16.2.

Eine Zeit meines Lebens konnte ich links und rechts nicht auseinanderhalten. Das ging so weit, dass mein Fahrlehrer auf seiner Seite einen Schraubenzieher von der Klinge bis zur Manschette des Griffs im Lüftungsgitter (das in der Fachsprache Mannanströmer heißt) versenken musste und mich von da an mit den Richtungsangaben »Schraubenzieher«, beziehungsweise »nicht Schraubenzieher« durch die Altstadt von Vaihingen an der Enz dirigierte. In Deutschland war es damals angeblich illegal, einen Führerschein für jemanden auszustellen, der nicht genau wusste, wo links war und wo rechts. Also strengte ich mich an, das Schraubenziehersystem dort zu verinnerlichen, wo vorher schon kein Platz für das Rechts-links-System gewesen war. Oder keine Struktur dafür bereit stand, so etwas aufzunehmen.

Bis ich meinen Führerschein dann endlich ausgehändigt bekam, fiel ich zweimal durch die theoretische Prüfung. Und im Praktischen lief es nicht besser. Wo rechts war und wo links, konnte ich, insbesondere in Stresssituationen, noch immer nicht zuverlässig sagen. Von daher bitte ich, wenn möglich, auch im Nachhinein all die vielen Menschen um Verzeihung, die ich über viele Jahre lang irgendwohin geschickt haben werde, ganz sicher aber sehr oft nicht dahin, wohin sie ursprünglich gewollt hatten; ursprünglich, also bevor sie mich trafen, der ihnen so angeblich hilfreiche, dabei leider komplett verkehrte Wegbeschreibungen geliefert hatte. Zu einem milden Urteil sollte bitte beitragen, dass ich selbst bis heute wirklich und wahrhaftig davon überzeugt bin, von rechts zu sprechen, wenn ich nach links deute (und umgekehrt). In Frankreich ist es ja noch schlimmer, weil da ganz rechts geradeaus bedeutet, ganz links aber nicht etwa rückwärts, sondern ganz links – und obendrein kommt es mir jetzt gerade so vor, als hätte ich dort dieses Problem gar nicht gehabt. In Äthiopien heißt kanye rechts. Links habe ich vergessen. Aber was heißt das für Kanye West?

Beinahe drastischer noch als beim Autofahren macht sich meine Schwäche vor Wasserhähnen und generell beim Schrauben bemerkbar. Will ich einen Hahn öffnen, muss ich zuvor erst vor meinen Augen eine geheime Merkbewegung pantomimisch ausführen, um mir die korrekte Drehrichtung »linksherum« fürs Öffnen der Hähne ins Gedächtnis zu rufen. Selbes gilt fürs Zudrehen. Ich habe es vergessen, aber es ist entweder Italien oder England, wo die Hähne genau andersherum gedreht werden müssen. Ich tippe mal auf England. Schränke oder andere Möbelstücke schnell und somit elegant zusammenschrauben kann ich gar nicht. Das können viele nicht, aber bei mir wirkt es extrem unbeholfen. Auseinanderschrauben geht exakt genauso schlecht. Das ist besonders unangenehm, wenn man, wie ich, als ein Betroffener dieser Schwäche zugleich liebend gerne umzieht. Mein life hack besteht von daher in einem totalen Möbelverzicht. Waschen tue ich mich aber schon.

Als ich in solcherlei Gedanken verstrickt die Winsstraße entlangging, entdeckte ich direkt vor mir eine kleine Baustelle. Ich blieb sofort stehen. In Cagnes mussten sie derzeit mit einer einzigen Baustelle auf zwanzigtausend Einwohner auskommen. Hier in Berlin ist das Verhältnis glücklicherweise noch in Ordnung, das bedeutet: umgekehrt. Was nun auf dieser Baustelle gebaut werden sollte, erschloss sich meinem nicht gänzlich unkundigen Auge zwar nicht vollends, jedoch würde es etwas Feuchtes werden, da der entfernt aufgebaute Kollege einen der formschönen Hydrantendeckel aus dem denkmalgeschützten Belag des Trottoirs gehoben hatte. Man erkennt diese im Ostteil der Stadt noch zahlreich vorhandenen Hydrantenabdeckungen an ihrer ungewöhnlichen rechteckigen Form, dazu noch an dem in den Zement des Deckels eingeprägten Buchstaben F. Ein hansaplastfarbener Schlauch entrollte sich bereits vom unterirdisch angeflanschten Hydranten bis zu den beiden Kollegen in den Wasserhosen, in deren Nähe und Obhut ich nun stand. Schon begann der Schlauch sich aufzublähen, bald ergoss sich ein Schwall nicht gerade klaren, dafür kalten Wassers um uns herum. Der eine der beiden Wasserhosenträger versuchte daraufhin, den Kopf des sich hin- und herwerfenden Schlauchendes zu fassen zu bekommen, der andere schrie zum Kollegen am Hydranten hinüber: »Ist gut jetzt. Mach zu.« Dieser winkte freundlich, und hantierte. Statt nachzulassen aber bäumte sich der Schlauch in den Händen des Vorarbeiters nur noch ungestümer auf und ließ nun eine veritable Fontäne emporsteigen, woraufhin alle im Umkreis von vier Metern total durchnässt wurden. Das geschah binnen Sekunden.

»Zu!!!«, schrie der andere in Richtung des Wasserverfügers. Der winkte tatkräftig und etwas knapp, und versuchte da auch etwas, aber es kam mir bekannt vor: wohl in die falsche Richtung. Jedenfalls entschlang sich das speiende Rohr den Bauarbeiterhänden, die es nicht mehr zu bändigen vermochten. Sein Wasser überall im Halbkreis verteilend, schließlich sich versteifend und gegen die Flanke eines Mercedes-Benz schmetternd, befreite sich der Schlauch. Es brauchte die Hilfe des Vorarbeiters, um den Hydranten zu schließen. Eine beeindruckend schäumende braune Welle schwappte im Rinnstein der Winsstraße hin und her. Sah aus wie nachmittags in Mexiko, während der Regenzeit. Um dem Freund das Gesicht zu retten, lachte ich laut. Sich gegenseitig abtrocknend stimmten die Bauarbeiter mit ein. Zum Glück war der Schulunterricht noch nicht beendet, dachte ich. So, und nur deshalb, wurde niemand verletzt.

Da klingelte mein Telefon.

– Hallo, sagte die Muse.

– Hey!, sagte ich.

– Hey, was machts du?

– Das willst du nicht wissen.

– Doch, sagte die Muse, das will ich sogar sehr genau wissen. Speziell von dir. Also?

– Hast du das von den Hummern gelesen, fragte ich.

– Nein, habe ich nicht, sagte die Muse. Was steht denn da?

– Na ja, ich konnte es selbst kaum glauben, aber die Autorin ist eine Koryphäe, ich habe es recherchiert. Sie hat Ahnung von Hummern und nicht nur von denen.

– Aha. Und was steht da?

– Es ist wohl so, dass Hummer sich nur dann fortpflanzen können, wenn das Weibchen sich gerade geschält hat. Also den Panzer am Schwanz abgeworfen. Sie ist dann besonders verwundbar. Und ausgerechnet dann wird das Männchen besonders aggressiv.

– Ah, interessant! Warum ist das eigentlich so, dass die Männchen dann ausgerechnet so außerordentlich aggressiv werden? Gerade dann, wenn ihre Weibchen so besonders verwundbar sind.

– Ja, schlimm. Man weiß es aber nicht. Das ist ein Bereich, der noch nicht genügend erforscht wurde – also der Hormonkreislauf der Hummer. Bei Hummern geht es vielleicht speziell um der Frisson, dass er mit diesen Brutaloscheren und voll auf Aggressionshormonen sie jederzeit in den weich und bloß dargebotenen Schwanz schneiden könnte; wahrscheinlich wird diese Angslust von den Hummern beiderseits empfunden und ist sozusagen deren Hummergeil.

– Tut er das denn? Ich meine: Schneidet er dem Weibchen in den ungeschützten Schwanz?

– Dazu kommt es nicht. Du musst wissen, dass sich bei den Hummern der Ausgang für die Harnröhre unterhalb der Augen befindet.

– Ah, okay.

– Sie stellt sich ihm also entgegen und spritzt ihn mit gewissen Mengen ihres Urins an. Die fächelt er sich ein und merkt sich das Aroma. Das Ganze findet ja unter Wasser statt, das darfst du nicht vergessen.

– Ne, klar. Klingt aber gut!

– Das geht über einige Tage so: Sie taucht vor seiner Höhle auf, er droht ihr mit den Scheren, fuchtelt, sie sprüht ihn an – ich stelle mir das wie bei diesen Düsen an den Scheibenwischern vor, wenn es dann so geil nach Spiritus riecht auf der Autobahn.

– Ich bediene die auch sehr gerne.

– Viel und heftig! Okay, aber irgendwann ist es dann bei den Hummern so, dass er ihrem Duft verfallen ist. Dann lädt er sie ein, in seine Höhle zu kommen.

– Das ist doch nicht wahr!

– Ich sagte dir doch: Marah J. Hardt ist eine Koryphäe, was Sex unter Meeresbewohnern betrifft. Ich habe sofort Uslar & Rai angeschrieben und Katharina schrieb zurück: Sex in the Sea kommt bei St. Martin’s Press Mitte März. Sie hat es mir bestellt!

– Ich verlange jetzt schon, dass du es mir in Gänze vorliest!!! Meanwhile – was geschieht in der Höhle?

– Er winkt sie herein mit seinen Scheren, sie parkt sozusagen rückwärts ein, um ihren empfindlichen Schwanz während des Liebesspiels im Inneren der Höhle vor eventuell vorbeitreibenden Fressfeinden zu schützen.

– Finde ich total nachvollziehbar.

– Ich übrigens auch. Sympathisch diese Hummer, oder?

– Ja, aber total! Hätte ich nie gedacht, dass die so lieb zueinander sein würden. Ich fand die nämlich ehrlich gesagt immer etwas hässlich. Schnecken haben ja wenigstens noch diesen angenehm anzufassenden Leib und ein schönes Häuschen, aber Hummer mit diesen Drähten überall und diesen Panzern und den Insektenbeinen – bäh.

– Hm. Pass auf: Wenn sie dann in der Höhle auf dem Bauch sozusagen liegt, legt er sich passgenau, also: Schere auf Schere, auf sie und benutzt dann ebendiese Insektenbeinchen, um das Weibchen unter sich herumzudrehen, sodass beide schließlich Bauchfläche an Bauchfläche aufeinander zu liegen kommen.

– Missionarsstellung.

– Verblüffenderweise. Es gibt ja nicht gerade zahlreiche Beispiele aus dem Tierreich, die – also da ist doch a tergo sozusagen die Missionarsstellung.

– Ja, Wahnsinn. Also diese Hummer werden mir immer sympathischer, die wachsen mir regelrecht ans Herz!!!

– Jetzt kommt’s.

– Klar.

– Ja, aber eben so, dass sie eine Art Einschub ihm weist, der sich ungefähr auf der Mitte ihres Leibpanzers befindet und dorthinein praktiziert er ein Organ, das nur ihr gehören wird. DENN HUMMER LEBEN MONOGAM!!!

– Wow.

– Und werden im Extremfall 100 Jahre alt. Der Koitus des Hummers dauert mehrere Stunden. Marah J. Hardt, die Koryphäe, hat es bezeugt: »Es kommt zu vereinzelten Stoßbewegungen.«

Karezza also vom Prinzip her. Tantra, big draw – Hummer sind derart advanced. Das scheint mir beinahe so zu sein wie mit den Oktopussen. Kann es denn tatsächlich sein, dass wir ausgerechnet die Meeresbewohner unterschätzt haben? Dass Oktopusse höhere Formen der Intelligenz repräsentieren und Hummer höher entwickelte Formen der Liebe und Sinnlichkeit?

– Ich weiß es nicht. Aber es beschäftigt mich.

– Sollte es auch. Mich beschäftigt es jetzt auch bereits sehr. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.

– Dann mach‘ doch einen Subchannel auf in deinem Bewusstsein, so mache ich das. Dort gehst du tagsüber deinen Hummergedanken nach. Nachts kannst du doch ohnehin denken, was du willst.

– Okay, mache ich. Mache ich genau so.

– Wenn alle Eier in ihrem Bauch befruchtet sind, dreht er sie vorsichtig um. Dann krabbelt sie in den hintersten Winkel seiner Höhle und schläft dort viele Tage lang, bis ihr ein neuer Panzer gewachsen und dieser ausgehärtet ist. Er hält derweil vor dem Eingang zur Höhle Wache, in der seine Frau nun wohnt und heilt. Nachts schwenkt er seine Scheren durch die Strömung wie ein Fluglotse, um feindliche Schwingungen orten zu können. Wir wissen nicht, was und wie er fühlt, aber vermutlich fühlt er sich als Held.

– Das glaube ich nicht.

– Was fühlt er denn?

– Er findet das normal. Ist es doch auch.