19.10.

Gestern, ich saß in einer italienischen Bar neben dem Imbiß zur Nachtigall an der Prenzlauer Allee, schaute durch die Scheibe auf den Verkehr auf dieser Straße, die ich noch ganz zu Anfang diesen Jahres zumindest zweimal pro Tag zu überqueren versucht hatte, ohne dabei überfahren zu werden, mir wurde ganz wehmütig; beinahe so, als starrte ich nicht auf Autos und Fahrradfahrende im Stop-and-go, sondern in die Glut eines Feuers.

Zu einem Teil lag der leichte Abschwung in meinem Gefühlshaushalt auch an meiner Lektüre, am Morgen hatte ich das neue Buch von Thomas Meinecke bei der Buchhändlerin abgeholt. Sie hatte mich nach meiner Meinung zum Träger des Deutschen Buchpreises gefragt. Sie war damit unzufrieden, hatte dennoch elf Exemplare von Widerfahrnis bestellt, die sie wohl, so ihre Einschätzung, bis Weihnachten verkaufen können würde. Ein größerer Erfolg in der Region Nikolassee, hier stehen in etwa dreiundfünfzig Häuser, war fraglich, ihrer Meinung nach. Ich fing noch in der Bahn zu lesen an. Natürlich war das ein ganz anderer Text, als es die eitle und vor allem für den Kritiker des Textes Werbung treibende Rezension in der Sonntagszeitung hatte glauben machen wollen. Der Name des Kritikers ist längst von der Timeline verschluckt, aber er war noch sehr jung und hatte bereits extrem viele für sich Werbung treibende Texte verfasst, zum Beispiel sogar auch im Hanser-Verlag. In dem über Selbst hatte er in absichtlich verkomplizierten Sätzen, die dazu auch noch zu lang waren, behauptet, in dem Buch ginge es um derart komplizierte Diskurse, dass selbst er selbst, der Kritiker dieser dort widergegebenen Diskurse, kaum den Durchblick erreicht haben konnte. Oder so etwas in der Art. Dabei geht es in diesem Buch gar nicht darum, was gesagt wird. Auch nicht wie. Sondern dass. Wie immer bei Thomas Meinecke halt. Nur, und das scheint mir wesentlich, dass sein neues Buch vor allem unter Frauen spielt. Es gibt ja laut Helmut Dietl keinen gesunden Mann, der nicht von einem unbemerkten Belauschen eines Frauenabends fantasiert. Und zeitgleich, hier zitierte Helmut Dietl dann gerne den Linguisten Ferdinand de Saussure, den »Ferdl«, der ja selbst wiederum immer dann, wenn das Gespräch auf die Gespräche unter Frauen gekommen war und wie man die belauschen könnte, am besten halt solche unter Inuitfrauen, weil dann ließe sich dabei noch gleichzeitig das mit den hundert verschiedenen Begriffen vom Schnee sozusagen miterledigen, woraufhin der Ferdl dann, Dietl konnte den ja so herrlich nachmachen inklusive dessen Saugens an einer Pfeife aus türkischem Meerschaum, die dann bei Dietls Paradeparodie freilich aus einer Zigarette bestand, einer filterlosen, sagenderweise an das Zirkuspferd mit Namen Clever Hans zu erinnern pflegte. Es geht nämlich nicht, jemanden zu beobachten oder zu belauschen, ohne dass sich dessen Verhalten durch den Umstand seines Beobachtetwerdens, des Belauschtwerdens veränderte. Die belauschten Frauen wären also grob gesagt gar keine Frauen.

Und darum geht es, meiner Meinung nach, in Selbst. Grob gesagt. Dafür halt fein wahrgenommen.

»Friseur und Beautytermine online buchen«, davor ein vollbärtiger Mann mit rotem Haar, zweifelnder Blick aus blauen Augenscheiben: Die gesamte Bahn ist unter diesem Motiv hinweg in einem lachsrosa Ton lackiert. Fährt sie ab, gibt sie dahinter einen Fries der schwarz auf schwarz gehaltenen Plakate für das iPhone7 frei, die gerade jetzt – es war nun um die blaue Stunde, jedoch spielte der Himmel nicht mit und zeigte sich grau – flackernd hinterleuchtet wurden. Während eine Dreiergruppe, ein jeder mit Brille, Mütze und Bart, ihre Gläser mit dem IPA aneinander stießen. Und danach sagte der eine von ihnen zu den anderen »Guck, ich hab mir das neue iPhone gekauft.« Das geht als Boys Talk durch. Es geht, konkret, um andere Männer: um Anrufende, deren Anrufe man nun nicht mehr entgegennimmt (die Anruferliste wird auf dem Display des neu in den Besitz gebrachten Gerätes herumgezeigt als ein Beweis männlicher Unerbittlichkeit und Härte). Man raucht selbstverständlich und sitzt deswegen vor dem Lokal an dieser Straße. Zwischen den dreien steht ein Töpfchen Heidekraut auf dem Tisch.

Eine Stunde später und mittlerweile auch eine Kreuzung weiter in der Marienburger Straße angekommen, werden sie, die sich die Boys nennen, dort durch die Scheibe der Bar Italia von einem Girl erkannt und zu sich hereingewunken. Sie trägt ein schwarzes Exemplar des Bestsellers von Uniqlo und ihre Beine sehen aus, als hätte sie mit Latex tapeziert. Die Frau am Nebentisch ist Frances Schönberger. Le chaleur du soleil transformera le raisin en vin.