hin, dass der Mercedesstern auf dem Turm des ehemaligen (und noch) Hauptbahnhofsgebäudes schief herunterhing, anstatt aufrecht dazustehen wie auch auf dem Europacenter in Berlin – was da wohl los sei?

Mein Vater, vergleichsweise desinteressiert: Da werden wahrscheinlich Wartungsarbeiten durchgeführt. Wir überquerten da gerade auf einer nahtlos an den überdachten Steg anschließenden Spannbetonbrücke eine dicht befahrene Schnellstraße, um in den Schloßpark überzusetzen. Rechts lag im Frühnebel das Hotel am Schloßpark, dessen Restaurant noch heute von einer eher beiläufig gemachten Bemerkung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, einem Pfälzer, zehrt, der den dort im Hotel am Schloßgarten ihm servierten Apfelstrudel als besser beurteilt hatte als den in Wien. Das war nun auch schon wieder 30 Jahre her. Zu unserer Rechten lag der wie unschön zusammengewürfelte Gebäudekomplex von Staatstheater und Oper. Meine Mutter hatte in der Frühe aus der Zeitung vorlesend verkündet, dass der Intendant des Staatstheaters, Armin Petras, nun endlich das Handtuch schmisse. Ich hatte daraufhin gefragt, was es ihrer Meinung nach denn gegen Armin Petras zu haben gäbe. Um Streit zu vermeiden, sagten wir daher beim Passieren des Theaterkomplexes alle drei kein Wort.

Am Württembergischen Kunstverein betrachteten wir lange und einträchtig die schöne Gedenkskulptur von Olaf Metzel, die dort noch immer unbeschädigt an ihrem wie für sie gemachten Platz aufgestellt stand. Ich fragte, ob wir eventuell mit der Seilbahn zum Waldfriedhof hinauffahren könnten, weil ich noch die Gräber von Gudrun Ensslin und Andreas Baader zu besuchen vorgehabt hatte. Mein Vater wollte es auf das Wetter ankommen lassen. Ich schaute mir die Figur eines goldenen Hirschen an, die auf der grünen Kuppel des Kunstvereinsgebäudes aufgepflanzt stand wie eh und je. Sie kam mir vor wie ein starker Wehmutssender. Was hatte ich hier nicht alles erlebt, im Schatten dieses goldenen Hirschen sozusagen (genau benennen konnte ich die einzelnen Erlebnisse zwar nicht, aber in ihrer Gesamtheit erschienen sie mir halt in einem Licht, gefärbt vom Abglanz dieser Hirschfigur dort droben), und ich seufzte. Was ich eigentlich so gut wie nie mache.

Ein langes Auto von Mercedes in einem trüben Grün rollte über die sich selbst versenkenden Poller von der Karlsplatzseite her auf uns zu, um in einem gemächlichen Schwenk auf das gesperrte Areal vor dem Neuen Schloß, vis-a-vis des Königsbaus, einzufahren. »Da sitzt der Kretschmann drin«, sagte meine Mutter. Mein Vater nickte (ob stolz auf die Sachkenntnis seiner Frau oder auf den Autogeschmack seines Landesvaters kam nicht klar heraus). Meine Mutter merkte noch an, dass es sich bei diesem Mercedes um ein Modell aus der Elektroflotte des Konzerns handelte. Die Behauptung meiner Mutter, Winfried Kretschmann habe die Ernennung zum Bundespräsidenten auf Anraten seiner Frau hin abgelehnt, da diese nämlich eine grundsolide und auf dem Boden verbliebene Frau sei, ließ ich unkommentiert und konzentrierte mich auf die Wahrnehmung des in spitzenmäßiger Qualität renovierten Innenhofes des Landesmuseums, einem Höhepunkt der Renaissancearchitektur in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Wie poliert stand dort etwas versetzt von der geometrisch zu ermittelnden Mitte des Platzes das Reiterstandbild Eberhards im Barte, der ja bekanntlich über die Schwaben nur Gutes zu berichten hatte und noch heute von seinen Lieblingsuntertanen mit den Worten hochgehalten wird, die hervorragendste Tugend der Schwaben sei die Treue – er habe nirgendwo in diesem schönen Land auch nur einen von ihnen finden können, dem er nicht seinen Kopf in den Schoß hatte legen wollen. Da kann man nur nicken und stolz sein. Als Schwabe. Es geht einfach nicht anders. Oder wie es am Schluss der wirklich hervorragend kuratierten Ausstellung hieß:

WER SICH DEN SCHWABEN ZUGEHÖRIG FÜHLT, IST SCHWABE

Ergreifend. Also echt.