17.2.

Lidl wirbt mit einem Zitat von Niklas Luhmann. Spontan denke ich: Das ist gut. Und fotografiere das gesamte Plakat, das in der Kniprodestraße neben einer Tankstelle montiert ist: Eine Frau mit langem blondem Haar schaut so von unten herauf in die Kamera. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt ohne Ärmel. Das Haar strömt über ihre Ohrmuschel hinweg, bedeckt sie, verschwindet in einer Kurve über ihren Hinterkopf und rauscht dann über ihre linke Schulter in einer moselschleifenartigen Bewegung herab, bis es versiegt unter dem am rechten unteren Bildrand plazierten Logo von Lidl, das zwar nicht von Anton Stankowski entworfen wurde, aber deswegen allein auch noch nicht schlecht ist.

Rechts oben dann steht das Zitat: »Sei doch einfach nur natürlich.« In Versalien einer Typo, die an die Schreibweise des Logos von Helmut Lang erinnern soll. Darunter allerdings – ich frage mich, weshalb Grafikern so etwas noch immer einfällt, dabei war das schon in meiner Jugend out – diagonal und in grellpinker Sprühdosenoptik »Bleib schön du selbst«. Der urheberrechtliche Hinweis auf Niklas Luhmann, »dt. Soziologe« und die Jahreszahlen seiner Geburt, am 8. Dezember 1927 in Lüneburg, und seines Todes, am 6. November 1998 in Oerlinghausen, symbolisiert durch * beziehungsweise ✝ stehen, wie es die Tradition vorsieht, in Klammern da und sind gesetzt in einer leicht gedehnten und zudem kursivierten Times New Roman, sodass dieses gesamte Plakat einen Hautgout von Post-Internet Art verströmt.

Mir fehlt der Verweis auf den Kontext. Ich fürchte, dass Lidl mit diesem aus dem Kontext gerissenen Zitat Niklas Luhmanns deutlich weniger von den damit beworbenen Haarpflegeprodukten verkaufen können wird, als potentiell möglich wäre, wenn man sich entschieden hätte, die übrigen Freiflächen des Plakates für die Kontextualisierung des Zitates zu nutzen. Das stammt ja bekanntlich aus der Unterhaltung Niklas Luhmanns mit Alexander Kluge anlässlich des Erscheinens von Luhmanns Theorie der Liebe »Liebe als Passion«. Niklas Luhmann hat gerade die theoretische Herleitung des Schäferstündchens abgeschlossen, zitiert La Rochefoucauld, wonach sich die Leute nicht verlieben würden, wenn sie nicht zuvor gelesen hätten, dass dies überhaupt möglich sei. Alexander Kluge macht die für ihn typischen Geräusche des atemlosen Folgens in Gedanken, also er markiert, weil er selbst nicht zu Wort kommt, durch hörbar gemachte Respiration eine Art Schluckaufgeräusch, das die Stationen seines gedanklichen Voranschreitens anzeigt wie Pfosten; er signalisiert seinen Gesprächspartnern, dass er schweigenderweise trotzdem vorankommt, gedanklich noch dabei ist, gleichzuziehen mit seinem Gegenüber, Niklas Luhmann in diesem Fall, der soeben bestens gelaunt mit dem fraglichen Zitat aus der Kurve kommt: »Es gibt ja nichts Schlimmeres, das sie zu ihrer Frau sagen können, als: Sei doch einfach nur natürlich.«

Kluge: Ja. Ja, ja!

Luhmann: Wenn man da bloß anfängt nachzudenken, wird man verrückt.