18.2.

Die Muse schickt ein Carepaket. Darin finde ich unter anderem warme Sachen zum Anziehen, was gut ist, denn gestern hat es hier schon wieder zu schneien angefangen; den Roman von Miranda July, versehen mit dem Hinweis, dass lediglich die vordere Hälfte für mich interessant sei, sowie 107 Muscheln. Quersumme 8 – ich weiß, was sie mir damit sagt.

Auf einer beigefügten Postkarte, die umseitig das Motiv »Nurse displaying a Morphy-Richards Astral mini-refrigerator« zeigt, steht unter anderem ihre auf die Variationsbreite dieser Muschelsammlung bezogene Frage, ob mir eine Theorie bekannt ist, die einen Zusammenhang findet zwischen der Formenvielfalt eines regionalen Muschelvorkommens und der Bevölkerungsstruktur der jeweils an diese Fund-, oder Anschwemmorte, den Stränden also, angrenzenden Quartiere. Stimmt: Die Muscheln vom Strand in Santa Monica sehen allesamt nicht nur ähnlich aus, sie sind auch ungefähr gleich groß; beziehungsweise gibt es insgesamt zweierlei Größen: sehr klein und winzig. Als hätte, wie Marcel Proust das seinen Erzähler während einer Eisenbahnfahrt über zwei ihm gegenübersitzende Herren in identischen Outfits und mit ähnlichen Bärten und Frisuren denken lässt, »die Natur vorübergehend auf industrielle Fertigung umgestellt.«

Und wenn Miranda July auf den nächsten Seiten weiter so punkten kann (und ich glaube, sie kann, denn die Muse fand die gesamte erste Hälfte ja sehr gut; nicht super gut zwar, aber immerhin sehr), ist das schon das zweite neue Buch in diesem noch nicht einmal viertelalten Jahr, das ich gerne lese. Auf Seite 9 schreibt sie (also Frau July, nicht die Muse) über ihre Ohren: »Abgesehen davon stehen die Flächen zwischen meinen Augen, meiner Nase und meinem Mund in einem perfekten Verhältnis zueinander. Nur ist das bisher noch niemandem aufgefallen. Und auch meine Ohren: entzückende kleine Muscheln. Ich klemme immer die Haare dahinter und versuche, Räume voller Menschen mit den Ohren voran zu betreten, seitwärts.«

Die Übersetzung hat Stefanie Jacobs gemacht. Ich finde sie sehr gut. Beispielsweise fällt es mir bei zitiertem Absatz echt schwer, den ins Englische zurückzuübertragen. Das ist immer ein 1a-Zeichen, finde ich. Umschlag ist auch okay, sieht lustigerweise plötzlich aus wie von Kanye West beziehungsweise Peter de Potter, der war früher dran. Ich erinnere mich, dass Miranda July im vergangenen Jahr ein Bild auf Twitter postete mit acht Ausgaben unterschiedlicher Lizenzverlage, und bis auf einen hatten alle ihre ursprüngliche Umschlaggestaltung übernommen (von Mike Mills). Mike Mills hat auch das Vorsatzpapier entworfen – sehr hübsch und: That’s Power!, weil bei den Herstellern der Verlage solche Sonderwünsche extra kosten.

Beim Aufwachen frage ich mich, ob die Muse vielleicht für immer in Kalifornien bleiben wird. Es regnet hier ja schon wieder und im Krankenhaus gegenüber sehe ich Fenster, gefüllt mit ultratrübseligem Licht. Man glaubt ja immer, also denkt vage, dass sich mit schriftlicher Kommunikation selbst Riesendistanzen, selbst Zeitunterschiede spielend überwinden lassen, aber das stimmt eben gar nicht, das ist eben nur Glaube. In Wirklichkeit ist die mündliche Kommunikation, also sprechen, in Sachen Unmittelbarkeit ungeschlagen: 150 Worte pro Minute bringt eine durchschnittlich begabte Person unter, beziehungsweise an den sprichwörtlichen Mann. Alles andere, ob nun tippen oder Sip-and-puff, ja selbst elektronisch gestützte Pseudotelepathie kann da nur Ersatzleistungen bieten, die an das Original nicht heranreicht. Tippen auf einer Tastatur (Modell QWERTZ), beispielsweise im Skype-Chat oder im Hangout bei Google: 80 Worte pro Minute max. Ich schaffe noch nicht einmal die Hälfte fehlerfrei, weil ich wie beinahe alle Menschen, die ich kenne und die ihr Geld mit Schreiben verdienen, das Zehnfingersystem n a t ü r l i c h nicht beherrsche und mit zwei Fingern (denen zum Zeigen) tippe. Leerzeichen mit dem Daumen links. Tippen auf dem iPhone oder auf dem Galaxy, also auf jeden Fall mit Touchscreen: 20 Worte pro Minute. Die Erfüllung der großen Hoffnung, der Fantasie – nämlich Radiotelepathie – wird wohl noch ein bisschen länger auf sich waren lassen als gedacht. Derzeit schafft das beste Interface für die drahtlose Textübertragung von Gehirn zu Gehirn gerade einmal sechs Worte pro Minute. Das dauert. Es gibt ja Menschen, die kriegen schon einen Wutanfall, wenn sie versehentlich iPhoto öffnen – – – – – – sechs Worte pro Minute!!!

Und dann, glaube ich, sehe ich das mittlerweile realistischer als noch vor ein paar Jahren, als ich mit Freeman Dyson über diese Technologie sprach. Das war noch vor dem Film Her und dieser Horrorvision von 8316 anderen, mit denen das Betriebssystem, in das Theodore verliebt ist, simultan kommuniziert; in 641 ist sie zu jener Stunde simultan verliebt (exklusive Theo). Aber selbst unter Menschen: Wie liefe das ab? Gäbe es da eine nervtötende Ankündigungsmelodie wie bei Skype (Wieso lässt die sich eigentlich nicht verändern!), wenn der andere mit einem telepathieren möchte? Oder wird der einfach automatisch zugeschaltet? Wie lange dauert das dann, bis man die Stimmen im Kopf, die eigene im Zweifelsfall, von der des anderen nicht mehr unterscheiden kann? Vielleicht war es ja das, was ich einst so interessant, schön und sogar erstrebenswert fand an dieser Fantasie. Mittlerweile glaube ich, das wäre der Horror. (Ich muss an Gummibären auf dem Backblech denken bei 180°C). Dadurch gingen mir die Eigenheiten des anderen verloren. Ihm meine aber auch. Seine Persönlichkeit. Meine. Weder ich noch sie wären dann noch jemand, sondern halt nur noch irgendwas.